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Kieselglanz - Eine Liebe in smaragd

 

»Eine Firma aus Denver hat uns Ortungsgeräte für die Gefangenen angeboten.« Jeronimo breitete die Serviette auf dem Schoß aus. »Sie garantiert, dass die Sender auch in den dichtesten Bereichen des Regenwaldes funktionieren würden.«

»Dann lügen sie.« Der Regenwald wuchs schneller, als Schneisen für die wenigen Pfade geschlagen werden konnten. Der einzige, dauerhaft funktionierende Empfang für die Multi-Coms war an der Oberfläche der Minen und in den Barackensiedlungen. Alles andere wurde von Blattwerk abgeschottet.

Die Soldaten kämpften täglich gegen das wuchernde Grün an.

»Noch etwas Kaffee, Don Nael?« Mariana lächelte ihn schüchtern an. Sie arbeitete erst seit Kurzem in Don Leandros Festung.

Nael nickte, während sein Bruder Mariana mit den Blicken verschlang. Nur eine Frage der Zeit, bis er sie entweder zum Sex verführte oder zwang.

Nael hatte es aufgegeben, seinen älteren Bruder zu ermahnen. Seit ihr Vater Don Leandro wegen eines Schlaganfalls das Bett hütete, war Jeronimo der Patron der Festung und hörte nur auf Naels Ratschläge, wenn sie ihm objektiven Nutzen brachten.

»Wir könnten einen ihrer Vertreter zu uns einladen.« Jeronimo grinste. »Zum Vorführen.«

»Die Gringos wagten sich auch dann nicht zu uns, wenn wir ihre Wege mit Smaragden pflasterten.« Seit den großen Beben hatten sich die ausländischen Firmen aus Südamerika zurückgezogen und die Länder sich selbst und dem Urwald überlassen. Wahrscheinlich dachten sie, dass die Wirtschaft ohnehin für die nächsten Jahrzehnte am Boden läge. Vor allem der Abbau der Smaragde. Sprengungen waren in den Stollen nicht mehr möglich. Dazu waren sie wegen der Erschütterungen zu instabil.

Seit etwa hundert Jahren wurden die Stollen mit Spaten und Spitzhacke tiefer in die Minen gegraben. Die Ausbeute war nur ein Bruchteil dessen, was vor den Beben gefördert worden war. Jedoch war Kolumbien der einzige Ort der bevölkerten Welt, an dem überhaupt noch nach Smaragden geschürft wurde. Das steigerte die Nachfrage immens.

Früher hatte es ein paar unspektakuläre Funde in Kasachstan gegeben, doch nach dem Sturz des östlichen Senats versank die Zivilisation Russlands mitsamt sämtlicher angrenzender Staaten im Chaos. Auch die Minen in Brasilien gehörten der Vergangenheit an, seit das erste große Erdbeben vor eben jenen hundert Jahren das Land in eine Kraterlandschaft verwandelt hatte. Der Südosten Kolumbiens war dabei ebenfalls zerstört worden. Die Erschütterungen hatten bis Muzo gereicht und einen tiefen Graben durch die größte der ehemaligen Minen gerissen. Sie hatte längst als ausgeschöpft gegolten und nur die armseligsten Glückssucher hatten dort weiterhin nach Smaragdsplittern gewühlt.

Aber das Beben brachte neuen Reichtum zutage.

Nachdem die Toten in den Fluten des Rio Minero fortgespült oder von den Alligatoren gefressen worden waren, entdeckte Naels Urgroßvater Milan Acosta ein vielversprechendes Glimmen in dem aus dem Berg quellenden Schlamm. Er sammelte sämtliche Guaqueros ein, die die Katastrophe überlebt hatten, und machte aus den rechtlosen Smaragdschürfern über Nacht die Grünen Fürsten. Die durch das Beben wiedererweckten Minen wurden unter ihnen aufgeteilt, wobei er und seine Söhne die größte von ihnen für sich beanspruchten. Jeder andere wurde von ihm und seiner selbst gewählten Sippe zu Sippenlosen deklariert. Ein Teil dieser Menschen arbeitete für die Fürsten, der andere wurde von ihnen ausgebeutet.

Die Neuigkeit sprach sich wie ein Lauffeuer im gesamten Kontinent herum und lockte wie zu den Goldenen Zeiten Schatzsucher nach Muzo. Sie brachten ihre Hoffnungen, ihre Familien und ihre Verkommenheit mit. Milan Acosta sah sich gezwungen, mit harter Hand für Ordnung zu sorgen. Wer ein Verbrechen beging, gleich welcher Art, wurde zur Arbeit in den Minen verurteilt.

Seine Nachfahren hatten es ihm gleichgetan. Mittlerweile herrschten die Fürstenfamilien über das, was nach den Beben von der Zivilisation Südamerikas übrig geblieben war und verteilten sich auf alle noch zugänglichen Minen, inklusive der lukrativen Koka-Plantagen und Goldadern.

Edelsteine, Goldnuggets, Kokablätter. Stabile Währungen in einer erschütterten Welt.

Vor zusammenbrechenden Zivilisationen, unheilbaren tropischen Krankheiten und dem Widerspruch eines despotischen Anarchismus hatten sich die Gringos seit jeher gefürchtet. Also ließen sie ihren südlichen Nachbarn in Ruhe. Auch wenn sie ihre gierigen Finger nur zu gern nach Kolumbiens Reichtum ausgestreckt hätten. Doch dort herrschten weder Regierungen noch US-Konzerne, sondern einzig und allein die Grünen Fürsten. Ebenso in den Teilen Brasiliens, die die Beben übrig gelassen hatten, Bolivien und Ecuador.

Nein.

Nael lachte innerlich über seine Naivität.

Der Dschungel herrschte. Offenbar erfolgreich genug, um entlaufene Sippenlose mit Hunden aufspüren zu müssen, statt ihnen GPS-Fußfesseln verpassen zu können.

Wenn es überhaupt einer von ihnen schaffte, aus den Strafkolonien zu fliehen. Die Krater hatten den Lauf des Flusses verändert. Die zahlreichen Nebenarme des Rio Minero schlossen die Kolonien wie eine Gefängnismauer ein. Wer sich in seine Fluten wagte, riskierte mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit, von den Alligatoren gefressen zu werden.

»Die Sender sind so klein, dass sie von den Gefangenen geschluckt werden können.« Jeronimo dachte anscheinend immer noch über das Angebot der Gringo-Firma nach. »Sie verhaken sich im Darm und senden praktisch von einer sicheren Stelle aus.«

»Sicher?«

»Kennst du jemanden, der verrückt genug wäre, sich das Ding aus dem Bauch zu schneiden?«

»Nein. Aber vielleicht verzweifelt genug.« Nach ein paar Jahren in den Minen waren die Sippenlosen zu vielem fähig. »Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.« Die Hundemeute verbuchte eine Erfolgsquote von etwa achtzig Prozent. Mindestens zehn Prozent der Flüchtenden fielen den Raubtieren oder anderen Gefahren zum Opfer, die der Urwald für sie bereithielt. Was mit den restlichen zehn Prozent geschah, interessierte niemanden.

»Du hast recht.« Schlürfend machte sich Jeronimo über die Frühstückssuppe her. »Ehe ich es vergesse, an der Fähre wartet eine Gruppe Gefangener auf uns. Sehr überschaubar. Ich habe vorhin bereits einen Blick darauf geworfen und mich über ihre Vergehen informiert. Begleite mich nachher und bring sie rüber zur Mine.«

Verdammt! »Es ist mir zuwider.« Nael schob die Kasserolle mit den Eiern von sich. »Vater hat dir die Aufsicht der Mine und damit auch der Häftlinge übertragen. Halte mich da raus.« Es war furchtbar, mitanzusehen, wie der Glanz in den Augen der Männer mit jedem Schritt näher zur Rampe erlosch. Sie wussten ganz genau, was sie dahinter erwartete.

»Du bist täglich dort, um die Ausbeute zu kontrollieren und deine Favoriten herauszupicken. Was stellst du dich so an?«

»Das ist etwas anderes.« Es war leichter, hoffnungslosen Blicken zu begegnen als denen, die ihre Hoffnung gerade aufgaben. »Warum willst du, dass ich dich begleite?«

»Weil ich dein Gespür für Menschen schätze, Bruder.« Jeronimo trank einen Schluck Kaffee, sah ihn über den Tassenrand hinweg an. »Ein Blick und du weißt, wer Ärger machen oder den Vorarbeiter erschlagen wird.«

»Kein sippenloser Häftling wagt es, Hand an die Wachmänner, die Vorarbeiter und gar uns zu legen.« Innerhalb der Minen existierte nur eine Strafe für sämtliche Vergehen: der Tod. Die Sippenältesten kannten keinen anderen Richtspruch. Ebenso wie außerhalb der Minen jedes Verbrechen, ob Diebstahl oder Mord, mit Zwangsarbeit in den Stollen geahndet wurde. Es war nur eine Frage der Strafdauer. Ein Ziegendieb fuhr zwei Jahre ein, ein Vergewaltiger zehn, ein Mörder sein gesamtes restliches Leben. Wer vor der Haftentlassung an Entkräftung, Infektionen oder durch die Willkür der Wächter starb, hatte Pech gehabt.

Eine gnadenlose Justiz für ein gnadenloses Land.

»Irgendwann ist immer das erste Mal.« Jeronimo tauchte ein Stück Maisbrot in die Suppe. »Sind dieses Mal zwei Totschläger dabei. Einer hat den Liebhaber seiner Frau erstochen und der andere ist ein junger Kerl, der einen Guaquero erschlagen hat.«

Die Schürfer gingen einander häufiger an die Kehle. Meist aus Neid und Habgier.

»Bei dem Jungen ist etwas in seinen Augen, das mir ganz und gar nicht gefällt. Der geborene Aufrührer, dabei ist er nicht einmal trocken hinter den Ohren.« Grinsend schob er sich das tropfende Brot in den Mund. »Ich werde ihm wohl Respekt einprügeln müssen«, nuschelte er kauend. »Schade um seinen hübschen Körper, aber den wird er sich da unten ohnehin nicht erhalten.«

Jeronimo benutzte die Peitsche viel zu oft. Er schien es zu genießen, die Häftlinge zu knechten. Den Hang zur Grausamkeit teilte er mit den meisten Grünen Fürsten. Kein Koka-Bauer oder Guaquero, der nicht davon gehört oder sie am eigenen Leib erfahren hatte. Seitdem war sie das Mittel der Wahl, Aufstände und Kämpfe um Territorien zu verhindern. Kolumbien lag allein in der Hand der Grünen Fürsten. Ihre Familien hatten sich untereinander Frieden geschworen und einem von Bürgerkriegen und Not zerrütteten Land eine gewisse Ordnung beschert.

Ihre Macht gründete sich auf drei Säulen: Reichtum, konsequent angewandte Grausamkeit und ihre Sippe. Letztere beschützte ihre Mitglieder vor dem Schicksal, wie die anderen Guaqueros bis zu den Hüften im Schlackestrom der Minen zu stehen und nach Splittern zu wühlen.

Wer der Sippe den Rücken kehrte oder ihren Mitgliedern in eben diesen fiel, wählte sein eigenes Schicksal. Meist führte es nach kurzen Umwegen in den Tod. Ob von der Schlacke weggerissen und darin erstickt oder von einem anderen Glückssucher aus Neid erschlagen. Ein Menschenleben außerhalb der Fürstenfamilien galt wenig.

Nael nippte am mittlerweile kalten Kaffee. »Wie du willst. Ich werfe einen Blick auf die Männer. Aber danach lässt du mich in Ruhe. Ich habe zu arbeiten.« Kisten gefüllt mit Rohsmaragden warteten in seiner Werkstatt, geschliffen und poliert zu werden. Das Auftragsbuch quoll über vor Anfragen. Sie stammten aus der ganzen Welt. Seitdem in den meisten Ländern Barverkehr zugunsten zugewiesener Kredite abgeschafft worden war, boomte das Geschäft mit realen Werten noch mehr.

Nael nahm sich nur der bedeutenden Steine an. Alles, was kleiner als ein Daumennagel war, überließ er den anderen Edelsteinschleifern, die in Muzo arbeiteten.

»Du verbringst viel zu viel Zeit in deiner Werkstatt.« Mit der Serviette wischte sich Jeronimo den Mund. »Du schläfst sogar dort. Warum?«

»Ich liebe meine Arbeit, also liebe ich auch den Ort, an dem ich sie verrichte.« Weshalb sollte er sich freiwillig davon trennen? Das alte Sofa genügte ihm zum Schlafen. Er lag nachts ohnehin oft wach, weil ihn das, was er Tag für Tag in der Mine mitansehen musste, nicht losließ. Dann stand er auf und lenkte sich mit Arbeit ab.

»Wie du meinst.« Jeronimo zuckte die Schultern. »Wenn dich der ständige Geruch nach Zedernöl nicht stört.«

»Ganz im Gegenteil.« Er beruhigte ihn. Ohne ihn würde er wahrscheinlich überhaupt keine Ruhe mehr finden.

Die Smaragde wurden damit behandelt. Das Öl kroch in die winzigen Kanäle und kaschierte die Einschlüsse. So wie der Duft des Öls tief in seine Seele drang und alles Dunkle darin verbarg.

»Aber lass dich von dem Jungen nicht blenden. Er hat etwas an sich, das selbst mich anspricht.«

»Dich?« Bisher hatten seinem Bruder die Bordelle in Muzo genügt. »Inwiefern?«

»Zu viel Stolz in den Augen. Mit jedem Blick scheint er einen herauszufordern.« Jeronimos Lider senkten sich. »Ich kann es kaum erwarten, ihm den auszutreiben.«

Der Junge tat ihm jetzt schon leid.

Es war ein Fehler von Fürst Leandro gewesen, seinem ältesten Sohn die Mine anzuvertrauen. Allerdings, wen hätte er sonst wählen sollen?

Naels jüngster Bruder weigerte sich, auch nur einen Fuß dorthin zu setzen, seit ihm ein Sippenloser einen Fluch ins Gesicht gespuckt hatte und Diego daraufhin wochenlang an einem heftigen Fieber erkrankt und beinahe gestorben wäre. Nun ängstigte er sich vor jedem grimmigen Blick und jedem unverständlichen Gemurmel.

Trotz Macht und Reichtum gedieh in den Fürstenfamilien der Aberglaube ebenso prächtig wie unter den Horden sippenloser Schürfer. Hundert Jahre reichten nicht aus, um gemeinsame Wurzeln zu vergessen.

Nael selbst war ebenfalls nicht infrage gekommen. Sein Geschick im Umgang mit den Smaragden hatte sich bereits in seiner Kindheit offenbart. Sein Onkel hatte sich seiner angenommen und ihn in die Vereinigten Staaten geschickt. Auf illegalen und mit Edelsteinen geebneten Wegen. Die Regierung dort setzte alles daran, ihre suspekten Nachbarn fernzuhalten. Obwohl sie unter der Hand für beide Seiten lukrative Geschäfte mit den Grünen Fürsten trieb.

New York. Eine Stadt gefüllt mit leisen Solarmobilen, No-Humans im Straßen- und Pflegedienst und intakten Hochhäusern.

In Bogotá dagegen ragten nur noch Ruinen aus den wespennestartigen Kompaktbauten und die NH’s wären auf dem unebenen, teilweise schlammigem Untergrund selbst mit der detailliertesten Programmierung gestrauchelt. Den Solarmobilen wäre es ähnlich ergangen, zumal ihre Zellen sich unter dem dichten Blätterdach kaum aufladen konnten.

Nach den großen Beben hatte sich der Dschungel Stück für Stück zurückgeholt, was ihm die Menschen in der Vergangenheit genommen hatten. Auf den unwegsamen, oft von Bächen über- und unterspülten Pfaden war jeder Eseltransport schneller. Hin und wieder bildeten Jeeps die Ausnahme.

Zehn Jahre war Nael bei Meister Aaron Goldschlack in die Lehre gegangen. Hatte sowohl dessen als auch die oberflächliche, doch aufgeklärte Kultur der Stadt inhaliert. Seitdem fürchtete er sich ausschließlich vor auf ihn gerichteten Waffen, nicht jedoch vor Flüchen und finsteren Prophezeiungen.

»Lass uns gehen.« Jeronimo erhob sich. »Nimm Perro mit, dann kann er sich die Gerüche der Neuzugänge schon mal einprägen.«

»Du weißt, dass er an keiner Menschenhatz teilnimmt.«

»Er ist ein Jagdhund, verdammt!« Er warf die Serviette quer über den Teller. »Du verzärtelst ihn, wie du die Gefangenen verzärteln würdest, wenn ich dich ließe.«

»Ich will weder, dass er einen Menschen anfällt, noch dass er auf den Geschmack kommt.« Er könnte so ein Tier nicht mehr in seiner Nähe ertragen. Als Kind war er Zeuge gewesen, wie die Meute einen entlaufenen Häftling zerrissen hatte. Noch jetzt bescherte ihm dieses Erlebnis Albträume.

»Wie du meinst.« Sein Bruder rückte die Impulswaffe an seinem Gürtel zurecht.

Ein Knopfdruck und der fokussierte Ultraschall schmorte die Nervenzellen des Gegners binnen Sekunden und ließ nur ein zuckendes Etwas zurück, das sich unaufhaltsam in den Tod litt. Ein sündhaft teures Mordwerkzeug, importiert aus demselben Land, in dem Nael den Smaragdschliff perfektioniert hatte.

Diabolo sprang mit einem lauten Mauzen auf den Fenstersims, bemerkte Jeronimo, stellte die Haare auf und fauchte.

Der Kater hasste ihn und Jeronimo hasste den Kater.

Jeronimo zuckte zusammen, bekreuzigte sich. »Du hättest dieses rabenschwarze Vieh ersäufen sollen. Es bringt Unglück!«

»Es hält Mäuse und Ratten fern.«

»Eines Tages erschlage ich es und werfe es deinem Köter zum Fraß vor!«

»Perro mag keine Fellfusseln im Maul.« Nael gönnte seinem Bruder einen langen Blick. »Außerdem wäre es dumm von dir, einen Unglücksboten zu töten. Was meinst du, was danach mit dir geschieht?«

Jeronimo schluckte.

Am liebsten hätte Nael gelacht, doch das wäre der Wirkung abträglich gewesen, die seine dahingesagten Worte auf seinen Bruder ausübten. Wahrscheinlich hatte er Diabolo mit dieser Andeutung gerade das Leben gerettet.

Fluchend stapfte Jeronimo aus dem Salon.

Nael trank den letzten Schluck Kaffee und folgte seinem Bruder hinaus auf den Innenhof der Festung. Ein Bollwerk aus Stahlbeton und Panzerglas. Ihr Vater hatte es errichtet, um seine Familie vor dem Neid der anderen Fürstenfamilien und dem Hass der Sippenlosen zu schützen.

Perro lag in der Sonne, stand träge auf, als Nael nach ihm pfiff. Die Schlappohren und das gutmütige Faltengesicht täuschten bei jedem anderen Exemplar dieser Rasse, nicht jedoch bei ihm.

Vielleicht waren sie beide etwas aus der Art geschlagen.

»Drei Hunde«, rief Jeronimo Matteo zu. »Mehr sind nicht nötig. Und bring mir den Ochsenziemer mit.«

Der Zwingermeister gehorchte, warf Jeronimo das Gewünschte zu.

Perro leckte sich das Maul. Er liebte es, die gedörrten und eingedrehten Ochsenpenisse weich zu kauen. Für ihn waren es Delikatessen, für Jeronimo elastische Schlagstöcke, die er nicht nur auf Eselsrücken niedersausen ließ.

»Du begleitest uns«, wies sein Bruder Matteo an. »Ich will die Hände frei haben und keine Hunde führen.«

»Willst du den Gefangenen schon vorweg eine Kostprobe des Kommenden gönnen?« Nael mühte sich nicht, die Verachtung aus seiner Stimme zu verbannen. Jeronimo wusste, wie er zu übertriebener Grausamkeit stand.

Sein Bruder grinste ihn an. »Auch du führst eine harte Hand.«

»Da, wo sie notwendig ist. Nicht zum Vergnügen.«

»Jeder hat seine Methoden.« Er ging vor, ließ den Ziemer wie einen Spazierstock an seiner Seite rotieren.

Es war unnötig. Die Hunde ebenso wie der Ziemer. Die Gefangenen wurden von Soldaten bewacht. Eine Privatarmee, die sich aus den zahlreichen Nachkommen der Grünen Fürsten speiste. Nicht jeder konnte Edelsteinschleifer oder Minenaufseher werden.

Don Leandro hatte für Diego eine solche Karriere in Erwägung gezogen, doch bevor er seinen jüngsten Spross in eines der Ausbildungs-Camps zwingen konnte, war er dem Schlaganfall erlegen. Wahrscheinlich dankte Diego Gott dafür. Und zwar täglich.

Nael folgte Jeronimo durch den Urwald bis hinunter zur Fähre.

Die Häftlinge standen bereits am Ufer und starrten trübsinnig auf das braune Wasser des Rio Minero.

Drei Männer jenseits der sechzig, zwei Hände voll um die dreißig bis vierzig und zwei junge Kerle.

Einer von ihnen blickte auf, als die Hunde zu winseln begannen.

Der Junge, von dem Jeronimo gesprochen hatte. Er musste es sein. Die hellgrauen Augen leuchteten aus dem dunklen Gesicht, strotzen vor Stolz, Trotz und Angst, die jedoch von schwelendem Zorn zurückgedrängt wurde.

Jeronimo hatte recht. Der Junge war ein Aufrührer.

»Siehst du, was ich meinte?« Sein Bruder nickte zu ihm herüber. »Allein dieser Glanz im Blick macht mich misstrauisch.«

»Das wird sich geben.« Nach spätestens einem Jahr in den Minen glänzten die Augen der Sippenlosen höchstens noch vor Fieber oder Wahnsinn.

Schade um ihn. Er war zu jung und zu hübsch, um unversehrt durchhalten zu können. Die Wachmänner würden sich auf ihn stürzen, wenn es nicht schon seine Mitgefangenen taten.

Selbst in seiner Mitte regte sich ein sanftes Ziehen. Der Junge war auf seine Weise ungemein attraktiv. Es wäre ein Genuss, eine Nacht mit ihm zu verbringen.

So, wie er Nael ansah, wusste er um sein Schicksal.

»Los!« Jeronimo stieß ihn an. »Nimm sie in Augenschein.«

»Wie ich diese Aufgabe hasse.«

»Ich weiß. Tu es mir zuliebe.«

Auch ohne hinzusehen wusste er, dass ihm sein Bruder hinterhergrinste.

Nael ging die Reihe der Gefangenen entlang, blieb vor einem der alten Männer stehen. »Hat euch der Arzt bereits untersucht?« Eingeschleppte Seuchen konnten sie weder in den Minen noch in der Festung gebrauchen.

Der Häftling nickte mit gesenktem Blick.

Jeronimo kam mit weiten Schritten zu ihm, rammte ihm das Handstück des Ziemers in den Magen.

Der Mann krümmte sich keuchend zusammen.

»Du sprichst meinen Bruder und mich mit Don an, verstanden?«

»Jeronimo!« Er war alt, neben sich vor Angst. Eine Ermahnung hätte gereicht.

»Ich bin Don Jeronimo.« Sein Bruder hob das Kinn des Alten mit dem Ziemer an. »Dies ist Don Nael.« Er wies zu ihm. »Ich erspare dir nur deshalb den verdienten Hieb, weil du wenigstens die Lider gesenkt hast.« Er wandte sich an die anderen Häftlinge. »Direkter Blickkontakt zu einem der Fürstensöhne und ihr könnt euer eigenes Blut vom Boden wischen.«

»Was soll das?«, zischte Nael.

»Ich will Diego in der Mine sehen«, zischte Jeronimo ebenfalls. »Wenn ich ihm schwöre, dass ihn keiner der Gefangenen ansehen wird, verliert er vielleicht seine Angst vor den Flüchen.«

»Wo steht geschrieben, dass dazu Blickkontakt nötig ist?«

»Das weiß jeder.« Jeronimo trat endlich von dem Mann zurück. »Mach weiter und dann bring die Kerle auf die Fähre.«

Nael verbiss sich selbst einen Fluch. Was erwartete sein Bruder? Dass er die Gedanken der Häftlinge von ihren Stirnen abließ?

Er ging zum nächsten. Der Junge mit den kieselgrauen Iriden.

»Wie heißt du?« Er fragte nur, um der Situation die Spannung zu nehmen.

»Ivo.« Er sah ihm direkt in die Augen.

Reine Provokation.

Nael verpasste ihm einen Schlag, schon um seinen Bruder von Schlimmerem abzuhalten.

Ivo biss die Zähne zusammen, sah jedoch zur Seite.

»Hast du Don Jeronimo nicht zugehört?«

Ivo schwieg.

»Hey! Ich rede mit dir!« Der Kerl bettelte um Prügel und genau die würde er von Jeronimo überreichlich erhalten, wenn er nicht aufpasste.

Eine Träne rann über die schmutzige Wange.

Angst, Wut, Verzweiflung. Für Ivo existierten genug Anlässe. Dennoch war es dumm von ihm, vor den anderen diese Schwäche zu zeigen.

Und er sollte einen Guaquero erschlagen haben?

Nael packte ihn an der Schulter, führte ihn ein paar Schritte abseits.

Jeronimo runzelte darüber die Stirn, ließ ihn jedoch gewähren.

»Warum hast du den Mann umgebracht?« Er sprach sehr leise. Das vermittelte Ivo vielleicht das Gefühl, dass seine Antwort vertraulich bliebe. Was eventuell auch geschähe. Jeronimo interessierte sich nie für die Gründe, weshalb die Sippenlosen das Gesetz gebrochen hatten. Hauptsache, sie konnten mit Spitzhacke und Spaten umgehen und Förderwagen schieben.

»Er verlangte etwas von mir, das ich ihm nicht geben wollte.«

»Und was?«

Ivos sah ihn an. Nur für einen Moment. Dann senkte er erneut den Blick.

Demütigung und Scham.

Unnötig, ihn weiter mit Fragen zu quälen. Nael hatte verstanden.

»Es kam zum Kampf«, sagte Ivo leise. »Ich war unterlegen. Plötzlich spürte ich den Griff des Schürfhammers an meinen Fingern. Ich erreichte ihn, schlug zu.« Er schluckte, bevor er weitersprach. »Mit dem spitzen Ende gegen die Schläfe. Der Kerl sank auf mir zusammen und war tot.«

»Demnach warst du ein Guaquero wie er.« Und zwar einer, der sich nicht mit den Splittern im Flussbett begnügte, dazu hätten eine Goldwaschpfanne und ein Spaten gereicht, sondern der irgendwo etwas Lohnendes im Gestein gefunden hatte. Eine verborgene Smaragdader außerhalb der Minen? »Wo habt ihr geschürft?«

»Habe ich vergessen.«

Nael musste lachen. »Du steckst bis zu den Ohren in der Scheiße deines Lebens und traust dich, mich anzulügen?« Er fasste ihm in den Nacken, drückte zu. »Raus mit der Sprache.«

»Was bekomme ich dafür?«

Respekt. Für den Mut, der mit der Frechheit Hand in Hand ging.

»Ich kann es einrichten, dass dich die Wachmänner in Ruhe lassen. Dir ist klar, was das für dich bedeuten würde?« Es war kein Geheimnis, dass sich die Männer an den Gefangenen vergriffen, wenn ihr Lohn nicht mehr fürs Bordell reichte.

Ivo nickte.

»Was wird das?«, rief Jeronimo zu ihnen herüber. »Der Fährmann wartet!«

Nael hob die Hand. »Einen Moment noch!« Er würde es seinem Bruder später erklären.

»Ich bin ein Sippenloser und du ein Fürstensohn, Don Nael.« Erneut schweifte der trotzige Blick zu ihm. »Egal, was du mir versprichst, nichts bindet dich daran.«

»Dennoch hast du mir den Deal angeboten.« Es machte Spaß, mit dem Jungen zu verhandeln. »Offenbar hoffst du, dass du dich irrst und mein Wort auch bei einem leichtsinnigen Kerl wie dir ein gewisses Gewicht behält.«

»Tut es das?«

Kein Trotz, kein Zorn. Nur Angst mit einem winzigen Schimmer Hoffnung in dem hellen Grau.

Für einen Moment versank Nael darin.

»Komm mit.« Er musste die Situation sofort klären, wenn ihm Ivo vertrauen sollte. Die Frage, weshalb es ihm etwas bedeutete, dass ein Sippenloser nicht den Glauben an ihn verlor, streifte ihn nur flüchtig.

Er führte Ivo zu Jeronimo. »Ich will, dass er die Tagesausbeute für mich vorsortiert und die lohnenden Stücke persönlich zu mir in den Waagraum bringt.« Auf diese Weise konnte er Ivo täglich sehen und kontrollieren, wie es um ihn stand. »Außerdem sagst du den Wachleuten, dass sie die Finger von ihm zu lassen haben.«

Jeronimos Brauen wanderten bis zum Anschlag hinauf. »Warum sollte ich das veranlassen? Er ist leckerstes Frischfleisch und die Wachen leisten einen harten Job. Gönn ihnen den Spaß.«

»Jeder, der ihn anrührt, ist ein toter Mann.« Er erschreckte sich erst über die eigenen Worte, als er sie bereits ausgesprochen hatte.

»Was soll das? Bisher hast du dich nie für einen Gefangenen eingesetzt.«

»Bisher hat mir auch noch keiner von ihnen den Standort einer neuen Smaragdader genannt.« Er beantwortete Jeronimos Misstrauen mit einem hoffentlich arglosen Lächeln. »Ivo wird uns hinführen.«

»Ich weiß nicht, ob es eine Ader ist.« Klugerweise hielt Ivo den Blick gesenkt. »Doch die Suche dort lohnt sich.«

»Wie groß sind die Steine im Durchschnitt?«, fragte Jeronimo.

Ivo bildete eine Faust.

Ein guter Versuch. »Ohne das Erz.« Das helle Kalzitgestein, auf dem die Smaragde saßen, war nett anzusehen, aber wertlos.

»Etwa so groß wie die Kuppe des kleinen Fingers«, sagte Ivo kleinlaut.

»Immerhin. Wo?«

»Eine Stunde flussaufwärts. Unterhalb der Villa Jimena.«

Jeronimo bekreuzigte sich.

Kein Wunder, dass bisher dort nie geschürft worden war. Die Villa stand leer. Böse Sagen rankten sich wie die Schlingpflanzen des Dschungels um ihre Säulen. Milan Acosta hatte sie für seine erste Frau gebaut, das lag lange zurück. Doch als der grün schimmernde Reichtum seine Seele fraß und sein Herz zu Stein verwandelte, hatte sich Jimena aus Verzweiflung in ihrem Haus erhängt. Die Leute machten einen großen Bogen darum, weil sie Jimenas unglücklichen Geist fürchteten.

Ivo hatte sich davon anscheinend nicht abschrecken lassen.

»Ein Nebenarm des Rio Minero gräbt sich am Hang des Hügels durch die Felsen«, berichtete er weiter. »Während der letzten Regenzeit stürzten Teile der Uferwände hinab. Darin fand ich die Smaragde. Ich brach ein Stück des Erzes heraus und rannte ins Dorf, um den Mann meiner Schwester um Hilfe zu bitten. Er war ein Guaquero.«

Ivos Ton nach hielt er nicht viel von ihm.

»Aber Keke war betrunken und lag ihm Bett. Ich weckte ihn trotzdem. Plötzlich drehte er durch. Er lachte wie verrückt und brabbelte immer wieder, dass wir jetzt reich wären und ein neues Leben beginnen würde, dass er mich in Seide kleiden und mich aus dem Dreck holen würde. Er sprang auf und versuchte mich zu küssen. Da habe ich ihn von mir weggestoßen und gebrüllt, dass er mich in Ruhe lassen und meinetwegen meine Schwester in Seide stecken soll.«

Jeronimo musterte ihn mit einem abfälligen Grinsen. »Er war scharf auf dich?«

Ivo sah an ihm vorbei. »Seine Augen wurden auf einmal ganz glasig. Er packte mich, warf mich zu Boden und riss mir die Kleider vom Leib.« Um Ivos Nase wurde es weiß.

»Du hast dich gewehrt und ihn im Handgemenge erschlagen.« Niemand hätte das dem Jungen verübelt. »Weshalb hast du das den Ältesten nicht gesagt?«

»Sie hätten mir nicht geglaubt. Die Nachbarn stürmten in die Baracke, kaum dass ich mich wieder angezogen hatte. Sie bemerkten den Schürfhammer und den Smaragd und behaupteten, Keke hätte mich dabei erwischt, wie ich ihn bestehlen wollte. Deshalb wäre es zum Kampf gekommen. Sie wussten, dass ich ihn nicht ausstehen konnte. Aber wen hätte ich sonst um Hilfe bitten sollen?«

»Während deiner Verhandlung hättest du auf jeden Fall deinen Mund aufmachen müssen«, sagte Jeronimo verächtlich. »Das hätte dir immerhin lebenslänglich erspart.«

»Das habe ich. Doch meine Schwester erzählte den Ältesten, dass ich schon früher versucht hätte, Keke zu verführen und dass sie immer vermutet hätte, ich wäre scharf auf ihn.«

»Was du wahrscheinlich auch warst.« Jeronimo stieß den Jungen zu Nael. »Hier, fahre mit ihm hinüber und erkläre ihm seinen Job. Aber mit den Wächtern rede ich erst, wenn ich mich von der Wahrheit überzeugt habe.« Er gab den Soldaten ein Zeichen, dass sie die Gefangenen auf die Fähre bringen sollten, und eilte zur Festung zurück.

»Ich war nicht scharf auf ihn.« Ivo wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Keke war ein Schwein.«

»Von der Sorte Mann gibt es in der Mine reichlich.« Nael fasste ihn an den Schultern. »Wenn du uns angelogen hast, was die Fundstelle betrifft, hast du dir gerade dein eigenes Grab geschaufelt.«

»Habe ich nicht.« Er hob den Blick. »Die Smaragde, die Don Jeronimo dort finden wird, wiegen mein Leben mehr als einmal auf.«

»Du pokerst hoch.«

»Ich habe dein Wort, Don Nael.« Ivo sah ihm herausfordernd in die Augen.

Nael verzichtete auf den Schlag.

Der Mut des Jungen imponierte ihm.

 

~*~

 

Ivo wurde schlecht, als ihn Don Nael auf die Fähre schob. Hinter ihm lag sein altes Leben, das zwar nicht schön, aber erträglich gewesen war.

Vor ihm wartete der Schlund der Hölle auf ihn.

Die Leute im Dorf sagten, niemand, der das Glück hatte, die Minen irgendwann wieder zu verlassen, wäre noch derselbe.

Blasse Gespenster, ausgemergelt und schweigsam.

Er würde in den Stollen sterben.

Ihm trat der Schweiß auf die Stirn.

»Du hast eine Schwester.« Don Nael sah auf den Fluss. »Auch Eltern?«

Ein Duft nach Zedern umhüllte ihn. Es war Ivo vorhin schon aufgefallen. Er atmete tief ein. Für einen winzigen Moment fühlte er sich getröstet und geborgen.

»Hey!« Don Nael stieß ihn an.

»Verzeihung.« Was hatte er gefragt?

»Deine Eltern.« Er hob die Brauen. »Leben sie noch?«

»Nein.« Und selbst wenn, würden sie ihm nicht helfen können.

»Was ist mit ihnen geschehen?«

»Sie wurden während eines Bebens vor zehn Jahren verschüttet.« Damals war er bereits acht Jahre alt gewesen und hatte dennoch nicht verstanden, warum sie nicht nach Hause zurückkamen.

»Eine Erdbeben-Waise.« Don Naels Blick streifte über ihn hinweg. »Kein Einzelschicksal in diesem Land.«

»Ich vermisse sie trotzdem.« Wären sie noch am Leben, würde sich seine Schwester nicht jedem Mistkerl an den Hals werfen.

»Du bist alt genug, um ohne sie klarzukommen.« Er wandte sich einem der Soldaten zu, plauderte mit ihm über irgendwelche Vettern und wie es einer Cousine zigsten Grades ginge.

Ivo schloss die Augen. Der Zedernduft log. Don Nael war ein Fürstensohn. Ebenso wie Don Jeronimo. Auch wenn sein Blick weniger kalt und seine Schläge weniger hart waren, was mit einem Sippenlosen geschah, interessierte ihn nicht. Er hatte sich nur seiner angenommen, weil er scharf auf die Smaragdmine war.

Die Sehnsucht nach einem aufrichtig netten Wort, nach einem Hauch Trost in all dem Trübsinn, schnürte ihm die Kehle zu.

Der Griff zum Hammer hatte den letzten Rest Helligkeit aus seinem Leben gefegt. Hätte er Keke gewähren lassen, sich nicht gewehrt, wäre er frei, vielleicht sogar reich. Er schämte sich bis ins Mark für diese feigen Gedanken. Dennoch blieben sie in seinem Kopf, setzten sich immer fester.

»Wir sind da.« Don Nael musterte ihn aus den Augenwinkeln. »Willkommen in deinem neuen Leben.«

Ivo wurde schlecht vor Angst. Er beugte sich über die Reling, kämpfte mit dem Brechreiz.

Das Lachen der Soldaten drang zu ihm.

Es war ihm egal.

»Du hast mein Wort.« Don Nael sprach leise, freundlich. »Ich halte es.«

Zedernduft. Eine Hand auf seinem Rücken. Sie führte ihn von der Fähre über einen Fußweg hinüber zu einer Barackensiedlung.

»Hier werdet ihr essen und schlafen«, erklärte Don Nael. »Dort drüben werden die Werkzeuge und Helme ausgegeben und hier vorn bekommt ihr eure Nummern und die Arbeitskleidung.« Er wies auf das größere der beiden Gebäude aus Beton. »Nur nebenbei: Überlegt euch gut, ob ihr fliehen wollt. Der Rio Minero umschließt dieses Gebiet zwar weiträumig, aber er umschließt es. In dem Wasser wimmelt es von Alligatoren. Sollte einen von euch die Todessehnsucht packen, bedenkt, es gibt schönere Arten zu sterben als zwischen den Kiefern dieser Biester.«

Welche? Sich zu Tode zu arbeiten? Während eines Bebens in den Stollen verschüttet zu werden?

»Doch zuerst seht euch die Mine an.« Don Nael machte den Soldaten ein Zeichen und sie schlugen den Weg zu einer breiten Rampe ein, die steil bergab führte. »Die Vorarbeiter werden euch sicherheitstechnisch belehren. Mein Rat: Hört ihnen aufmerksam zu. Beide Nebenstollen sind instabil. Zittert der Boden, heißt es: rennen!«

Einige der Mitgefangenen bekreuzigten sich.

»Wenn ihr weiße Streifen im Schiefer freilegt, folgt ihr ihnen«, ertönte Don Naels Stimme klar und fest durch Ivos Angst. »Der Kalzit kann euch die Spur zu den Smaragden weisen, muss es aber nicht. Solltet ihr jedoch Erfolg haben, informiert ihr den Vorarbeiter, bevor ihr weiterschürft.« Er blickte über die Schulter. »Wer von euch meint, dass sich an diesem Ort ein Diebstahl lohnen würde, darf es gern versuchen.«

Die Soldaten lachten trocken.

Ivo stolperte ihnen hinterher.

Der Höllenschlund. Schwarz vor dem dunkelgrauen Gestein. Er schluckte die Rampe in seinem Schatten.

Steine und Schlamm, Wege ins Dunkle. Männer mit Schutzhelmen, Lichter, die durch die Finsternis irrten und sie dennoch nicht erleuchteten. Schmutzige Gesichter, gebeugte Rücken. Zu große Augen ohne Ausdruck. Als wären sie längst tot und ihre Besitzer hätten es nicht bemerkt.

Wachleute mit Impulswaffen am Gürtel, Schlagstöcken in der Hand.

Wozu das andere, wenn sie das eine besaßen?

Weil Tote nicht schürfen, gebrochene Knochen aber heilen konnten.

Ivo senkte den Blick. Es hatte nichts mit Don Jeronimos Befehl zu tun. Es war gut, hier nichts zu sehen. Nicht zu wissen, wohin es ging. Nicht denken. Nur auf den nächsten Schritt konzentrieren. Er führte tiefer und tiefer ins Innere des Albtraumes.

Don Nael erklärte den Verlauf des Hauptstollens, wies auf Dinge hin, die Ivo nicht verstand. Sein Leben endete in dieser Dunkelheit. Umgeben von schwarzem Schlamm und Toten, die dennoch ihre Hacken in den Schiefer schlugen.

»Das war’s«, ertönte es von vorn. »Ab hier braucht ihr Sicherheitshelme.«

Von dem Rückweg bekam Ivo fast nichts mit. Er spürte seine Beine kaum noch.

Die Barackensiedlung.

Rissiger Beton unter den Füßen, gekachelte Wände, Brauseköpfe an der einen, Regale mit Wäschebündeln auf der anderen Seite.

Ein Mann mit weißem Mundschutz.

Worte. Ermahnungen. Regeln. Drohungen. Verbote.

Heruntergesagt, als wären die immer gleichen Sätze viel zu oft aus dem Mund gekommen.

Don Nael stand plötzlich neben ihm.

Der Zedernduft umhüllte ihn, gaukelte Ivo etwas Gutes an diesem furchtbaren Ort vor.

»Ich warte draußen auf dich.«

Seine Stimme. Ganz anders als die des weiß bekittelten Mannes.

»Wenn du hier fertig bist, weise ich dich in deine neue Arbeit ein.«

»Don Nael.« Einer der Wachleute näherte sich. »Belasten Sie sich bitte nicht mit den Häftlingen. Die Vorarbeiter übernehmen diese Aufgabe.« Er sprach höflich, wohlwollend. Als wollte er ihn schützen.

Er mochte ihn.

Wie konnte jemand einen Fürstensohn mögen? Sie knechteten das Land, zusammen mit ihren Vätern. Zusammen mit ihren Großvätern, die verurteilten und Stimmen schon in Kehlen töteten. Lange bevor sie sich hervorwagten, um Taten zu erklären, zu leugnen, zu verteidigen.

Das Wort eines Sippenlosen galt nichts.

Wozu dann sprechen?

»Nicht bei diesem Mann, Pedro.«

Freundlich, doch bestimmt. Tief, ohne hart zu klingen.

Eine Stimme mögen und den Besitzer fürchten. War das möglich?

»Er wird mir zuarbeiten und muss wissen, worauf es ankommt.«

Der Mann sah ihn verblüfft an. »Verzeihung, Don Nael. Das wusste ich nicht.« Er steckte den Schlagstock in die Halterung. »Ich lasse Ihnen einen Kaffee bringen, während Sie warten.«

»Nicht nötig, danke. Ich kenne mich ja aus.«

»Natürlich.«

Ein leerer Platz hinter ihm.

Jemand schloss Handschellen auf. Für einen Augenblick hörte Ivo nur ihr Klirren.

Eine Anweisung zum Ausziehen, eine zum Duschen, eine zum Abtrocknen, eine zum Anziehen der Arbeitskleidung, eine, jeden Gedanken an eine Flucht fahren zu lassen.

Impulswaffen, Schlagstöcke, Hunde.

Grausame Todesvarianten.

»Drei Zahlen und ein Buchstabe. Vergesst eure Namen. Sie existieren nicht länger.«

Ein metallischer Stempel. Der Gestank versengter Haut, das Stöhnen der Männer vor ihm.

Der Mundschutzmann. Er drehte Ivos Handgelenk nach oben, drückte den Stempel unterhalb der Armbeuge auf.

Hitze, Schmerz.

Ivos Magen krampfte.

Gelber Schleim klatschte auf die Fliesen, tropfte nach.

Er verätzte seinen Magen, seine Kehle.

Der Soldat neben ihm rammte ihm die Faust in den Bauch.

Noch mehr gelber Schleim.

»Reiß dich zusammen«, knurrte der Mann. »Oder du überlebst deinen ersten Tag nicht!«

Ivo presste die Lippen aufeinander, zwang sich, alles hinunterzuschlucken, was in ihm aufstieg.

Schleim, Angst, Verzweiflung.

917R. Die Nummer brannte in seinem Fleisch.

»Es ist mir unverständlich, weshalb Don Nael mit dir arbeiten will.« Der Wachmann packte ihn im Nacken. »Wage es, und enttäusche ihn!« Er stieß ihn Richtung Tür. Der Soldat daneben öffnete sie.

Don Nael sah ihm entgegen. Eine Tasse Kaffee in der Hand.

Der Duft verbarg für einen Moment die scharfkantige Angst unter einer weichen Decke. Das Knurren des Hundes zog sie wieder weg.

»Ab hier übernehme ich ihn«, sagte Don Nael dem Mann. »Perro passt schon auf mich auf.«

Da war Spott in der Stimme.

Weil der Hund Hund hieß? Hunde sollten richtige Namen haben.

Ivo hatte seinen verloren.

917R.

Seine Knie gaben nach.

»Trink einen Schluck.« Don Nael hielt ihm die Tasse hin. »Kaffee hilft immer.«

Seine Hand zitterte. Er würde alles verschütten. Eine Falle. Um ihn zu testen. Wenn er trank, würde etwas Furchtbares geschehen. So wie eben in dem gekachelten Raum.

»Trink den verdammten Kaffee, Ivo.«

»917R.« Ivo existierte nicht mehr.

Don Nael packte ihn am Kinn, drückte es hinauf. »Sieh mich an.«

»Don Jeronimo hat …«

»Sieh mich an!«

Ivo gehorchte.

»Ich schätze Blickkontakt während eines Gespräches. Gleichgültig, mit wem ich es führe, verstanden?«

»Verstanden, Don Nael.«

»Ich bin ein Fürstensohn.«

Kein Stolz in der Stimme.

»Ich kann es mir leisten, die meisten der von meiner Sippe aufgestellten Regeln zu ignorieren. Also werde ich dich so ansprechen, wie es mir passt.« Er packte Ivos Arm, drehte ihn nach innen.

Die Nummer leuchtete auf der geschwollenen Haut.

»Dein Name ist Ivo.«

Die strenge, doch ruhige Stimme drang durch flirrende Angst.

»Wenn du mit mir allein bist, ist das dein Name.«

Ivo nickte.

»Wenn du mit mir allein bist, siehst du mir in die Augen, wenn ich mit dir rede.«

Ivo nickte erneut.

»Das gilt ebenfalls für nonverbale Kommunikation.«

»Für was?«

In Don Naels Mundwinkeln zuckte es. »Für ein Gespräch ohne Worte.«

»Geht das denn?« Dieser Mann verwirrte ihn. Das, was er sagte, und wie er es sagte.

Auch der amüsierte Blick.

»Gut, das mit dem in die Augen sehen hast du offenbar verstanden. Und jetzt trink den Kaffee.«

Er war ein Fürstensohn. Niemand traute einem Fürstensohn. Was sollte er nur tun?

»Also gut.« Seufzend schob er ihn vor sich her zu dem zweiten Betongebäude.

Kompakt, ohne Fenster, nur schmale Lüftungsgitter knapp unter dem Dach.

Eine Stahltür.

Don Nael drückte den Daumen auf ein Sensorfeld. »Steinzeittechnik«, murmelte er und verzog den Mund. »Die Gringos verwahren sogar ihre hässlichen Frauen hinter tausendmal effizienteren Sicherheitsmaßnahmen, dabei würde die ohnehin keiner klauen.«

Die Tür schwang auf.

»Ich dagegen hüte Reichtümer.«

Zwei Stühle, ein Tisch, eine elektronische Waage darauf, eine Bodenwaage daneben, ein Regal, Körbe gefüllt mit Smaragdquarzbrocken.

»Kommt dir der Gedanke, etwas hieraus zu stehlen?«

»Nein.« Er hätte sich in den Fluss stürzen sollen. Das war sein einziger Gedanke.

»Gut, denn es würde dir nichts bringen. Du bist in der Strafkolonie, du bleibst in der Strafkolonie und jedes Mal, wenn du diesen Raum verlässt, werde ich deine Taschen kontrollieren.«

»Ich habe keine.« Nicht in der Arbeitshose, nicht im Kittel.

»Aus gutem Grund«, plauderte Don Nael. »Nebenbei, es war ein Scherz. Selbst die Kleidung der Wachleute ist taschenfrei. Ebenfalls eine Maßnahme unserer Steinzeit-Sicherheit.«

»Ich könnte einen der Steine schlucken.« War er bei Sinnen?

»Diese scharfkantigen Brocken?« Er lachte. Weder zynisch noch boshaft. Einfach nur amüsiert. »Viel Spaß dabei, aber vergiss nicht, dass alles, was reingeht, auch wieder rausmuss.« Er zog etwas aus der Hosentasche. »Vielleicht würde es bei diesem hier Sinn machen.«

Ein geschliffener Smaragd, tiefstes Tannengrün.

»Fünf Komma ein Karat.« Don Nael hielt den Stein ins Licht. »Ein perfekter Facettenschliff. Siehst du, wie er funkelt?«

Ivo verlor sich in leuchtendem Grün.

»Nach dieser Arbeit lobte mich Meister Aaron zum ersten Mal. Mann, ich bin geplatzt vor Stolz.« Er steckte den Stein zurück in die Tasche. »Du müsstest mich umbringen, um ihn mir abzunehmen. Bist du bereit dazu?« Der Blick der braunen Augen senkte sich in seinen. »Vergiss bei diesem Gedankenspiel für einen Moment, dass du auch mit dem Stein in der Kolonie festsitzt.«

»Nein. Ich könnte es nicht.« Der Anblick, wie der Hammer Kekes Schläfe durchschlagen hatte, war entsetzlich gewesen.

Nur aus dem Reflex. Instinkt. Um sich zu schützen.

Er hatte einen Menschen getötet.

»Trink jetzt einen Schluck dieses längst kalten Kaffees oder ich verpasse dir einen Schlag, der dich von den Füßen haut!« Don Nael stellte die Tasse auf den Tisch, drückte Ivo auf einen der Stühle. »Junge, du bist schon grau im Gesicht!«

Während Ivo versuchte zu gehorchen, redete Don Nael von Qualitätsunterschieden, Karat, Facettenschliff und auf welchen Farbton er besonders Wert legt. Mitteldunkles Grün. Er zeigte ihm ein Beispiel. Mit den dunkleren Tönen könnte er nichts anfangen, da sie dem Stein weniger Brillanz gäben.

Ivo bemühte sich vergeblich, das Gesagte zu verstehen.

 

~*~

 

Der Junge war komplett neben sich und kurz davor, umzukippen.

Mit bebenden Fingern probierte er die Tasse zum Mund zu führen.

Er verschüttete den Kaffee, stammelte eine Entschuldigung, zitterte noch stärker. Jeglicher Widerstand, jeder Mut war aus den Augen gewichen, nur Angst blickte Nael entgegen.

Ivo war zu jung für die Minen, auch wenn ihn der Ältestenrat hierhergeschickt hatte. Wie alt mochte er sein? Siebzehn? Achtzehn?

»Ich kann dich nicht vor der Arbeit im Stollen bewahren.« So gern er es getan hätte. »Das hier erfordert nur ein paar Stunden des Tages. Den Rest wirst du wie die anderen die Hacke schwingen müssen.«

»Ist okay«, murmelte Ivo und versuchte sein Glück mit dem Kaffee erneut. Dieses Mal landete wenigstens etwas davon in seinem Mund. »Ich bin stärker, als ich aussehe.«

»Das hoffe ich für dich, Ivo.« Der dünne Kittel war ihm viel zu weit. Er würde ihn ohnehin nicht lange anlassen. In der Mine war es heiß und feucht. Die Männer begnügten sich mit Unterhemden oder arbeiteten mit bloßem Oberkörper.

»Danke«, sagte Ivo leise. »Dafür, dass Ihr Euer Wort haltet und mir meinen Namen lasst.«

»Er hat die Wahrheit gesagt.« Jeronimo tauchte grinsend in der Stahltür auf. »Keine überragende Ader, aber lohnend. Wir sollten die Stelle einzäunen und Soldaten aufstellen. Das hält die Guaqueros vorläufig ab.«

»Soll das heißen, du bist bereit, in der Nähe der Villa schürfen zu lassen?«

»Nicht ich werde die Sippenlosen dort beaufsichtigen.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Sondern Diego.«

Nael musste lachen. »Wie das denn? Willst du ihn hinprügeln?«

Jeronimos Augen leuchteten in einem grausamen Glanz. »Wenn es sein muss.«

»Er ist unser Bruder!«

»In erster Linie ist er ein Fürstensohn«, sagte er kalt. »Es wird Zeit, dass er sich seiner Verantwortung stellt.«

Diego glich einem rückgratlosen Frettchen. Dennoch empfand Nael Mitgefühl für ihn.

»Der kommt mit mir.« Jeronimo nickte zu Ivo. »Die Wachen wissen Bescheid, dass er unser Samthandschuh-Kandidat ist.« Er musterte Ivo unter halb geschlossenen Lidern. »Das wird dir zwar den ein oder anderen Fick ersparen, aber dein Ansehen bei deinen Mitgefangenen in den Keller ziehen.«

Ivo sah auf. »Ich bin nicht hier, um gemocht zu werden.«

Scheiße, verdammte! Hatte der Junge nichts begriffen?

Mit wenigen Sätzen stand Jeronimo vor ihm, schlug ihn so fest mit dem Ziemer, dass Ivo vom Stuhl fiel.

An seinem Oberarm sickerte Blut durch den Kittel.

Keuchend presste Ivo die Hand auf die Stelle.

Nael nahm seinen Bruder beiseite. »Das war unnötig.«

»Er ist ein Häftling in meiner Mine. Also entscheide ich, was nötig ist und was nicht.« Er packte den Jungen am Kragen, zerrte ihn auf die Füße. »Raus mit dir!« Er stieß ihn vor sich her aus dem Gebäude.

Was hatten die Smaragde bloß aus ihnen gemacht?

Nael stellte sich diese Frage oft.

Der letzte Schluck Kaffee und er machte sich auf den Weg zurück zur Festung.

Ivo ging ihm nicht aus dem Kopf.

Für jeden, der hier landete, war es schlimm. Aber die meisten von ihnen wussten, warum sie verurteilt worden waren.

Ivo auch.

Es war Notwehr gewesen.

Wenn er die Wahrheit gesagt hatte.

Wie wäre es, in die hellen Augen zu sehen und eine Lüge zu hören? Würden sie es verraten? Oder würden sie ihn ebenfalls täuschen?

Während ihm Ivo die Geschichte erzählt hatte, war Nael keine Sekunde misstrauisch gewesen. Normalerweise spürte er, wenn er belogen wurde.

Was machte er sich Gedanken um einen Häftling?

»Don Nael.« Salvatore nickte ihm zu, als er die Fähre betrat. »Waren ja noch zwei Kinder darunter.«

»Nein, das zum Glück nicht.« Aber fast.

»Ich hoffe, dass ihre Leichen nicht allzu schnell mit den Förderwagen aus dem Stollen gekarrt werden.« Der Fährmann blickte auf den Fluss, während er sprach. »Don Jeronimo ist ein anderer Minenherr als Don Leandro.«

Der leise, durchaus mutige Vorwurf entging ihm nicht. Ihr Vater hatte die Häftlinge in den Minen mit harter Hand geführt. Sie hatten sich vor ihm gefürchtet und ihn gehasst. Doch in den Förderwagen war in erster Linie Gestein aus den Stollen geschoben worden, keine Leichen.

Jeronimo ging nachlässig mit den Sicherheitsmaßnahmen um. Es geschah zu oft, dass Tunneldecken einstürzten und die Männer darunter begruben. Manche brachen auch einfach nur kraftlos zusammen, weil ihnen von Mitgefangenen die Rationen gestohlen worden waren. Die Wachleute interessierte das nicht. Sie waren so nachlässig wie ihr Herr.

»Mein Sohn ist etwa in dem Alter des Kieselaugen-Jungen.«

»Dann sind dir seine außergewöhnlichen Iriden ebenfalls aufgefallen?« Nael lehnte sich an die Reling. Er hatte nicht gewusst, dass Salvatore überhaupt einen Sohn besaß, dabei arbeitete er seit Jahren für Don Leandro.

»Zerschlägt man einen Kiesel«, sprach Salvatore mehr zu sich selbst, »glänzen die Bruchstellen. Vor allem, wenn sie nass sind.«

»Ich weiß.« Als kleines Kind hatte er das oft getan und sich eingebildet, es wären Edelsteine. Immer wieder hatte er die Hälften ins Wasser getaucht.

Das zornige Funkeln in Ivos Augen.

Es war erloschen.

Salvatore legte an, behielt die Umgebung des Ufers im Blick. Zwar wurden regelmäßig sämtliche Pflanzen entfernt, um den Alligatoren keine Möglichkeit zu geben, sich dort auf die Lauer zu legen, doch sicher war sicher.

Kiesel knirschten unter Naels Tritten.

Einer von ihnen besaß die Farbe von Ivos Iriden.

Nael hob ihn auf.

Er schmiegte sich perfekt in seine Handfläche. Ein schöner Stein, dabei so schlicht.

Auf dem Weg zur Festung wärmte er sich in seiner Hand auf.

»Don Nael!«, begrüßte ihn Alejandro. Der Soldat arbeitet ebenso lang für die Familie wie Salvatore. »Schon wieder zurück?«

»Ich muss an die Arbeit.« Er war für jeden Moment dankbar, in dem er den Minen fernbleiben konnte.

Alejandro öffnete für ihn das Tor, wünschte ihm noch einen schönen Tag.

Nael überquerte den Innenhof nur zur Hälfte, wandte sich dann nach links, wo seine Werkstatt in einem der Seitengebäude lag. Eines der Privilegien, die ihm sein Status als Don Leandros Sohn einbrachte, war, dass er sie allein nutzte.

Dafür war die Werkstatthalle der restlichen Schleifer geräumiger und auch moderner.

Zu viel Technik schadete einem hervorragenden Stein. Sie verführte zu Eile und Norm. Aber ein erlesener Smaragd war so individuell wie ein Mensch und besaß einen Anspruch auf eine angemessene Behandlung.

Er schloss die Tür hinter sich, legte den Kiesel auf den kleinen Tisch am Fenster.

Die Häftlinge hatten jedweden Anspruch eingebüßt.

Keinen Respekt, keinen Schutz, selbst das Leben stand ihnen nicht mehr zu. Starben sie in den Minen, krähte kein Hahn danach.

Im Regal stand eine Flasche Aguardiente für die Fälle, dass der Duft des Zedernöls nicht ausreichte, um ihm Frieden zu schenken.

Nael schraubte sie auf.

 

 

Zwei Jahre später

 

»Warum schließt du nicht ab?« Jeronimo betrat ohne zu klopfen die Werkstatt. »Fürchtest du nicht, dass dir jemand die Smaragde stiehlt?«

»Ich bin doch hier.« Nael versperrte die Tür nur, wenn er die Werkstatt verließ. Er und Jeronimo waren die Einzigen, die einen Schlüssel dazu besaßen.

»Der Häftling 917R ist abgehauen«, sagte Jeronimo nebenbei, während sich Naels Herz verkrampfte. »Er war in eine Schlägerei verwickelt und hat anschließend das Weite gesucht.«

Ivo. Nael zwang seiner Miene gelogene Gleichgültigkeit auf. Sein Bruder durfte nicht erfahren, was ihm der junge Mann mittlerweile bedeutete. »Er ist unbemerkt an den Wachen vorbeigekommen?«

»Wahrscheinlich hat er sich in einem der Förderwagen zwischen den Leichen versteckt. Wir hatten drei Todesfälle in der Nacht.« Er zuckte die Schulter. »Mag sein, dass er es im Schutz der Uferböschung bis zur Fähre geschafft hat. Die Alligatoren werden sich zuerst die Kadaver geschnappt haben.«

»Du denkst, Salvatore hätte ihm bei der Flucht geholfen?« Der Fährmann galt den Grünen Fürsten gegenüber als loyal. Damals hatte er sich aus freien Stücken für die Arbeit angeboten.

»Ein Wachmann hat gesehen, wie er mit nur einem Passagier ablegte und ohne wieder zurückkehrte.«

Verdammt. »Hast du schon mit ihm gesprochen?«

»Ich habe ihn sogar schon erschossen.« Jeronimo schnappte sich den Stuhl am Fenster und setzte sich rücklings darauf. »Der Kerl hat sich trotz meiner Überredungsversuche in den Tod geschwiegen. Als ich ihn nach 917R fragte, blieb er stumm wie ein Fisch. Also musste ich handeln.«

»Du hast ihn gefoltert?« Ein Gefühl, als läge in seinem Magen ein Stein.

»Gefoltert.« Jeronimo verdrehte die Augen. »Ich untermalte das Verhör mit ein paar gezielten Handgreiflichkeiten. Mehr nicht.«

»Salvatores Sohn hat vor einem Monat geheiratet. Das Mädchen ist schwanger.« Er wäre dieses Jahr Großvater geworden.

»Was interessieren mich die Belange der Sippenlosen?« Er nahm sich die Tasse, die noch vom Abend auf dem Tisch stand, schnupperte daran. »Du streckst deinen Kaffee mit Anisschnaps?«

»Manchmal.« In letzter Zeit öfter. Es lag an Ivo und den Sehnsüchten, die er in Nael weckte. Nach einer halben Flasche Aguardiente fiel es ihm leichter, sich vorzustellen, dass es nicht seine Hände waren, die ihm über den Körper bis zwischen die Beine wanderten.

Weshalb hatte sich Ivo geschlagen? Die Wachleute hätten ihn niemals angerührt. Es musste ein Streit mit einem anderen Häftling gewesen sein.

»Ich stelle einen Suchtrupp zusammen.« Jeronimos Grinsen verriet, dass er sich auf die Jagd freute. »Wenn wir ihn vor Sonnenuntergang nicht finden, spricht sich das bei den Gefangenen herum und bringt sie auf dumme Ideen.« Er leerte den Rest aus der Tasse, verzog angewidert den Mund. »Ich habe ihm von Anfang an angesehen, dass er eines Tages Ärger machen wird.«

Er ihm ebenfalls. Dennoch hatte Ivo seine Arbeit gewissenhaft erledigt. »Ich werde ihn suchen.« Jeronimo und seine Männer würden ihn töten, wie es das Gesetz für entlaufene Häftlinge vorsah.

»Verschwende nicht deine Zeit mit ihm. Auf deinem Tisch stapeln sich die Aufträge.« Jeronimo nickte zu der Werkbank.

Nael legte den Stein beiseite, dem er eben den ersten Glanz vermacht hatte. »Ivo ist zuverlässig. Das Gewicht der Ausbeute entspricht stets seinen Angaben.« Mittlerweile wog er das Smaragderz kein zweites Mal ab. »Ich will nicht, dass er wegen eines Zwischenfalls für die Mine verloren geht.«

»Ivo?«

Verflucht!

»Er besitzt keinen Namen mehr. Das weißt du.« Jeronimo musterte ihn unter halb gesenkten Lidern hervor. »Du magst diesen aufsässigen Kerl. Ich frage mich, weshalb.«

»Er ist ein fähiger Arbeiter, der einen guten Job macht.« Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ihm etwas geschehen sein könnte.

Wie zufällig griff Jeronimo nach dem Kieselstein, den Nael vor zwei Jahren am Flussufer aufgesammelt hatte. »917R ist wie jeder andere Sippenlose. Das hier.« Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ohne Glanz, ohne Wert und in Massen vorhanden.« Er warf ihn empor, fing ihn wieder auf. »Oder ist er mehr für dich?« Er schloss die Faust darum. »Liegt gut in der Hand, so ein Kiesel. Schmeichelt den Fingern.«

Das lüsterne Grinsen ließ Naels Herz vor Wut pochen.

»Ist er ebenso anschmiegsam? Liegt sein Schwanz ebenso angenehm in der Hand?« Er legte den Kiesel zurück, grinste noch breiter. »Ist es das, was du von ihm willst?«

»Was ich will oder nicht, geht dich nichts an.« Jedes Mal, wenn Ivo die Ausbeute in den Waagraum brachte und sich hinter ihm die Stahltür schloss, war er mit ihm allein.

Bis auf den Wachhund.

Ivo schaffte es meistens, Perros Anwesenheit zu ignorieren. Nur einmal hatte er angemerkt, dass der Name des Hundes nicht von sonderlicher Fantasie seines Besitzers zeugte.

Nael hatte lachen müssen und erwidert, was falsch daran wäre, einen Hund Hund zu nennen.

Alles, hatte Ivo geantwortet und gelächelt.

Das Lächeln war ebenso rasch von den Lippen verschwunden, wie es aufgetaucht war. Doch Nael hatte es gesehen und konnte es seither nicht mehr vergessen.

Jeronimo hatte recht. Er wollte Ivos Schwanz halten. Er wollte ihn reiben, in seiner Faust hart werden und abspritzen lassen. Er wollte ihn ablecken, seinen Duft inhalieren, mit den Fingern über Ivos sehnigen Körper gleiten und den stets in stummem Zorn verzogenen Mund so lange küssen, bis er weich und anschmiegsam wurde.

Aber er war ein Fürstensohn und Ivo ein Sippenloser.

Verachtung auf der einen, Hass auf der anderen Seite. So war es immer gewesen. Nael hütete sich, dieses Gefühle in Ivo zu schüren, indem er ihm zu nahe trat.

Dennoch kontrollierte er jedes Mal unauffällig Ivos Zustand. Existierten Verletzungen unter dem Schmutz, die nicht vom Schürfen stammten? Bewegte er sich schwerfällig? Wirkte er apathisch?

Sollte es einer der Männer wagen, Hand an ihn zu legen, würde er ihn töten.

»Hast du etwas von ihm? Einen Fetzen Kleidung oder einen Schuh?« Die Hunde brauchten etwas, wonach sie suchen konnten.

»Sein Kittel.« Mit dem Daumen wies Jeronimo zur Tür. »Liegt draußen. Ich wollte gerade zum Zwinger.« Er zog eine Zigarettenpackung aus der Brusttasche seines durchgeschwitzten Hemdes. »Willst du?«

»Vielleicht später.« Er musste Ivo finden, bevor Jeronimos Meute ihn aufspürte.

Sein Bruder zündete sich eine Zigarette an. »Die Hunde brauchen Bewegung.« Achtlos warf er die Packung neben den Kiesel. »Die Hatz wird ihnen guttun.«

»Gib mir zwei Stunden Vorsprung. Ich nehme Perro mit. Finde ich ihn, gehört er mir.«

»Nein. Du wirst ihn mir ausliefern. Es sei denn, du möchtest ihn eigenhändig töten.« Träge stand Jeronimo auf, schlenderte zur Tür. Mit dem schmutzigen Kittel kam er zurück.

Perro erhob sich von seinem Platz, trabte zu ihm und schnupperte an dem vor Dreck starrenden Kleidungsstück.

Der warf es ihm hin. »Dir ist klar, dass du gegen das Gesetz verstößt, wenn du ihn ungeschoren davonkommen lässt?«

»Ich sagte nichts von ungeschoren. Ich will ihm lediglich den Tod ersparen.«

»Was gegen das Gesetz verstößt.«

»Das wir gemacht haben!«

»Nein.« Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Milan Acosta. Vor hundert Jahren. Und er wusste genau, weshalb er sich weigerte, jemals Gnade walten zu lassen.«

»Das hier ist etwas anderes.« Ivo war etwas anderes.

»Vielleicht versteckt er sich in den Baracken der Guaqueros?« Jeronimo schlenderte zum Fenster, blickte hinüber zu der Mine. »Dann wird ihn die nächste Regenflut fortspülen. Zusammen mit dem Müll, den plärrenden Blagen, den kreischenden Weibern.«

»Du sprichst von Menschen.« Die Regenzeit holte sich ihre Opfer wie die Alligatoren ihre Beute. Dennoch verabscheute er Jeronimos Gleichgültigkeit.

»Die Sippenlosen sind keine Menschen. Ohne das Gesetz der Ältesten, ohne unsere Strenge und Führung würden sie sich wie früher wegen ein paar glänzender Splitter gegenseitig an die Kehle gehen.« Jeronimo sah dabei versonnen vor sich hin. »Nicht die Grünen Fürsten knechten das Land. Es sind die weißen Streifen im Schiefer, die Reichtum versprechen und nur selten ihr Wort halten. Hast du einem Guaquero mal in die Augen gesehen, wenn er nach endlosen Jahren endlich einen Smaragd im Kalzit findet?«

»Als würde sich ein Schleier vor seine Seele schieben.« Gewoben aus Gier und Sehnsucht.

Jeronimo nickte. »Ein Fieber, das unser Land mehr als einmal erfasst hat. Weder du mit deiner Nachsicht noch ich mit meiner Härte werden diese Seuche jemals ausrotten können. Uns bleibt nur, sie einzudämmen und zu kontrollieren.«

»Zwei Stunden.« In dieser Zeit musste er Ivo gefunden und einen Plan ersonnen haben, wie er ihn vor Jeronimo verstecken konnte. »Mehr verlange ich nicht von dir.«

»Du empfindest für ihn.« Während er ihm weiterhin in die Augen sah, reichte er ihm die Zigarette. »Deshalb bleibst du den Bordellen fern und unternimmst trotz Vaters ausdrücklichem Wunsch keinerlei Versuche, eine Frau zu finden.«

Nael inhalierte den Rauch tief, bevor er sprach. »Was ist mit dir?«

»Mir reichen die gespreizten Schenkel einer Hure.« Lässig zuckte er mit den Schultern. »Dennoch werde ich früher oder später Vater gehorchen. Unsere Familie braucht einen Stammhalter.«

»Zwei Stunden.« Nael gab seinem Bruder die Zigarette zurück. »Bitte.« Die Sorge um Ivo fraß sich wie ein Geschwür durch sein Herz.

»Zwei Stunden.« Jeronimo musterte ihn mit geneigtem Kopf. »Aber wenn ich ihn vor dir aufspüre, ist er mein.«

»Wirst du nicht.« Nael zog sein Hemd über, stopfte die nackten Füße in die Stiefel.

»Nimm die da mit.« Jeronimo nickte zu dem Regal, in dem Naels Impulswaffe Staub ansetzte. »Nur für den Notfall.«

Nael nahm die Waffe, bückte sich nach dem Kittel und wedelte Perro damit vor der Nase. »Du kennst ihn«, sagte er leise. »Dann finde ihn für mich.«

Der Hund winselte. Er wollte los. Er liebte es, durchs Dickicht zu stöbern. Davon abgesehen mochte er Ivo, auch wenn der dem Tier mit äußerster Vorsicht begegnete.

»Zwei Stunden«, rief ihm sein Bruder hinterher. »Danach lasse ich ihn von der Meute hetzen.«

Es gab einen Grund, weshalb die Sippenlosen nichts mehr hassten als die Grünen Fürsten.

Angst.

 

~*~

 

Sein Körper pochte vor Schmerz. Er konnte kaum laufen, geschweige denn aufrecht stehen. Die vergangenen Stunden waren eine Tortur gewesen.

Vorsichtig streifte Ivo die schmutzige Hose ab, schöpfte sich Wasser ins blutverkrustete Gesicht. Seine Nase war geschwollen, sicherlich gebrochen. Sein Kopf dröhnte von den Tritten. Ihm war übel, schwindelig.

Keine Zeit, auszuruhen, wenn er am Leben bleiben wollte.

Er kontrollierte die Oberfläche. So weit flussaufwärts gab es nur wenige Alligatoren. Sie warteten unterhalb der Minen auf leichtsinnige Guaqueros und die Leichen, die von den Wächtern in den Fluss geworfen wurden.

Sollte ihn Don Jeronimo aufspüren, gehörte er ebenfalls dazu.

Ivo biss die Zähne zusammen. Die Angst blieb ihm gemeinsam mit dem Schmerz im Nacken sitzen. Immer wieder war er eine kurze Strecke im Wasser gelaufen, um seine Spuren zu verwischen. Doch die Furcht, gefressen zu werden, hatte ihn stets erneut ans Ufer getrieben.

Hier war es sicherer.

Er ging tiefer in den Fluss, tauchte unter und wusch den Dreck der Stollen von sich.

Er war ein toter Mann. Das hatte nichts mit diesem eiligen Bad im Fluss zu tun.

Die Verzweiflung streifte ihn wie ein glitschiger Fisch.

In Muzo war sein Leben weniger wert als das der Wildhunde, die mit den schwarzen Geiern um das Aas stritten. Er musste weg. Nicht nur aus Muzo, auch aus Kolumbien.

Peru? Chile? Als entflohener Häftling blieb ihm nichts anderes übrig, als die Siedlungen zu meiden.

Tag und Nacht allein im Urwald. Dann konnte er Don Jeronimo gleich in die Arme laufen.

Ivo watete ans Ufer zurück, bückte sich nach seiner Hose.

»Lass sie liegen.«

Sein Herz setzte aus.

Don Nael trat aus dem Schatten der Bäume, eine Impulswaffe im Gürtel, den Hund an seiner Seite.

Er sollte sich hinknien, um Vergebung und Gnade bitten.

Selbst wenn es seinem geschundenen Körper leichter gefallen wäre, wäre er nicht dazu bereit gewesen. Er war lange genug vor den Wachmännern im Dreck gekrochen. Jeden Tag erneut.

Auch vor Don Jeronimo.

Nicht vor Don Nael. Die Arbeit mit ihm war mehr als ein Trost. Es bereitete ihm Freude, ihm zur Hand zur gehen. Don Nael war klug. Hatte viel von der Welt gesehen und ihm viel davon erzählt.

Der sonst freundliche Blick war hart, der Mund nur ein schmaler Strich. »Treibt sie im Fluss, glaubt mein Bruder, du wärst tot.«

»Werde ich tot sein?« Der Gedanke fühlte sich seltsam schwerelos an.

»Das liegt an dir.« Er kam langsam auf ihn zu. »Warum bist du geflohen?«

»Wie haben Sie mich gefunden?« So schnell. Viel zu schnell.

»Du bist zu clever, um dich flussaufwärts zu wenden, und du weißt, dass du wegen der Hunde in der Nähe des Wassers bleiben musst. Den Rest hat Perro erledigt. Er winselte vor Freude, als ich ihm deinen Kittel hinhielt.«

Der Hund sah ihn an, wedelte mit dem Schwanz.

»Ich habe dir deine Frage beantwortet. Was ist mit meiner?«

Ivo breitete die Arme aus. »Sehen Sie mich an.« Sein Körper war übersät mit den Malen, die Don Jeronimos Fäuste und Stiefelspitzen an ihm hinterlassen hatten.

Die steilen Falten zwischen den Brauen bildeten Krater. »Wer war das?«

Ivo biss sich auf die Lippen. Kein Fürstensohn stellte sich gegen den anderen. Schon gar nicht, wenn sie Brüder waren. Die Wahrheit würde ihm nur weitere Qual einbringen.

Don Neals Finger legten sich an sein Kinn. Vorsichtig schoben sie es nach rechts, dann nach links. »Ist deine Nase das Einzige, was gebrochen ist?«

»Ich hoffe es.«

»Du brauchst Ruhe.«

Die Finger blieben, wo sie waren.

»Lassen Sie mich laufen.« Bitte!

Ein Blick, der nichts über Don Naels Gedanken verriet, senkte sich in seinen.

Ivo versuchte wegzusehen. Vergeblich.

»Du hast Angst vor mir«, stellte er nach einer Weile fest.

»Eine Scheißangst.« Sie drang ihm durch jede Pore. »Ich weiß, wer Sie sind und was Sie sind. Wie sollte ich mich nicht vor Ihnen fürchten?« Don Nael würde ihn töten oder an seinen Bruder ausliefern. Er konnte gar nicht anders. Das Gesetz zwang ihn dazu.

»Gab ich dir je einen Anlass?«, fragte Don Nael leise.

»Nein. Aber bisher gab ich Ihnen auch keinen Grund, mir ein Leid anzutun.«

Ein Lächeln zuckte über den schmalen Mund. »Viele Häftlinge beziehen Prügel von den Wachmännern und bleiben dennoch. Warum spielst du bei dieser Flucht mit deinem Leben?«

»Weil es mir zuwider ist!« Er schlug die fremde Hand von sich.

Don Naels Pupillen verengten sich zu winzigen Punkten.

Ivo sank auf die Knie, keuchte vor Schmerz. »Vergeben Sie mir.«

Ein Reflex seiner Seele. Sie hing an dem schäbigen bisschen Leben.

Er hasste sie dafür.

Perro kam näher, schnupperte an ihm.

Nur ein Wort von seinem Herrn und das Tier würde vergessen, dass es Ivo kannte, ihn Tag für Tag sah und im Waagraum geduldig auf Don Nael wartete.

Ivo schloss die Augen, versuchte zu beten. Die Angst fraß jede Andacht aus ihm.

»Ich rang meinen Bruder einen Vorsprung von zwei Stunden ab.« Don Nael hockte sich vor ihn. »Wenn wir hier länger verweilen, war das umsonst.«

»Was haben Sie mit mir vor?« Er wagte es nicht, den Blick zu heben.

»Dich vor ihm zu verstecken, bis mir etwas Besseres einfällt.« Er griff ihm unter den Arm, zog ihn auf die Beine. »Dafür schuldest du mir die Wahrheit, nicht nur, wer dich geschlagen hat, sondern auch weswegen.«

»Es war Don Jeronimo.« Die Worte drangen aus seinem Mund, scherten sich nicht um sein panisch schlagendes Herz. »Er lauerte mir in der Baracke auf, wollte mich …« Er biss sich auf die Lippen.

Schon seit Monaten verfolgte ihn der Fürstensohn mit lüsternen Blicken. Ivo hatte sich bemüht, ihm so wenig wie möglich über den Weg zu laufen.

Am Morgen hatte Don Jeronimo vor seiner Pritsche gestanden. Alle anderen Schlafstätten waren verlassen gewesen. Da hatte Ivo gewusst, was ihm blühte.

Der Versuch, an ihm vorbeizurennen, scheiterte an einem Schlag in den Magen. Einer ins Genick folgte, dann hatte ihn Don Jeronimo halb ohnmächtig zurück auf die Pritsche gezerrt.

Ivo wurde schlecht.

»Hat er es getan?« Die strenge Miene verriet nicht die geringste Regung.

Ivo schüttelte den Kopf. »Er hat es versucht, immer wieder. Aber es hat nicht funktioniert.« Don Jeronimos Schwanz war schlaff wie eine gekochte Nudel geblieben. Schließlich hatte er ihn vor Wut brüllend geschlagen und getreten. Erst als einer der Wachmänner kam, hatte er von ihm abgelassen.

Störrische junge Gäule wollen scharf zugeritten werden.

Er hatte dem Mann ins Gesicht gegrinst und war gegangen.

Bleib liegen, hatte ihm der Wächter zugeraunt. Vielleicht wird es dann wieder.

Um keinen Preis der Welt wäre er liegen geblieben. Kaum dass er wieder Luft bekommen und seine Beine zu zittern aufgehört hatten, war er geflohen.

Niemandem war aufgefallen, dass er sich zwischen die Leichen in einen der Förderwagen gequetscht hatte. Er hatte sich die Lippen blutig gebissen, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben. Mit den Toten zusammen hatte er sich wie Müll in den Fluss kippen lassen, um sofort dicht am Ufer entlang flussaufwärts zu tauchen. Nur ein paar Meter, bis die Böschung ihn vor fremden Blicken verbarg.

Während der Zeit unter Wasser hatte er sich in Gottes Händen gefühlt. Eine schwebende, an Wahnsinn grenzende Euphorie, trotz der Tatsache, dass hinter ihm fingerlange Zähne in lebloses Fleisch drangen.

Einen Moment Freiheit. So dicht am Tod. Kein Schmerz, keine Angst. Einfach nur Leben.

Das tonnenschwere Gewicht der aussichtslosen Situation war ihm erst an der Fähre in die Seele gefahren, aber Salvatore hatte ihm nur schweigend zugenickt und abgelegt. Kein Wort hatte er während der Fahrt mit ihm gewechselt.

Auf der anderen Seite war Ivo ins Dickicht getaucht und so schnell er konnte flussaufwärts gerannt.

»Don Jeronimo?« Don Nael starrte ihn fassungslos an. »Mein Gott, davon hat er mir nichts erzählt.«

»Natürlich nicht. Er denkt, Sie würden mich …« Verdammt, mit jedem Wort spielte er leichtfertiger mit seinem Leben. Doch Don Jeronimo hatte es immer wieder gekeucht, während er sich vergeblich abgemüht hatte. »Ich versicherte ihm, dass es nicht stimmt. Dass Sie mich nie angerührt hätten.« Geschrien hatte er es, so oft Don Jeronimos Wut ihm dazu Luft gelassen hatte. »Ich wollte mich wehren.« Er war kurz davor gewesen, die Faust auf das verhasste Gesicht zu schmettern. Für einen Moment inmitten von Angst und Wut war er bereit gewesen, sein Dasein gegen diesen einen Schlag einzutauschen.

»Daher seine Andeutungen«, murmelte Don Nael. »Er muss geahnt haben, was ich für dich empfinde.«

»Was?« Ivo stolperte zurück. Don Nael war stets freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn oft betrachtet, auch aus den Augenwinkeln, wenn er dachte, er würde es nicht bemerken. Doch er hatte es bemerkt.

»Du bist schön«, sagte er leise. »Deine Augen, dein herausfordernder Blick.« Ein wehmütiges Lächeln zeigte sich in dem hageren Gesicht. »Deine Art, kerzengerade vor mir zu stehen, wenn wir die Tagesausbeute prüfen. Viel zu stolz für einen Sippenlosen. Ich hätte dich dafür ohrfeigen sollen, statt dich zu bewundern.« Er sah an ihm hinab. In den dunklen Iriden spiegelte sich Ivos Nacktheit.

»Bitte, machen Sie das nicht.« Seine Knie gaben nach.

»Ich tue dir nichts.« Mit einer beruhigenden Geste hob Don Nael die Hände. »Es war nur ein Blick, mehr nicht.«

Ivo schloss die Lider. Ihm war seltsam. So schwach.

»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«, drang die tiefe Stimme viel zu leise zu ihm.

Essen. Am Abend, bevor er sich hingelegt hatte.

Nein, er wollte nichts essen. Nur schlafen.

»Ivo!«

Ein Schlag auf die Wange.

»Augen auf!«

Ivo gehorchte. Zwischen grellen Lichtblitzen erschien Don Naels Gesicht.

»Du kennst die Villa Jimena.«

Das Geisterhaus mit der unglücklichen Seele einer längst toten Frau.

Smaragde. Am Fuß des Hügels, wo der Nebenarm des Rio Minero kaum drei Meter breit floss. Don Jeronimo hatte die Gegend umzäunen lassen. Angeblich patrouillierten dort Soldaten.

»Geh da hin«, befahl Don Neal. »So dicht an der Smaragdader wird dich Jeronimo niemals erwarten. Außerdem fürchtet er die Villa und wird sich keinen Schritt näher dorthin wagen als unbedingt nötig.«

»Jimenas Geist geht in diesem Haus umher.« Er würde den Morgen nicht mehr erleben.

»Und eben deshalb ist es der einzige Ort, an dem du in Sicherheit bist.« Don Nael pfiff den Hund zu sich. »Ich komme nach und bringe dir etwas zu essen und neue Kleidung.« Er bückte sich nach der Hose, warf sie in hohem Bogen in den Fluss. »Wenn du meinem Bruder nicht nackt in die Hände fallen willst, tust du, was ich sage. Vertrau mir.«

»Du bist ein Fürstensohn.« Das schloss Vertrauen aus.

Ein Schleier sank über die braunen Augen.

»Ich bin der Mann, der niemals Hand an dich legte«, stieß Don Nael hervor. »Der stets freundlich zu dir war und nun bereit ist, seine Existenz für dein Leben zu opfern! Was denkst du, erwartet mich, wenn Jeronimo erfährt, dass ich einen entlaufenen Sträfling vor dem Gesetz schütze?« Seine Finger ballten sich zu einer Faust. »Rede!«

Ivos starrte darauf, ohne es ändern zu können. »Er wird von den Sippenältesten fordern, Sie auszustoßen.«

Don Nael nickte grimmig.

»Warum tun Sie es dann?« Er verfluchte sich für diese Frage. Don Nael bot ihm Hilfe an und er forderte mit jedem wütenden Wort sein Schicksal heraus. Wenn sein dummer Kopf nur besser funktionieren würde, doch er schmerzte und hüllte die Gedanken in dichten Nebel.

»Geh«, sagte Don Nael kalt. »Bist du klug, fürchtest du dich nur vor meinem Bruder und seinen Hunden. Nicht vor einer toten Frau.«

»Und Sie kommen wirklich nach?« Für einen Augenblick wusste er nicht, ob er sich davor fürchtete oder es ersehnte. Aber allein würde er keine Nacht in der verwunschenen Ruine überstehen.

»Ich werde kommen. Doch du musst das Gebäude vom oberen Hang aus erreichen. Näherst du dich von der Uferseite, entdecken dich die Wachleute.«

»Und es ist keine Falle?« Er könnte seinem Bruder das Versteck verraten. Den Hunden wäre ein Geist egal. Sie würden ihn aus dem Haus treiben, direkt in Don Jeronimos Arme.

»Keine Falle.« Don Naels Hand an seiner Wange. Fest und warm. »Schaffst du den Weg allein?«

Er wollte etwas sagen, würgte stattdessen. Für einen Augenblick bestand seine Welt aus pochendem Kopfschmerz und Übelkeit.

Don Nael fluchte. »Ich bringe dich hin.« Er legte sich Ivos Arm um die Schulter.

Ivo stolperte neben ihm her. Immer wieder sanken ihm die Lider hinab.

»Halte durch. Du kannst dich ausruhen, sobald du in Sicherheit bist.«

Don Nael war bei ihm, half ihm.

Er war nicht allein.

Eine Falle? Dann wäre es jetzt ohnehin zu spät.

 

 

~*~

 

 

Das Kläffen der Meute drang durch den Urwald.

Nur leise, zu weit weg.

Jeronimo. Dieser Bastard!

Nael schlug eine Schlingpflanze aus dem Weg.

Seit wann vergriff er sich an Männern? Bisher hatte er sich in seiner freien Zeit in den Bordellen herumgetrieben.

»Weiter«, spornte er mehr sich selbst als Ivo an. »Wir sind bald da.« Ihm lief der Schweiß übers Gesicht, brannte in den Augen.

Ivo strauchelte bei jedem Schritt. Dass der Weg ständig bergauf führte, machte es nicht erträglicher für ihn. Er schien kaum noch bei Sinnen zu sein.

Endlich lugte unter ihnen das Dach der Villa aus dem wuchernden Grün. Bergab ging es etwas leichter, dennoch musste er Ivo mehr tragen als stützen. Gedanklich schlug er drei Kreuze, als sie vor der vermoderten Tür standen.

Nael trat sie auf.

Durch jede Ritze war der Dschungel in das Innere des Gebäudes gedrungen. Selbst um den Kronleuchter rankten sich Pflanzen.

»Die Treppe«, keuchte er unter seiner Last. »Die musst du noch schaffen, dann wird alles gut.«

Ivo antwortete nicht.

Er schleppte ihn die von Moos überwachsenen Stufen empor, dankte sämtlichen Heiligen dafür, dass sein Urgroßvater ein Faible für Stahlbeton besessen hatte, sonst wäre von der Villa nicht mehr viel übrig gewesen.

Ein Salon. Zerfressene Tische, ein wahrscheinlich lebendiger Teppich.

Er setzte Ivo vorsichtig an der Wand ab. »Leg dich hin. Aber ich habe keine Decke für dich.« Daran sollte er ebenfalls denken, wenn er nachher wiederkam.

Ivo fasste seine Hand. »Gehen Sie nicht.«

Gott, sein Gesicht sah aschfahl aus.

»Die verlorene Seele wird mich holen.«

»Nein, wird sie nicht. Ich lasse Perro bei dir.« Der merkte wenigstens, wenn sich Schlangen oder sonstiges Getier an Ivo heranpirschten. Hauptsache, er bellte nicht. Die Smaragdader lag ein ganzes Stück unterhalb der Ruine. Doch die Wachleute würden das Hundegebell auf jeden Fall hören und eventuell auch misstrauisch werden. Ob sie das dazu veranlasste, nachzusehen, bezweifelte er. Sie würden sich einreden, dass es ein Wildhund wäre und dankbar sein, dass das Spukhaus nicht noch näher an dem Fundort lag.

Ivo hob die Lider. »Danke«, sagte er leise. »Aber kommen Sie wieder.«

»Mache ich.«

Was für ein furchtbares Gefühl, einen verletzten Menschen nackt und hilflos zurückzulassen.

Nael stürmte aus dem Haus, rannte so schnell er konnte zur Festung zurück.

Das Kläffen wurde lauter, die Rufe der Männer, die Jeronimo folgten, ebenfalls.

Gut, dann war sein Bruder nicht daheim. Mit etwas Glück lief er höchstens einem der Hausmädchen über den Weg.

Und Alejandro, der nach wie vor Wache schob.

Verdammt! Sollte Jeronimo ihn nach ihm fragen, würde er verraten, dass Nael ohne Hund zurückgekehrt und kurz darauf mit einem Rucksack wieder im Dschungel verschwunden wäre.

Jeronimo würde eins und eins zusammenzählen.

Alejandro legte eine Patience. Als er Nael bemerkte, sprang er auf und grüßte ihn.

»Kein Stress.« Nael bemühte sich, gleichgültig zu lächeln, während er an ihm vorbeieilte.

Den Weg ins Haus konnte er sich sparen. Alles, was er benötigte, befand sich in seiner Werkstatt.

Er schloss die Tür auf.

Die Ersatzkleidung an dem Türhaken. Nur ein Hemd und eine Hose. Das genügte vollkommen.

Er stopfte beides in den Trekkingrucksack, packte den Ultra-Vib dazu. Die Akkus des Ultraschallgerätes, das zusätzlich dumpfe Vibrationen auf der Standfläche verursachte, waren frisch aufgeladen. Das Ding würde Ivo und ihm eine insekten- und reptilienfreie Nacht garantieren. Außerdem diente es als milde Lichtquelle.

Die Packung Zigaretten auf dem Tisch, der Kiesel.

Ebenso grau wie Ivos außergewöhnliche Augen, ebenso anschmiegsam?

Neal schloss die Finger darum, bevor er ihn wieder zurücklegte.

Die Decke vom Sofa unter den Arm, die Taschenlampe in den Gürtel.

Ivo benötigte etwas, um sich zu verteidigen. Gegen Tiere und Menschen.

Das Survival-Messer. Nael nahm es mit, wenn ihn sein Weg tiefer in den Dschungel führte.

Eine Flasche Aguardiente. Der Anisschnaps würde Ivo guttun.

Nahrung. Das Einzige, das er vergeblich in seiner Werkstatt suchen würde.

Er verschloss die Tür hinter sich, huschte wie ein Dieb über den Hof und schlich sich in das Seitengebäude, das die Küche beherbergte.

Gott sei Dank, die Köchin war nicht dort. Aber Gabriela ließ ihren Arbeitsbereich nie lange allein. Er musste sich beeilen.

Die Reste des Eintopfes aus Kartoffeln, Mais und Huhn verschwanden in zwei Schraubgläsern. Etwas Sinnvolleres zum Aufbewahren fand er in der Eile nicht. Zwei Maisfladen, zwei Löffel, zwei Wasserflaschen.

Stimmen von der Terrasse, die in den Küchengarten führte.

Gabriela und Mariana.

Ihm war nicht nach Erklärungen. Je weniger er auffiel, umso besser.

Er huschte zurück in den dämmerigen Gang, lehnte leise die Tür hinter sich an.

Schaffte er es bis zu den Nebengelassen, hatte er eine Chance. Zwischen dem Waffendepot und dem Eselstall existierte seit dem letzten Erdbeben ein Riss in der Außenmauer. Kaum breiter als zwei Fuß. Er hatte Jeronimo darüber informiert, aber der fühlte sich in der Betonfestung zu sicher, um sich wegen der zahlreichen Risse im Mauerwerk Sorgen zu machen. Solange das Dach nicht herabstürzte, blieb er gelassen, wenn der Boden zitterte, und wirklich starke Beben hatte es lange nicht mehr gegeben.

So leise wie möglich rannte Nael durch die Flure, durch eine der Hintertüren in den Hof. Geduckt huschte er in den Schatten neben dem Eselstall.

Irgendwo hinter der Mauer kläfften die Hunde. Sehr nah. Hatte Jeronimo die Hatz wegen der hereinbrechenden Dunkelheit abgebrochen?

Er riss die Ranken ab, die sich durch die Maueröffnung schlängelten, schob den Rucksack hindurch, quetschte sich hinterher.

Die wütende Stimme seines Bruders drang zu ihm. Er musste sich an der Front des Anwesens befinden. Offenbar hatten sie Ivo nicht gefunden.

Nael sandte ein Stoßgebet zum Himmel.

Er wartete verborgen von Blättern und Zweigen, bis die Geräusche dumpfer wurden und sich das Tor hinter Hunden und Männern geschlossen hatte.

Dann rannte er los.

Er riskierte eine Menge für Ivo. Im Prinzip alles, was er war, wofür er so viele Jahre gearbeitet hatte. Die Jahre in New York, seine Lehrzeit bei Meister Aaron.

Alles umsonst, sollte sein Bruder dahinterkommen, was er für einen Sippenlosen zu tun bereit war.

Umkehren? Ivo sich selbst überlassen?

Allein der Gedanke fühlte sich abgrundtief falsch an.

Wie zerschunden sein Körper ausgesehen hatte.

Und wie schön. Jenseits der Blessuren. In all seiner Nacktheit, seiner Schutzlosigkeit.

Nael schloss für einen Moment die Lider. Die Gefühle, die durch seinen Leib rannen, überwältigten ihn.

Er musste Ivo helfen. Nie wieder würde er sich sonst in die Augen sehen können.

Ein paar Schritte oberhalb der Villa kam ihm Perro entgegen.

»Du solltest auf ihn aufpassen!«

Der Hund wedelte mit dem Schwanz, wich dem Lichtschein der Taschenlampe aus.

»Ich müsste dich windelweich prügeln.« Stattdessen strich er ihm über den breiten Kopf und schlitterte an seiner Seite die letzten Meter bis zum Haus hinab.

Bevor er das Gebäude betrat, lauschte er in die beginnende Dunkelheit.

Vom Flussufer her war bis auf das leise Rauschen kein Laut zu hören.

Nael eilte die Stufen hinauf.

Ivo lag dort, wo er ihn abgesetzt hatte. Er schien zu schlafen, denn er atmete ruhig, wenn er auch schnarchte.

Nael hatte sich oft vorgestellt, dass Ivo nackt und entspannt vor ihm lag. Nach einer Nacht gefüllt mit hemmungslosem Sex und jeder Menge Aguardiente. In seinen Träumen war Ivos Körper unversehrt gewesen. Keine Verletzungen, keine Prellungen. Keine gebrochene Nase, keine durch Tritte geschwollene Hoden.

Nael hätte sie gern berührt. Den Schmerz sanft weggestreichelt. Ebenso Ivos Glied, das sich schlaff an den Oberschenkel schmiegte.

Der Wunsch, Jeronimo niederzuschlagen und den Alligatoren vorzusetzen, erschreckte ihn viel zu wenig.

Leise zog er den Rucksack aus, legte die Taschenlampe neben sich. Er platzierte den Ultra-Vib in der Mitte des Raumes und schaltete ihn an. Das sanftrote Licht vertrieb die Dunkelheit, blieb jedoch diffus genug, um von außen nicht gesehen zu werden. Es sei denn, jemand stünde direkt vor dem Fenster, was im ersten Stock eine Herausforderung gewesen wäre.

Unnötig, sich Gedanken zu machen. Auf den Aberglauben der Wachleute war Verlass.

Er brach einen Maisfladen entzwei und gab die eine Hälfte Perro. Er selbst öffnete sich die Aguardiente-Flasche.

Bis zu den Nasenlöchern hatte er sich mit Ivos Rettungsaktion in die Scheiße geritten. Noch ein bisschen und er versank darin. Seltsam, bisher war er sich nie lebensmüde vorgekommen.

Ivo schreckte auf, fluchte.

»Bleib locker, ich bin’s nur.«

»Sie sind wieder da?« Ungläubig blinzelte er ihn an. »Allein?«

»Nein, mein Bruder wartet draußen, bis wir beide auf deine Gesundheit angestoßen haben.« Er reichte ihm den Schnaps.

»Kein guter Witz.« Ivo rappelte sich auf, trank.

Seufzend gab er ihm die Flasche nach mehreren Schlucken zurück. »Danke.« Es kam von ganzem Herzen.

»Da ich wegen dir ebenfalls jenseits von Recht und Gesetz wandle, lass uns auf Bruderschaft anstoßen.« Der Teufel musste ihn reiten, aber er wollte wenigstens die formellen Grenzen zwischen ihnen einreißen.

»Sie wollen, dass ich Sie duze?« Ivo neigte misstrauisch den Kopf. »Warum?«

»Mir ist nach Nähe.« Wozu lügen? »Das Sie steht meinem Bedürfnis danach im Weg.« In New York hatte sich jeder geduzt. Eine ungewohnte, doch angenehme Erfahrung.

Nael trank, prostete ihm zu und reichte ihm die Flasche erneut.

Zögernd nahm Ivo einen Schluck, ließ ihn dabei nicht aus den Augen. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich danke dir für deine Hilfe, Don Nael.«

Von dem Don schien er nicht lassen zu können. »Wie geht es dir?«

»Ging mir schon besser, aber auch schon schlechter.« Er nickte zu dem Rucksack. »Hast du etwas zu essen mitgebracht?«

Erstaunlich, wie leicht ihm das Du über die Lippen kam.

Nael musste schmunzeln. »Willst du dich nicht vorher anziehen?« Er holte die Kleidung hervor. »Dann fühlst du dich weniger ausgeliefert.«

»Für einen Fürstensohn besitzt du eine Menge Feingefühl.« Er kniff die Lider zusammen, murmelte ein Verdammt!

»Deine lose Zunge ist gefährlich.« Ivos spontane Respektlosigkeit hatte ihn stets amüsiert, doch er hatte ihn dennoch gewarnt.

»Den Wachmännern gegenüber halte ich den Mund.« Er streifte sich vorsichtig das Hemd über. »Angst lässt schweigen oder plappern. In deiner Nähe neige ich zu Letzterem.« Er scheiterte an der Hose, versuchte aufzustehen. Bei jeder Bewegung verzog er das Gesicht.

»Warte.« So behutsam wie möglich half ihm Nael auf.

Ivo lehnte sich gegen ihn, während er die Beine in die Hose steckte.

Nicht nur formelle Nähe. Auch reale.

Nael genoss den Moment.

»Fühlst du dich besser?«

»Ja.« Ivo grinste ihn flüchtig an. »Weniger ausgeliefert.« Langsam ließ er sich wieder zu Boden sinken. »Bekomme ich jetzt etwas zu essen?«

Nael packte den Eintopf aus, gab ihm eines der Gläser.

Ivo schraubte es auf. »Ajiaco Santafereño«, murmelte er andächtig. »Meine Mutter hat mir den früher gekocht, wenn ich traurig war oder es etwas zu feiern gab.«

»Ein Festessen?« Er reichte ihm einen der Löffel.

Der Eintopf war schmackhaft, sättigte für Stunden, doch er war eben nur ein Eintopf.

»Meistens genügte das Geld nicht fürs Hühnerfleisch«, schmatzte Ivo zwischen zwei Happen. »Aber die Viecher lassen sich auch stehlen. Manchmal zumindest.«

Schön zu sehen, wie er dank ein paar Löffeln Suppe und einigen Schlucken Schnaps auflebte. Sogar ein gewisses Leuchten glomm wieder in seinen Augen.

Diese Augen.

Tief in sie hineinsehen, während die Pupillen vor Lust bis an die Ränder der grauen Iriden wuchsen. Ihren Blick bannen, während sich Ivo unter ihm der Ekstase ergab.

Sie würden glänzen. Intensiver als ein frisch polierter Smaragd.

»Sieh mich nicht so an.« Ivo schluckte hinunter, stellte langsam das Essen beiseite. »Hör zu, ich bin dir dankbar für das, was du für mich tust. Unendlich dankbar. Auch wenn ich es nicht verstehe.«

Angst. In denselben Augen.

Und ein tiefes Misstrauen.

Verdammt, er konnte tun, was er wollte, er würde es weder aus Ivos Augen noch aus seinem Herz löschen. Wie sollte er? Ein Fürstensohn war der eingeschworene Feind jedes Sippenlosen. Die Quelle seines Leides, der Grund für Hass und Verbitterung. Eine Handvoll Suppe und eine Flasche Schnaps änderten das nicht.

Er zog die Zigaretten aus dem Rucksack, zündete sich eine an.

Ivo beobachtete ihn dabei.

»Willst du eine?«

»Gern.«

Nael hielt ihm die Schachtel hin, wartete, bis sich Ivo eine genommen hatte, und gab ihm Feuer.

»Du behandelst mich, als wäre ich einer von deinen Leuten«, sagte er nach dem ersten tiefen Zug. »Warum?«

»Aus demselben Grund, weshalb ich meinen Status und wahrscheinlich auch mein Leben für dich riskiere.« Es war schön, Ivo beim Rauchen zuzusehen. Es entspannte ihn offenbar, löschte den gehetzten Ausdruck aus dem Blick. »Weil ich ein hoffnungsloser Idiot bin.«

Ivo lachte. Es kam so spontan, dass Nael grinsen musste.

Er reichte ihm die Flasche, genoss den Anblick von Ivos hüpfendem Kehlkopf, während er schluckte.

»In New York ticken Uhren und Menschen anders.« Aaron Goldschlack hatte über die Verhältnisse in Kolumbien den Kopf geschüttelt und sie archaischer Despotismus genannt. Er hatte viel Zeit und Geduld mit dem Versuch aufgebracht, ihm ein liberaleres Weltbild zu vermitteln. Anscheinend hatte er Erfolg gehabt.

»Erzähl mir von dieser Stadt.« Langsam kehrte der Glanz in Ivos Augen zurück. »Wie lebt es sich dort?«

»Schnell.« Anfangs hatte ihn das fertiggemacht. »Nachts ist es zu hell, zu bunt und zu laut. Und tagsüber wundern sich die Leute, dass sie an Schlafproblemen leiden.«

»Ich schlafe auch schlecht. Dabei ist es in der Mine nachts so dunkel wie am Tag.« Ivo sah dem Rauch nach. »Ich hätte gern einen anderen Grund für meine Schlaflosigkeit als Angst und das Gefühl, nichts dagegen ausrichten zu können.« Während er an der Zigarette zog, sah er Nael herausfordernd an.

»Hasst du mich?« Eine schlichte Frage. Dennoch fürchtete sich Nael vor der Antwort.

»Ich werde deinen Bruder töten, wenn er mich noch einmal anrührt.« Das Lächeln war so unglücklich und verloren wie ein einzelner Stern zwischen Gewitterwolken. »Es ist mir egal, ob ich danach sterbe.« Er gab ihm die Zigarette zurück. »Was ist mir dir? Würdest du mich dafür hassen?«

»Ich würde um dich trauern.« Durch Don Leandros Hinfälligkeit war Jeronimo der Grüne Fürst über Muzo. Sollte Ivo ihn töten, aus welchen Gründen auch immer, würde ihn die Soldaten so lange jagen, bis sie seiner habhaft wurden.

Nael trank einige Schlucke Aguardiente und wartete, bis die Entspannung seine Seele erreicht hatte. »Von dem Moment an, als ich dich zum ersten Mal sah, wollte ich dich.«

Ivos Miene fror ein.

»Es liegt an deinen Augen.«

»Ja klar.« Ivo lachte trocken.

»Es ist die Wahrheit und du weißt es.« Er wies in den nur matt beleuchteten Raum. »Sonst wärest du nicht hiergeblieben und hättest auf mich gewartet. Hier, wo dich eine verdammte Seele holen könnte.«

»Jimenas Geist kam nicht.« Sein Blick suchte dennoch jeden Winkel ab. »Und Perro hat mich noch nicht einmal angeknurrt, als ich aufgestanden und zum Pissen in den Flur gegangen bin.«

»Ich gab ihm den Befehl, auf dich aufzupassen, nicht, dich aufzuhalten.«

»Ich möchte dir glauben.« Er nahm ihm die Flasche ab, ließ dabei wie zufällig seine Finger über Naels Handrücken streichen. »Ich hätte gern ausnahmsweise mal Sex mit jemandem, den ich mag und dem ich vertrauen kann.«

»Ich würde dir wehtun.« Nael kämpfte gegen die Welle aus Begierde an, die ihn, ohne Rücksicht auf Ivos Zustand zu nehmen, unter sich begrub. »Es gibt kaum eine Stelle an dir, die nicht rot und geschwollen ist.«

»Mein Gott.« Ivo schloss die Augen, schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Er trank gierig.

Ein dünnes Rinnsal floss über sein Kinn.

»Es liegt am Schnaps.« Nael beugte sich zu ihm, wischte mit dem Daumen darüber. »Er flößt dir Mut ein.«

Ivo zuckte, ließ die Lider jedoch geschlossen.

So nah an Ivos Mund. Nael leckte den Daumen ab.

Mehr. Die Kehle, den Schwanz, die verdammten Blutergüsse kosten.

Nael presste die Lippen zusammen, um seiner Zunge Einhalt zu gebieten. Sie wollte zwischen Ivos Schenkel tauchen, seine verlockende Enge erforschen.

»Du willst mich.« Ivo schluckte, rückte etwas weiter weg von ihm. »Habe ich eine Wahl?«

»Ich weiß es nicht.« Die Lust pochte hart und schmerzhaft in seinem Unterleib.

Nael wandte sich ab. Er musste gehen, sofort.

»Ich lasse dir den Rucksack da.« Fahrig schob er ihn zu ihm. »Ist noch etwas zu essen und Wasser drin.«

»Ich will nicht, dass du gehst.«

»Aber du willst auch nicht, dass ich bleibe und dich ficke!« Genau das würde er tun.

»Nael, bitte bleib hier.«

»Wenn du dich erholt hast, versuch bis nach Mexiko zu kommen.«

»Und dann?«

»Weiter in die USA.«

»Dazwischen steht ein Zaun.«

Nael zog den Smaragd aus der Tasche. Sein Meisterstück. Er hatte es Jahr für Jahr bei sich getragen. »Damit erkaufst du dir eine Passage.«

Ivo schüttelte den Kopf. »Den nehme ich nicht an.«

»Und ob du das wirst!« Er steckte ihm den Stein in die Hosentasche. »Er ist das Wertvollste, das die meisten Menschen jemals sehen werden, also verkaufe ihn nicht für eine Portion gekochter Bohnen.«

»Don Nael!«

»Versuch New York zu erreichen und finde Aaron Goldschlack. Ich habe dir von ihm erzählt. Erinnerst du dich?«

»Kann sein. Du hast mir viel erzählt.«

»Sein Name ist in Manhattan bekannt.«

»Ich dachte, ich soll nach New York?«

Gütiger! »Manhattan ist ein Stadtteil, verstanden?«

Ivo nickte mit ratlosem Blick.

»Sag ihm, dass du ein Freund von mir bist. Ich werde ihm eine Nachricht senden und ihn bitten, dir zu helfen.« Was für ein Gedanke, als ob es Ivo jemals so weit schaffen würde.

»Bitte!« Er fasste Naels Hand. »Vielleicht findet mich morgen dein Bruder, vielleicht entscheide ich mich, bei Sonnenaufgang in den Dschungel zu fliehen, und dort fällt mich ein Puma an. Vielleicht holt mich um Mitternacht Jimena ins Totenreich.« Er zog ihn näher zu sich. »Vielleicht ist das hier die letzte Nacht meines Lebens. Ich will sie nicht allein verbringen und wenn das heißt, dass du mich vögelst, dann nehme ich das in Kauf.«

»Du tust es aus Dankbarkeit.« Er würde es annehmen, gleichgültig, wie er sich danach fühlte. »Trink ihn aus.« Nael hielt ihm die Schnapsflasche hin. »Dann schmerzt es weniger.«

Bevor Ivo sie ergriff, schleuderte sie Nael an die Wand.

War er bei Sinnen? Wie konnte er Ivos Angebot auch nur in Erwägung ziehen?

Ivo starrte ihn erschrocken an.

Angst im Blick.

Nael wandte sich ab. Nie wieder wollte er dieses Gefühl in den wunderschönen Augen sehen.

»Ich bleibe hier. Damit du nicht allein bist.« Er schnappte die Decke, warf sie neben ihn. »Schlaf. Ich werde dich nicht anrühren. Du hast mein Wort.«

Ivo nickte, wirkte immer noch eingeschüchtert. Während er die Decke ausbreitete, verzog er das Gesicht.

Jede Bewegung schmerzte ihn und Nael war kurz davor gewesen, ihn durchzuficken.

Er unterschied sich in nichts von seinem Bruder.

Nael wartete, bis Ivo Ruhe gefunden hatte, setzte sich zwei Schritte entfernt neben ihn an die Wand.

Runterkommen, seine Gedanken ordnen. Wieder zu sich selbst finden.

»Danke«, sagte Ivo leise. »Aber ich hätte es getan.«

 

 

~*~

 

 

Frischer Rauch.

Ivo atmete tief ein.

Nael saß neben ihm, blickte ins Leere, während die Glut der Zigarette einen Teil seines Gesichtes in warmes Licht tauchte.

Er war dageblieben, hatte sein Wort gehalten.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Bald wird es hell.« Nael reichte ihm eine Flasche Wasser. »Trink. Du klingst, als wärest du kurz davor, zu verdursten.«

»Das bin ich auch.« Sein Mund war staubtrocken.

Er richtete sich auf, nahm ein paar Schlucke.

Nael sah ihm dabei zu. »Es liegt an deiner Nase. Du hast die ganze Zeit geschnarcht.«

Sie fühlte sich wie ein Gummiball in seinem Gesicht an. Dem Rest seines Körpers ging es kaum besser.

»Was hast du nun vor?«

»Ich muss zurück.« Don Nael zuckte die Schultern. »Du kannst dich vielleicht ein, zwei Tage hier verstecken. Aber nicht für immer.«

»Warum nicht? Ich habe bisher nie in einer Villa gewohnt.«

Erst nach einer Weile lächelte Don Nael. »Und Jimena?«

»Du hast gesagt, ich soll sie nicht fürchten.«

»Dann vertraust du mir also doch.« Die schwindende Nacht warf Schatten auf sein Gesicht.

»Du hast nicht geschlafen.« Deshalb sah er so erschöpft aus. »Nicht einen Moment lang?«

»Ich bin hiergeblieben, um auf dich aufzupassen. Wie hätte ich schlafen sollen?«

Er bedeutet ihm etwas. Was für ein unwirklicher Gedanke.

»Ich hätte es getan.« Er würde es auch jetzt noch.

Nael reichte ihm die Zigarette, sah ihm zu, wie er inhalierte. »In meinen Träumen«, sagte er schließlich, »glänzen deine Augen, während ich deine Schenkel spreize und mich in dein Inneres versenke. Du bist entspannt, willst das, was ich mit dir mache. Du fürchtest weder den Schmerz noch mich. Du heißt uns beide willkommen.«

Glut. Sie rieselte Ivo durch den gesamten Leib.

»Da ist keine Dankbarkeit in deinem Blick, keine Angst. Nur Hingabe und Vertrauen.« Er nahm ihm die Zigarette aus den Fingern, steckte sie sich in den Mundwinkel und stand auf. »Behalte den Rucksack und alles andere. Du wirst es brauchen.«

Plötzlich hielt er ein Messer in der Hand.

Ivo zuckte zurück.

Don Nael hob die Brauen, legte es langsam neben ihn. »Das ist für dich. Oder willst du schutzlos durch den Dschungel irren?«

»Verzeih mir.« Seine Reaktion musste ihn gekränkt haben. »Aber du bist …«

»… ein Fürstensohn. Ich weiß.« Das schmale Lächeln zeigte sich nur auf den Lippen. »Doch du bist für mich kein Sippenloser mehr und ich werde dich niemals wieder so behandeln.«

Ein leiser Pfiff von ihm und der Hund kam schlaftrunken auf die Beine und folgte seinem Herrn.

 

 

~*~

 

 

Das war’s. Er würde Ivo nie wiedersehen. War er klug, flüchtete er sofort über die Landesgrenze. Hauptsache, raus aus Kolumbien. Zwar reichte der Einfluss der Grünen Fürsten bis in die hintersten Winkel des Kontinents, aber Jeronimo würde wegen eines entlaufenen Sippenlosen nicht sinnlos Ressourcen verschwenden.

Nael atmete gegen den Druck in seiner Brust an.

Es war schön gewesen, Ivos Schlaf zu bewachen. Es war schön, für ihn da zu sein, mit ihm zu reden, ihn anzusehen.

Vorbei. Eine Zukunft war ohnehin unmöglich. Nicht nur, weil er ein Sippenloser, sondern auch, weil er ein Mann war. Don Leandro bestand auf Enkelsöhne, um die Dynastie zu erhalten. Selbst wenn ihn die Krankheit sämtlicher Kräfte beraubte und es ihm egal würde, was seine Söhne trieben, würde Jeronimo niemals ein wie auch immer geartetes Verhältnis zwischen ihm und Ivo dulden.

In New York hatte er Händchen haltende Männer auf offener Straße gesehen. Auch Frauen. Niemand scherte sich darum. Dort interessierte sich keiner für lückenlose Stammbäume oder Sippenzugehörigkeit. War man reich, tanzte man in der Sonne, war man arm, im Schatten.

In dieser Stadt hätte er Ivo ein fantastisches Leben ermöglichen können.

Nael hatte die unterste Stufe erreicht.

Nicht zurücksehen. Es war vorbei.

»Warte!«

Ivo. Er stand oben auf dem Treppenabsatz.

»Du hast mich nie wie einen Sippenlosen behandelt.« Langsam humpelte er zu ihm hinab. »Ich werde deine Freundlichkeit niemals vergessen, Don Nael.«

Er wollte ihm entgegengehen. Sein verdammter Stolz hinderte ihn daran. Wahrscheinlich war er ihm bei der Geburt mit einem Brenneisen in die Seele gesenkt worden.

»Mir tut jeder Knochen im Leib weh.« Ivo hatte es bis zu ihm geschafft. »Ich bin auf der Flucht vor einem Mann, der mich von Hunden zerreißen lassen will, und dennoch werde ich hart, nur weil du mir erzählst, was du in deinen Träumen mit mir anstellst.« Er nahm Naels Hand, führte sie sich zwischen die Beine. »Vielleicht kann ich dich anlügen, vielleicht kann ich mich selbst belügen. Aber mein Körper lügt nicht.« Er presste sie auf seine steinharte Erektion. »Ich habe Vertrauen zu dir. Fühle es.«

Heller Glanz in Kieselgrau. Das Schwarz der Pupillen verdrängte es bis an den Rand.

Naels Finger in Ivos Haar, seine Lippen auf Ivos Mund.

Der öffnete sie für ihn, begrüßte Naels Zunge mit einem wilden Tanz, während er Naels Hand zwang, wild über seine Härte zu reiben.

»Zieh das Hemd aus.« Nael glühte vor Begierde.

Ivo gehorchte.

Naels drückte ihn mit dem Rücken gegen die Wand, küsste sich über die Kehle bis zu erigierten Nippeln. Den einen saugte er fest in seinen Mund, den anderen rieb er so heftig, dass Ivo heiser aufstöhnte.

Dieser Mann gehörte ihm. Für einen kostbaren Moment.

Mit fliegenden Fingern knöpfte er die Hose auf, verschlang Ivos Erektion.

Es fiel unendlich schwer, behutsam die Finger um die Hoden zu schließen, statt sie kräftig zu massieren, doch sie waren immer noch geschwollen.

»Nicht!« Ivo versuchte ihn von sich zu drücken. »Ich halte das nicht länger aus«, keuchte er, schloss jedoch mit einem lauten Stöhnen die Lider. »Ich kann keinem Fürstensohn in den Mund spritzen.«

Nael saugte stärker.

Ivo stöhnte verzweifelt auf. »Don Nael!«

Er schmiegte sein Gesicht gegen Ivos Lenden, um ihm einen Moment Pause zu gönnen. »Du kannst«, flüsterte er zwischen zwei Küssen auf den bebenden Unterbauch. »Oder ich werde dich dazu zwingen.«

»Tu es.« Ivos Blick verschleierte sich. »Zwing mich dazu.«

Als hätte jemand eine letzte Fessel gelöst.

Nael tauchte in Ivos herben Duft. Er vernebelte ihm die Sinne, ließ ihn erschaudern. Wie von fern vernahm er Ivos Lustschrei, als es ihm heiß in den Mund spritzte. Er saugte an der zuckenden Härte, bis sich kein Tropfen mehr aus der Spitze löste.

Ivo glitt an der Wand hinab, zitterte.

»Was ist los?« Nael schloss die Arme um ihn.

Ivo ließ sich von ihm halten wie ein Kind.

»Habe ich dir wehgetan?«

»Nein.« Nässe in seinen Augen. Ivo wischte fahrig darüber.

Perro wurde unruhig. Er lief winselnd zwischen dem Fuß der Treppe und dem Eingang hin und her.

»Ich muss gehen. Aber heute Abend komme ich zurück, hörst du?«

Ivo befreite sich aus der Umarmung, nickte.

Nael legte ihm die Hände an die Wangen, zwang ihn, ihn anzusehen. »Nur eine Nacht. Schenkst du sie mir?« Eben hatte er Ivo nur gekostet. Er wollte ihn besitzen. Ein einziges Mal, bevor sich ihre Wege für immer trennten.

»Eine Nacht?« Ivo nahm Naeals Hände von sich. »Ohne die Arbeit mit dir, ohne das Wissen, dass durch dich mein Tag in der Mine gut endete, wäre nichts mehr von mir übrig, was ich dir hätte schenken können.« Zorn funkelte in seinem Blick. »Ich schenke dir mein Leben, wenn du willst. Nicht nur eine verdammte Nacht!«

»Behalte es.« Er wollte sein Herz, seine Liebe. Nicht seinen Zorn oder gar sein Leben. Doch das war etwas Unmögliches.

Dennoch sehnte er sich mit jeder Faser seines Daseins danach.

Perro winselte immer lauter.

»Ich muss fort.« Er stand auf, fuhr sich über den Mund, an dem noch Ivos Geschmack haftete. »Verhalte dich ruhig und geh zurück nach oben. Mein Bruder fürchtet sich vor Jimenas ruheloser Seele. Er wird überall nach dir suchen, aber nicht hier.« Er pfiff Perro zu sich, eilte aus der Villa.

Nach ein paar Schritten blieb der Hund stehen, bellte in den Dschungel.

»Weiter! Wir haben keine Zeit für eine Jagd!« Er musste sich beeilen. Vielleicht erreichte er die Festung, bevor Jeronimo aufwachte.

 

 

~*~

 

 

Ivo presste die Hand auf den Mund. Das Schluchzen ließ sich nicht ersticken.

Ein glühender Rausch. Ekstatisch, schmerzvoll, dennoch so süß, so unendlich wunderbar. Er hatte Don Nael überall gespürt, selbst in seiner Seele. Nun zog sein Herz vor Sehnsucht nach dem Mann, der sein Feind sein sollte.

Er war es nie gewesen.

Sonst wäre er nicht bei ihm geblieben, hätte ihm nicht geholfen, nicht so viel für ihn riskiert. Ihn nicht auf diese innige Weise liebkost.

»Ich meine es ernst«, flüsterte er in die Stille. »Mein Leben gehört dir, Don Nael.« Stattdessen blieb ihnen nur diese eine Nacht.

Er würde in sie eintauchen. Ebenso tief wie Don Nael in ihn.

Ihn schauderte vor Lust.

»Nein, kleine Ratte.«

Don Jeronimo!

»Dein Leben gehört mir.«

 

 

~*~

 

 

Nael huschte auf dieselbe Weise ins Innere der Mauern, wie er gestern Abend herausgelangt war.

Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Im Zentrum stand Ivo.

Der Geschmack seines Samens lag ihm noch auf der Zunge. Der intime, herbe Duft haftete an seinem Gesicht.

Selbst den Schrei, den Ivo inmitten des Rausches ausgestoßen hatte, klang ihm noch in den Ohren.

Nael atmete gegen die Lust an, die nicht daran dachte, seinen unbefriedigten Körper zu verlassen.

Heute Nacht würde er Ivo um den Verstand lieben.

Er betrat den Seitenflügel durch die Hintertür, eilte zum Hauptgebäude. Als er an der Küche vorbeikam, stieß er beinahe mit Gabriela zusammen.

Sie balancierte ein Tablett mit Kaffee, Frühstückssuppe und eine Kasserolle mit Eiern.

»Don Nael!« Das Tablett schwankte auf ihren Handflächen. »Sie haben mich erschreckt!«

Nael griff zu, bevor der Kaffee überschwappte.

»Danke.« Gabriela atmete auf. »Don Diego ist bereits im Salon, wenn Sie mit ihm frühstücken wollen …«

»Und Don Jeronimo? Ist er ebenfalls dort?«

»Oh nein, er hat schon vor Sonnenaufgang das Haus verlassen.«

Verdammt! »Hat er gesagt, wo er hinwill?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hat er die Hunde mitgenommen?«

»Nein. Er ist allein unterwegs.«

Sein Herz beruhigte sich etwas. Vielleicht war Jeronimo auf dem Weg zur Fähre. Obwohl, so früh am Tag ging er nie in die Mine.

Er ließ Mariana stehen, stürmte zu seiner Werkstatt.

Die Tür stand offen.

Gestern hatte er sie geschlossen, da war er sich sicher.

Der Kieselstein.

Zerschlagen auf dem Boden. Der Schürfhammer daneben.

Nael wurde kalt.

Nur die beiden Steinhälften. Ihr mattes Schimmern.

Für einen unendlich scheinenden Moment sah er nichts anderes.

Dann begann er zu rennen.

 

Erstaunte Blicke.

Er ließ sie hinter sich.

Blätter und Ranken, die ihm ins Gesicht schlugen.

Weiter, immer weiter in den Dschungel, den Hang hinauf.

Jeronimo wusste, dass er Ivo half. Er wusste, wie viel er ihm bedeutete.

Zwei Stunden. Sein Bruder hatte ihm mehr gegeben. Nun war seine Geduld vorbei.

War er ihm nachgeschlichen? Hatte er jemanden geschickt?

Wusste er überhaupt, wo sich Ivo versteckte?

Vielleicht hatte Jeronimo den Kiesel nur als Warnung zerschlagen.

Nein.

Das winzige Wort setzte seine restlichen Gedanken in Brand.

Jeronimo wusste ganz genau, wo er Ivo finden würde.

Unter ihm lag die Villa.

Er schlitterte den schmalen Fußpfad hinunter, stürmte ins Innere.

»Ivo!«

Die Treppe, der Salon.

Rucksack, die leere Schnapsflasche, das Messer.

»Ivo!«

Wäre er geflohen, hätte er die Sachen mitgenommen.

Perro schnüffelte, rannte die Stufen wieder hinab.

Nael folgte ihm.

Die Böschung auf der anderen Seite des Gebäudes hinauf. Einen halb zugewachsenen Weg entlang.

Nael stolperte, fing sich im letzten Moment.

Seine Gedanken rasten.

Der Fluss. Wie war er so schnell hierhergekommen?

Perro schnupperte am Ufer. Hin und her. Schließlich kehrte er zurück, setzte sich neben ihn.

Er hatte die Spur verloren.

»Du hast ihn schon einmal gefunden!«

Der Hund blieb, wo er war.

Nur einer konnte ihm sagen, was mit Ivo geschehen war.

Jeronimo.

Nur die Angst verlieh ihm Kraft, um den ganzen Weg wieder zurückzurennen.

Und ein tiefer, brennender Zorn.

 

»Jeronimo!«

Alejandro zuckte zusammen, als er an ihm vorbeieilte.

»Jeronimo!«

»Ich bin hier.« Er lehnte an der Tür zur Werkstatt. »Ich habe bereits auf dich gewartet.«

Nael stürmte auf ihn zu, griff ihn am Kragen und zerrte ihn ins Innere. »Was hast du mit ihm gemacht?«

»Dachtest du wirklich, es bliebe mir verborgen?« Er stieß ihn von sich. »Ich bin dir zur Geistervilla gefolgt. Schon gestern Abend, als du dich wie ein Verbrecher aus der Festung geschlichen hast.«

»Du hast mich gesehen?«

»Nein. Aber Alejandro. Beim Pissen.« Er schnaubte verächtlich. »Mir war nicht danach, die ganze Nacht im Dschungel zu verbringen, also bin ich heute früh dorthin zurückgekehrt.« Ein schäbiges Grinsen verzerrte seinen Mund. »Bei hellem Morgenlicht ist es dort nur halb so unheimlich.«

Daher hatte Perro gebellt.

Wenn Jeronimo …

Gleich nachdem Nael fortgegangen war?

Er packte ihn am Hals und drückte ihn gegen die Wand. »Wenn du ihm etwas angetan hast, werde ich …«

»… keinen Brudermord begehen«, presste er hervor. »So bist du nicht.«

Nael ließ ihn los.

Ein Schlund aus dumpfer Verzweiflung. Die Wut erstickte in ihm.

»Wo hast du ihn hingebracht?« Erschreckend, wie ruhig alles in ihm wurde. »Hast du seine Leiche in den Fluss geworfen?«

»Es gibt keine Leiche.« Jeronimo rieb sich die Kehle. »Ich beobachtete euch. Unten, an der Treppe.«

Keine Leiche.

Seine Gedanken überschlugen sich.

»Ich sah dir zu, wie du ihn verschlungen hast. Hörte, was du gesagt hast. Kaum warst du weg, wollte ich ins Haus stürmen und ihn fertigmachen. Ich bekam ihn auf halber Treppe zu fassen, griff seine Kehle wie du eben meine. Da roch ich es.« Er blickte an ihm vorbei. »Zedernöl. An seinem Gesicht, an seinem Hals. Garantiert auch an seinem Schwanz, aber mir war nicht danach, das zu überprüfen.« Eine fahrige Geste, ein Blick, der hilflos wirkte. »Er duftete nach dir, weil du ihn geküsst und berührt hast. Ich versuchte mir einzureden, dass er nur ein Spielzeug für dich gewesen ist. Doch ich wusste, dass das nicht stimmte.« Ein Lächeln, das Nael nur am Rande wahrnahm. »Du hast nie mit Menschen gespielt, Bruder. Und plötzlich wurde mir klar, dass du diesen Sippenlosen liebst.« Er fuhr sich durch die Haare, senkte für einen Moment die Lider. »Ich kann mit vielem leben, Nael. Aber nicht mit deinem Hass.«

»Du hast ihn verschont.« Seine Beine gaben nach. Er schwankte zum Stuhl, sank darauf.

Ivo lebte.

Seine Augen brannten.

Jeronimo verschwand hinter einem Schleier.

»Ich drohte ihm«, hörte er seinen Bruder jenseits davon, »verschwände er nicht sofort, würde ich mit der Meute zurückkommen. Er solle es nicht wagen, sich jemals wieder hier blicken zu lassen.«

»Die Villa ist leer.« Vor Angst musste Ivo so, wie er war, aufgebrochen sein. Ohne Messer, ohne Proviant.

»Dann hat er meinen Rat befolgt.«

»Schwöre mir, dass du die Wahrheit sagst.« Wenn nicht, würde er die Werkstatt nicht lebend verlassen.

Jeronimo kam zu ihm, legte die Hand auf sein Herz. »Ich schwöre dir, dass ich ihn laufen ließ. Ich fügte ihm kein Leid zu, noch erschwerte ich ihm auf eine andere Weise die Flucht.« Er sah ihm gerade in die Augen. »Das heißt aber nicht, dass er lebt. Du kennst den Dschungel und seine Gefahren.«

»Danke.« Nur langsam entkrampfte sich sein Herz.

Ivos Leben lag in Gottes Hand.

Nael konnte nichts mehr für ihn tun.

Er stand auf, griff in die Schale mit den geschliffenen Smaragden und steckte sie in seine Hosentasche. »Ich werde Muzo ebenfalls verlassen.« Mit den Steinen ließ sich leicht eine Passage in den Norden erkaufen. »Wirst du mich aufhalten und vor das Gericht der Ältesten zerren?« Fast war es ihm gleichgültig.

»Bist du verrückt geworden?« Jeronimo starrte ihn entsetzt an. »Du darfst nicht gehen! Muzo ist deine Heimat! Die Mine ist dein Leben!«

»Die Mine macht aus uns Monster und aus den Sippenlosen Tiere!«

»Das wird dein Fortgehen nicht ändern!«

»Aber ich werde kein weiteres Wasser auf diese Mühlen kippen, Bruder.« Er hatte es viel zu lange getan. »Richte Vater meine Grüße aus, doch sage ihm nicht, dass es mir leidtäte.« Das wäre gelogen.

»Ich kann dich nicht ziehen lassen.« Die Worte klangen wie ein Flehen. »Das Gesetz verlangt von mir …«

»Scheiß auf das Gesetz!« Nael fasste ihn an den Schultern. »Es funktioniert nicht! Hat es nie! Dieses Land muss einen anderen Weg finden!«

»Und welchen?«

»Ich weiß es nicht.« Nael ließ ihn los. »Und es ist auch nicht meine Aufgabe.« Nicht mehr.

Sein Herz wurde steinschwer. »Ich werde jetzt meine Sachen packen und gehen. Bitte lass es zu.«

»Ich hätte diese kleine Ratte töten sollen.« Jeronimo wurde weiß um die Nase. »Bei Gott, ich hätte es tun sollen!« Er eilte aus der Werkstatt, warf die Tür hinter sich zu.

Die Scheibe sprang aus der Fassung, zerschlug auf dem Boden.

 

 

~*~

 

 

»Du bist ein Freund von Nael?« Der alte Mann betrachtete ihn in aller Ruhe. »Wie geht es ihm?«

»Ich weiß es nicht.« Ivo betete jeden Abend für ihn. »Es ist über ein Jahr her, seit ich ihn sah.« Damals in der Geistervilla, kurz bevor Don Jeronimo aufgetaucht war. Ivo war sicher gewesen, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. Doch plötzlich hatte Don Jeronimo von ihm abgelassen.

Ein Wunder.

Ebenso wie die Tatsache, dass Ivo mit heiler Haut nach New York gelangt war.

In Nicaragua war er auf ein amerikanisches Archäologen-Paar getroffen. Es befand sich auf der Heimreise nach San Diego. Er hatte ihnen den Smaragd für eine Passage in die Vereinigten Staaten angeboten. Den beiden waren die Augen aus den Höhlen getreten.

Du willst über die Grenze?, hatte Don Peter gefragt. Für diesen Schatz verschaffe ich dir mehr. Noch am Abend, bevor sie so viel Tequila getrunken hatten, dass sich Ivo am nächsten Morgen kaum an seinen Namen erinnern konnte, verschickte Don Peter einige Nachrichten. An gute Freunde, wie er sagte.

Die Antwort erhielt er in Mexiko, kurz vor der Grenze in die USA.

Ein Visum.

Der Soldat winkte den Jeep inklusive sämtlicher Passagiere einfach durch.

Zwei Tage später überreichte ihm Don Peter einen gültigen Pass als US-Bürger. Wir sind immer noch nicht quitt, sagte er lachend. Aber mehr kann ich nicht mehr für dich tun.

Das war genug.

Der Pass öffnete ihm die Tür zu seinem neuen Leben.

Neben einem holografischen Bild seiner Augen befanden sich zwei Strichcodes darauf. Einer, der ihm eine Identität verlieh, die er nie besessen hatte, und einer, auf dem Arbeitsleistung oder Dinge gegen Kredite gebucht wurden. Kaufte er etwas ein oder fuhr mit einem Shuttle, verringerten sich die Kredite. Arbeitete er für jemanden, vergrößerten sie sich. Alles stand und fiel mit den Check-ups, die die meisten Leute wie ein Schlüsselanhänger bei sich trugen. Daumengroße Geräte, die die Codes lasen und ihren Wert veränderten. Je nachdem. Sein eigener hing an der Gürtelschlaufe seiner einzigen Hose. Bisher hatte er ihn nicht benutzt. Er besaß zu wenig, um es zu verkaufen, und warum sollte er jemand anderes für sich arbeiten lassen? Er selbst war es, der Arbeit suchte. Je mehr er die fremde Sprache beherrschte, desto leichter gelang es ihm.

Zwischen den einzelnen Jobs reiste er weiter. Länger als einen Monat hielt es ihn nie an ein und demselben Ort.

Er hatte ein Ziel: New York.

Sein neues Leben. Ohne Wachleuchte, ohne die ständige Angst vor dem kommenden Tag, ohne schwüle Wärme.

Ohne Don Nael.

Nachts träumte er oft von ihm. Spürte die festen Lippen auf seinem Mund, zwischen seinen Schenkeln. Hörte der ruhigen Stimme zu, wie sie über Dinge erzählte, von denen er nie geglaubt hatte, sie jemals zu sehen. Nun stand er inmitten dieses seltsamen Landes, in dem sich niemand um Sippenlose oder Grüne Fürsten scherte.

Hier wurde ebenfalls angenommen und ausgegrenzt. Gemocht und abgelehnt. Oft wusste er nicht, weshalb ihn die einen fortjagten und andere ihm ohne Bedenken Arbeit anboten. Auch wenn er mittlerweile das Meiste von dem verstand, was ihm gesagt wurde, durchschaute er nicht die Beweggründe der Menschen. Es schien nur wenige Regeln zu geben, dafür umso mehr Gesetze, an die sich jedoch kaum jemand hielt.

Hier in dieser hektischen Stadt war es noch schlimmer. Don Nael hatte ihn durch seine Erzählungen vorgewarnt, aber Ivo war dennoch erschrocken.

Vor zwei Tagen war er während eines heftigen Schneeregens angekommen. Auf seine naive Frage, wo in New York Edelsteine geschliffen wurden, hatte ihm der No-Human in monotoner Stimme die 47. Straße in Manhattan genannt. Dort hatte ihm der erste Passant, in dunklem Anzug, schwarzem Hut und seltsamen langen Locken an den Schläfen, den Weg zu Aaron Goldschlack gewiesen. Mit dem Hinweis, dass er aus Altersgründen keine Lehrlinge mehr ausbildete.

Nun stand er vor ihm. In ebensolchem Anzug, mit denselben Locken und einem freundlichem Lächeln.

»Du hast schöne Augen«, stellte Don Aaron fest. »Hell wie Bachkiesel.«

Dasselbe hatte ihm Don Nael einst gesagt.

»Nael hat dich zu mir geschickt, damit ich dir eine Arbeit verschaffe. Wenn du das willst, kann ich es natürlich tun.«

»Er hat Sie über mich informiert?« Don Aaron wusste, dass er ein entlaufener Häftling und ein Sippenloser war.

Ivo kämpfte gegen sengende Scham an.

»Schon vor einer ganzen Weile. Er besuchte mich und wir redeten über Altes und Neues.« Er runzelte die Stirn. »Es ist jetzt ein halbes Jahr her.«

»Er war hier? Bei Ihnen?«

»Sicherlich. Es hat mich sehr gefreut. Er berichtete mir von deiner abenteuerlichen Flucht.« Ein verschmitztes Grinsen zeigte sich in dem faltigen Gesicht. »Er glaubte nicht daran, dass du es hierher schaffen würdest. Sein Lächeln war traurig und es lag höchstens ein winziger Splitter Hoffnung darin. Umso mehr freut es mich, dass er sich irrte.«

Ivos Herz verdoppelte den Takt.

»Er bat mich, ihm Bescheid zu geben, solltest du tatsächlich den Weg zu mir finden. Aber ich denke, das tust du besser selbst.« Er trat zur Seite, bat ihn mit einer Geste in die Wohnung. »Nael hat sich ein kleines Anwesen in Maine gekauft. Es ist heruntergekommen, liegt dafür am Meer. Ich vermittelte es ihm und er meinte, es würde ihm genügen.« Er schlurfte den dunklen Flur entlang bis zu einem Zimmer mit Stehpult. »Ich schreibe dir auf, wo es ist.«

Don Nael. Er hoffte, ihn wiederzusehen.

Für einen Moment wurde Ivo schwindelig vor Glück.

»Oder willst du ihn per Com über deine Ankunft informieren? Ich kenne seinen Code.«

»Nein.« Er musste ihn sehen. In seinen Augen lesen, ob er sich wirklich über sein Erscheinen freute.

»Wirst du das finden?« Don Aaron überreichte ihm einen Zettel.

»Ich habe von Muzo hier hergefunden.«

»Und das hat ein Jahr gedauert.« Der alte Mann hob die Brauen. »Brauchst du Kredite? Nael hat welche für dich freigeschaltet.« Er zog den Check-up aus der Tasche.

Ivo winkte ab. »Ich komme klar. Von meinem letzten Job ist noch fast alles übrig.«

»Wie du willst.« Er steckte das Gerät wieder ein. »Melde dich bei mir, wenn du bei ihm angekommen bist. Dann sende ich ihm die Kredite zurück. Mache ich es vorher, verderbe ich dir die Überraschung.«

Ivo dankte ihm, war schon auf halber Treppe nach unten, als ihm Don Aaron nachrief, er sollte eines der Reiseshuttles nach Camden nehmen. Die wären günstig und schnell.

 

 

~*~

 

 

Was für ein kalter Winter.

Nael legte ein frisches Scheit nach, sah den Flammen dabei zu, wie sie gierig an ihm emporwuchsen. Was hatte ihn geritten, so weit im Norden Fuß zu fassen? In Texas wäre es zu dieser Jahreszeit wärmer gewesen, aber Meister Goldschlack kannte dort niemanden, der bereit war, ein Grundstück zu verkaufen.

In Maine schon. Auch wenn das Dach undicht und die Fotovoltaik veraltet war. Mittlerweile funktionierte die Stromversorgung wieder. Ohne Heizung und heißes Wasser hätte er spätestens jetzt Reißaus genommen. Dennoch, nichts wärmte so gut wie ein offenes Feuer. Es drang bis in die Seele, schmiegte sich wie eine warme Decke auf ihre Wunden.

Die größte von ihnen besaß einen Namen.

Ivo.

Es verging kein Tag, an dem er nicht an ihn dachte. Wenn er nur lebte und es irgendwie geschafft hatte, die Schrecken der Mine zu verdrängen.

Ivos Augen mussten glänzen.

Wie nasse Kiesel in einem Flussbett.

Nael schritt zum Fenster.

Selbst die Wellen des Atlantik schlugen grau und eisig an die Küste.

Ein Gefühl von Heimweh. Es kam und ging.

Vor zwei Monaten hatte ihn eine Nachricht von Jeronimo erreicht. Die erste, seit er Muzo verlassen hatte. Ihr Vater war gestorben, ohne auf dem Totenbett nach ihm zu fragen. Nael hatte es auch nicht erwartet. Don Leandro musste bitter von ihm enttäuscht gewesen sein.

Perro hob den Kopf von seinen Pfoten, winselte.

»Bleib ruhig. Da ist niemand.« Ein Vorteil, abseits der Stadt zu wohnen. Nael hatte seine Ruhe.

Perro hievte sich von seinem Platz, trabte motiviert zur Tür.

»Wenn du denkst, ich gehe mit dir eine Runde laufen, hast du dich geirrt.« Er fror schon beim Blick aus dem Fenster.

Jemand kam den Küstenweg entlang. Nach vorn gebeugt, wegen des Windes. Rucksack, eine dicke Kapuze weit ins Gesicht gezogen.

Statt sich an der Kreuzung Richtung Camden zu wenden, schwenkte er auf den Pfad zum Haus ein.

Ein verirrter Wanderer?

Nael seufzte. Auch wenn ihm nicht danach war, die Gastfreundschaft gebot, demjenigen wenigstens etwas Heißes zu trinken anzubieten und sich für einen Moment am Feuer aufzuwärmen. Vielleicht hatte er Glück und Perros Erscheinen wirkte ähnlich wie bei dem Postboten. Dann musste er weder das eine noch das andere.

Perro kratzte an der Tür.

»Ab mit dir.« Wer sollte es ihm verwehren, dass er seinen Hund rausließ?

Der rannte der Gestalt entgegen.

Die blieb stehen, zog einen Handschuh aus und hielt dem Tier die Hand zum Schnuppern hin.

Klug. Offenbar kannte sie sich mit Hunden aus.

Perro wedelte wie verrückt mit dem Schwanz, ließ sich streicheln.

Das war ja nun gar nicht seine Art.

Also gut. Vielleicht bevorzugte der Wanderer ja einen Schluck Aguardiente statt eines heißen Tees.

Neal wartete in der Tür, während Hund und wahrscheinlich Mann näher kamen. »Buenas tardes!«, rief er dem Gast entgegen. »¿Puedo hacer algo por usted?« Eventuell mochte der Kerl keine illegal eingewanderten Südamerikaner, die anscheinend unfähig waren, die Landessprache zu beherrschen, und er war ihn schnell wieder los.

»Buenas tardes!« Der Mann blieb drei Schritte vor ihm stehen, zog die Kapuze vom Kopf. »Ich bin hier, um eine Schuld zu begleichen.«

Ivo!

 

 

~*~

 

 

Er stand nur da, starrte ihn an.

Noch hagerer, als er ihn in Erinnerung hatte.

Die Schläfen waren ergraut, die Haare reichten ihm bis auf die Schultern.

Dennoch, Ivo hatte nie jemand Schöneres gesehen.

»Don Nael?« Er ging noch einen Schritt näher. »Ich schulde dir mein Leben.« Er versuchte zu lächeln, doch er war zu nervös.

Don Nael packte ihn an den Schultern, zog ihn in seine Arme. Er drückte so fest, dass Ivos Rippen knirschten.

Kein Wort kam über Don Naels Lippen, nur das angestrengte Atmen drang an Ivos Ohr.

Der Wind, der an ihren Haaren zog, der Hund, der um sie herumsprang. Die Kälte, das Tosen des Meeres, das Schreien der Möwen.

Nur ein Rauschen. Weit weg, ohne Bedeutung.

Als ihn Don Nael losließ, fühlte es sich an, als erwachte Ivo aus einem Traum. Er wollte etwas sagen. Es ging nicht.

Vor ihm stand der Mann, dem er sein Leben verdankte. Der ihm die Zeit in der Mine mit seiner Freundlichkeit erträglich gemacht hatte, der bereit gewesen war, einem Sippenlosen seine Liebe zu schenken.

Ivo erwiderte sie. Seit dem Tag, als er in der Lust ertrunken war, die ihm Don Nael bereitet hatte. Er hatte sich niemals zuvor jemandem näher gefühlt.

Don Nael nahm ihn an der Hand, eilte mit ihm ins Haus. Er trat die Tür hinter ihnen zu, riss den Reißverschluss von Ivos Jacke auf.

Noch bevor er sie ihm ausgezogen hatte, schob er den Pullover empor, bedeckte Ivos Brust mit drängenden Küssen, während er Stück für Stück die Kleidung von ihnen beiden zerrte.

Ivo ließ sich in das flirrend heiße Ziehen fallen.

Dass er plötzlich auf einem Sofa lag und Don Nael zwischen seinen Beinen kniete, bemerkte er nur am Rand.

Seine Schenkel wurden auseinander gedrückt. Don Nael küsste sich an der Innenseite hinab, leckte über den sensiblen Eingang.

Ivo stöhnte auf, als die feuchte Zunge in ihn glitt. Vor seinen Augen flackerte es.

Nie zuvor war er auf diese Weise liebkost worden. Zu viel, um es auszuhalten. Zu intim, zu innig, um es lautlos zu ertragen.

Er keuchte, als statt der geschmeidigen Zunge Don Naels Härte in ihn drang.

Er wollte sich den Mund zuhalten.

Don Nael zog ihm die Hand weg. »Ich will dich hören.«

Er stieß in ihn. Fest, tief.

Ivo erschauderte unter dem Schmerz und der Lust, die er auslöste.

Wieder und wieder, bis er es nicht mehr aushielt.

Er schrie, heiser, laut. Ließ zu, dass glühende Wellen über ihm zusammenschlugen.

Don Nael stöhnte auf, presste sich so tief in ihn hinein, dass Ivo zitterte.

Schweiß tropfte auf ihn herab.

Hitze glühte in seinem Leib.

Er wand sich vor Lust, verlor seine Gedanken.

Don Nael ließ nicht ab von ihm.

Sachte Dunkelheit.

Ivo versank darin.

 

 

~*~

 

 

Die köstlichen Lippen zitterten immer noch.

Nael bedeckte sie mit zärtlichen Küssen.

Dreimal hatte er Ivo bis zum Rand einer Ohnmacht geliebt. Nun lag er neben ihm, vollkommen erschöpft wie er selbst.

Nael hatte Angst, einzuschlafen. Wenn er erwachte, enttarnte sich dieses Wunder vielleicht als Traum. Dennoch fielen ihm die Augen zu.

»Danke«, flüsterte er gegen Ivos erhitzte Wange. »Doch ich will mehr Nächte mit dir.« Er strich ihm die nass geschwitzten Locken aus der Stirn. »Was muss ich tun, damit du bei mir bleibst?«

Ivo lächelte mit geschlossenen Lidern. »Ich war schon damals bereit, dir mein Leben zu schenken. Aber du hast gesagt: Behalte es.«

»Ich war ein Idiot.«

Diesen Fehler beging er kein zweites Mal.

 

 

~*~

 

Impressum

Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichte ist Teil der Anthologie "Facetten der Liebe" von der Kuschelgang

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