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Leseprobe

 

 

 

 

 

S.B. Sasori

 

 

SEANS SEELE

 

-

 

Schlangenfluch 03

 

 

 

 

 

2. Auflage

Copyright © 2019 S.B. Sasori

 

https://sbnachtgeschichten.com

https://www.swantje-berndt.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Probiere mich«, flüsterte Raven. »Wenn ich dir schmecke, nimm mich. Behalte mich dann aber auch.«

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Prolog

 

Zweige knackten. Rechts und links flatterten erschrockene Vögel aus den Büschen. Raven schloss die Augen und konzentrierte sich auf jedes Geräusch.

Ein ungleichmäßiges, angestrengtes Atmen wurde lauter, kam näher. Das Mädchen war ihm demnach gefolgt. Es war ihre Entscheidung. Mit keinem Wort, mit keiner Geste hatte er sie dazu getrieben. Am Bootssteg, auf dem Weg zum Haus, selbst im Garten hatte sie auf ihn gelauert. Ihre Blicke verschlangen ihn und ihr Seufzen war unüberhörbar.

Hielt sie ihn für einen Vampir? Träumte sie sich in ihrem Wahn in seinen Arm, um sich vollkommene Schönheit und ewige Jugend in den Hals beißen zu lassen?

Das Gegenteil wäre der Fall.

Raven setzte sich an den Fuß der Mauer. Noch streiften ihn rotgoldene Sonnenstrahlen, doch bald würde sich die kalte Dunkelheit der Herbstnacht über den Resten der Kapelle ausbreiten. Und über den leblosen Körper einer jungen Frau.

Das Mädchen kannte sein Schicksal noch nicht. Leichtsinnig, dem Tod nachzulaufen, statt panisch die Flucht zu ergreifen.

Die zögernden Schritte wurden lauter. Eine sommersprossige Hand schob die Zweige auseinander, die den schmalen Fußpfad versteckten.

Raven drückte sich tiefer in den Schatten der Ruine. Das Mädchen stammte aus Morar. Ein, zwei Gespräche hatte es ihm aufgezwungen und ihn dabei mit Fragen überschüttet. Sie hieße Nancy, wollte Journalistin werden und würde bald nach Glasgow ziehen, um zu studieren. Warum er stets eine Sonnenbrille trug, warum er nur während der Dämmerung das Haus verließ, ob es ihn störte, dass so viel Unheimliches über seine Familie erzählt würde.

Nein, das störte ihn nicht. Er war das Unheimliche seiner Familie.

Nancy ließ ihren Blick über die Mauerreste schweifen. Ihre Lippen glänzten feucht vom ständigen Benetzen mit der Zunge.

Sie war nervös. Roch nach Angst. Kein unangenehmer Duft, aber es gab bessere. Das Aroma frischer Pfirsiche oder die herb rauchige Komposition, die Samuels Schuppenhaut entströmte. Weder das eine noch das andere stand ihm jemals wieder zur Verfügung. Doch Nancy tat es.

Raven löste sich aus dem Schatten. Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, ging einen Schritt zurück, stolperte und verfing sich in den Zweigen.

»Du hast nach mir gesucht?« Er streckte ihr die Hand entgegen. Das Mädchen ergriff sie und ließ sich aus dem Dickicht ziehen. Ein buntes Blatt hatte sich in ihren braunen Haaren verfangen. Es zierte sie wie ein seltener Schmuck.

»Sie haben mir neulich gesagt, Sie hätten nichts gegen meine Gesellschaft.« Ihr aufgesetztes Lächeln täuschte nicht über ihre Nervosität hinweg.

»Falsch. Ich sagte, ich hätte nichts gegen deine Nähe.« Wenn sie nicht sofort floh, würde er ihr nah sein bis zum Tod. Wäre er in der Lage, sie gehen zu lassen? Oder würde er ihr hinterhersetzen wie ein Raubtier seiner Beute?

Blau schimmernde Venen pulsierten unter der hellen Haut. Versprachen Frieden, lockten mit der Aussicht, die Einsamkeit für einen Augenblick vergessen zu können.

Mit einem Ruck zog er sie zu sich. Der Angstgeruch wurde stärker. Er fasste ins schmale Genick, strich fest über die angespannten Halssehnen. »Was genau willst du von mir?«

Nancy schnappte nach Luft. »Sie.« Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. »Seit ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, faszinieren Sie mich. Sie sind immer allein. Wenn sie am Ufer spazieren gehen, wenn Sie den See betrachten, als hätte er Ihre Seele verschlungen. Mit diesem Blick, der ...«

»Du lügst.« Ohne Sonnenbrille setzte er keinen Schritt vors Haus. Nancy konnte seine Blicke weder sehen noch interpretieren. Davon abgesehen besaß der See nicht seine Seele. Sie war mit Samuel nach London geflohen. Sie hasste ihn. Ebenso wie ihn sein Bruder hasste.

Ohne Seele war ein Mord aus Leidenschaft ein Kinderspiel. Und Leiden würde er schaffen. Gleich nach der Lust. Er würde Nancy mit beidem überschwemmen, die ihren eigenen Tod ansah, als wäre er das Wunder dieser trostlosen Welt.

Langsam, damit sie sich daran gewöhnen konnte, zog er die Brille ab. Das erschrockene Keuchen erstickte er mit einem harten Kuss.

Zappeln? Wozu? Das Mädchen brauchte nichts tun, als stillzuhalten. Er fuhr ihr mit der Hand unter die Fleecejacke. Wanderte höher, bis er das ängstlich trommelnde Herz fühlte.

Nancy stöhnte in seinen Mund, krallte sich an ihm fest. Sie wollte seine Lippen nicht hergeben, versenkte ihre nasse Zunge in seinem Mund.

Ungeschickt und plump. Nicht zu vergleichen mit der sinnlichen Stimulation, die ihm Samuel mit jeder Liebkosung geschenkt hatte.

Du musst noch viel lernen, Nancy. Bedauerlich, dass du keine Gelegenheit mehr dazu haben wirst.

Ob fähig oder nicht. Ihr Blut rauschte heiß und schnell und weckte ein gieriges Ziehen in ihm. Zuerst würde er die Zähne in ihrem Fleisch versenken, dann sich selbst.

Er befreite seine Lippen von Nancys unerfahrener Zudringlichkeit und presste sie auf den schlanken Hals. Der fremde Puls pochte an seinem Mund, verriet ihre fahrige Lust.

Kaum hörbar, das Reißen der Haut.

Nancy stöhnte auf, drängte stärker an ihn, während sich seine Zähne in sie gruben.

Eine Nacht, prall gefüllt mit den sinnlichsten Träumen, einem Rausch, der ihre Lustempfindungen über alle Grenzen hinweg schleudern würde – nur um anschließend qualvoll zu sterben und in einem Loch verscharrt zu werden.

Ich werde dich halten, bis es vorbei ist.

Das war alles, was er noch für sie tun konnte.

2. Spezies S78

 

Das Weibchen war tot. Auch die vier Jungtiere und der Zuwanderer von vorletztem Frühjahr. Er hatte die Führung an sich gerissen und für frisches Blut gesorgt. Wusste der Teufel, wo er plötzlich hergekommen war, doch Chen Sun hatte gejubelt vor Glück.

Die Alte, die mit den tiefen Narben am Unterarm, und ein Tier mit graubraunen Schuppen hatte es ebenso erwischt.

Isabell zoomte das Bild näher heran. Blutungen aus Mund und Nase, zerfetzte Haut. Das nannte Sun ein Problem? Das war eine Katastrophe. Großer Gott! Die gesamte Population des Tian-Chi-Sees hatte es dahingerafft.

Mit zitternden Händen kämpfte sie mit dem Verschluss der Wodkaflasche. Nicht die Nerven verlieren. Sie hatte bisher alles überlebt. Die Armut in den Favelas von Bogotá, den hassenswerten Vorschlag ihrer vom Schicksal kleingehaltenen Mutter, nach Moskau auszuwandern und auch die stickigen Container, in die sie die Schleuser hineingepfercht hatten.

Und Stanislaw.

Isabell zerrte die Erinnerung an diesen Mann aus einem dunklen Versteck. Oh ja. Sie hatte Stanislaw überlebt. Nur er würde sie nicht überleben.

Ob sein Kartell hinter dem Massenmord steckte?

Sie füllte das Glas bis zum Rand. Nach drei großen Schlucken entspannte sich ihr Magen etwas. Niemand wusste von der Spezies S78. Es sei denn, Chen Sun hätte geplaudert. Aber warum? Er war nicht lebensmüde, lediglich verrückt. Der Grund seines Irrsinns lag nebeneinander aufgereiht auf kahlen Felsen dicht unter dem Himmel.

Was hatte der dürre Chinese ins Handy geschluchzt! Kaum ein Wort hatte sie verstanden. Unsinniges Gerede von Traditionen, Generationen, Familienstolz und der erhabenen Pflicht, sich rund um die Uhr um nicht einmal zwei Hände voll Viecher zu kümmern, die von der Evolution ohne die Familie Sun längst ausradiert worden wären.

Gewürm hätschelte man nicht. Man zertrat es. Normalerweise. Doch Spezies S78 war die glorreiche Ausnahme.

Spielsüchtig und verschuldet war Sun angekrochen gekommen, hatte ihr mitten in einem Kasino in Shenyang seinen Plan vorgestellt, die Droge des Jahrhunderts zu kreieren. Was er dazu brauchte? Ihr Geld, ihren Schutz und ihr Vertrauen.

Nun lag ihre Investition in der Gegend herum und blutete aus sämtlichen Körperöffnungen.

»Schwesterherz!« Luis schlenderte in ihr Büro. Ein zufriedenes Grinsen auf dem Gesicht.

Isabell drehte den Laptop so, dass ihr Bruder Suns gemailte Fotos nicht sehen konnte. Auf diesen Schock musste sie ihn vorbereiten.

»Sieht nach einer guten Ernte aus. Die kleinen Felder geben eine Menge her.« Seufzend setzte er sich zu ihr und leerte mit wenigen Schlucken ihr Glas. »Das Team funktioniert hervorragend. Vor allem Sean. Du hast nicht übertrieben mit seinen Führungsqualitäten.«

Sie übertrieb nie. Der Ire kam aus dem Dreck, hatte ihn überlebt. Ebenso wie sie. Das machte ihn zwingend zu einer starken Persönlichkeit.

Luis zog das Hängeregister näher und pickte sich Seans Personalakte heraus. »Stricher mit siebzehn. Wie kommt ein Ire nach Bangkok?« Kopfschüttelnd blätterte er sich durch die wenigen Seiten, die sie mit Stichworten aus Seans Leben gefüllt hatte. Er war nicht sehr gesprächig gewesen, doch ohne Hintergrundinformation bekam keiner bei ihr einen Job.

»Sein Zuhälter hieß Onkel Bob?« Luis lachte. »Bei dem gab es Aufstiegsmöglichkeiten für die Jungs. Respekt.«

Vom Stricher zum Personalmanager eines kriminellen Unternehmens. Sean passte perfekt ins Team. Wer Strichjungen motivieren und vor problematischen Kunden retten konnte, kam auch mit ihren Arbeitern zurecht. Außerdem war Sean ein guter Schütze.

»Ist er loyal?«, fragte Luis über den Rand der Akte hinweg. »Oder sticht ihn übertriebener Ehrgeiz?«

»Jeder Straßenköter leckt die Hand, die ihn füttert.« Sie fütterte ihre Köter überreichlich. Sie sollten keinen Grund haben, auch nur über ein Abwerbungsangebot der Konkurrenz nachzudenken.

»Henry ist begeistert von ihm. Er ist sicher, dass Sean mit links besser schießen kann, als Bruno mit rechts.«

»Hat er bewiesen.« Sonst säße sie nicht hier. Litt sie an Paranoia, dass sie hinter dem Mordanschlag ebenfalls Stanislaw vermutete?

Luis goss sich nach und schwenkte versonnen die klare Flüssigkeit im Glas. »Baxters kleines Spielzeug missfällt mir dafür umso mehr.«

»Tom?« Es war ein Freundschaftsdienst gewesen, ihn ins Team aufzunehmen.

Luis nickte. »Er ist ein Kriecher, der mit keinem von uns klarkommt. Dein Lieblingsmongole faselt etwas von Dämonenbalg, wenn er an ihm vorbeigeht.«

»Timur hält jeden für besessen.« Selbst in ihrer Nähe spuckte er über die Schulter. Solange er ihr Geld nahm und seinen Job erledigte, durfte er sich von Dämonen umgeben wissen, wie er wollte. Dass Luis jedoch ein Problem mit Tom hatte, war kein Wunder. Ihr Bruder war ein attraktiver Mann und liebte alles Schöne. Tom hingegen war entstellt, wie sie es damals gewesen war.

Automatisch griff sie zum Schminkspiegel. Nur dünne, helle Linien zogen sich über Wangen und Nase. Baxter hatte sie gerettet. Vor dem Hohn der Welt. Er würde auch den Jungen retten, doch bis dahin gehörte er zum Team. Ob es Luis passte oder nicht.

Luis nahm ihr den Spiegel aus der Hand. »Wenn wir mit Snaky Tears Erfolg haben, schuldest du niemandem irgendetwas. Pjotr ist hingerissen von den Kostproben. Als ich den Preis nannte, hat er gelacht. Er will es als neue Superdroge in seine Klubs einführen. Reine Natur!« Er kicherte – noch. Würde er die Bilder sehen, würde sich das ändern.

»Die Vorstellung, dass das Zeug von seltenen Kreaturen stammt, die in keiner ernst zu nehmenden Suchmaschine auftauchen, hat ihn geradezu begeistert. Auch wenn er nach wie vor der Meinung ist, wir würden mit einer Unterart der Kugelfische experimentieren.«

»Warum? Hat es ihm die Beine weggehauen?« Pjotr war einflussreich, skrupellos und beneidenswert reich. Doch offensichtlich mangelte es ihm an Bildung.

»Irgendwie schon.« Luis’ Fingerkuppe glitt sanft über den Glasrand. »Du hättest ihn hören sollen, wie er geschwärmt hat. Snaky Tears muss seine kleine Privatfeier ungemein aufgemischt haben. Er will einen exklusiven Vertrag mit uns. Dass wir vorerst nur Kleinstmengen produzieren können, stört ihn nicht. Er plant, die Larven der neureichen Moskauer Szene damit anzufüttern. Wohldosiert und direkt aus seiner Hand.«

»Er kann niemanden mit Snaky Tears anfüttern.« Die Produzenten der Superdroge lagen hingemetzelt auf zweitausend Höhenmetern am Rand eines Kratersees und würden spätestens am nächsten Tag zu stinken anfangen.

Langsam drehte sie den Laptop zu ihm. »Diese Bilder schickte mir Chen Sun vor etwa einer Stunde. Ob es ein Anschlag war oder die Dämlichkeit eines Fischers weiß er nicht.«

Luis stellte das Glas weg. Mit zusammengekniffenen Augen rutschte er samt Stuhl näher zum Tisch. »Scheiße.«

»Denkst du nicht, dass diesem Desaster ein originellerer Titel gebührt?«

Er fuhr sich über den Mund. Seine Lippen blieben fahl. »Sind das alle?«

»Nicht ein einziges Exemplar hat überlebt.« Sun hatte ihr diese Tatsache ins Ohr geschrien.

»Dann sind wir tot.«

Wie sie unreflektierte Aussagen hasste. Auch wenn sie von ihrem eigenen Bruder stammten.

»Mit Pjotr spielt man nicht. Er will etwas, er bekommt es. Weißt du, wie weit seine Kontakte reichen?« Seine Stimme driftete ins Schrille ab. »Der hat Kumpel, die tummeln sich im Kreml genauso oft wie auf den Jahresabschlussversammlungen diverser Drogenkartelle!«

»Kein Grund zum Schreien.« Pjotr war schon ihr Stammkunde gewesen, als Snaky Tears noch eine Idee in Suns Kopf gewesen war. »Er wird sich mit den regulären Opiumlieferungen begnügen müssen.«

Luis’ hysterisches Lachen klingelte in ihren Ohren. »Pjotr interessiert dein Opium nur, wenn es als Trägersubstanz für dieses gottverdammte Gift dient! Er will die Geilheit! Er will die Zügellosigkeit! Nicht bei sich, sondern bei der Brut seiner zwielichtigen Freunde, die er anschließend mit der Sucht ihrer missratenen Kinder erpresst!«

»Dann sag Sun, er soll sich nach Ersatz umsehen. Die Erde ist groß. In irgendeinem Loch wird eines dieser Viecher schon noch herumkriechen.« Und Gnade ihnen Gott, wenn nicht. Pjotr schuf nicht nur Chancen, er zerquetschte sie auch zwischen seinen dicken Fingern zu Staub. Den Traum von Reichtum und Macht ließ sie wegen dieses Desasters nicht bröckeln. Sun musste handeln, und zwar schnell.

»Du fliegst nach Moskau zurück und beschaffst mir dort etwas, in dem Chen Sun arbeiten kann.«

Luis blähte die Wangen. »Von was reden wir? Eine Datscha oder eine verlassene Fabrik?«

»Etwas dazwischen. Im Zentrum, aber dennoch verborgen vor neugierigen Blicken.« In Zukunft würde sie die Zucht von S78 persönlich überwachen. »Ein Seegrundstück wäre passend.« S78 benötigte Wasser. »Es muss sich einzäunen lassen und Platz für das Team und mindestens fünf ausgewachsene Tiere liefern.«

»Mir ist zwar nicht schlüssig, wo Sun ein komplettes Rudel auftreiben soll, aber bitte.« Schulterzuckend schrieb sich Luis ihre Wünsche ins Handy. »Nur nebenbei. Von Pjotr weiß ich, dass Stanislaw für ein paar Tage in Moskau ist. Zur Beerdigung seiner Tante. Hast du Lust, seine eigene dranzuhängen?«

Die Ruhe in seiner Stimme täuschte. Er war angespannt. So wie sie. Luis hatte sie nach Stanislaws Spezialbehandlung gefunden. Er wusste, warum sie den Russen tot sehen wollte.

Wer nicht hören will, fühlt. Stanislaw hatte ihr den Kopf in den Nacken gezogen und ihr diese Weisheit ins Gesicht geschnitten.

Konnte sich Kälte gut anfühlen, wenn sie nach und nach den Körper umklammerte? Unter einer Eisschicht schlug ihr Herz hart und fordernd. Es forderte sein Recht. Genau das würde es bekommen. In Fesseln. Geknebelt. Wimmernd vor ihr kniend. Diesen Anblick war ihr Stanislaw schuldig. »Gib mir zwei Tage. Dann komme ich mit dem Team nach. Und lass ihn nicht entwischen.«

»Kein Problem.« Luis lächelte hinreißend grausam. »Pjotr meint, Stanislaw sei mindestens die ganze Woche über bei seiner Familie.«

Dann sollte er seine Lieben genießen.

Jemand klopfte zaghaft an der Tür.

»Herein!«

Dünn und mit gesenktem Kopf betrat Tom das Büro. »Du wolltest Tee, Isabell?«

Richtig, sie hatte ihn völlig vergessen.

Die Tasse klapperte gegen die Kanne und Tom brabbelte eine Entschuldigung.

»Stell es auf den Tisch, bevor du alles verschüttest, und verschwinde.« Sie musste allein sein, um sich gedanklich in Stanislaws Blut zu suhlen.

»Wenn du noch etwas brauchst, Isabell ...«

Das Tablett fiel scheppernd zu Boden.

Idiot! »Reichen dir die Narben bis ins Hirn?«

Zitternd und bleich starrte Tom auf den Bildschirm.

Verdammt, Luis hatte vergessen, das Foto der Tian-Chi-Population zu minimieren.

 

~*~

 

Raven lehnte die Stirn an die Fensterscheibe und bildete sich ein, dass der Nebel auf der anderen Seite des Glases seine Wangen kühlte. Wie eine klamme Daunendecke lag er auf dem See und schluckte nicht nur die Schemen, sondern auch die Geräusche der Männer, die das Westufer absuchten.

Hofften sie eine weitere Wasserleiche zu finden? War das Glück ihnen hold, konnte das geschehen. Davenports kopfloser Körper und sein rotgesichtiger Handlanger steckten noch irgendwo in den Eingeweiden des Sees. Es grenzte an Ironie, dass die Polizei ausgerechnet Dr. Hendrik Johannson gefunden hatte, an dessen Tod weder Samuel noch er Schuld trug. Die Lokalpresse hatte sich mit der Sensation Tag für Tag geschmückt. Deutscher Kryptozoologe tot im Loch Morar gefunden! Todesursache noch unklar. Weiter unten in den Artikeln erschien regelmäßig ein Hinweis auf Mhorag. Die Leute in Morar jubelten. Endlich lief ihr heimisches Seeungeheuer Nessi den Rang ab.

Raven legte die Hand auf die Scheibe. Mhorag war Samuels und sein Vater und längst tot. Was die Leute wohl sagen würden, wenn sie das wüssten?

Vielleicht bildete er sich auch alles ein. Vielleicht hatte es nie einen Mann mit Schuppenhaut und Schlangenaugen gegeben und seine Mutter war nie von ihm verführt worden. Dann wären auch Samuel und er nur eine Einbildung inklusive ihres seltsamen Lebens. Ein guter Gedanke, der seine Einsamkeit mit einschloss und ebenfalls zu einer Illusion werden ließ.

Ein müdes Lächeln verzerrte seine Mundwinkel. Davids Gift hatte ihm ganz offensichtlich das Hirn zersetzt.

Raven trennte sich von der Kühle, glitt die Wand hinab, umklammerte seine Knie. Wenn er hier unten sitzen blieb, übersah ihn vielleicht der Rest der Welt.

Vorsichtig fühlte er über den Unterarm. Er war bedeckt mit kleinen Narben. Die jüngsten Bisswunden waren schon fast verheilt. Noch ein, zwei Tage konnte er aushalten, aber dann musste er wieder zu David, um sich seine Portion Glück und Vergessen zu holen. Von Mal zu Mal vertrug er das Gift besser. Bedauerlicherweise wurden jedoch die Abstände zwischen den Bissen kürzer. Anfangs hatte er zwei Wochen ohne ausgehalten. Inzwischen war das ein Albtraum.

Ewig konnte er die Kreatur, die er bloß aus Gewohnheit David nannte, nicht einsperren. Er musste sie erlösen. Am besten mit einem Kopfschuss. Danach war er selbst an der Reihe. Warum nicht? Sonderlich stark hatte er nie an seinem Leben gehangen, doch jetzt wurde es unerträglich.

Von giftigen Träumen zusammengeklebter Ballast, der nicht nur seine Seele nach und nach tötete, sondern auch Unschuldige gefährdete. Nancy ruhte sechs Fuß tief in silbernem Sand. Ob ihre Familie sie vermisste?

Er leckte über den Arm, schlug seine Zähne ins eigene Fleisch. Nur eine Illusion. Sie brachte keinerlei Befriedigung.

»Raven?« Finley klopfte an die Tür. »Ich habe etwas zu essen dabei. Darf ich hereinkommen?«

Lieber nicht, alter Mann aber du wirst dich nicht aufhalten lassen. Sein Magen boykottierte allein bei dem Gedanken an Erins Hausmannskost.

»Raven? Wo bist du?«

»Hier unten.«

Finley kam um das Bett herum, auf seinem Handteller wackelte ein Tablett. »Warum sitzt du auf dem Boden?«

»Mir war danach.«

»Meinetwegen.« Ächzend ließ er sich auf ein Knie nieder und stellte das Tablett neben ihm ab.

Quark, eine Banane, Zwieback. Dazu ein Becher Kamillentee. Offensichtlich hielt ihn Erin für sterbenskrank.

Finley musterte ihn, zog seine Augenbrauen noch enger zusammen, als er die zerbissenen Arme bemerkte.

Verdammt, die Narben! Raven zog die Ärmel seines Pullovers bis über die Handgelenke.

Nur langsam entknautschte sich Finleys Stirn. »Samuel hat mich vorhin angerufen. Er fragte nach dir und ich habe ihn angelogen. Zum wiederholten Male übrigens.«

»Inwiefern?« Raven tunkte den Zwieback in den Tee. Wenn die Kante abbrach, würde er Essen von seiner To-do-Liste streichen.

»Ich behauptete, dir ginge es gut. Aber ich denke, er hat’s mir nicht geglaubt.« Sein Blick auf den aufgeweichten Zwieback sprach Bände.

Raven legte ihn auf den Teller zurück. »Hat er gesagt, wann er gedenkt, seinem Elternhaus einen Besuch abzustatten?« Wie er rhetorische Fragen hasste. Vor allem, wenn er die Antwort längst kannte. Samuel hatte ihn angebrüllt, ihn niedergeschlagen und ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollte.

Ian hatte es nur beim Anbrüllen gelassen, doch geflohen war er ebenfalls. Die abstoßende Wirkung auf seine Brüder war nicht von der Hand zu weisen. Nur, weil er sich von dem Geliebten des einen hatte vögeln lassen und dem anderen gestanden hatte, der Mörder seines Vaters zu sein. Bedauerlicherweise hasste ihn Ian wegen einer Lüge.

David lebte. Allerdings hätte ihn Ian nicht mehr erkannt.

»Dein Bruder wohnt bei Laurens. Scheint ihm dort gut zu gehen. Von Zurückkommen war keine Rede. Ist auch ein bisschen viel verlangt. Immerhin hast du dir mit ihm einiges geleistet.« Finley brach ein Stück von der Banane ab und hielt es Raven vor die Lippen. Als sie geschlossen blieben, steckte er es sich seufzend selbst in den Mund.

Ermutigend, wenn ein eingebildeter Lichtschein in der Dunkelheit versank. Ein Versöhnungsversuch mit Samuel hätte diesen grauen Tag gerettet.

Finley versuchte sein Glück mit dem Tee. Raven schlug ihm die Tasse aus der Hand. Das pissgelbe Zeug sickerte in den Flickenteppich, während der Alte sein Repertoire an gälischen Flüchen aufsagte.

Warum noch warten? Es war ein guter Zeitpunkt für Davids Gift. Ein Tag früher, ein Tag später. Es spielte keine Rolle mehr. »Gibt es etwas, was ich in den nächsten achtundvierzig Stunden erledigen muss?« Nach dem Biss ging nichts außer im Bett liegen und träumen. »Wenn nicht, lass mich in Ruhe.«

»Was ist im Keller, Junge?«

»Geht dich nichts an, Finley.«

»Wo sind die Schlüssel?«

»Ich habe deinen Schwur.«

»Scheiß drauf!«

»Wir wissen beide, dass du dein Versprechen halten wirst.« Finley war vom alten Schlag. Seine Familie hatte jeher den Mac Lamans gedient, sie geschützt, war für sie gestorben. Lange bevor sie ihr Blut mit einem Seeungeheuer gekreuzt hatten. Ein Eid bedeutete Finley so viel wie seine Seele. Er war eine Tatsache wie der See und der Horizont über dem Meer.

»Danke fürs Essen, grüße Erin und wir sehen uns übermorgen wieder.« Raven erhob sich. Die Kellerschlüssel klimperten unter seinem Pullover. Finley war schwerhörig und würde es nicht bemerken.

Für sein Alter ungewöhnlich schnell packte ihn Finley am Kragen und zog ihn dicht vor die rot geäderte Nase. »Hör mir mal genau zu, Junge. Seit Samuel gegangen ist, hast du jeden Halt verloren. Du siehst aus wie ausgekotzt. Schau dich an!«

»Einen Teufel werde ich und nun lass mich los oder willst du mich erwürgen?«

Finleys Miene verzog sich, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen bekommen. »Du gehst jeden Tag da hinunter. Und wenn du wiederkommst, bist du nicht ansprechbar.«

Das war falsch. Nach den Biss-Tagen brauchte er eine Pause, was für David Diät bedeutete. Doch auch sonst benötigte sein Stiefvater wenig. Grünzeug, Fisch, sein Blut. Andere fütterten Kaninchen, er sein Monster.

Endlich nahm Finley die knochigen Finger weg. »Gib mir die Schlüssel oder ich breche die Tür auf.«

»Dann breche ich dir das Genick.«

Finley zuckte zusammen. »Das hast du nicht gesagt.« Die ausgestreckte Hand zog sich wieder zurück. Ohne Schlüssel. Als Raven nichts erwiderte, stand Finley auf. »Mir kommt gerade der Gedanke, dass du das ernst meinen könntest.« Er ging – schweigend und mit hängenden Schultern.

Tut mir leid, alter Mann. Aber niemand außer mir rührt David an.

 

~*~

 

Fuck! Fast wäre ihm das kitschige Döschen aus der Hand gerutscht. Sean setzte sich auf eine der Kisten, die vor Nippes und Holzwolle überquollen, und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. Seine Hand zitterte vor Müdigkeit und die Augen fielen ihm beinahe zu. Schlafen wäre es gewesen. Aber seit er diesem Kerl den Hinterkopf weggeschossen hatte, war das so eine Sache.

Der Typ war zusammengefallen wie eine Marionette, der auf einen Schlag sämtliche Fäden gekappt worden waren. Was musste er auch mit einem Messer auf Isabell losstürmen?

Beim Zielen war es in Seans Brust ganz ruhig gewesen. Geflattert hatte es erst, als sich der schmutzige Asphalt um den Körper rot gefärbt hatte. Isabell hatte ihn in Ruhe kotzen lassen. Danach hatte sie sich bei ihm in ihrer kühlen Art bedankt.

»Kuschlig. Nicht wahr?« Timur grinste sein Mongolengrinsen und riss ihn damit aus blutigen Erinnerungen. »Sei froh, dass der Sommer vorbei ist. Sonst würden wir in diesem Blechkasten nicht nur dämpfen, sondern kochen.« Er fuhr sich über den geschorenen Kopf und schleuderte den Schweiß von seiner Hand. »Warte nur ab. Mit den Jahren siehst du an Isabells Seite die halbe Welt.«

»Ja, aber nur die Hälfte, die nichts taugt«, brummte Henry hinter ihnen und rückte ein paar Kisten zurecht. »Und von der kennt Sean bereits eine Menge. Oder denkst du, ich hätte ihn aus einem seidenen Bett entführt?«

Henry konnte sich sein Grinsen sparen. Es hatte genug seidene Betten in Seans Leben gegeben. In manchen hatte er sich sauwohl gefühlt und wäre gerne geblieben. Doch damals gehörte er zur Kategorie: bespiel- und bezahlbares Material. Nach dem Job wurde so was fortgeschickt.

Mittlerweile nahm er nur noch Arbeiten an, die mit ficken lassen nichts zu tun hatten. Leute abzuknallen rangierte weiter oben in den Charts der beliebtesten Jobs, als Arsch hochhalten. Das hatte er bei Onkel Bob gelernt. Leicht fiel es ihm deshalb immer noch nicht.

Timur sah zur Schiebetür, die jeden eventuell erfrischenden Lufthauch aus der Containerlagerhalle fernhielt. »Wetten, gleich kommt der Boss?« Er streckte die Nase in die Luft. »Das Böse kann ich riechen.«

»Na und?« Wichtiger als die Tatsache, dass Isabell sie in diesem Drecksloch beehrte, war die Frage, wieso niemand auf die Idee kam, die Tür aus der Verankerung zu reißen. Wenn er noch länger in dieser Hölle brüten musste, würde er es tun und scheiß auf Isabells Anweisungen.

Die Hölle oder Connacht, hatte sein Großvater gesagt, und dabei gelacht. Wahrscheinlich hatte er nie eine chinesische Containerhalle von innen gesehen.

Wie er Irland vermisste. Elf Jahre weg von der schönsten Insel der Welt. Tasche packen und hin? Irgendwann. Noch diesen Job bei Isabell. Zwei, vielleicht drei Jahre. Dann hätte er mit dreißig ausgesorgt. Keine schlechte Vorstellung.

»Heimweh?« Timur zeigte auf Seans Brust. »Du hast deine Hand auf das Tattoo gelegt.«

»Immer.« Mit Heimweh ging er ins Bett, mit Heimweh stand er auf. Unter dem Wappen von Connacht schlug sein Herz. Die linke Hälfte eines Adlers und ein rechter Dolch-Arm.

Echte Connacht-Männer tragen die Seele eines Adlers in sich. Aber für schwule Grünschnäbel bleibt nur ein schäbiger Spatz. Das Lachen des alten Mannes klang ihm im Ohr. Besser einen Spatz als gar keine Seele. Auch wenn es dem Vogel miserabel ging, seit er Irland verlassen hatte.

»Achtung, der Dämon!« Timurs breites Gesicht verlor jeglichen Ausdruck, bevor er ein höfliches Lächeln auf seinen Mund zwang. Warum Timur dem Boss seelentechnisch misstraute und Isabell für mindestens besessen hielt, verriet er nicht.

Schon ratterte die Tür zur Seite. Mit vorgeschobenem Becken und spitzen Stilettos durchschritt Isabell die Lagerhalle. Mit den raspelkurzen schwarzen Haaren und dem kantigen Gesicht sah sie aus wie Grace Jones in weiß.

Hinter ihr lief Bruno. Mit einer Grimasse, als hätte er gerade zwischen seinen Kiefern etwas Kleinem das Genick gebrochen. Isabells Wachhund war eine Plage in Form einer sprechenden Presswurst, die jemand in zu enge Jeans und ein noch engeres Hemd gestopft hatte.

Tom bildete das Schlusslicht. Isabells Neuzugang. Fahrig und dünn schien er mehr zu huschen, als zu gehe. Seitdem er vor zwei Monaten hier aufgetaucht war, fungierte er als Mädchen für alles. Sein Blick ruckte nervös hin und her und ständig fielen ihm die Haare ins vernarbte Gesicht. Ein alter Kerl mit Hängebacken hatte ihn angeschleppt und ihm beim Abschied den Kopf getätschelt. Diese schlichte Handlung stieß Tom die Karriereleiter bis ins vierte Untergeschoss hinunter.

Im Team wurde nicht getätschelt. Von niemandem.

Was hatte Tom verbockt? Grundlos kroch keiner bei Isabell unter.

»Bist du von ihrem Dämonenblick erstarrt?« Timur rammte ihm den Ellbogen in die Seite. »Ich will die Arbeit nicht allein machen.« Er hielt ihm eine der bauchigen Achat Schnupftabakdosen hin.

Bevor er sie entgegennahm, legte er einen Bogen Seidenpapier auf den Packtisch. Timur sah kopfschüttelnd zu, wie er die Dose aufs Papier setzte und sie einhändig damit umwickelte. Das Ganze steckte er in eine Schachtel, stopfte eines der Brokattäschchen und einen Knochenlöffel dazu und versenkte alles in Holzwolle.

»Keinen Schimmer, weshalb dich Isabell ins Team geholt hat.« Timur nagelte die volle Kiste zu und gönnte ihm einen spöttischen Seitenblick. »Muss an deinem Gesicht liegen oder an den Locken. Vielleicht auch an deinem Schwanz. Ist der genauso hübsch?«

»Hübscher als deiner garantiert.« Leider war er trotzdem einsam.

Timurs Kichern erstarb, als Henry sich räusperte. Schwanz-Themen erstickte er prinzipiell im Keim. Vor allem, wenn es um Seans Schwanz ging.

»Stapelweise Schwachsinn für online Mongolen-Shops.« Fast zärtlich streichelt Timur über das Holz. »Mit dem gewissen Etwas.«

Eine nette Bezeichnung für die Rohopiumpäckchen, die sie in einigen der Schnupftabakdosen versteckten. Die Kisten waren markiert und landeten nach ihrer Reise in den Händen diverser Zwischenhändler. Einige wurden nach Baishan verschickt, und wenn sie wiederkamen, steckte in der Holzwolle kein mit Opium bereicherter Kitsch, sondern kleine braune Fläschchen. Snaky Tears. Ein alberner Name für krasses Zeug. Ein paar Tropfen in den Mund träufeln, dann fest auf die Zunge beißen, bis sich der Blutgeschmack mit der bitteren Flüssigkeit mischte.

Anfangs hatte ihm Isabell regelmäßig kleine Portionen Nirwana zugestanden, weil er vor Phantomschmerzen fast geheult hätte. Es war jedes Mal fantastisch gewesen. Schmerz, Angst und sämtliche Erinnerungen seines schiefgelaufenen Lebens hatten sich in süßen Träumen und lustvollen Empfindungen aufgelöst. Ab und an hatte er sich im Rausch an Henry herangemacht. Die schwarze Glatze war sexy. Henry hatte ihn rasch eines Besseren belehrt. Für ihn waren sie nur Freunde. Wenn auch sehr gute.

Henry heuchelte Fleiß, indem er einer der Arbeiterinnen die Opiumpäckchen vom Tisch räumte und sie zu ihnen brachte. »Seht ihr den Schweiß in Isabells Haaren?« Sein eigener Schädel glänzte nass. »Wenn sie ein Dämon wäre, könnte sie nicht schwitzen.«

»Lass dich nicht täuschen«, wisperte Timur. »Dämonen sind Meister der Tarnung.« Er wartete, bis Isabell vorbeigegangen war, tastete die Taschen seiner speckigen Steppweste ab und zog eine Streichholzschachtel hervor. »Ich habe mich vor ihr geschützt. Hiermit.« Vorsichtig schob er die Schachtel auf.

Ein Stück Finger. Braungrau und an manchen Stellen grün schillernd.

Tief in Seans Magen blinkte eine Alarmleuchte. Als eine fette Schmeißfliege anschwirrte, drehte er sich weg. Hatten die Fliegen auch seinen Arm umkreist, als er in den Blecheimer gefallen war?

»Den hat Isabell einer der Pflückerinnen abgeschnitten.« Timur klang geradezu begeistert. »Das Mädchen hatte sich beim Anritzen der Mohnkapseln ungeschickt angestellt.«

»Ist wenig sinnvoll, ihr dann noch die Hand zu verstümmeln«, bemerkte Henry sachlich. »Wahrscheinlich hatte der Boss einen miesen Tag.«

Ob diese Tatsache das Mandschu-Mädchen getröstet hatte, als es am nächsten Morgen nicht nur den oxidierten Mohnsaft abkratzen durfte, sondern auch gleich sein geronnenes Blut?

Henry schüttelte den Kopf. »Das ist kein Schutzzauber, das ist nur eklig.« Er nahm Timur die Schachtel samt Inhalt ab und warf sie in den nächsten Müllbeutel. »Apropos.« Sein Blick fiel auf Tom, der wie ein geprügelter Hund an Isabells Seite schlich. »Ich habe unsere Gesichtsbaracke gestern zugedröhnt aus einer Kloschüssel ziehen müssen. Mann, hat Tom einen Mist gelabert.« Er spuckte aus, einen Fingerbreit neben Seans Schuh. »Sorry, Kleiner. Die Rotze gilt nicht dir. Das weißt du. Ich habe nur schlecht gezielt.«

Niemand hatte ihn anzuspucken. Nicht vor die Füße, nicht ins Gesicht. Henry wusste das. Warum spuckte er überhaupt aus? Diese Angewohnheit war widerlich.

Ein schrilles Aufheulen ließ die Arbeiterinnen zusammenzucken. Henry verdrehte die Augen und zog Sean ein Stück von der glibberigen Pfütze weg. »Kann der Boss nicht eine seichte Melodie einstellen wie andere auch? Ihr Klingelton erinnert mich an eine Sirene.«

»Luis«, bellte Isabell ins Handy. »Sag mir, dass du Stanislaw gefunden hast.« Ihr knallrot geschminkter Mund verzog sich zu einem Strich. Plötzlich wurde es still in der Halle, als hätte es das Rascheln von Papier und Holzwolle nie gegeben.

»Gut.«

Was auch immer gut war, ihre Mundwinkel zogen sich in die Höhe.

»Kümmere dich um die Einladungen und die Visa für Sean und Tom. Ich will am Flughafen keine Schwierigkeiten.« Mit einem tiefen Seufzen reichte sie das Handy Bruno. Sie sah zufrieden aus wie ein Hai, dem ein Surfer vor der Nase entlang paddelte.

»Wer ist Stanislaw?« Den Namen hatte er bisher noch nicht gehört.

»Ein Kerl, mit dem sie noch eine Rechnung offen hat.« Henry spuckte erneut aus. »Sie wird meine Hilfe brauchen.«

In einem Roman hatte Sean einmal den Satz gelesen: Dunkelheit umwölkte seine Stirn und sich schlapp gelacht. Dunkelheit umwölkte in diesem Moment Henrys Stirn und es war ganz und gar nicht witzig. Von welcher Art Hilfe sprach er?

»Hey Sean!« Kichernd zeigte ihm Timur auf die Nase. »Da seilt sich ein Tropfen ab. Der baumelt schon.«

Sean wischte sich übers Gesicht. Jeder von ihnen schwitze, jeder von ihnen stank. Dabei hatte er sich geschworen, nie wieder zu stinken. Weder nach Schweiß noch nach faulem Fleisch.

Die Maden hatten in der Wunde gesessen, die ihm ein besoffener Freier in den Arm gestochen hatte. Nur weil ihm Seans Ansage nicht gepasst hatte, dass er nicht mehr anschaffte.

Aus dem Rinnstein hatte ihn Henry gefischt, mit seinen bloßen Händen, obwohl Sean von Kopf bis Fuß mit verpisster Scheiße voll gewesen war. Brauchst du einen Job?, hatte er gefragt und die Nase gerümpft. Sean hatte kaum nicken können, doch Henry hatte das Stöhnen für ein Ja gelten lassen, ihn sich über die Schulter geworfen und mitgenommen. Im Krankenhaus hatte er zuerst Sean auf den Tresen der erschrocken fiependen Nachtschwester gelegt, dann ein dickes Bündel Geldscheine.

Ein freundlich lächelnder Arzt hatte Sean in gebrochenem Englisch etwas erklärt, das er allein wegen des Wundfiebers nicht verstanden hatte. Dann war es dunkel geworden. Am nächsten Tag war er ohne rechten Arm aufgewacht. Allerdings nicht ohne Schmerz. Der kam und ging, wie es ihm passte.

Er hätte die Krankenhausrechnung bei Henry abgearbeitet. Kein Problem. Henry war ein Hüne mit einem hünenhaften Schwanz, aber Sean hätte es schon ausgehalten. Doch Henry hatte bei diesem Vorschlag laut gelacht und ihn frisch gewaschen und sauber eingekleidet Isabell vor die Füße gelegt. Sein einziger Kommentar zu ihr war gewesen: Sei vorsichtig mit dem Jungen, der hat eben noch an Schläuchen gehangen.

Isabell hatte genickt und sich die Frage verkniffen, was zur Hölle sie mit einem einarmigen Krüppel sollte. Stattdessen hatte sie ihm den besten Whisky seines Lebens eingegossen.

Er war Ire. Er kannte sich damit aus. Seitdem sprang er nach ihrer Pfeife und lebte nach Henrys Regeln.

Regel Nummer eins: Tu, was der Boss dir sagt, auch wenn du deine Seele in Gefahr wähnst. Regel Nummer zwei: Bleib unter meinen Fittichen, denn dort wird dir keiner etwas tun, es sei denn, er ist lebensmüde. Regel Nummer drei: Niemanden im Team hat zu interessieren, dass du auf Männer stehst und deinen Arsch für einen amerikanischen Hurensohn verkaufen musstest.

Der Hurensohn war Bob. Er hatte ihm anfangs unter die Arme gegriffen aber schnell erkannt, dass Seans Qualitäten eher im Anlernen und Motivieren der Jungs lagen, als darin, alten Säcken die Schwänze zu lutschen. Preise, Arbeitsbedingungen, Konflikte zwischen den Jungs und Bob oder ihren Kunden, alles wurde von Sean gemanagt. Onkel Bob hatte seine Ruhe und zahlte in Dollars. Die Jungs konnten stressarm arbeiten und revanchierten sich mit kleinen bis großen Liebesdiensten. Wäre der Messer-Mann nicht dazwischen gekommen, hätte Sean den Job noch jahrelang machen können.

»Lohnabzug!« Brunos scheppernde Stimme, die in keiner Weise zu seinem Körperumfang passte, lärmte über jedes Geräusch hinweg. Mit der Fußspitze scharrte er in einem Scherbenhaufen und grinste dabei eine der Arbeiterinnen an. Die Dose musste dem Mädchen aus der Hand gerutscht sein.

»Die Dinger bringen hundertfünfzig Pfund pro Stück. Ohne die berauschende Zugabe.« Sein Grinsen wurde hinterhältig. »Was ist, Kleine? Zahlen oder lieber gegen eine Nacht mit mir tauschen?« Er spielte mit einer weiteren Dose, warf sie hoch, fing sie nicht auf. »Offenbar wird die Nacht länger.«

Konnte ihm nicht jemand das Maul stopfen?

»Wisch dir die Rebellion aus dem Gesicht, Ire«, knurrte Henry. »Du bist nicht zu Hause und das Mädchen geht dich nichts an.«

Scheiß drauf! Es sah so erschrocken aus, als ob es gleich in Tränen ausbrechen wollte. »Bruno! Du lässt die Arbeiterin in Ruhe!«

»Sagt wer?« Der Mistkerl musterte ihn, als ob er Dreck unter der Schuhsohle wäre. »Henrys Schützling?«

»Der Schützling schlägt dir gleich die Zähne ein. Und zwar mit links. Mal sehen, ob dir das Grinsen dann immer noch Spaß macht.«

»Klappe, Sean! Was schert dich dieses Weib?« Henry wollte ihn festhalten, doch Sean schlug seine Hand weg. Wie oft hatte er wegen Kerlen wie Bruno Schulden abarbeiten müssen. Der Arsch hatte ihm geblutet.

Henrys Arm rankte sich wie ein Tentakel um seinen Brustkorb. »Halt die Luft an. Das Mädchen hat sein eigenes Schicksal.«

»Das hatte ich ebenfalls und du hast mir trotzdem geholfen.« Die Kleine war höchstens fünfzehn und musste garantiert eine siebenköpfige Familie ernähren.

»Du willst ihr helfen?« Timur zupfte an dem Witz von Kinnbart. »Dann geh hin und sag Isabell, das Mädchen soll ihre Schulden bei dir begleichen.«

Henry lachte trocken. »Sean soll Anspruch auf die Kleine erheben?«

»Warum nicht?« Timur war von seiner Idee offenbar begeistert. »Sean ist ein Krüppel. Denen schlägt nicht mal Isabell was ab. Mit der Gesichtsbaracke geht sie auch behutsam um.« Er kicherte, als hätte er den Scherz des Jahrhunderts gerissen.

Bruno umschlich das Mädchen und grinste zu Isabell.

Die zuckte nur die Schultern.

Der Mistarsch würde sie kriegen und das Schlimmste war, dass er beim nächsten Mal wieder Erfolg mit seinen Machtspielchen haben würde. Und wieder, und wieder. Jemand war stark, zog sein Ding durch und bekam, was er wollte. Sean hatte diese Spielchen so satt, dass ihm in Henrys Klammergriff schlecht wurde. »Lass mich los. Ich will das Mädchen.«

»Glaube ich dir nicht.«

»Ist mir egal.«

Noch einmal wurde Henrys Griff fester, dann ließ er ihn frei.

Sean räusperte seinen verkrampften Kehlkopf locker. Nur Mut. Isabell würde ihm nicht den Kopf abreißen. Trotzdem legte sein Herz einen Zahn zu, als sich der Boss zu ihm herumdrehte. Ihr kalter Blick schleuderte ihn innerlich zurück. Kaum zu glauben, dass sie ihn mochte, doch was bedeutete es schon, von einer Teufelin geschätzt zu werden?

»Die dreihundert Pfund ist sie mir wert.« Dank Isabell quoll sein Konto über. Er konnte den Zaster verschleudern, wofür er wollte.

Isabells abschätzender Blick streifte zuerst das Mädchen, dann Sean. »Du willst sie?«

Nicht auf dieselbe Weise wie Bruno aber eine Runde Mah-Jongg mit ihr wäre sicher nett. Vielleicht spielte sie auch Schach.

Timur trat einen Schritt vor. »Gib dir einen Ruck, Boss. Immerhin hat er dir diese Ratte vom Hals geknallt. Du bist ihm was schuldig.«

Isabell lächelte dünn. Sie war sicher nicht traurig darüber, noch am Leben zu sein. Mit einer knappen Geste stoppte sie den nächsten Wortschwall, der schon in Brunos hässlichem Mund wartete. »Nimm sie dir, Sean. Ich will dein Geld nicht. Hauptsache du bist morgen früh fit, wenn wir aufbrechen.«

Nur für Bruno warf sich Sean in die Brust. Die Kleine gehörte für diese Nacht ihm, auch wenn sie nur blöde Comics gucken würden.

Bruno schnaubte vor Wut.

Das Mädchen wirkte nach wie vor nervös. Sean hätte ihr gern gesagt, dass sie sich den Stress sparen konnte.

»Ich brauche eine Pause. Bin gleich wieder da.« Er musste an die frische Luft.

Isabell reagierte nicht, sondern schien etwas zu suchen. War ihr Tom abhandengekommen? In der Halle war er nirgends zu sehen.

Sean schleuderte sich den Schweiß aus den Haaren und tastete nach seiner Zigarettenschachtel. Sie war so feucht wie sein Hemd.

»Wo willst du hin?«, blaffte Henry hinter ihm her. Sean hielt die Packung hoch und Henry nickte ab. Sein Beschützerding in allen Ehren, aber manchmal nervte es. Mit sechsundzwanzig war er kein Küken mehr. Hätte Henry ihn nicht in diesem erbärmlichen Zustand gefunden, wäre er nie auf die Idee gekommen, einen Mann wie ihn bemuttern zu müssen.

Die Sonne stand bereits weit unten. Ihre Strahlen trafen auf ein paar alte Tonnen, die neben dem Hintereingang lagerten. Sean lehnte sich gegen eine von ihnen und schloss die Augen.

Grüne Wiesen, der Duft frisch gefallenen Regens, Wind, Felsen. Eines Tages musste er zurück nach Irland, sonst fraß ihn das Heimweh auf. Niemand würde ihn dort wiedererkennen. Er könnte sich ein Landhaus kaufen. Irgendwo in Connacht.

Mit dem Mund zog er eine Zigarette aus der Schachtel, steckte die Packung weg und fischte das Feuerzeug aus der Hosentasche. Wieder wollte seine verschwundene Hand zugreifen. Es war, als legten sich unsichtbare Finger um den Filter, um ihn für einen Augenblick aus den Lippen zu ziehen.

Wann gewöhnte sich sein Körper endlich daran, ein einarmiger Bandit zu sein? Neulich hatte ihm Henry eine geschälte Orange zugeworfen. Einfach so, quer über den Tisch. Sie war auf den Boden geklatscht, weil Sean versucht hatte, sie mit rechts aufzufangen. Blöd nur, dass es die rechte Hand nicht mehr gab.

In einem Haus, weit ab vom Schuss, würde ihm niemand etwas zuwerfen. Da spielte es keine Rolle, ob er ein oder zwei Arme besaß. Solange es Turnschuhe mit Klettverschlüssen gab, kam er klar.

Hinter einer der Tonnen rührte sich etwas. Tom saß auf dem vor Dreck starrenden Asphalt und verbarg das Gesicht in der Armbeuge.

Sean klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und tippte ihm auf die Schulter. »Verkriechst du dich vor Isabell?«

Tom tauchte aus seinem Versteck auf. Seine Augen waren verquollen und aus der Nase lief Rotz. »Verschwinde! Geh zu Henry und erzähl ihm, dass das Fratzengesicht heult.«

»Das interessiert ihn nicht.« Der Junge nahm sich zu wichtig. »Eine Pause zum Rauchen ist okay. Eine zum Heulen ist Zeitverschwendung.« Er schüttelte eine Zigarette aus der Packung und hielt sie Tom hin.

Der sah ihn erstaunt an, steckte sie sich aber zwischen die Lippen. Er wartete, bis Sean die Schachtel mit dem Feuerzeug getauscht hatte, und ließ sich von ihm Feuer geben.

Verwöhntes Bürschchen.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?« Zigarette gegen Information. Ein fairer Tausch.

»Geht dich nichts an.«

Was fragte er auch. »Gut, zweiter Versuch einer vernünftigen Unterhaltung. Warum bist du hier?« Wahrscheinlich schmetterte Tom diese Frage ebenso ab.

Tom starrte an Seans Bein vorbei auf einen Ölfleck. »Ich glaube, die professionelle Bezeichnung heißt versuchter Mord.«

Den Pfiff durch die Zähen konnte sich Sean nicht verkneifen. Deshalb hatte ihn Baxter bei Isabell zwischengeparkt.

»Aber Baxter holt mich bald zu sich zurück.« Tom zog die Nase hoch. »Er hat mir geschrieben, dass die Polizei die Suche nach mir aufgegeben hat und meinen Anschlag als Partyscherz abtut.« Ein kleines, schüchternes Lächeln. Seine linke Gesichtshälfte machte es schöner, seine rechte hässlicher. »Von Isabell habe ich neue Papiere. Auf denen heiße ich Yanis Lennox. Und wenn Baxter erst mit meinem Gesicht fertig ist, läuft mein Leben endlich wieder geradeaus.«

Tom brachte einem alternden Arzt mit perversem Hang zu körperlich Entstellten eine Menge Vertrauen entgegen.

Kaum hatte Baxter damals Isabells Büro verlassen, hatte er Sean gemustert wie ein Stück Beefsteak, dem bereits die Kräuterbutter aus den angeschnittenen Rändern quoll. Versehrte würden ihn inspirieren, insbesondere dann, wenn sie ein so engelsgleiches Gesicht besäßen.

Er hatte Sean

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: depositphotos.com, ©nelka 7812
Cover: Swantje Berndt
Lektorat: Sophie R. Nikolay / Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2019
ISBN: 978-3-7487-1934-2

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