S.B. Sasori
Ravens Gift
Schlangenfluch 02
2. Auflage
Copyright © 2019 S.B. Sasori
1. Auflage 2014
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Es sind die inneren Abgründe, die unsere Träume verlassen und die Realität verschlingen.
1. Prolog
Im Grunde genommen war es nur die Kopie eines Videos, die sie ohne Dr. Johannsons Erlaubnis erstellt und mitgenommen hatte. Vivienne balancierte die CD auf ihrer Zeigefingerkuppe, während ihr Laptop hochfuhr. Nur ein Stück Plastik, doch ihr gesamtes Gewissen befand sich darauf.
Ihre Finger huschten über das Tastenfeld und endlich grinste sie ein animierter Yeti an.
Sie könnte diese Plastikscheibe wegwerfen. Sie könnte sie vergessen. Würde dadurch der Mann vom Seeufer aufhören, zu existieren? Würde er endlich schweigen und nicht mehr in ihrem Kopf nach Gerechtigkeit schreien? Nach Vergeltung?
Sein Name war Samuel Mac Laman. Sie hatte in Morar nachgefragt.
Vivienne fuhr den Schlitten aus, legte die CD ein und wartete. Die erste Hälfte des Videos war nicht von Belang. Die Nachtgeräusche des Loch Morar vermischten sich mit Hamburgs Straßenlärm.
Sie schloss das Fenster. Für das, was kam, brauchte sie keine Zeugen. Sie hätte die Lautstärke regulieren oder Kopfhörer benutzen können, sie hätte den verdammten Lautsprecher komplett ausschalten können. Aber das wäre Verrat an dem Mann mit den Schuppen gewesen. Sein Leid verdiente es, von ihr gehört zu werden.
Der Steg, der Kerl in der Reiterjacke, das Gewehr, mit dem er sein Opfer zum Bootsschuppen trieb. Dann Szenen, die trotz des Zwanges dermaßen lustvoll waren, dass sie sich schämte. Trotzdem starrte sie hin. Wegsehen funktionierte nicht. Sie hatte es längst versucht.
Samuel sank zusammen, sein Peiniger kniete sich vor ihn.
Ihr Herz begann zu hämmern.
Wieder wurden Samuels Beine auseinandergedrückt. Wieder verschwand der Kopf des anderen zwischen ihnen, wieder schrie sich Samuel die Seele aus dem Leib.
Vivienne schauderte, klappte den Laptop zu. Was nun folgte, wollte sie nicht sehen. In den letzten Wochen hatte sie das zu oft. Dieser Bastard mit dem Gewehr gehörte eingesperrt – an einen Ort ohne Sonne.
Die Alster floss träge unter dem Fenster entlang. Vivienne konzentrierte sich auf den Fluss, um einen See in den schottischen Highlands zu vergessen.
Umsonst. Wahrscheinlich gelang ihr das niemals.
Die Leute in dem kleinen Dorf hatten ihre Fragen nur widerwillig beantwortet. Samuel Mac Laman wäre selten in Mhorags Manor, nur, wenn er seine verrückte Mutter besuchte. Den anderen Sohn hätte seit Jahren keiner in der Gegend gesehen. Seltsame Kinder wären das. Wie ihre Mutter, Mia Mac Laman. Nur der Jüngste wäre normal, stamme allerdings auch von einem anderen Vater ab. David Wilson.
Den Mann in der Reiterjacke.
Woher sollten die Menschen aus Morar auch wissen, was David Wilson nachts am Ufer des Sees trieb? Die Gegend war einsam. Vielleicht hatte niemand je Samuels Schreie gehört.
Was für ein trostloser Gedanke.
Der Kellner aus dem Café hatte sich über die Schulter gespuckt. Erst dann war er bereit gewesen, von den Mac Lamans zu erzählen. Ob sie nicht die Gerüchte kennen würde, die um die Familie kreisten?
Nein, die kannte sie nicht. Doch sie wollte die Gerüchte über David Wilson hören, um ihm die Polizei auf den Hals zu hetzen.
Wilson? Ein wahrer Gentleman, nur leider selten daheim. Warum Mia nicht seinen Namen angenommen hätte? Tja, das wüsste niemand so genau. Die Mac Lamans entstammten einem alten Klan. Sehr traditionsbewusst. Eben schottisches Urgestein. Ein Jammer, dass mit Mia. Als junges Mädchen wäre sie normal gewesen und zum Sterben schön. Aber dann, nun ja. Wer sich mit Dämonen einließe, setzte nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Geist aufs Spiel.
Dämonen?
Der Mann hatte mit betrübter Miene genickt, allerdings vergessen, sich die Sensationsgier aus den Augen zu wischen.
Mia Mac Laman wäre von dem Wesen Mhorag höchstselbst verführt worden. Ihren Zwillingssöhnen sähe man das an. Wenigstens dem einen, dem mit der Glatze. Der Briefträger hätte ihn vor Jahren einmal ohne Sonnenbrille gesehen.
Teufelsaugen! Natürlich wäre das ein Gerücht, doch wo es qualmte, war Feuer bekanntlich nicht weit.
Der Mann hatte sicherheitshalber ein zweites Mal ausgespuckt.
Der andere Zwilling lebte sehr zurückgezogen. Es hieß, er hätte eine verunstaltete Hand, daher der Handschuh. Der Teufel hätte eben ein Zeichen an seinen Kindern hinterlassen.
Kein Teufel. Eine Chimäre. Halb Mensch, halb Wasserwesen. Oder, was wissenschaftlicher klang, ein Hybrid. Vielleicht auch beides gleichzeitig.
Vivienne raufte sich die Haare. Geschissen auf den Terminus! Das Wesen hatte gelebt und Söhne gezeugt, die nun unter ihrer Herkunft zu leiden hatten.
Woher stammten die Gene, denen sie das verdankten? Johannson vermutete, sie wären prähistorischen Ursprungs. Jedenfalls hatten sie einem der Zwillinge eine faszinierende Schuppenhaut auf seiner linken Körperhälfte beschert. Genau die hatte ihn verraten und Johannson davon überzeugt, am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein. Seit Ewigkeiten jagte ihr Chef das Ungeheuer von Loch Morar. Mit Samuel hatte er zumindest einen Nachkommen des Monsters gefunden.
Vivienne wischte sich über die Augen. Sie hätte damals schon eingreifen müssen. Hätte sich von einem fanatischen Kryptozoologen nicht wegschicken lassen dürfen. Johannson hatte den Ruhm für sich allein gewollt. Nun war er wie vom Erdboden verschluckt.
Mit Samuel? Ohne ihn? Oder hatte er ihn in Teilen mitgenommen?
So oft war sie kurz davor gewesen, in dem Hotel in Morar anzurufen. Vielleicht wusste die Empfangsdame etwas über Samuel Mac Laman. War er zurückgekehrt? Wurde er vermisst? Hatte er sich bei seiner Familie gemeldet?
Die Angst vor der Antwort war zu groß. Was, wenn er wie Dr. Hendrik Johannson verschwunden war? Was, wenn dieser alte Drecksack ihn in ein geheimes Labor gesperrt hatte? Was, wenn er Samuel längst getötet und seziert hatte?
Drei dicke Kluntjes plumpsten in die Teetasse und verursachten eine Überschwemmung auf dem Untersetzer. Sie war schuld, dass Johannson von Samuel erfahren hatte. Hätte sie ihm nur nie dieses verfluchte Video gegeben. Wäre sie nur nie in diese jämmerliche Abteilung gegangen.
Kryptozoologie. Drauf scheißen sollte man.
»Hey, Vivienne!« Das schlaffe Pochen an der Tür klang massiv nach durchgemachter Nacht.
Sie trennte sich von ihren düsteren Gedanken und öffnete.
Ihr Nachbar Erik stand mit verquollenen Augen und einem Paket in der Hand im Flur. »Ist für dich abgegeben worden.« Aus seinem Mund stank es nach ungeputzten Zähnen.
Vivienne drehte den Kopf weg.
Als Post Town war Mallaig angegeben. Morar lag um die Ecke. Wer zum Teufel schickte ihr Pakete aus diesem Kaff?
Johannson. Ihre Adresse prangte in seiner Krakelschrift auf dem braunen Papier.
»Liegt schon ein bisschen länger bei mir rum. Bin nicht dazugekommen, es vorbeizubringen.« Erik kratzte sich durch sein ungewaschenes Haar. »Nachtschichten.«
Sollte das Schulterzucken seine Schlampigkeit entschuldigen? Der Stempel auf dem Paket war von letztem Monat!
»Du kompletter Idiot!«
Erik fuhr zusammen. »Sachte! Immerhin habe ich es angenommen.«
»Sachte? Du hast es vier Wochen bei dir Schimmel ansetzen lassen, du faule Sau!«
»Hey, ich hatte zu tun.«
Vivienne schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Ein Monat. Was war hier drin? Proben? Der Kopf der Chimäre? Der Tee wurde bitter in ihrem Magen. Johannson war nicht irre. Er würde im Sommer keine Körperteile durch Europa schicken. Höchstens eingelegt in Formaldehyd. Dazu war das Paket zu leicht. Doch die Größe kam hin.
Entspann dich, Vivienne. Du bist ein Profi. Mach es einfach auf und sieh nach.
Zweimal fiel ihr das Messer aus der Hand, als sie das Klebeband aufschnitt. Bevor sie die Pappdeckel auseinanderbog, atmete sie tief ein. Wenn etwas in dem Karton ihr sagte, dass Mac Laman noch lebte, würde sie ihn suchen und retten. Das war sie ihm schuldig.
Noch einmal atmen, dann klappte sie die Deckel auseinander.
Notizbücher. Disketten. Ein Brief.
Hallo Vivienne!
Ich breche die Expedition ab. Der Inhalt dieses Päckchens ist für Professor Klaus Wegener vom biologischen Institut Hamburg bestimmt und soll meine letzten zehn Jahre Forschungsarbeit vor ihm rechtfertigen. Sagen Sie ihm, ich sei kein Spinner und zeigen Sie ihm um Gottes willen die Probe und das Video. Was er damit macht, ist seine Sache. Er war stets Rationalist. Er wird die richtige Entscheidung treffen.
Gruß,
Hendrik Johannson
Er hatte die Expedition abgebrochen? Bevor oder nachdem er Scheibenpräparate aus Samuel hergestellt hatte?
In Unmengen Blisterfolie steckte ein Fläschchen. Haut? Sie hielt die Probe ins Licht. Dunkelgrün, an den Rändern glatt, relativ groß geschuppt.
Sie schluckte die Übelkeit hinunter. Er war tot. Der Mann mit der schillernden Schuppenhaut, dessen Leid sie kaltherzig gefilmt hatte, war tot.
Nein, sie war nicht kaltherzig gewesen. Nur zu feige, um ihm zu helfen, als dieser Reiterjacken-Kerl …
Egal. Es war zu spät. Johannson hatte Samuel für seinen Forscherruhm umgebracht.
2. Unerträgliches einer Nacht
Dunkles Wasser. Überall. Es schluckte das Licht ebenso wie jedes Geräusch. Wo war Laurens? Er hatte nach ihm gerufen. Von weit unten.
Samuel tauchte tiefer in die Schwärze des Sees.
Keine Stimme. Kein Laurens. Nur Stille. Das war unmöglich. Er konzentrierte sich auf die Geräusche, die nicht da waren, aber da sein müssten.
Laurens hasste es, zu tauchen. Er hatte Angst davor. Warum sollte er ohne ihn in den See gehen?
Samuel hatte den Grund beinahe erreicht. Seine Zehen streiften über schlammigen Boden, seine Hände tasteten Felsen ab. Etwas Weiches streifte an seinem Fuß entlang. Samuel griff hinein. Haare? Sie umschlangen seine Finger, streichelten ihm über die Unterarme.
Wenn er nur etwas sehen könnte! Doch um ihn herrschte nur absolute Dunkelheit. Als ob er blind wäre.
Er griff tiefer in die seidigen Strähnen, stieß an etwas Festes.
Eine Stirn. Darunter die Nase, der Mund. Er stand offen. In seiner Mitte fühlte er Schlick.
Nein!
Samuel fuhr hoch. Sein Herz krampfte in der Brust.
Kein Wasser, keine Finsternis. Verdammter Traum!
Laurens saß am Fenster. Lebendig und schön. Der Nachtwind spielte mit ein paar Strähnen, die mit dem Mondlicht um die Wette glänzten.
Das Gefühl der nassen Haare zwischen den Fingern spürte Samuel jetzt noch. Er ging innerlich auf die Knie und küsste jedes Stückchen Boden, das Laurens jemals betreten hatte.
»Schlechte Träume?« Laurens’ resigniertes Lächeln verriet, dass seine nicht viel besser gewesen waren. »Ich wollte dich gerade wecken. Du hast so unruhig geschlafen, dass ich mir Sorgen gemacht habe.«
Samuel schlug die Decke zurück. »Komm ins Bett. Ganz dicht an mich ran.« Er musste ihn an sich spüren. Ihn nur zu sehen genügte nicht.
Laurens schlang die Arme um sich. »So schlimm?«
»Schlimmer.« Du warst tot. Sei das niemals.
Erst als sich Laurens neben ihn legte, beruhigte sich sein Herz. Er vergrub sein Gesicht in der blonden Mähne. Sie duftete nach Regen und Nacht.
Laurens seufzte und schmiegte sich näher an ihn. »Ich will endlich wieder einschlafen können, ohne mich fürchten zu müssen. Doch kaum schließe ich die Augen, geht der Horror los.«
»Was war es diesmal? Der See oder Davenport?«
»Davenport«, sagte Laurens leise. »Er rammt mir diese elende Flinte zwischen die Rippen und lacht dabei dreckig.«
James Davenport. Er hatte Laurens als Köder benutzt, um Samuel zu fangen. Hatte ihn wie ein Tier in einen Käfig gesperrt, ihn gequält.
»Du musst nicht mit den Zähnen knirschen.« Laurens küsste ihn sacht auf die Wange. »Es ist vorbei. Ich würde nur gerne ab und zu von etwas Schönem träumen.«
»Von mir, wie ich ihm den Kopf abreiße?« Das war ein Fest gewesen. Allerdings nur für ihn. Laurens hätte es niemals sehen dürfen.
Laurens drehte sich aus seiner Umarmung und stützte sich auf dem Ellbogen auf. »Es reicht mir, wenn ich Ravens Sarkasmus ertragen muss. Fang du nicht auch noch an.«
Wenn der Grund nicht bitter wäre, wäre das empörte Funkeln der grünblauen Augen niedlich gewesen. Doch sie hatten ihn damals fassungslos angestarrt. Das Entsetzen in ihnen würde er nie vergessen.
»Tut mir leid, wenn es dein Ego runterzieht, aber ich sehe kein Ungeheuer in dir.« Eine steile Falte wuchs zwischen Laurens’ Brauen.
Samuel zog sie mit dem Zeigefinger der linken Hand nach. Die Rauheit der Schuppen zu fühlen und gleichzeitig zu behaupten, er sein kein Monster, war naiv. »Du fliehst vor mir.« Jedes Mal, wenn er ihn lieben wollte.
Zärtlichkeiten, ja. Massive Zärtlichkeiten. Aber keinen Schritt weiter. Laurens brauchte Zeit. Kein Wunder nach dem, was geschehen war. Aber Samuel brauchte keine mehr. Er brauchte Laurens und das nicht nur von außen.
Mit diesem Mann verschmelzen können, seinen Körper vollkommen in Besitz nehmen, um ihn nach dem Rausch aufgelöst vor Glück zurückzugeben. Die Sehnsucht danach begann, ihn zu schmerzen.
»Blödsinn.« Laurens wischte Samuels Hand weg. »Ich fliehe nicht. Ich kann nur nicht ...«
»... meinen Schwanz in dir ertragen?« So wie Laurens den Kopf hängen ließ, hatte er ins Schwarze getroffen.
Laurens sah ihn unglücklich an. »Da ist eine unsichtbare Wand.«
»Vor deinem Hintern oder vor meinem Schwanz?«
»Genau dazwischen.«
Diese Wand war erschreckend massiv. Seit sie sich kannten, hatte er es nicht geschafft, sie einzureißen.
Laurens legte sich seufzend zurück in seinen Arm.
»Kannst du mir nicht eine Räuberleiter bauen?« Da er nicht lachte, meinte er es ernst.
Samuel legte seine Hand auf den flachen Bauch. Es war schön zu spüren, wie der Atem ihn hob und senkte. In seinem Traum war Laurens starr und kalt gewesen.
»Was immer dir hilft, ich werde es tun.« Behutsam zog er mit dem Finger Kreise um Laurens’ Nabel. »Ich kann das Licht löschen, deine Augen verbinden oder versuchen, dich zu hypnotisieren. Bei Zahnbehandlungen soll das angeblich funktionieren. Bei Angst und bei Schmerz.« Damit gehörte diese Möglichkeit in die engere Wahl.
Laurens runzelte die Nase und schüttelte den Kopf. »Vielleicht solltest du mir einfach eins über den Schädel ziehen und mich dann vögeln. Wenigstens kann ich dir so nicht mehr von der Bettkante springen.«
»Und das Highlight deines ersten Males mit einem Mann verpassen? Auf keinen Fall.«
»War nur eine Idee.« Mit einem tiefen Seufzen legte er seinen Arm um Samuels Hals. »Mach einen Gegenvorschlag.«
Wagte er sich absichtlich weit vor?
Samuel neigte sich zu ihm, küsste den schönen Mund. Er öffnete sich für ihn, nahm die Zärtlichkeiten dankbar von ihm an.
Laurens jetzt zu lieben, ganz sanft, um die dunklen Träume zu vertreiben. Es wäre gut für ihn. Es wäre gut für sie beide.
Der Hals, das Grübchen zwischen den Schlüsselbeinen. Samuel ließ sich Zeit für jeden Kuss.
Laurens streckte sich unter seinen Berührungen, stöhnte leise, als Samuel die Brustwarzen mit der Zungenspitze liebkoste.
Die glatte Haut unter seiner Schuppenhand zu fühlen, die Schauder, die sie in Laurens’ Körper auslöste, schürte seine eigene Erregung. »Wenn du ein bisschen Anlauf nimmst, schaffst du die Mauer.« Er ließ seine Hand über Laurens’ Bauch weiter hinabgleiten, rieb sanft die beginnende Härte. Sie wuchs, schmiegte sich in seine Handfläche. »Trau dich.« Dann würde er süchtig danach werden. So wie es David geworden war, doch den Gedanken verdrängte er besser.
Laurens streckte sich ihm entgegen. Wollte er es diesmal wirklich? Die Härchen an seinen Lenden dufteten nach Lust.
Samuel nahm sie zwischen die Lippen, zupfte daran. In seiner Hand begann es, zu zucken. Er schloss seine Finger fester um Laurens’ Erektion, rieb ihn schneller. Je näher er dem Rausch war, umso leichter würde er die Hürde nehmen können.
»Stopp!« Laurens keuchte, stemmte sich hoch. »Ich bin überreizt. Wenn du mich weiter streichelst ...«
»... kommst du in meiner Hand. Das wäre nicht das erste Mal.«
»Aber dann schaffe ich den Sprung über die Mauer nicht mehr.« Dieses süße, verunsicherte Lächeln. Samuel küsste es, bis sich Laurens’ Lippen erneut für ihn öffneten.
Laurens’ Fingerspitzen glitten über die Brustplatten. Als Samuel seufzte, drückte ihn Laurens zurück und setzte sich auf ihn. Seine Haare kitzelten Samuels Gesicht.
Er fasste hinein, zog Laurens zu sich herunter und presste seinen Mund auf die köstlichsten Lippen des Universums. Sie erwiderten den Kuss gierig, bissen, saugten. Er bekam keine Luft mehr, doch Laurens hörte nicht auf. Die Art, wie er sich auf seinem Schoß rekelte, wie seine Zunge Samuels Mund nahm – Laurens wollte es.
Samuel drehte ihn unter sich. Sofort blitzte Angst in den grünblauen Augen. Noch ein Kuss. Tief und innig. Er musste Laurens davon ablenken, dass er nach dem Spender auf dem Nachttisch tastete.
Laurens verkrampften sich, als Samuel ihm über die Beine streichelte und sie sich auf die Schultern legte. Sein Blick flehte, doch diesmal würde er ihm nicht entkommen. Heute Nacht gehörte er ihm.
Noch ein tiefer Kuss, noch ein zartes Saugen an ängstlichen Lippen. Laurens’ Herz raste. Samuel spürte es unter seiner Handfläche. Er sollte sich nicht fürchten. Er sollte sich lieben lassen. Es war so einfach. Er musste ihm nur vertrauen.
Als Laurens das kalte Gel an sich fühlte, zuckte er zurück.
Nur ein wenig massieren, nur, um ihn daran zu gewöhnen.
Laurens’ Augen wurden glasig. Er fasste in Samuels Haar, atmete schnell. Angst? Lust? Beides. Das Erste würde vergehen, sobald er sich hingab.
Samuels Finger glitt in heiße Enge. Laurens drückte den Kopf ins Kissen und schloss die Augen.
Ein zweiter Finger. Laurens stöhnte auf, hob ihm sein Becken entgegen. Als sich Samuel zurückzog, schüttelte er ungeduldig den Kopf.
Er war soweit, wollte mehr. Er würde es bekommen.
Vorsichtig drängte sich Samuel an ihn.
Laurens hielt den Atem an.
»Bleib entspannt.« Er durfte ihm nicht unnötig wehtun, aber er sehnte sich so sehr in diesen Mann hinein. Wie sollte er sich beherrschen? Noch ein wenig fester. Laurens gab unter ihm nach. So war es gut, ganz langsam.
»Warte!« Laurens schluchzte auf, robbte von ihm weg. »Ich kann’s nicht!« Sein Blick huschte über Samuels Erregung, die die Schuppenhaut zu sprengen drohte. »Es tut mir leid und du brauchst auch nicht fragen, ob ich oben sein will. Nein, will ich nicht. Wenigstens nicht jetzt.« Er kämpfte mit den Tränen und Samuel mit seiner Enttäuschung. Oben, unten. Was spielte das für eine Rolle? Laurens weigerte sich. Wieder einmal.
»Mir tut es auch leid.« Er hatte genug Rücksicht auf seine Gefühle genommen. Was hielt ihn davon ab, diesen Mann in die Kissen zu drücken und ihm seine Liebe aufzuzwingen? In einer erschreckend deutlichen Vision band er die schlanken Handgelenke an den Bettpfosten und fiel über ihn her.
Laurens zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. »Scheiße Mann, ich dachte, ich pack’s diesmal.«
»Hier geht es nicht um einen Klippensprung in unbekanntes Gewässer, sondern um Liebe.« Was die Fesselnummer in seinem Kopf ausschloss. »Du musst nichts packen. Du musst mir vertrauen!«
»Das tue ich!«
»Ja, sicher. Deshalb presst du auch deine Schenkel zusammen und starrst meinen Schwanz an, als ob er Widerhaken hätte.« Unzählige Male hatte ihn Laurens berührt. Er wusste, dass die Schuppen dort geschmeidiger und glatter waren, als am Rest seines Körpers.
Laurens schüttelte den Kopf. Was sollte diese hilflose Geste mit der Hand? Eine Entschuldigung? Eine Erklärung für sein Verhalten? Samuel verstand beides nicht. Sie liebten sich, sie wollten sich. Warum konnte sich Laurens nicht einfach entspannen?
»Ich weiß, dass ich dich mit meinem Verhalten kränke.« Seine Hand hatte eine Zuflucht in den Haaren gefunden. »Ich weiß nur nicht, wie ich es ändern soll.«
Wie auch immer, aber tu es, und zwar bald, denn ich bin auch nur ein Mann, und die Schuppenhaut macht es nicht einfacher für mich.
Samuel biss sich auf die Zunge, um die Worte nicht laut auszusprechen. Laurens’ Schuldgefühle würden an ihrem Dilemma nichts ändern. Er holte tief Luft und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Ist okay. Es war nur ein Versuch.« Ein vergeblicher. Die Reihe seiner Vorgänger war lang.
Vielleicht würde es Laurens nie zulassen, vielleicht konnte er einen Mann nicht in sich ertragen. Nicht mit und nicht ohne diese Schuppen. Das resignierte Seufzen schluckte er hinunter. Doch das bittere Gefühl in seinem Herz blieb und der Schmerz zwischen seinen Beinen warf ihm vor, Laurens nicht einfach genommen zu haben.
~*~
Es war nur eine Tür. Dahinter lag das Treppenhaus, der Flur, die Briefkästen. Ob seine Eltern eine Ansichtskarte aus Frankreich geschickt hatten? Sie gingen davon aus, dass er ein sinnreiches Studentenleben führte. Lernen, Prüfungen, Freunde treffen.
Tom zog mit dem Finger die Maserungen der Wohnungstür nach. Seit geraumer Zeit war nichts sinnreich in seinem Leben. Neben einem Minimum an Nahrungsaufnahme und Schlaf existierte nur noch eine einzige Notwendigkeit: nicht gesehen zu werden. Diese Wohnung war seine Burg. Schützte ihn vor den Blicken der Menschen, die trotz ihrer gewöhnlichen Hässlichkeit tausendmal ansehnlicher waren als er. Früher hatten sie sich nach ihm umgesehen und geseufzt vor Sehnsucht oder vor Neid. Heute würden sie ihn anspucken.
Und wenn er rannte? Schnell die Treppe hinunter, dann die Blechklappe aufschließen, die Post an sich reißen und wieder nach oben flüchten? Sicher quoll sein Briefkasten vor Werbeprospekten über. Vor einer Woche war Miyu da gewesen und hatte ihn geleert und den Kühlschrank gefüllt.
Weshalb rief sie nicht an? Warum fragte sie nicht, ob er etwas brauchte? Sie war die Einzige, die ihn sehen durfte. Nur sie ließ er in die Wohnung. Nur mit ihr führte er kurze Gespräche, bevor sie Ausreden erfand, um wieder vor ihm fliehen zu können. Niemand sah dem Grauen freiwillig länger als nötig ins Gesicht.
Wenn sie heute nicht kam, musste er sie anrufen. Es war kaum noch etwas zu essen da und Bargeld hatte er auch keines mehr. Nicht dass er viel benötigte. Wozu? Um Freunden Drinks zu spendieren? Um sich schicke Klamotten zu kaufen? Es war gleichgültig, ob er seinen Arsch in Seide oder Lumpen packte. Niemand würde sich dafür interessieren, nachdem er sein Gesicht gesehen hatte.
Tom ging zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Unten auf der Straße flanierten Männer und Frauen, die ihr Leben lebten. Was lebte er? Lebte er überhaupt noch? Wahrscheinlich war er ein Gespenst, das seinen eigenen Tod nicht mitbekommen hatte. Was für ein erfrischend entspannender Gedanke. Gespenster brauchten sich vor den anderen nicht verstecken. Sie waren unsichtbar.
Tom öffnete das Fenster. Miyu beklagte sich stets über die abgestandene Luft und benutzte das als Ausrede, noch schneller zu verschwinden. Am Anfang hatte er sie dafür gehasst. Jetzt hasste er nur noch einen Menschen auf dieser Welt.
Auch im Badezimmer roch es schlecht. Tom ließ die Tür aufstehen.
Ein Lufthauch wehte durch die Wohnung, erfasste das Tuch über dem Badezimmerspiegel. Es segelte auf die Fliesen.
Nicht hochsehen. Es einfach aufheben und mit geschlossenen Augen über den Glasrand hängen. Irgendwo musste Klebeband sein. Damit würde er es fixieren.
Er klammerte sich an den Rand des Waschbeckens, starrte auf die angetrockneten Zahnpastareste, die den Weg in den Siphon nicht geschafft hatten.
Nicht hochsehen. Dort oben auf der Glasfläche erwarteten ihn Schluchten und Krater. Sie zogen sich quer über seine rechte Wange. Rot, geschwollen. Ein herunterhängendes Lid, ein triefendes Auge. Ein zur Hälfte vernarbter Mund, über dessen Unterlippe der Speichel lief.
Dieser Mund hatte Samuels Lippen geküsst. Und Samuel hatte ihn entstellt. Mit einem einzigen Schlag. Diese verdammten Schuppen hatten Tom die Haut von der Wange gerissen.
»Dein Tod für mein Gesicht, du Bestie.« So furchtbar das Monster im Spiegel aussah, sein Wispern spendete Trost. Es gab Tage, da lebte er nur für diesen Gedanken, Samuel Mac Laman büßen zu lassen. Dabei war dieser Traum von Rache lächerlich. Lächerlich wie er selbst. Woher den Mut nehmen, Samuel entgegenzutreten? Ihn zu bedrohen, ihn zu töten?
Mit was?
Neben der Toilette stand ein Aschenbecher. Das Ding war schwer, hart. Tom holte aus. Glas splitterte. Wer kein Gesicht besaß, brauchte keinen Spiegel.
~*~
Das Ding im Käfig zuckte zusammen, als Raven das Licht anschaltete. Es kroch in die Ecke, zog dabei sein Bein durch eine Pfütze.
Verfluchte Sauerei. »Du hast einen Eimer zum Pissen. Benutz ihn gefälligst.«
Statt einer Antwort kam nur ein Wimmern.
War das Blut, das an den Gitterstäben klebte? Dann musste das gelbgrüne Zeug Eiter sein. Raven trat einen Schritt zurück. Um Nichts in der Welt würde er die Stangen mit bloßen Händen berühren. Das, was dahinter kauerte, schon gar nicht.
Er hatte es nur einmal getan, um David in den Tod zu schicken, doch der ließ auf sich warten. Erstaunlich, wie resistent Davids Organismus seinem Gift gegenüber war.
Raven hatte ihn gebissen und in den Keller zum Sterben geschleppt. Dort wollte er ihn vergessen, vielleicht irgendwann entsorgen. Doch David hatte plötzlich nach Wasser gebrüllt.
Er hatte ihm den Eimer gefüllt und den Sterbenden damit in denselben Käfig gesperrt, in dem auch Laurens hatte leiden müssen. Aber David starb nicht. Im hintersten Kellergewölbe, weit von allen Ohren entfernt, die seine Rufe hätten hören können, atmete dieser stinkende Körper einfach weiter.
Ravens Magen krampfte sich zusammen, wie immer, wenn er zu dem Mann ging, den er abgrundtief hasste.
Und wenn er ihn tatsächlich hier unten vergaß? Ihm keine Nahrung, kein Wasser brachte?
Jeden Tag versuchte Raven, nicht in den Keller zu gehen. Nicht aus dem hinteren Gang das Wimmern zu hören, das ihn anflehte, ihn nicht zu vergessen. Es hatte sich in sein Hirn eingenistet, erinnerte ihn Tag und Nacht daran, dass es existierte.
Was war er nur für ein erbärmlicher Feigling, dass er es nicht schaffte, diesen Mistsack krepieren zu lassen?
Wer hatte gesagt, Rache wäre süß? War sie nicht. Sie war bitter. Für alle Beteiligten.
Raven stellte eine Wasserflasche dicht genug an die Gitterstäbe, dass David sie erreichen konnte. Der Teller daneben war unberührt.
»Keinen Hunger heute, Daddy?« Er schnippte eine der trocken gewordenen Brotscheiben in den Käfig. »Sind dir die Zähne ausgefallen?« Oder hatte er sie sich abgebrochen, als er in die Stangen gebissen hatte? Knochen gegen Eisen. Was für ein aussichtsloser Kampf.
Sein Stiefvater antwortete nicht. Er sah ihn nur mit diesem Blick an, der ihn bis in seine Träume verfolgte.
Qual. Jedes Quäntchen davon hatte David verdient.
»Auf Samuel!« Er prostete ihm mit der Wasserflasche zu. »Denk an ihn, wenn dein Fleisch zu stinken anfängt.« Jede Sekunde aufgezwungener Lust sollte er bereuen. Jeden Schrei, zu dem er Samuel getrieben hatte, würde er selbst ausstoßen. David musste in der Verzweiflung ertrinken, die ihn in dem Moment ansprang, in dem Raven das Licht löschte und ihn allein ließ.
Noch vor wenigen Tagen hatte dieser Mistkerl an den Stäben gerüttelt und um Gnade gefleht. Jetzt nicht mehr. Auch Stimmbänder verrotteten.
David rollte sich auf die Seite und zog die Knie zum Kinn. Sein Hemd rutschte hinauf. Die Haut, die zum Vorschein kam, war übersät mit Hämatomen, Blut und getrockneter Scheiße.
»Angst macht eklig, David. Hast du das nicht gewusst?«
Die aufgesprungenen Lippen bewegten sich, brabbelten.
Der Eimer hinter der Futterluke war leer. Offenbar gab Davids Körper seine Funktionen endlich auf. Gut, dann musste Raven wenigstens den Dreck nicht durch einen der Schächte entsorgen, die in den See mündeten. Fluchttunnel aus längst vergangenen Zeiten. David würden sie nicht mehr in die Freiheit führen.
»Bis später, Daddy.«
Das Licht ging aus, David heulte auf. Gott, er klang wie ein sterbendes Tier.
Raven drückte mit seinem Gewicht die Tür zu, lehnte sich dagegen und kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich zu übergeben. Er hatte sich zum Rächer seines Bruders aufgeschwungen. Warum konnte er es nicht genießen? Diese Rache war gerecht. Trotzdem fühlte es sich an, als ob er Glut schlucken musste.
Er flüchtete den Gang entlang wie jeden Tag. »Wenn ich morgen komme, sei endlich tot.«
Das Wimmern wurde leiser, es lag an der Distanz.
Und wenn er Samuel ins Vertrauen zog? Sie könnten diese stinkende, hirnzersetzende Bürde gemeinsam tragen.
Er blieb mitten auf der Kellertreppe stehen. Die Sehnsucht nach seinem Bruder drückte sein Herz ab.
Nein, Samuel sollte nie wieder mit David belastet werden. Das war seine Aufgabe und er würde sie hinter sich bringen. Allein. Wenn es vorbei war, würde er den Körper verbrennen. Dann war es endgültig vorbei.
Lautlos schloss er die Kellertür. Beide Schlüssel verschwanden in seiner Tasche. Bisher waren Erin und Finley nicht misstrauisch geworden. Ob sie seit vier Wochen nicht in den Keller mussten oder ahnten, dass er dort etwas verbarg, wusste er nicht. Sie stellten keine Fragen, taten so, als gäbe es weder dieses Gewölbe noch den Mann, den er dort unten gefangen hielt.
Schritte auf der Treppe? Raven drückte sich an die Wand.
Samuel ging an ihm vorbei. An der Haustür blieb er stehen, legte seufzend den Kopf in den Nacken.
Keine schöne Nacht für dich, Bruder? Willkommen in meinem Dasein aus Finsternis. Wo ist dein Sonnenschein? Du gehörst zu den wenigen Menschen, die ihn mit sich führen können. Warum tust du es nicht?
~*~
Türenquietschen, das Klicken des Feuerzeugs. War er der Einzige, der in dieser Nacht Geräusche verursachte? Selbst seine Schritte klangen einsam.
Samuel setzte sich auf die Bank vorm Haus und blies Rauch in den Himmel. Wenn Laurens morgen früh erwachte, war er bereits in Glasgow. Mias Arzt hatte auf einen Termin bestanden. Er wunderte sich, dass die Medikamente nicht anschlugen. Er würde sich noch mehr wundern, wenn er wüsste, dass Mia mit jedem Wort die Wahrheit erzählte.
Dieser Termin hing über ihm wie eine dunkle Wolke. Wie sollte er seiner Mutter gegenübertreten? Von Davids Tod ahnte sie nichts. Dass sie nicht verrückt war, wusste der Arzt nicht, und Samuel würde es ihm nicht begreiflich machen können.
Sollte er sie einfach aus der Klinik herausholen und hierher bringen? Und damit riskieren, dass sie erneut zusammenbrach?
Spätestens, wenn sie erfuhr, dass Raven Davids Mörder war, würde sie das garantiert.
Ein Banktermin stand ebenfalls an. Das alte Haus schluckte Geld, das nicht da war, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich darum zu kümmern. Sowohl um Mia als auch um alles andere.
Verdammt, es wäre eine wirklich gute Nacht gewesen, um seine Sorgen in Laurens für einen Moment zu vergessen. Die Nachricht, dass sie sich erst gegen Mittag wiedersehen würden, hatte er schweigend hingenommen. Seit der Katastrophe am See waren sie nie länger als wenige Augenblicke voneinander getrennt gewesen.
Die Tür quietschte erneut.
»Warum liegst du nicht in den Armen deines holden Ritters?« Raven verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Frisch Verliebte sollten Nächte wie diese gemeinsam verbringen.«
»Du musst es ja wissen.« Er reichte ihm die Zigarette. Wenn ihm nach Provokation war, sollte er seinen Mund besser mit etwas Sinnvollerem beschäftigen als mit Reden.
Raven kletterte hinter ihm auf die Bank und setzte sich auf die Lehne. »Beziehungsstress?«
»Fragt das der Mann, der nie eine Beziehung hatte?«
Raven lachte. Es klang weder höhnisch noch amüsiert, höchstens traurig. »Ich nehme mir, was ich will. Von Fremden, Freunden oder meinem Bruder. Dazu benötige ich keine Beziehung.« Er inhalierte tief und blies schließlich den Rauch über Samuel hinweg. »Streich die Fremden und die Freunde. Streng genommen brauche ich nur dich. Die anderen überleben mich nur, wenn sie Glück haben.«
Samuel sah zu ihm auf. Das arrogante Spottgrinsen, das Ravens Sarkasmus normalerweise begleitete, blieb aus.
»Gratulation. Mich hast du.« Das war das Praktische an Zwillingen, sie wurden einander bereits in die Wiege gelegt.
»In letzter Zeit nicht mehr.« Raven legte ihm die Hand auf die Schulter. Nach einer Weile begannen seine Finger, über die Schuppenhaut zu streicheln. »Du lebst nur noch für Laurens.«
Im Moment würde er lieber in Laurens leben. Samuel lehnte den Kopf an Ravens Bein. Es tat gut, in dieser Nacht nicht allein vor sich hin grübeln zu müssen.
»Hegt er immer noch Bedenken, ob er dich an seinen süßen Arsch lassen soll?«
»Ran lässt er mich. Nur nicht rein.«
»Die schüchterne Jungfrau.« Die Kreise, die Ravens Fingerkuppen auf Samuels Haut zogen, wurden größer. »Du wirst ihn schon überzeugen. So etwa in hundert Jahren. Und bis dahin kannst du ihm täglich gut zureden.« Er lachte. Nur leise, aber bei diesem Thema durfte er es nicht.
Samuel wischte Ravens Hände von sich. »Mich hebt es nicht unbedingt an, wenn du in dieser Art von Laurens sprichst.« Davon abgesehen, dass es ihm egal zu sein hatte, wer wen wohin ließ oder nicht. Das war nicht sein Problem.
Raven legte zwei Finger an Samuels Kinn, drehte sein Gesicht so, dass er ihn ansehen musste. »Soll ich dich anheben, Bruder?« Seine Zungenspitze glitt über die Unterlippe. Kurz blitzten die Giftzähne auf. »Ich würde es heute Nacht gern tun.« Er strich mit dem Daumen an Samuels Kehlkopf entlang, zärtlich und verlockend. »Früher hattest du gegen einen kleinen Rausch nichts einzuwenden.«
Ein Traum aus Sinnlichkeit und Lust, durch Ravens Gift ausgelöst, in Ravens Armen genossen. Exakt das war es, was er brauchte. Das sehnsuchtsvolle Seufzen kam ihm von allein über die Lippen.
Raven lächelte verständnisvoll. »Es ist kein Verrat an deinem Liebsten, nur ein Biss.«
Sein Liebster lag oben im Bett und ließ sich nicht lieben. Trotzdem war es Verrat, sowie alles, was mit Ravens Gift zu tun hatte. Die Visionen, die es lockte, verführten. Die Gefühle, die es an die Oberfläche zwang, betrogen. Und Ravens Küsse und Zärtlichkeiten waren ohnehin der pure Verrat an Laurens.
Ob Raven seine Gewissensbisse ahnte? Er fuhr Samuel durchs Haar. Sein Blick dabei schwankte zwischen Sehnsucht und Skrupel. »Finley sagte mir, du übernähmest den Termin mit dem Seelendoktor.« Er kletterte von der Bank und zog Samuel mit hinauf. »Danke. Es würde mir schwerfallen, Mia nach all den Jahren wiederzusehen.« In seiner Stimme schwang der alte Zorn, dass sie damals nichts gegen Davids Übergriffe unternommen hatte. Er hatte ihr das nie verziehen.
Plötzlich wich sein Ärger über Ravens Spott. Hatte er ihr verziehen? Egal, wie sehr Finley und Erin sie in Schutz nahmen, sie hätte ihm helfen müssen. Mit oder ohne Beruhigungsmittel im Blut.
»An was denkst du?« Sein Bruder berührte ihn am Arm und holte ihn aus den immer ungerechter werdenden Gedanken.
»Ich stelle fest, dass es mir ebenfalls schwerfällt, Mia morgen zu besuchen.«
Raven blieb stehen, legte ihm die Hände an die Wangen und wartete.
Auf was? Dass er ihm die Erlaubnis für den Biss gab?
»Ich habe dich vermisst.« Der zarte Kuss schmeckte nach Tröstenwollen und selbst Trost brauchen.
Samuel erwiderte ihn und sein Bruder seufzte leise. Er hatte sich in letzter Zeit nicht um Raven gekümmert. Das schlechte Gewissen wucherte wie Unkraut in ihm. Wieso bemerkte er die stachligen Ranken erst jetzt?
Raven biss sich auf die Lippen und drehte sich weg. »Verzeih mir.«
»Wegen dieses einen Kusses?«
»Nein, sondern weil ich mit dem Gedanken spiele, dich in Gefahr zu bringen.«
»Wäre dir der Postbote lieber?« Ein hübscher, kleiner Skandal. Und wieder von den Mac Lamans ausgelöst. War sicher interessant, was der Arzt als Todesursache feststellen würde. Exitus durch eine unbekannte halluzinogene und nekrotisch wirkende Substanz, die dem Opfer durch zwei bissähnliche Wunden am Hals zugeführt worden war.
»Du nimmst mich oder keinen.« Wenn es eine Nacht für einen tröstenden Rausch gab, dann diese.
Ravens Hand lag vertraut in seiner, als sie den Weg hinunter zum See gingen. Sein Bruder hatte vor nicht allzu langer Zeit geschworen, ihn nie wieder zu beißen.
Schwüre waren geduldig. Raven offensichtlich nicht. Kaum verschwand Mhorags Manor hinter der Biegung, blieb er stehen und fuhr mit gierigen Fingern durch Samuels Haar. »Du hast es auch vermisst, gib es zu.«
Das sehnsüchtige Flüstern ließ Samuel schaudern. Warme Lippen an seiner Haut. Sie liebkosten seine Kehle, suchten die Stelle, unter der sie den Herzschlag spüren würden.
Ja, er hatte es vermisst. Das Fallenlassen in einen Zustand, der alle Regeln aufhob.
Er schlang die Arme um Raven. »Pass auf mich auf.«
Raven legte die Lippen auf Samuels. Weich, feucht, voll Zärtlichkeit. Als er sich von ihm löste, war nichts als Liebe in seinem Blick. »Das habe ich immer getan.«
Keine Erklärungen, keine Enttäuschungen. Nur ein Biss.
Ravens Zähne durchstachen die Haut, versanken in der Halsschlagader. Sanftes Saugen, der feste Griff, der ihn unter allen Umständen halten würde.
Ein Schluck, dann noch einer. Samuels Beine gaben nach.
Hitze. Sie strömte durch seinen Körper, brannte in seinen Adern. Er verlor sich in Visionen, über die sein Bruder wachte.
Ravens dankbares Stöhnen strich warm über seinen Hals. Samuel ließ sich in seine Arme sinken.
Behutsam legte ihn Raven ins Gras, zog sein Shirt aus und bettete Samuels Kopf darauf. Sein Gesicht verschwamm vor Samuels Augen. Er versuchte es zu berühren, doch seine Hand fiel zurück. Alles war schwer und schien trotzdem zu schweben.
»Schenk mir
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Bildmaterial: Shutterstock.com, ©Volodymyr Tverdohlib; ©Kryvenok Anastasiia
Cover: Swantje Berndt
Lektorat: Petra Seidel / Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2019
ISBN: 978-3-7487-1933-5
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