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Julis Küsse

Das Schrillen der Türklingel bohrte sich zuerst in seinen Schädel, dann in seine Nerven. Seine Hand flutschte ihm vor Schreck vom Kinn. Fast hätte er mit dem Gesicht die Tischplatte beglückt.

Draußen prasselte Regen auf die Fensterbleche der Dachwohnung. Ein Sommer in Kassel war etwas vollkommen anderes als in Rio de Janeiro.

Raoul rappelte sich auf. Vor ihm stand eine halb volle Tasse Kaffee und ein angebissenes Brötchen. Er war tatsächlich beim Frühstücken eingeschlafen. Kein Wunder nach dem stundenlangen Simsen mit Leon bis tief in die Nacht. Sein Bruder hatte sich in eine Schießerei mit einer Patrouille der UPP, der brasilianischen Befreiungspolizei, eingelassen. Seit fünf versuchten sie, die Favelas in Rio aus den Händen der Kriminalität zurückzuerobern. Kaum war die Fußball-WM Geschichte, schlugen die angeblich erfolgreich verdrängten Drogengangs zurück.

Leon war es gelungen, in den verwinkelten Gassen des Complexo do Alemão zu entkommen. Die Favela glich einem Labyrinth, sobald man die steilen Hauptstraßen verließ. Wer sich in ihren Bezirken nicht auskannte, hatte Pech gehabt.

Glück für Leon. In was für einen Scheiß musste sich sein kleiner Bruder auch hineinmanövrieren? War er wieder bei Onkel Emilio untergekrochen? Er kontrollierte die Gegend seit dreißig Jahren, nur sporadisch unterbrochen durch die scheiternde Rückeroberung der Regierung. Sein Reichtum speiste sich aus dem Handel mit Kokapaste und Marihuana. Mit einem Teil seines Geldes unterstützte er Schulen und soziale Einrichtungen, mit einem anderen schmierte er Politiker und kaufte Maschinenpistolen für seine Männer. Er war jedermanns Onkel, der dringend einen Onkel brauchte, fütterte Waisen, sorgte dafür, dass Straßen asphaltiert wurden, und sühnte nachhaltig Vergewaltigungen. Er hatte jedoch keinerlei Skrupel, seine freiwilligen Neffen und Nichten in die Drogenabhängigkeit zu stoßen oder, in Ausnahmefällen, zu erschießen.

Wenn Raoul das nasskalte Deutschland verließ, um seine Heimat zu besuchen, lud ihn Emilio jedes Mal zum Essen in die Bar do Joas ein. Sie plauderten von vergangenen Zeiten, die Raoul bloß aus den Augen eines Elfjährigen kannte, und fantasierten über die Möglichkeit eines blühenden Complexo mit Strom- und Wasseranschlüssen bis in die hintersten Winkel, wo bisher lediglich Holzbaracken und Müllberge eine triste Existenz fristeten.

Ratten auf stinkenden Plastiktüten und plätschernde Abwasserbäche auf den ausgetretenen Stufen zwischen den zusammengebastelten Hütten. Vor vierzehn Jahren, nachdem Raouls Mutter auch nach einer Woche vom Einkaufen nicht nach Hause gekommen war, hatte ihn Emilio zusammen mit vier Geschwistern halb verhungert aus einer solchen Unterkunft geholt und in eines der mehrgeschossigen Ziegelhäuser in der Nähe der Hauptsraße verfrachtet.

Ramon war damals zehn gewesen, Belmira fünf, Leon drei und Lissandra erst ein paar Monate.

Die Frau, die in zwei Zimmern wohnte, war nicht begeistert, ihren Platz mit fünf verwahrlosten Kindern zu teilen, aber Emilios Angaben zu diesem Thema waren strikt und die Finanzspritze wahrscheinlich beachtlich.

Fließend Wasser, Strom, ein Fernseher, Radio und jede Menge kleiner Einkaufsläden. Raoul wähnte sich im Himmel und benutzte zum ersten Mal eine richtige Toilette.

Drei Jahre besuchte er danach die Schule, lernte gern, wenn auch nicht häufig, da der Unterricht immer dann ausfiel, wenn vom Hang Sturzbäche wegen des Regens die Straßen zu glitschigen Pisten werden ließen, auf denen die Motorroller der Lehrer keine Chance hatten. Hin und wieder rutschte auch ein komplettes Haus ab und seine Trümmer versperrten den Weg.

Eines Tages kam eine Frau mit roten Haaren und schlechtem Portugiesisch, brachte Unmengen Wachsstifte, Filzschreiber und Zeichenblöcke mit und erzählte von ihrer Heimat, in der die meisten Kinder all das besaßen, was Raoul und den anderen Schülern offenbar fehlte.

Das wollte sie ändern.

Emilio mochte sie allein deshalb und unterstütze sie so gut er konnte.

Als Dankeschön gab er ihr Raoul mit. Er sei klug, sie sollte eine hervorragende Schule für ihn suchen und ihn danach, noch klüger, wieder zurückschicken, damit er aus seinerFavela das mache, was Emilio sich wünschte: einen wundervollen Ort.

Mit seiner Hilfe adoptierte Frau Barbara Finkenbach Raoul, und sorgte dafür, dass er nicht nur die Schule ordentlich abschloss, sondern auch Bauingenieurswesen studierte. Finanziert wurde der Spaß von Onkel Emilio. Allerdings dermaßen knapp, dass Raoul niemals über die Runden gekommen wäre, wenn er nicht nebenbei Nachhilfe in Spanisch, Französisch und Englisch gegeben hätte. Er freute sich auf den Tag, an dem Portugiesisch in den Lehrplan der deutschen Schulen aufgenommen wurde. Barbara machte ihm wenig Hoffnungen, dass das überhaupt jemals geschehen würde.

Raoul mochte seine neue Mutter, auch wenn sie eine zurückhaltende, beinahe schon ängstliche Art hatte, mit Kindern umzugehen. Dabei war sie Lehrerin und betreute nach wie vor mit Spenden, Rat und Tat seine alte Schule.

Ein erneutes Schrillen riss ihn aus seinen Erinnerungen.

Elf Uhr dreißig. Für den Postboten reichlich spät. »Ich komme!« Hoffentlich hielt das den Typen vor der Tür von weiteren akustischen Übergriffen ab.

Ein Blick durch den Spion. Die verzerrte Nase einer Frau ragte über einen schmalen Mund und trennte zwei hellblaue Augen voneinander.

Wer war das? Hoffentlich eine besorgte Mutter, die ihrem Sprössling astreine Nachhilfe in Fremdsprachen angedeihen lassen wollte. Raouls Konto brauchte Futter.

Verschlafen und matschig machte er einen miserablen Eindruck. Schnell fuhr er sich durch die Haare und zog mit den Fingerkuppen die Augenbrauen nach. Für alle andere Maßnahmen war es zu spät.

Er schloss die Tür auf und bemühte sich um ein motiviertes Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Herr Finkenbach de Jesus Silva?«

Während der Blick langsam an ihm hinabglitt und an seinen nackten Füßen hängen blieb, fror die Miene seines unerwarteten Gastes ein. »Sie tragen einen außergewöhnlichen Namen.« Es dauerte, bis ihm eine Hand entgegengestreckt wurde. Raoul ergriff sie. Sie war eiskalt.

»Ich wollte meine exotische Herkunft nicht hinter einem harmlosen Finkenberg verstecken.« Laut Barbara war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, den Familienrichter davon zu überzeugen, dass es für ein Favelakind wichtig war, seine ursprüngliche Identität nicht vollständig ablegen zu müssen.

Fakt war: Onkel Emilio hatte ihr überdeutlich klargemacht, dass er mit einem Herrn Finkenbachin einem brasilianischen Bauunternehmen nicht punkten konnte. Mit einem Raoul de Jesus Silva schon.

Barbara besaß eine feine Antenne für Autoritäten und dachte nicht daran, Raouls Ziehonkel zu widersprechen.

»Ich bin Frau Radebrecht«, stellte sich die kalthändige Frau vor. »Sie geben Nachhilfeunterricht?«

»So steht es an der Tür.« Unübersehbar auf einem Schild in DINA 4 Größe.

»Welche Fächer?« Die Mundwinkel der Frau blieben unten. Dafür wurden nun seine Haare und sein Gesicht gemustert.

Einigen Menschen gefiel, was sie sahen, wenn sie vor ihm standen. Die dunkelbraunen störrischen Locken zähmte er meist in einem Knoten, und wenn es ans Flirten ging, zupfte er sich dazu an den Schläfen ein paar Strähnen heraus. Ansonsten störte ihn alles Flatternde im Gesicht.

Barbara nannte seine Haut Cappuccinofarben mit warmen Touch. Was allerdings nur an dem Sonnenmangel dieses Landes lag. Nach einer Woche am Strand von Ipanema glich sie eher Vollmilchschokolade.

Dazu dunkelgrüne Augen, die die meisten seiner Mitmenschen entweder irritierten oder faszinierten.

Wahrscheinlich hatte sein Vater sie ihm vererbt, da Raoul ihn jedoch nie kennengelernt hatte, war das reine Spekulation.

Wie auch immer. Frau Radebrecht schien er nicht zu gefallen.

»Eine Patientin von mir empfahl sie.« Ihrer Miene nach zweifelte sie deren Meinung massiv an. »Sie sollen bei Lernverweigerern wahre Wunder bewirken.«

»Stimmt.« Im Schnitt hievte er innerhalb von drei Monaten einen Schüler um zwei Noten höher. Es war die Mischung aus Spaß, Strenge und Vertrauen, die die meisten zum Lernen bei ihm motivierte. Diese Methode hatte er sich bei Onkel Emilio abgesehen. Jedoch übertrieb er es mit der Strenge nicht. Weder ein Schuss durch die Handfläche noch ein Schnitt in die Wange drohten den Hausaufgabenvergessern. Er demonstrierte lediglich seine Enttäuschung mit Wortkargheit und Freundlichkeitsentzug.

Mädchen brachen am schnellsten ein und gelobten meist tränenreich Besserung.

Jungen, vor allem, wenn sie das fünfzehnte Lebensjahr überschritten hatten, brauchten etwas länger. Spätestens nach der dritten Unterrichtsstunde und ein, zwei Geschichten aus dem Schulalltag des Complexo, rissen aber auch sie sich am Riemen und betrachteten ihr üppiges Leben aus einer neuen Perspektive.

»Französisch?« Langsam hoben sich die schmalen Brauen seines Gastes. Sie passten zu den Lippen, die waren auch bloß Striche.

Raoul nickte.

»Englisch?« Die dünnen braunen Sicheln schoben sich noch etwas höher in die Stirn.

»Und Spanisch, Portugiesisch, ein bisschen Latein, wenn es sein muss ...«, vervollständigte er seinen Fächerkanon. »Möchten Sie reinkommen? Dann können wir in Ruhe darüber reden.« Gedanklich checkte er den Zustand der Zweizimmerwohnung ab. Nicht wünschenswert aber erträglich. Mit dem Ergebnis musste sein Gast leben. Er ging vor und führte Frau Radebrecht in sein Wohn- und Arbeitszimmer. Dass sich hier an allen möglichen Orten Bücher und Mappen stapelten, verzieh sie ihm hoffentlich. Wenn nicht war das nicht sein Problem.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Kaffee?« Ein freundlicheres Gesicht? Im Prinzip würde es genügen, die Mundwinkel an die Ohrläppchen zu tackern.

»Ihre Hilfe zu einem fairen Preis.« Sie nahm auf der äußersten Kante seines Sessels Platz. »Kommen wir zur Sache, ich habe nur wenig Zeit.«

»Gleich.« Eile und Pünktlichkeit waren typisch deutsche Krankheiten. Bisher hatte er sich nicht davon anstecken lassen und das würde auch so bleiben. »Ich hole mir bloß einen frischen Kaffee.«

Frau Radebrecht zog zischend die Luft ein. »Ich muss wirklich zurück in meine ...«

Raoul hob die Hand, grinste und ließ seinen Gast allein. Frauen wie die Radebrecht waren das Ergebnis ständigen Nieselregens. Hoffentlich war ihr Kind aus anderem Holz geschnitzt.

Er brühte sich einen Kaffee auf, ließ ein Stück Schokolade in die Tasse fallen und ging zurück ins Arbeitszimmer.

»Zehn Euro pro Stunde«, informierte ihn Frau Radebrecht, kaum dass er den Raum betreten hatte. »Besteht mein Sohn mit Ihrer Hilfe das Abitur, erhöhe ich nachträglich auf fünfzehn.«

»Dann fangen wir am besten mit fünfzehn an und Sie erhöhen nachträglich auf zwanzig.« Er war gut. Gutes hatte seinen Preis und die Flüge nach Rio de Janeiro waren teuer.

Frau Radebrecht schnappte nach Luft. Raoul wartete, bis sie sich gefangen hatte.

»Ich will eine Garantie«, blaffte sie schließlich.

»Dazu muss ich etwas über Ihr Kind erfahren.« Die Frau war drollig.

»Er verweigert konsequent das Lernen.« Dünne Finger krallten sich in eine teuer aussehende Handtasche. »Er stört den Unterricht und boykottiert jegliche Form von Autorität.«

Letzteres sprach im Prinzip für den Jungen, auch wenn diese Einstellung ab und an ungesunde Auswirkungen mit sich brachte.

»Seine Leistungen lassen seit einem Jahr dramatisch nach. Vor allem in Französisch.« Von Silbe zu Silbe wurde ihre Stimme härter. »Mir fehlt die Zeit, mich intensiver um das Problem zu kümmern. Ich betreue als Kieferorthopädin zwei Praxen und komme selten vor zwanzig Uhr nach Hause.«

»Verstehe.« Zumindest in Ansätzen. »Welche Klasse besucht Ihr Sohn?«

»Nach den Ferien kommt er in die Elfte.«

Kurz vor dem Abitur die Schule an den Nagel zu hängen, gehörte zu den unklügsten Entscheidungen, die ein Schüler treffen konnte.

»Gibt es einen Grund, warum Ihr Sohn plötzlich nicht mehr lernen wollte?« Drogen, Mobbing, ständiges Onanieren oder einfach Dauersurfen auf zweifelhaften Internetseiten?

»Ja«, kam es nach einigem Zögern. »Der Tod meines Mannes hat ihn aus der Bahn geworfen. Die beiden standen sich sehr, sehr nah.« Ein verbittertes Lächeln verzog die Mundwinkel. »Hinzu kommt, dass ich lediglich seine Stiefmutter bin und das lässt er mich täglich spüren.«

Bei dem Eis, das Sie verströmen, wundert mich das wenig. Der Satz lag abschussbereit auf der Zunge. Raoul spülte ihn zusammen mit einem Schluck Kaffee hinunter.

»Der Verschleiß an Nachhilfelehrern ist immens.« Sie verschränkte ihre Finger im Schoß. »Allerdings schwor ich seinem Vater auf dem Sterbebett, mein Bestmöglichstes für Julius zu tun. Eine gute Schulausbildung gehört dazu. »

»Wer hat ihm diesen Namen angetan?« Allein das war ein Grund für Revolution.

Frau Radebrecht schluckte hörbar. »Mein Mann.«

»Und warum?« Ihn ging es nichts an, wie fremde Väter ihre Söhne straften, aber er wollte die Frau vor sich knacken, bevor es mit den geschäftlichen Verhandlungen weiterging.

»Julius kam am ersten Juli zur Welt. Ich vermute, dass dies Volkers Entscheidung beeinflusste.«

Naheliegend aber dennoch bitter für den Jungen. »Noch habe ich nicht entschieden, ob ich Ihrem Sohn helfen kann. Für gewöhnlich ...«

»An Julius ist nichts gewöhnlich.« Die Lider senkten sich, der Blick darunter ließ Gras welken, jedoch war Raoul Schlimmeres gewohnt. »Weder seine Freunde noch seine Gewohnheiten oder seine Vorlieben. Von der Art, wie er sich zurechtmacht, ganz zu schweigen.«

Okay, sie hasste ihn. Das machte das Leben ihres Stiefsohnes sicherlich nicht zu einem Spaziergang.

»Er wird Sie mit allen Mitteln in die Flucht schlagen wollen, und wenn er das schafft, stecke ich ihn in ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche.« Auf den dezent geschminkten Wangen bildeten sich rote Flecken. »Meine Geduld ist am Ende. Dieses Kind raubt mir den letzten Nerv.« Mit zitternden Fingern wühlte sie in ihrer Handtasche. Es klackte leise aus dem Inneren und Frau Radebrecht steckte sich etwas Kleines, Orangefarbenes in den Mund. Ein Ruck mit dem Kopf nach hinten, ein verkrampftes Schlucken, und sein Gast schloss für einen Moment die Augen. Onkel Emilio hätte seine wahre Freude an Frau Radebrecht gehabt und sie in null Komma nichts als Kundin geworben.

»Sind wir uns bezüglich der zwanzig Euro einig?«

Die Frau nickte.

»Gut, dann besuche ich Julius morgen Nachmittag. Danach entscheide ich, ob ich ihn unterrichte oder nicht. Wenn, kommt er zweimal die Woche für zwei Stunden zu mir. Passen Montag und Freitag?«

»Selbstverständlich.«

Frau Radebrecht pickte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche. »Ich erwarte Sie pünktlich um dreizehn Uhr.« Ein knappes Nicken, kaum dass er die kleine Karte in der Hand hielt, und sein Gast schritt hinaus.

Wenn ihr Sohn ihr ansatzweise ähnelte, schmiss er den Job hin, noch bevor er ihn angenommen hatte.

Raoul trank den mittlerweile lauwarmen Kaffee in einem Zug aus.

Dummerweise brauchte er das Geld. Die wenigsten Eltern zogen den Nachhilfeunterricht für ihre Kinder in den Sommerferien durch und spätestens im September wollte er seine Geschwister besuchen. Vor allem Leon bedurfte einer Kopfwäsche. In Emilios Gang hatte er nichts verloren. Automatisch schweifte sein Blick zur gegenüberliegenden Wand. Sie war mit Fotos aus seiner Heimat gepflastert. Auf Raouls Unterarmen stellten sich die Härchen auf.

Sein Albtraum: In irgendeiner Timeline ein Foto seines Bruders finden zu müssen, ausgestreckt zwischen Mülleimern und Kartons, mit leerem Blick und Loch in der Brust.

Die Geduld der UPP-Trupps war begrenzt, ebenso wie der der Drogenbosse. Und Onkel Emilio ließ sich ganz gewiss nicht von Regierungstruppen ans Bein pissen. Dazu war er zu lange unbestrittener Herrscher zwischen den Ziegelbauten gewesen.

Der Blick vom Hang auf Rio, dahinter das Meer.

Ansichten enger Gassen, über denen Stromkabelknäuel hingen, weiße Minibusse, die sich mit räucherndem Auspuff die steilen Straßen hinaufquälten. Und immer wieder seine Geschwister. Grinsend, ins Handy winkend, mit Shorts und nacktem Oberkörper oder mit Sommerfähnchen und Flip Flops.

Noch zwei Jahre, dann war sein Studium beendet und er konnte persönlich für sie sorgen.

Vorher musste er eine weitere unschöne Sache mit Emilio ausräumen.

Sein Ziehonkel hatte ihn mit einem der Aushilfslehrer hinter der Sporthalle erwischt. Ein süßer Hungerhaken mit Sehnsuchtsblick und samtweicher Haut. Raoul hätte ihn ununterbrochen vernaschen können.

Theoretisch wusste Emilio von Raouls Vorlieben und billigte sie nur, weil er den zukünftigen Erneuerer des Complexo nicht verlieren wollte. Dazu hatte er bereits zu viele Reais investiert. Allerdings hatte er sich außerstande gesehen, einen Fremdschwanz im Mund seines Lieblingsziehneffen zu tolerieren.

Mit Mühe war er davon abzuhalten gewesen, an Miquel ein Exempel zu statuieren. Statt ihn zu kastrieren, sorgte er dafür, dass der Schuldirektor dem Lehrer kündigte.

Raoul hatte drei Kreuze geschlagen. Dennoch war das Problem nur aufgeschoben und noch längst nicht aus der Welt.

Keinen Schimmer, wie er allein durch Diskussion Toleranz in Emilios breiten Schädel schütten sollte.

Raoul pinnte die Visitenkarte neben einem Bild von Lissandra ans Regal. Einen Schritt nach dem anderen. Morgen würde er sich erst einmal seinen neuen Nachhilfeschüler ansehen.

 

~*~

 

Noch ein Idiot, der ihm sein Leben vermieste. Jules stocherte im Essen. Der Appetit war ihm vergangen.

»Du wirst es tun.« Seine Stiefmutter faltete die Serviette zusammen und klemmte sie unter den Tellerrand. »Das ist mein letztes Wort.«

Jules hätte ihr das Stoffding gerne tief in den Rachen gestopft.

»Herr Finkenbach de Jesus Silva genießt als Nachhilfelehrer einen hervorragenden Ruf.«

Ein Grund mehr, ihn zu hassen.

»Er wird dich in Englisch und Französisch unterrichten.«

»Ich kann schon Französisch.« Jules zwang sich zu einem gleichgültigen Blick direkt in Darias Augen. Was mischte sie sich in sein Leben ein? Sein Vater war gestorben. Warum tat sie nicht endlich dasselbe?

»Wohl kaum.« Sie erhob sich und erklärte das Essen damit für beendet. »Eine Vier ist eine Vier.«

»Und ein Schwanz im Mund ist ein Schwanz im Mund.« Langsam schob er den Zeigefinger tief zwischen die Lippen und zog ihn schließlich noch langsamer wieder heraus. »Bente behauptet, dass ich Französisch perfekt beherrsche.« Sein Freund war ebenfalls überzeugt, dass er den geilsten Arsch auf der Welt besaß. Meist kam er nach wenigen Stößen und bevor Jules nur annähernd so weit war. Außer Bente war betrunken, dann dauerte es länger, tat aber auch mehr weh.

Nur ein winziges Zucken der Braue verriet, dass er Darias wunden Nerv getroffen hatte. »Mit deinen ständigen Provokationen erreichst du nichts bei mir. Ich habe deinem Vater auf dem Sterbebett versprochen, dass ich mich bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr um dich kümmere. Eine bestmögliche Schulausbildung gehört dazu. Dein Leben danach geht mich nichts an.« Noch ein Jahr und dreizehn Tage. Er sollte sich einen Abreißkalender zulegen.

»Herr Finkenberg de Jesus Silva kommt um eins. Benimm dich oder dein Taschengeld bleibt für einen weiteren Monat gestrichen.«

Als ob ihn das tangierte. Was er wollte, nahm er sich. Auch aus dem Hexenportemonnaie.

Klamotten ließen sich ebenso gut stehlen wie CDs oder teure Duschgels.

Selbst Boots hatte er schon geklaut, indem er die alten einfach im Laden stehen gelassen hatte, und mit den neuen hinausspaziert war. Bei Alarm hieß es: Rennen. Und zwar schneller, als es der Kaufhausdetektiv konnte. Mal funktionierte es, mal nicht. Zwei ermahnende Gespräche bei der Polizei und ein paar Sozialstunden hatte er bereits hinter sich.

Daria verachtete ihn nicht nur dafür. Auch, weil sein Vater ihn viel, viel mehr geliebt hatte, als sie. An dem Morgen, als ihr das klar geworden war, hatte sie damit begonnen, ihm und Volker das Leben zu vergiften.

Kurze Zeit später hatte Jules Bente kennengelernt. Der Typ mit den zerrissenen Jeans hatte ihn mit Wodka gefüttert und ihm dabei seine Finger in den Arsch geschoben. Bisher eines der geilsten Gefühle, das er jemals empfunden hatte. Es war klar: Er war schwul.

Etwa zeitgleich begann die Sache mit den Diebstählen. Ein Nervenkick, noch besser als Sex. Bente schob es auf das Adrenalin.

Am ganzen Körper prickelte es, alle Sinne waren gespannt, Herzklopfen bis zum Hals. Beim Klauen vergaß er die Trauer, die ihm sonst ein Loch ins Herz fraß, und konnte sogar den Hass auf Daria verdrängen. Danach feierte er mit Bente und Ole, Bentes großem Bruder, bis tief in die Nacht.

Klar waren solche Aktionen Gift für die Schulnoten, doch was interessierte ihn das?

Dass er nicht längst in einem Heim steckte, verdankte er den Verspechen, die Volker Daria abgenommen hatte.

Warum war ihm erst nach seiner Erkrankung bewusst geworden, dass seine Frau eine Hexe war?

»Zehn Minuten.« Seine Stiefmutter tippte auf ihre Armbanduhr. »Hüte dich und liefere ihm eine Szene, oder ich vergesse sämtliche Zusagen an deinen Vater.« Sie stand auf und verließ das Esszimmer.

Jules verpasste dem kaum angerührten Teller vor sich einen Stoß. Er schlitterte über den Tisch, kippte über die Kante und zerschellte auf dem Fliesenboden. Wie konnte sein Vater sterben und ihn mit der Hexe alleinlassen?

Er sollte sich zusammenreißen? Ums Verrecken nicht! Seine Vorgänger waren allesamt geflohen. Dasselbe gelang ihm mit diesem Finkenbachsonstwas-Typen.

Die Porzellanscherben knirschten unter den Schuhen, als er aus dem Raum stapfte. Das Geräusch ließ ihm eine Gänsehaut wachsen. Fühlte sich gut an, wie sie so über die Haut kribbelte.

Jules fasste sich in den Schritt. Seine eigene Berührung durch den eng anliegenden Jeansstoff zu spüren, war ebenfalls ein geiles Gefühl. Er strich sacht, dann fester über die wachsende Beule.

Mal sehen, wie viel Französisch der Kerl mit dem guten Ruf verkraftete.

Die Tür zu seinem Zimmer schlug er absichtlich laut zu. Vielleicht war Daria noch im Haus und zuckte jetzt zusammen. So wie damals, als sie einen Tag früher von irgendeiner blöden Konferenz gekommen war und Jules bei Volker im Bett erwischt hatte.

Gott, wie hatte sie sich darüber aufgeregt, dabei war nichts gewesen.

Er war nur zu seinem Vater gekrochen, weil er sich mit Freunden eine Saw-Session gegönnt hatte. Zwei der Horrorstreifen, mit dem Sägen-Fetischist hatte, Jules ausgehalten, danach hatte er das Klo mit Chips und Cola gefüttert.

Kein Schlaf in dieser Nacht. Gegen Morgen hatten sich die verdammten Szenen so tief in sein Hirn gefressen, dass er zu Volker unter die Decke geflüchtet war. Der hatte nur gegrunzt, den Arm um ihn gelegt und weitergeschlafen.

Er war es aus der Zeit gewohnt, als Jules Mutter gegangen war. In den Monaten danach hatte Jules allein nicht einschlafen können. Dieses Argument war Daria völlig egal gewesen.

Seit dem bekackten Morgen, als die Hexe plötzlich nach Luft schnappend im Schlafzimmer gestanden hatte, herrschte Dauerstress. Er hörte auch nach Volkers Tod nicht auf.

Jules wählte auf der Playlist The Pulse of the Deadund regelte hoch bis zum fensterscheibenklirrenden Bereich.

Das Dröhnen fuhr ihm ohne Umwege zwischen die Beine.

Weg mit den Klamotten. Sein Schwanz brauchte Freiheit, um sich auszukotzen.

 

~*~

 

Freitag dreizehn Uhr zwanzig. Ein bisschen Toleranz musste drin sein. Immerhin hatte er versucht, seine Verspätung unterwegs zu minimieren. Raoul stieg keuchend vom Rad. Radebrechts wohnten am westlichsten Ende der Stadt. Seit einer halben Stunde fuhr er stetig und so schnell wie möglich bergauf. Seine Oberschenkel brannten.

Steifbeinig ging er zwischen Arrangements aus Steinen und kleinen Blumen entlang zur Haustür und drückte auf den Messingklingelknopf des Flachbaus. Umgeben von alten Villen mit Erkern und hohen Dächern wirkte das kastig-moderne Gebäude wie ein Schuhkarton.

Marmor und teure Teppiche. Jede Wette, genau das würde ihn im Inneren erwarten. Dazu ein paar antike Schinken an den Wänden oder wahlweise zeitgenössische Drucke.

Auf der anderen Seite der Tür erklangen Schritte und durch das geriffelte Glas erschien eine Silhouette.

Frau Radebrecht öffnete mit regloser Miene. Lediglich das Lid ihres rechten Auges zuckte in gleichmäßigen Abständen. Hinter ihr brüllte ein Inferno. »Sie sind zu spät«, formten ihre Lippen.

Warum schaltete sie den Lärm nicht ab?

Sie winkte ihn hinein.

Teppiche auf Marmorfließen, Kunst an weißen Wänden und eine offene Treppe nach oben mit lackierten Stufen.

Wette so ziemlich gewonnen.

Julius’ Stiefmutter führte ihn in ein Zimmer mit Blick zum Garten und schloss schnell die Tür. Der Lärmpegel dimmte sich auf ein knapp erträgliches Maß.

»Ich bat Sie um Pünktlichkeit!«

Raoul setzte sich auf eines der würfelförmigen Sofas. »Leider ist mir etwas sehr Wichtiges dazwischengekommen.« Ein Croissant plus Cappuccino in seinem Lieblingscafé. »Wenn Sie zur Arbeit müssen, lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich werde das Gespräch mit Julius ohnehin allein führen.«

Beide Brauen schnellten nach oben. »Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Mut. Wahrscheinlich sollte ich Sie jedoch bedauern.«

Ein vielversprechender Beginn. Mittlerweile war er auf den Jungen außerordentlich neugierig.

»Julius weiß, dass Sie mit ihm reden wollen. Er überschwemmt das Haus nicht umsonst mit diesem Krach.« Der Tick in der Braue beschleunigte seinen Takt. »Doch vorher sollten Sie noch eine Kleinigkeit über ihn erfahren.«

»Bringen Sie mich zu ihm und ich frage ihn danach.«

»So einfach ist das nicht.«

»Im Normallfall schon.«

»Ich sagte Ihnen bereits, dass Julius weit von der Norm abweicht«, fauchte sie. »Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wird er versuchen, Sie zu provozieren. Aus einem einzigen Grund: Weil er mir zu verstehen geben will, wie sehr er mich verachtet und wie wenig ihn meine und seines Vaters Wünsche, seine Zukunft betreffend, interessieren. Ich erzähle Ihnen das nur, damit Sie sich wappnen können.«

»Ich mache mir lieber mein eigenes Bild.« Die Diskussion mit dieser Frau ging ihm allmählich auf den Geist. »Wo ist sein Zimmer?«

»Erster Stock, zweite Tür links.« Ergeben schloss sie die Augen. »Wenn was ist, erreichen Sie mich in der Praxis.« Fluchtartig verließ sie den Raum und wurde von martialischem Krach geschluckt.

 

~*~

 

Mit der einen Hand krallte er sich ins Laken, mit der anderen glitt er wild über seinen Schwanz. Jules biss sich auf die Lippen. Das Ziehen im Unterleib tat gut. Es durfte ihn nicht zu schnell verlassen aber langsamer konnte er unmöglich werden. Vorher musste es brennen, bis jeder Gedanke an sein Leben in Flammen aufging.

Bente, vor ihm kniend, der die glänzende Spitze mit seiner nassen Zunge kühlte. Ihm das wunde Gefühl ableckte, bis ihm Jules’ angestaute Lust sahnig ins Gesicht spritze.

Astreines Kopfkino und oft in der Realität praktiziert.

Sein Freund stand darauf. Wenn es ihn überkam, zog er Jules auf dem Heimweg von der Schule ins Gebüsch und kniete sich wortlos vor ihn. Diese Geste reichte, um Jules Schwanz hart werden zu lassen.

Danach reinigte er sich notdürftig mit einem Papiertaschentuch und jeder von ihnen kehrte in seine luxuriöse Zuhausehölle zurück. Bentes Eltern waren selten daheim und wurden von ihrem Sohn ähnlich intensiv gehasst, wie Daria von Jules.

Über den Grund sprach Bente nicht. Er redete überhaupt wenig.

Allerdings tat er es öfter, als er Zärtlichkeiten verteilte. Das geschah nie.

Vielleicht war er auch gar nicht sein richtiger Freund. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ab und zu mit anderen Typen vögelte.

Als Jules sich nach dem Sex einmal an ihn geschmiegt und an seinem Hals geknabbert hatte, hatte ihn Bente von sich gestoßen. Keine Küsse, kein Geschmuse. Liebe wäre etwas für Idioten, die sich rosarote Brillengläser vor die Linsen pressten, um das hässliche Dunkelgrau nicht sehen zu müssen.

Noch ein Versuch, ihn zu küssen, und er könnte sich einen anderen zum Ficken suchen.

Jules blendete diese Gedanken aus, konzentrierte sich bloß auf das Gefühl Bentes saugenden Mundes um seinen Schwanz.

Ein Tropfen an der roten Spitze. Er verrieb sie mit dem Daumen, keuchte dabei auf.

Jetzt abspritzen.

Er biss sich fester auf die Lippen.

Nein, dieses Schauspiel war für den Nachhilfeidioten gedacht. Eben hatte es endlich geklingelt. Daria warnte sein neues Opfer garantiert vor ihm.

Vergebene Mühe.

Der Typ würde kommen, sehen und sofort wieder verschwinden.

Und Jules landete im Internat.

Besser, als hier wahnsinnig zu werden.

Er legte stöhnend den Kopf in den Nacken.

Immer schneller stieß er in seine Faust.

Gleich.

Ihm brach der Schweiß vor Anstrengung aus, sich zurückhalten zu müssen. Nur noch ein paar Sekunden, dann spritze er vor den Augen dieses Idioten ab.

 

~*~

 

Julius schien ein ganz besonderes Früchtchen zu sein. Raoul stieg die Treppe hinauf. Der Lärm drang aus besagtem Zimmer.

»Julius?« Er hämmerte an die Tür. Keine Reaktion, was angesichts des Krachs kein Wunder war.

»Hey! Julius!« Wieder nichts.

Es war nicht abgeschlossen. Na dann.

Quer auf dem Bett, mit geschlossenen Augen, lag ein Junge. Dünn, schwarz gefärbtes Haar, blasse Haut, nackt. Eine beeindruckende Erektion in der Faust, die er hemmungslos malträtierte. Mit der anderen Hand rieb er sich abwechselnd über die Nippel.

Die kantigen Gesichtszüge lösten sich im beginnenden Rausch, wurden weich, wunderschön.

Raoul schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Was für ein bezaubernder Anblick. Wenn daraus Julius’ Provokation bestand, würde er sie bis zum Schluss genießen.

Die Musik endete in einem letzten Röhren des Sängers. In der eintretenden Stille klang Julius’ Keuchen erstaunlich laut.

Flatternd öffneten sich die Lider. Der Blick darunter glühte. »Komm näher und du kriegst es ab.«

Jedes Wort war gekeucht.

Was für eine verlockende Vorstellung.

Raoul brannte innerlich, was er dem Jungen mit den vorstehenden Rippen auf keinen Fall zeigen durfte.

Er schlenderte zum Schreibtisch, zog den Stuhl vors Bett und setzte sich. »Leg los.« Wenn der niedliche Hungerhaken das durchzog, war er tough.

Julius’ Blick veränderte sich. Weniger Wut, weniger Trotz. Fast wurde er weich, was ihm etwas ungemein Anziehendes verlieh.

Leider dauerte dieser Moment bloß eine Sekunde, und schon schob sich eine Maske aus Verachtung vor das schmale Gesicht.

Julius – der Name passte absolut nicht zu dem Jungen – stütze sich auf einen Ellbogen. Langsam fuhr er mit der Zunge über die Unterlippe. »Daria hat dich angeschleppt, um mir Französisch beizubringen?« Er zog die Vorhaut zurück und präsentierte seine glänzend blaue Spitze. Ein Tropfen trat hervor, rann zäh über die zarte Haut. »Los, fang an.«

Er forderte einen Blowjob? Raoul dachte nicht daran, sich angesichts der naiven Dreistigkeit ein Grinsen zu verbeißen. Lediglich das Lachen schluckte er hinunter.

Provokation.

Frau Radebrecht hatte ihn gewarnt.

Julius entglitten die Gesichtszüge. Anscheinend hatte er mit einer anderen Reaktion gerechnet. Wie viele Vorgänger hatte er auf diese Weise bereits verscheucht?

»Bring es zu Ende, du tropfst schon.« Raoul lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Gott, war der Junge bezaubernd. Garantiert war seine Haut, die offenbar nie auch nur einen einzigen Sonnenstrahl eingefangen hatte, zart wie Seide. Mühsam löste er den Blick von dem fragilen wirkenden Körper.

Wieder die großen Augen, die an dem zweifelten, was sie sahen. »Du willst, dass ich vor dir abspritze?« Langsam glitt die Faust erneut über Julius’ sensibelstes Stück. »Bist du pervers?«

»Nein, aber ich habe heute noch was anderes vor, als dir beim Wichsen zuzusehen. Also mach hin.«

»Geh raus.«

»Warum hast du die Tür nicht abgeschlossen? Du wolltest, dass ich dich hierbei ertappe.« Am besten begriff Julius sofort, dass er sich das Katz und Maus Spiel mit ihm schenken konnte.

Der Anblick, wie er verunsichert weiter nach hinten aufs Bett rutschte, war rührend. »Ist meine Stiefmutter noch im Haus?«

»Nein.«

»Ich hasse sie«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Sie dich wahrscheinlich auch. Nimm es hin.«

»Ich werde bald achtzehn. Dann verschwinde ich. Mit oder ohne Abitur.«

Der Junge war niedlich. Am liebsten hätte ihm Raoul durch die wilden Haare gewuschelt, bevor er ihm eine saftige Kopfnuss verpasste. »Du wirst am ersten Juli siebzehn, Kleiner. Übrigens mein tief empfundenes Mitgefühl für die grässliche Namenswahl deines Vaters. Ich denke, ich werde dich Juli nennen.«

Brust, Hals und Wangen des Jungen wurden nacheinander scharlachrot. »Wenn du das wagst ...«

»... wird auch nichts Dramatisches passieren. Ich gebe dir fünf Minuten.« Raoul stand auf, fischte sein Handy aus der Hosentasche und schaute demonstrativ auf die Zeitanzeige. »Ab jetzt.« Noch ein Grinsen zu dem Jungen, der ihn mit offenem Mund anstarrte, und er ließ ihn allein.

Im Flur richtete Raoul seine eigenen Angelegenheiten im Schritt. Der eben genossene Anblick war keinesfalls spurlos an ihm vorbeigegangen.

Die flache, weiße Brust, die rosa Nippel. Raoul seufzte leise. Als seine Gedanken zu der prallen Spitze mit dem schimmernden Tropfen schweiften, verbot er sich jede weitere Szene, die ihm sein Kopfkino aufdrängte.

Der Junge mochte an seinem Trotz ersticken, aber Mut besaß er. Und Leidenschaft. Mehr, als gut für ihn war.

Hinter ihm stöhnte es.

Respekt, Juli zog es durch.

Wie auch immer sich ihre Zusammenarbeit gestalten würde, langweilig wurde es unter Garantie nicht.

Einige seiner Schüler waren bildhübsch. Raoul genoss ihren Anblick, das war’s. So gesehen konnte es durchaus geschehen, dass Juli tatsächlich eine Herausforderung darstellte. Bloß anders, als es seine Stiefmutter vermutete.

Erst, als kein Laut mehr aus dem Zimmer drang, klopfte er. »Fertig?«

»Ja«, kam die prompte Antwort.

Er wollte die Klinke drücken, als die Tür aufgerissen wurde. Juli stand vor ihm, nach wie vor nackt. Die Wangen gerötet, der Blick flirrte.

»Was starrst du mich an?« Juli schleuderte das Sperma von der Hand. »Findest du mich geil?« Vielleicht sollte das Grinsen hämisch sein, doch dazu zitterte es zu sehr in den Mundwinkeln.

»Wie sieht es aus? Lust auf einen Fick?«

Die Coolness war gespielt. Julis Hände verkrampften sich zu Fäusten. Mann, stand der Junge unter Strom.

»Ja«, antwortete Raoul so gelassen, wie möglich. »Später. Komm in zwei Jahren auf das Thema zurück, okay?«

Laut stieß Juli die Luft aus den Lungen. Die Brauen schoben sich zusammen, der Blick versuchte herauszufinden, wie viel von dem eben Gesagten gelogen war.

Nichts.

Raoul würde außerordentlich gern mit Juli vögeln. Bloß nicht als sein Nachhilfelehrer.

»Du bist anders als die Idioten, die Daria sonst anschleppt.« Juli neigte den Kopf. »Aber vielleicht bist du doch nicht so cool, wie du tust.« Seine klebrige Hand landete in Raouls Nacken, der Geruch nach frischem Sperma in seiner Nase. Plötzlich pressten sich Lippen auf seinen Mund und eine drängende Zunge leckte darüber.

Raoul öffnete ihn aus Reflex. Sofort wurde er von nassem Samt erobert.

Wild, wütend, verzweifelt. So fühlte sich Julis Kuss an. Hätte er dabei knurren können, hätte er es sicherlich getan.

Schluss mit den Faxen.Raoul legte beide Hände fest auf das Gesicht des anderen, wollte es wegdrücken, als die zornigen Lippen plötzlich weich und die eben noch fordernde Zunge anschmiegsam wurden.

Was hier lief, war grottenfalsch, obwohl es sich fantastisch anfühlte. Offenbar für sie beide, denn Julius stöhnte sehnsüchtig in seinen Mund.

Umso schlimmer. Raoul nahm ihn an den Schultern und beendete den Kuss.

»So viel dazu.« Verflucht noch einmal, sein Atem ging viel zu schnell. »Ich schlage vor, wir vergessen das sofort wieder, Juli. Du ziehst dich ...«

»Nenn’ mich nicht so!«, fauchte der Junge. In den blauen mit breitem schwarzen Kajal umrandeten Augen begann es zu glitzern. »Verschwinde und sag meiner beschissenen Stiefmutter, dass sie sich ...«

Unter Raouls Händen zitterte und bebte es. Mit einem Ruck befreite sich Juli aus Raouls Griff, wollte an ihm vorbei zur Tür. Raoul fing ihn kurz davor ab. Er schlang seine Arme um die schmale Taille. »Du bleibst, ziehst dich an und wir lernen. Verstanden?«

Der Junge kämpfte wie ein Besessener in der Umklammerung.

»Hey! Reiß dich zusammen!« Raoul schleppte Juli zum Bett, fischte einhändig eine Jeans und ein T-Shirt aus einem Kleiderknäuel und drückte es ihm in den Arm. »Anziehen, oder du kannst auf den nächsten Depp warten, der sich von dir verarschen lässt.«

»Dann hau ab!« Juli wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. »Los! Verschwinde!«, brüllte er und rannte zum Fenster. Schwer atmend stützte er sich daran ab.

Zu ihm gehen, ihn in den Arm nehmen und über den knochigen Rücken streicheln, bis er sich gefangen hatte. Das war Wunsch eins. Er war Schwachsinn.

»Mach’s gut.« Raoul ging mit einem Gefühl im Bauch, als hätte er Essig getrunken. Niemandem war zu helfen, der es nicht selbst wollte. Nicht zum ersten Mal hätte er liebend gern einen Menschen zu seinem Glück geprügelt.

Er war schon am Hauseingang, als oben eine Tür ins Schloss fiel.

Das Tappen nackter Füße, der Geruch frisch gewaschener Wäsche. Demnach war Juli angezogen.

Raoul drehte sich um. Ein kurzatmiger, rotäugiger Junge mit Jeans und Hoodie blickte auf seine Zehen. »Vielleicht ...«

»Kein vielleicht.« Über dieses Stadium waren sie raus. »Du sagst jetzt ja oder nein. Bei ja ziehen wir das durch, bei nein hat es mich gefreut, dich kennengelernt zu haben.«

Julis Miene verwandelte sich in eine düstere Knautschzone. »Ja.«

»Gut.« Raoul lehnte sich gegen die Tür. »Sag mir die Wahrheit: Für wen machst du das?«

»Das Abitur?« Die Stirnfalten verschwanden. »Das interessiert mich einen Dreck. Aber ich will Zeit mit dir verbringen, und wenn das nur beim Lernen geht, dann nehme ich das in Kauf.«

Zwar nicht das, was Raoul hören wollte, doch es war zumindest ein Anfang. »Was ist mit der Kussaktion von vorhin?« Auf dieser Basis konnte ihre Zusammenarbeit auf keinen Fall stattfinden.

»Ich fand es schön.« Juli sah ihm direkt in die Augen. »Ich werde normalerweise nicht geküsst und umarmt. Höchstens gefickt und geblasen.«

Für einen so jungen Kerl sprach er ziemlich kaltschnäuzig von solchen Sachen.

Der Mund, der ihn eben noch leidenschaftlich liebkost hatte, verzog sich zu einem abschätzigen Grinsen. »Schockiert?«

»Nein.« Dazu musste ihm Juli schon mehr bieten. »Montag Nachmittag um vier. Die Adresse hat deine Stiefmutter.«

Es wurde Zeit, zu gehen. Sein neuer Schüler hatte ein Wochenende vor sich, um seine Prioritäten zu sortieren und Raoul brauchte die Zeit ebenso dringend.

Ob sich seine Haare weich zwischen seinen Fingern anfühlen würden? Oder eher strohig, weil er sie mit Gel und Spray vergewaltigte?

Raoul schob den Gedanken beiseite. Was gingen ihn Julis Haare an?

 

~*~

 

»Warte!« Raoul durfte nicht gehen. Jules’ Lippen prickelten, und an seiner Zunge haftete noch der Geschmack nach Kaffee und einem ungewöhnlichen, Wahnsinns Aroma. Er konnte es nicht zuordnen, aber es stammte aus Raouls Mund.

Seine Finger zitterten, als er den Mann am T-Shirt packte und zu sich zog. »Einmal noch.« Sonst würde er bis Montag irrewerden.

Auch so bekam er das braune Gesicht mit der etwas breiten Nase und den sinnlichsten Lippen, die er jemals gesehen hatte, nicht aus dem Kopf. Und erst der Wust an Haaren! Zusammengeschlungen zu einem wilden Knoten. Unglaublich cool.

»Kleiner, was soll das?« Raoul pflückte Jules’ Finger von sich. »Du hast deine Show abgezogen. Gib auf.«

»Kann ich nicht.« Sein Magen fühlte sich komisch an. Ebenso wie sein Kopf. Als ob er in Wolken steckte.

Ein winziges Lächeln breitete sich in Raouls Miene aus. Es kickte Jules’ Herz an einen rosaroten, flatternden Ort. »Bis dann, Juli.« Er berührte ihn zum Abschied an der Schulter. Die Wärme seiner Hand drang Jules bis in den Bauch.

Was schmachtete er einen fremden Typen an? Jules spürte jeden Zentimeter Hitze, die ihm ins Gesicht stieg.

Umdrehen und zwischen sich und diesem Mann die Tür zuschlagen.

Es brachte nichts. Die Wärme in ihm blieb.

Jules lehnte seine Stirn an die Scheibe. Sie war so kühl und er war so heiß. Seit seine Lippen auf Raouls gelegen hatten, brannten sie. Er leckte darüber, presste sie aufs Glas. Sein erster richtiger Kuss. Er sollte den anderen schockieren.

Jetzt war er schockiert – von dem Gefühl, das ihn mehr und mehr ausfüllte.

Jules starrte auf die Stelle vor dem Haus, wo Raoul aufs Fahrrad stieg und davonradelte.

Er war anders.

Seine Art, sich zu bewegen, zu reagieren, zu sprechen.

Nicht nur der minimale Akzent, auch waser wie sagte.

Und erst die Umarmung. Jules seufzte, drückte sich vom Fenster weg. Keine Umarmung. Nur das Einfangen eines Jungen, der die Nerven verloren hatte.

Jules hasste sich dafür.

Fast hätte er vor Raoul zu heulen begonnen.

Der Kuss hatte ihn völlig fertiggemacht.

Er strich mit dem Zeigefinger über den Mund, stellte sich dabei weiche Lippen vor. Ihm wurde heiß und kalt.

Die fremde Zunge an seiner, der Druck, der Geschmack ... Jules sank auf die Fliesen, umklammerte seine Knie. Erst in drei Tagen sah er Raoul wieder. Ob er sich noch einmal einen Kuss stehlen ließ?

Er legte den Kopf in den Nacken, drückte sacht gegen seine Kehle. Auch dort wollte er Raouls Lippen spüren. Und seine Zunge, vielleicht seine Zähne. Ein Schauder rann ihm durch den Körper, ließ ihn stöhnen.

»Verlieb’ dich in mich.« Er bildete sich ein Echo ein. Es verhöhnte ihn. Gehörte er jetzt zu den Idioten mit den rosaroten Brillengläsern? Niemand auf der Welt verliebte sich in ihn. Nicht einmal Bente, sonst würde er ihn küssen und nicht bloß vögeln.

In seinem Brustkorb schmerzte es.

 

~*~

 

Auf dem Bildschirm winkten Leon, Lissandra, Ramon und Belmira zeitlich leicht verzögert, dafür mit breitem Grinsen, ihrem Bruder zu.

»Ihr könnt mit dem Affentanz aufhören.« Raoul tippte sich an die Stirn. »Was habt ihr ausgefressen, dass ihr euch bei mir einschleimen müsst?«

»Nichts.« Belmiras Gesicht wurde größer und verdeckte diejenigen ihrer Geschwister. »Wir wollten dir bloß den neuen Laptop vorführen.«

Vor einem halben Jahr war der alte Computer, den Ramon angeschleppt hatte, einem Kabelbrand zum Opfer gefallen.

»Und von wem habt ihr den?« Belmira arbeitete in einem Hotel als Zimmermädchen, Ramon war Bäcker, verdiente zwar nicht schlecht aber gute Technik war teuer, und Leon schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Lissandra ging noch zur Schule und war deshalb mehr oder weniger raus bei diesem Thema. Wer, zum Henker, hatte den Laptop bezahlt? Und mit wessen Geld?

»Leon hat ihn für uns gekauft.« Belmira zog einen Flunsch. »Freust du dich gar nicht, dass wir uns jetzt wieder sehen können?«

»Gib ihn mir.« Verfluchte Scheiße!Woher nahm Leon so viel Kohle?

»Reg dich ab!« Das Gesicht seines Bruders füllte die Bildschirmfläche aus. »Onkel Emilio hatte ein paar lukrative Laufburschen-Jobs für mich.«

»Untersteh’ dich, für ihn zu arbeiten!« Seine Hände wurden kalt. Emilios Jobs waren gefährlich.

»Was ist mit dir?«, fauchte Leon. »Du studierst sogar von seinem Geld und wirst danach noch viel zackiger nach seiner Pfeife tanzen, als ich. Oder denkst du, du spazierst nach Rio und jede Baufirma reißt sich um dich?«

Raoul ballte die Fäuste. So würde es aussehen. Emilio bat irgendjemanden um einen Gefallen, der ihm mindestens zehn schuldete, und die Mühlen begannen zu mahlen. Für ihn hieß das, bis zum Lebensende in Emilios Schuld zu stehen. Jede Wette, der alte Vogel spekulierte genau darauf.

»Sei vorsichtig.« Seine Fingerspitze berührte den Laptop da, wo Leons Kinn ein Grübchen aufwies. »Ich will, dass du hundert wirst und friedlich in deinem Bett und umgeben von zig Kindern, Enkeln und Urenkeln stirbst.«

»Alles klar.« Leon lächelte und zog Lissandra vor die Kamera. »Sag Raoul Hallo, du kleines Biest.«

»Hallo Raoul.« In ihrem Mund blitzte eine Zahnspange auf. Seit wann trug sie so sein Ding? »Ist die nicht schick?« Stolz bleckte sie die Zähne. »Die Zahnärztin meinte, nach zwei Jahren hätte ich ein Lächeln wie ein Hollywoodstar.«

»Lass sie dir nicht klauen«, rutschte ihm sinnigerweise heraus. Verflixt, er war müde und redete Unsinn. In den vergangenen Nächten hatte er viel und vor allem feucht geträumt und war morgens gerädert erwacht. Mal lag Juli keuchend und mit glühendem Blick unter ihm, mal flehte er um Küsse, mal küsste er selbst.

Auf Raouls Mund, auf seine Nippel, auf seine Schwanzspitze.

Raoul biss sich auf die Lippen. Allein der Gedanke daran sandte Hitze durch seinen Körper.

Juli war ein halbes Kind. Raoul schämte sich für seine Träume, ohne sie verdrängen oder vergessen zu können. Sie waren zu verlockend, zwangen ihn, sich mitten am Tag Erleichterung zu verschaffen. Der dünne Junge hatte ihn bezirzt. Raoul hing im Netz, zappelte, machte es aber mit jedem halbherzigen Versuch, zu entkommen, nur schlimmer.

Das Schrillen der Klingel ließ ihn zusammenzucken. Verdammtes Ding!

Montag, vier Uhr nachmittags.

Juli! Vor lauter Träumerei hatte er es beinahe vergessen.

Er verabschiedete sich von seinen Geschwistern und nahm ihnen das Versprechen ab, auf sich aufzupassen, bis er wieder im Lande war. Von den Mädchen hagelte es Luftküsse, seine Brüder grinsten bloß.

Raoul klappte den Laptop zu. Sah man ihm seine Gedanken an leidenschaftliche Küsse und einem sich windenden Knabenkörper an?

»Moment!«, rief er, und zog das Shirt so tief wie möglich. Dass es darunter spannte und puckerte, brauchte seinem Schüler nicht auf Anhieb ins Auge fallen.

Im Türspion blickte ihm der Protagonist seiner Träume entgegen.

»Hi«, begrüßte ihn der Junge mit seltsam gequälter Miene, kaum, dass er ihm geöffnet hatte. »Kann ich mal dein Klo benutzen?«

»Bitte.« Raoul zeigte auf die einzige geschlossene Tür im Flur. Juli ließ seine Tasche von der Schulter rutschen und huschte ins Bad. Er schien es eilig zu haben.

Da im Arbeitszimmer das Chaos auszubrechen drohte, nutzte Raoul die Zeit, um das Gröbste aufzuräumen und sich gleichzeitig auf andere Gedanken zu bringen. Nach zehn Minuten gab er auf.

Ob es Juli schlecht ging? Er brauchte ziemlich lange.

Gerade, als er sich erkundigen wollte, verließ Juli kurzatmig und mit glühenden Wangen und glasigen Augen das Bad. Er faste sich flüchtig in den Schritt, rückte dort das Wesentliche zurecht.

Hatte sich der Junge eben einen runtergeholt?

Steifgliedrig bückte er sich nach der Tasche und wich Raouls Blick aus. »Ist was?« Das schmale Gesicht verfärbte sich noch eine Spur dunkler. »Du guckst so komisch.«

Raoul verkniff sich jeden Kommentar. Er wollte Juli weder kränken noch bloßstellen.

»Ich glaube, wir brauchen beide frische Luft.« Die im Zimmer schien vor Hitze zu flirren.

Der Balkon war die einzig vernünftige Alternative.

Statt hinauszugehen, blieb Julius vor der mit Fotos bepflasterten Wand stehen. »Rio?« Er zeigte auf ein Bild mit der obligatorischen Christusstatue am Horizont. »Deine Heimat?«

»Oh ja.« In Raouls Schritt kniff es nach wie vor. Zum Glück interessierte sich Juli im Moment nur für die Szenen aus den Favelas.

»Wahnsinn.« Er ging daran entlang und betrachtete bunte, hohe Ziegelhäuser mit Cafés und Bars in den Erdgeschossen. Menschen, die mit Plastiktüten behangen ihre Einkäufe die steilen Straßen hinaufschleppten.

Im Hintergrund graffitiüberzogene Mauern und immer wieder Männer der UPP in Schutzwesten und mit Maschinenpistolen. »Du kommst aus dem Slum.« Juli drehte sich zu ihm. »Kein Wunder, dass du daraus geflohen bist.«

»Bin ich nicht.« Er vermisste den Complexo an jedem einzelnen Tag. »Es ist kein Slum, sondern eine von vielen, vielen Favelas.«

»Ist das nicht dasselbe?« Juli trat noch dichter an die Fotos heran. »Ganz schön chaotisch.«

»Lebendig.« Die illegalen Siedlungen waren in kurzer Zeit gewachsen. Gebaut wurde, wo Platz war. Ein großes Tier, das täglich mit neuen Träumen und Hoffnungen gefüttert wurde. »Manchmal vermisse ich das Leben dort.«

Juli tippte auf einen bewaffneten Polizisten. »Ist sicherlich spannender als hier.«

»Und spontan, bitter, oftmals traurig, gefährlich.«

Julis Augen begannen zu leuchten. »Kehrst du eines Tages dorthin zurück?«

»Ich besuche meine Leute, wann immer ich es mir leisten kann, aber ja. Nach dem Studium bin ich wieder ein Vollzeit-Favelado.« Eigentlich hatte er nie aufgehört, einer zu sein. Er hatte den Complexo verlassen, aber der Complexo nicht ihn, sonst würde er wohl kaum auf jedem freien Eckchen der Wand kleben.

»Ich beneide dich.« Julis Stimme klang nach echter Sehnsucht und Abenteuerlust.

Raoul musste lachen. »Ein paar Nächte dort ändern deine Meinung.« Gewehrsalven und Schreie waren die Fressgeräusche der Hügelsiedlung. Emilio verglich die Favelas mit einem Dschungel, vollgestopft mit exotischen Tieren. Manche waren gefährlich und verschlangen, was ihnen vor die Nase kam, andere waren freundlich und ließen sich streicheln. Wieder andere waren beides. Je nach dem, um was es ging.

»Lass uns beginnen. Du bist immerhin nicht wegen meiner Fotos hier.« Raoul legte Juli die Hand auf den Rücken, wollte ihn zur Balkontür schieben. Für einen Augenblick lehnte sich der Junge in die Berührung. Er schluckte, schloss die Augen. »Tust du mir einen Gefallen?«, fragte er leise.

Raoul traute sich nicht, ja zu sagen.

»Küss mich noch mal.«

Verdammt!

»Das wäre ein Fehler.« Dennoch fanden Raouls Finger den Weg zu Julis Hals und streichelten sacht bis zum Ohr. Gott, hatte er sich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle?

Der Junge neigte den Kopf, schmiegte sich an Raouls Hand. »Bitte.« Ein Augenaufschlag, der Steine zum Schmelzen brachte. »Ich träum’ Tag und Nacht von dir. Renne ständig halbsteif bis knallhart durch die Gegend.« Er atmete laut ein, biss sich auf die Lippen. »Dreimal darfst du raten, was ich eben auf dem Klo gemacht habe. Aber es bringt kaum was. Siehst du?« Er nahm Raouls freie Hand, legte sie sich zwischen die Beine. Was Raoul fühlte, entsprach in etwa seinem eigenen Problem.

»Juli, du machst es mir damit nicht leichter.« Er wand sein Gelenk aus dem Griff. »Ich bin dein Nachhilfelehrer. Was meinst du, was passiert, wenn rauskommt, dass ...«

»... du einen deiner Schüler vögelst?«

Oh Gott, daran durfte er nicht denken, obwohl er es andauernd tat.

»Möchtest du was trinken?« Was für ein erbärmlicher Rettungsversuch.

Einen Moment starrte ihn Juli an, als hätte er ihn nicht verstanden. Dann senkte er den Blick, nickte.

Raoul ohrfeigte sich innerlich, aber wenn er ihnen beiden jetzt nicht diesen Zahn zog, konnte er für sich selbst nicht mehr die Hand ins Feuer legen.

Juli folgte ihm in die Küche.

»Kaffee, Tee oder Wasser?«, heuchelte Raoul Normalität.

»Wasser bitte.«

So leise Juli auch sprach, seine Stimme quoll über vor Enttäuschung. Sie rieselte wie Nebel auf Raoul hinab, während er Wasser in eine Karaffe füllte und Orangenscheiben hineinschnitt.

»Nimm zwei Gläser mit.« Er nickte zum Geschirrregal und verfluchte sich wegen seiner belegten Stimme.

Juli blieb wie angewurzelt stehen. »Ich habe mich auf dich gefreut.« Seine Wangen färbten sich erneut Rosa. Seine Verlegenheit passte nicht zu der Geschichte, dass er sich regelmäßig vögeln und blasen ließ. Hatte Juli einen Freund? Wenn, warum sprach er dann in diesem Ton über ihre Liebe? Oder hielt er bloß aus Langeweile den Arsch hoch?

Ein mieses Gefühl verätzte Raouls Magen.

»Daria hat mich angestarrt, als ich heute freiwillig meine Sachen gepackt habe, um zu dir zu fahren.«

Mühsam trennte sich Raoul von der Vision, einen gesichtslosen Mistkerl nach Emilio-Manier in die Mangel zu nehmen.

»Normalerweise tue ich das nicht«, kam es leise.

»Dich freuen?«

Juli sah auf. Sein Blick wurde hart. »Ist scheißegal.« Er schnappte zwei Gläser und verließ die Küche.

Raoul lehnte sich an die Arbeitsplatte. Einen kurzen Moment zum Sammeln hatte er sich verdient.

Es gab nur eine vernünftige Lösung. Er musste jetzt da rausgehen und Juli sagen, dass sie unter diesen Bedingungen nicht zusammenarbeiten konnten.

Und dann? Landete Juli irgendwo weit weg in einem Internat für Lernverweigerer. Der Gedanke hatte einen gallebitteren Beigeschmack.

Durchhalten und Distanz wahren. Das war die einzige Möglichkeit.

Das Ziehen in seinem Unterleib spottete dem ehrenhaften Vorsatz.

Als er den Balkon betrat, hatte Juli bereits seine Schulsachen auf dem kleinen Tisch verteilt. Raoul goss ihnen ein, setzte sich Juli gegenüber, dessen Blick konsequent auf die Bücher geheftet blieb.

Vielleicht war das gut so. Hatte er sich vor ein paar Sekunden nicht vorgenommen, ihn auf Abstand zu halten?

In den folgenden zwei Stunden checkte er Julis Leistungsstand aus, der kümmerlich, aber nicht jämmerlich war. Während der gemeinsamen Grammatikübungen musste sich der Junge zwar sichtlich am Riemen reißen, doch er war in der Lage, das Gelernte zu behalten und umzusetzen. Im Prinzip brauchte er keinen Nachhilfelehrer, sondern bloß Disziplin, Fleiß und Zeit. Als er Juli eben das vorschlug, zuckte der Junge die Schultern. »Ich hatte bisher Besseres zu tun.«

»Zum Beispiel, dich ficken zu lassen?« Scheiße, es war ihm einfach rausgerutscht.

Ein Vorhang schob sich vor Julis Gesicht. »Das auch.« Er kritzelte mit dem Kuli auf den Seitenrand des Grammatikbuches, schleuderte den Stift danach weg. »Ich hau ab.« Er stopfte seine Bücher hastig in die Tasche und ging. Keine Sekunde später knallte die Wohnungstür zu.

Raoul ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. »Das hast du ja sauber vermasselt, Raoul Finkenberg de Jesus Silva.«

 

~*~

 

Arrogantes, selbstherrliches Arschloch!

Jules rannte die Treppe hinunter. Raoul war anders als die anderen? Einen Dreck war er!

Wie ein Stück Scheiße hatte er ihn behandelt.

Dabei hatte sich Jules Nacht für Nacht in den Schlaf gewichst und von grünen Augen und einem hellbraunen Schwanz geträumt. Er hatte ihn gestreichelt, geleckt und verwöhnt, bis es Raoul gekommen war.

Und jetzt das.

Draußen schlug ihm die Junisonne ins Gesicht.

Jules klemmte seine Tasche unter den Arm und hetzte zur Straßenbahn.

Zurück nach Hause?

Dazu war er zu wütend. An der Haltestelle schickte er Bente eine Nachricht, ob er vorbeikommen und seine Schulbücher im Garten verbrennen könnte. Bente antwortete mit einem knappen Ja.

Fein. Jules war nach Scheiterhaufen.

Und nach Küssen. Er presste die Hand auf den Mund. Wie ein Idiot hatte er sich das Wochenende über danach gesehnt. Stattdessen war er von Raoul beleidigt worden.

Die Straßenbahn hielt, Jules stieg ein und warf sich auf einen Einzelplatz.

Ob sein Freund eine Ausnahme machte? Plötzlich war ihm trotz der Wut nach Zärtlichkeit. So sehr, dass es in seiner Brust zog und zerrte. Er hielt es kaum aus, war froh, als er aussteigen musste.

Die Straße hoch, am verrottenden Minigolfplatz vorbei, wo so gut wie nie Familien und Paare einander bespaßten. Die Bahnen hatten längst Moos angesetzt.

Ein Abenteuerspielplatz links, dahinter ein Bolzplatz. Mütter auf Bänken, die sich drollige Geschichten über ihre Blagen erzählten, die kreischend über Balken balancierten und in Seilen hingen.

Früher war seine Mutter auch oft mit ihm hier gewesen.

Jules ballte die Fäuste und die Erinnerungen verkrochen sich.

Endlich stand er vor dem pastellfarbenen Haus mit den zweigeschossigen Appartments.

Die Fensterfassade mit den schmalen Balkonen zeigte zur Straßenseite. Dämlicher Architekt. Vielleicht war es aber auch bloß als Dekoration gedacht und niemand nutze die Chance, draußen zu sitzen. Wer hier wohnte, war ohnehin kaum daheim.

Es war schön gewesen, bei Raoul zwischen Topfpflanzen und Unordnung zu lernen und sich dabei von der Sonne streicheln zu lassen. Seine Wange fühlte sich immer noch heiß an. Wahrscheinlich hatte er einen Sonnenbrand bekommen.

Nein. Er blieb stehen, atmete tief ein und aus. Gar nichts war bei Raoul schön gewesen. Nicht das gemütliche Chaos in der winzigen Wohnung, nicht die coolen Bilder an der Wand. Auch nicht Raouls zarte Berührung.

Ganz dicht vor ihm hatte er gesessen. Wegen des mickrigen Klapptisches war das kaum anders möglich gewesen. Jules hatte die Mischung aus Shampoo, Deo und Eigengeruch permanent in der Nase gehabt. Schwierig, sich trotzdem auf die Texte und Lektionen zu konzentrieren, aber er hatte es geschafft.

Bloß, um dafür als Stricher hingestellt zu werden.

Das seltsame Gefühl in seiner Brust wurde stärker.

Er schloss die Augen, fühlte für einen Moment Raouls Lippen auf seinen.

Das hatte er gewollt. Deshalb war er gekommen. Natürlich hatte sich sein Wunsch nicht erfüllt. Warum sollte er auch?

Seine Wünsche erfüllten sich nie.

Seine Mutter war nicht zurückgekommen, sein Vater war nicht gesund geworden, Daria war nicht gestorben und Bente verschwendete seine Zeit nach wie vor nicht mit dem Austausch von Zärtlichkeiten.

Vielleicht wollte er all das auch gar nicht mehr.

Er klingelte und nach ein paar Sekunden öffnete sich summend die Tür.

Bente sah ihm entgegen »Was ist los?« Seine Stimme klang wie immer nach tödlicher Langeweile. »Lust auf einen Fick?«

Zwischen Jules Handfläche und dem Stahlrohr der Geländerkonstruktion wurde es feucht. Seine Finger klammerten sich darum, wirkten auf einmal zu dünn. Fast wie Spinnenbeine. »Ich will, dass du mich küsst«, hörte er sich sagen. »Wenn du möchtest, kannst du mit dem Schwanz beginnen, aber danach will ich deine Lippen auf meinem Kehlkopf und meinem Mund spüren.« Hatte er jemals zuvor seine Wünsche geäußert?

»Vergiss es.« Bente schlenderte in die Wohnung und schloss die Tür vor Jules’ Nase.

»Arschloch.« Er hätte das Wort brüllen müssen, aber es schlich sich bloß leise aus ihm heraus.

 

~*~

 

Freitag kurz nach Vier. Raoul saß auf dem Balkon, das Gesicht der Sonne zugewandt und fühlte sich trotzdem miserabel. Wenn Juli nicht mehr kam, war es eben so. Das redete er sich ständig ein. Hätte er seine Handynummer besessen, hätte er angerufen und sich entschuldigt. Aber Frau Radebrecht darum bitten?

Sicher gab es Ausreden genug für ihn, Julis Nummer wissen zu wollen.

Überflüssige Gedanken. Es war ohnehin zu spät. Ohne es zu wollen, hatte er Juli gekränkt. Ob er sich in diesem Moment von seinem Freund ficken ließ?

Scheiße!

Raoul raufte sich die Haare. Das einsetzende Kopfkino war die reinste Qual.

Julis Zerbrechlichkeit unter irgendeinem Typen, der sich in ihm den Dreck vom Schwanz stieß?

Mein Gott, was dachte er da? Wahrscheinlich war sein Freund ein düsterer aber netter Kerl.

Ich werde normalerweise nicht geküsst und umarmt. Höchstens gefickt und geblasen.

Hätte Juli das gesagt, wenn er einen netten Freund hätte?

Nette Typen streichelten ihre Lover. Sie küssten und herzten sie, fuhren ihnen durchs Haar, leckten ihnen die Wut vom Ohrläppchen und sehr gern auch von anderen Körperteilen.

Genau das, was Raoul mit Juli machen wollte.

Blöderweise hatte er es versaut.

Besser so, hämmerte er sich in den Schädel. Ein Nachhilfelehrer, der seine Schüler vögelt, gehört zu den absoluten No Go’s

Sachliche Gedanken, ein scheißmieses Gefühl dabei.

Die brennende Sehnsucht des Kusses schmeckte er jetzt noch auf der Zunge.

Fast halb fünf. Okay, Juli hatte die Segel gestrichen.

 

~*~

 

Kurz vor Fünf. Jules’ Augen tränten, so lange hatte er den Zeiger der Esszimmeruhr mit den Blicken verfolgt. Ob es Raoul scherte, dass er nicht kam?

Der erste Juli. Wer nahm schon an seinem siebzehnten Geburtstag Nachhilfe?

Er drehte der Uhr den Rücken zu. Das ständige, minimale Zucken nach vorn machte ihn wahnsinnig.

Es war vorbei. Kein Grund mehr, einen Gedanken an den Kerl zu verschwenden.

Dasselbe galt für Bente.

Er hatte sich nicht mehr gemeldet. Auf die wenigen anderen Freunde hatte Jules keine Lust. Sie taugten lediglich zum Abhängen, aber danach war ihm nicht.

Daria befand sich übers Wochenende auf einem Kongress. Sie hatte ihm sein Geburtstagsgeschenk mit einem knappen Alles Guteauf den Esstisch gelegt und war ins Taxi gestiegen. Bis Montag früh war er sie los.

Jules öffnete den Umschlag. Ein Einkaufsgutschein von fünfzig Euro für einen Klamottenladen, aus dem er noch nicht einmal was klauen würde.

Jules zerknüllte ihn.

So wie es aussah, feierte er heute allein.

Scheißegal. Ihm war eh nicht nach anderen Menschen. Aber ihm war nach Trinken. Vielleicht füllte das das leere Gefühl in ihm. Es ließ ihn keinen Moment in Ruhe, fraß sich immer tiefer in sein Herz. Was sollte er machen, wenn es nie mehr verschwand?

Seine Kehle schnürte sich zu. Scheiße, fühlte er sich räudig.

Die Hausbar war gut bestückt. Daria gönnte sich abends häufiger einen Wodka Martini und hatte auch nichts gegen einen Glenfiddich.

Jules nahm sich ein Glas. »Happy Birthday, Julius Radebrecht. Auf ein bekacktes neues Lebensjahr!«

 

~*~

 

»Und du? Kein Kerl in der engeren Wahl?« Michi lehnte sich über den Tresen und sammelte das Foto seiner Freundin wieder ein, das er Raoul gezeigt hatte. Sie wollten im Herbst heiraten. Ein mutiger Schritt. Raoul bewunderte die Entschlossenheit seines Freundes.

Eigentlich hatte er sich in die Kneipe geflüchtet, um sich den Knoten im Magen wegzutrinken. Nach dem zweiten Mangaroca Cachaça war ihm deutlich geworden, dass es nichts brachte. Juli besetzte seinen Magen, sein Hirn, seinen Unterleib.

Und sein Herz.

»Hörst du mir zu?« Michi stieß ihn an. »Gibt es einen Mister Right?«

Höchstens einen Loverboy, denn mehr als ein Junge war Juli definitiv nicht. Verflucht! Hätte er nicht wenigstens schon achtzehn sein können?

Michi wartete immer noch auf eine Antwort.

»Nein.« Raoul mühte sich ein Lächeln ab. »Ich genieße mein Singledasein.« Wem sollte er ein Dasein in den Favelas zumuten inklusive Onkel Emilio samt maschinengewehrbewaffnetem Anhang? Traf den Alten nicht der Schlag oder eine Kugel, würde er nach wie vor die Finger in Raouls Leben stecken, es lenken, fördern und das aus ihm herausholen, was er meinte, dass es der Complexo brauchte.  Noch zwei Jahre und es war so weit. In Raouls Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Konnte man seine Heimat gleichzeitig fürchten und lieben?

»Verstehe ich nicht.« Michi zwinkerte. »Bei deinem Aussehen müssten die Kerle ...«

»Nein, sie stehen nicht Schlange.« Bauingenieurwesen schien kein Sammelbecken für Schwule zu sein, und wenn er auf Feten oder in der Disco doch das ein oder andere Angebot bekam, blieb es meist bei einer Nacht. »Die große Liebe hat bis jetzt klugerweise einen Bogen um mich geschlagen.«

Plötzlich sah er Juli vor sich. Wie er schwer atmend auf dem Bett lag, den Schwanz in der Faust und hilflose Wut im Blick.

Die Rippen, die durch die Haut stachen, die weit vorstehenden Hüftknochen. Das bildhübsche Gesicht unter rabenschwarzen Haaren, der breite Kajalstrich, der die blauen Augen zum Glühen brachte.

Raoul hatte es sich mit ihm verscherzt. Trotzdem würde er morgen bei Frau Radebrecht anrufen und um Julis Nummer bitten.

»Ich muss los.« Das Reden und Lachen der anderen Gäste ging ihm plötzlich auf die Nerven.

Er zahlte und wünschte Michi alles Gute.

Sein Weg nach Hause führte an schnatternden Menschen vorbei, die vor den Bars und Bistros saßen und die Nacht genossen. Alles war ihm heute zu laut.

Auf den Ehrenkodex scheißen, sich auf Juli stürzen und dem süßen Hungerhaken das geben, was er haben wollte – einen zärtlichen Fick mit tausend Küssen. Sie könnten ihre Beziehung, so es denn eine werden würde, geheim halten.

Vielleicht würde Juli sogar später, wenn er die Schule hinter sich hatte, mit Raoul nach Rio durchbrennen.

Um sich von Onkel Emilio kastrieren zu lassen.

Romantische Vorstellung.

»Porra!«

 

~*~

 

Ein bisschen spät. Juli suchte sein Handy, fand nur eine zerknüllte Zigarette in seiner Hosentasche.

Eine Stunde? Oder zwei? Wann sollte er zur Nachhilfe kommen? Seine Gedanken schleppten sich auseinandergerissen im Hirn herum. Draußen war es dunkel. Warum eigentlich?

Irgendwann fiel es ihm ein. Es war Freitag. Er musste zu Raoul! Er hatte sich seine Tasche geschnappt und war zur Straßenbahn gerannt – mit seltsamen Puddingbeinen. Klar, er hatte zu viel getrunken. Hoffentlich bemerkte es Raoul nicht. Bevor Jules gegangen war, hatte er sich noch ein Kaugummi eingeworfen.

War es das richtige Haus? Er stützte sich an die Wand, versuchte die verschwommene Schrift auf den Klingelschildern zu lesen. Ein ganz langer, komischer Nachname musste es sein.

Vielleicht war es besser, er ging einfach hoch und klopfte.

Er zog die Haustür auf, stolperte ins Treppenhaus.

Ihm war schwummerig und ein kleiner widerwärtiger Gedanke störte ihn. Er flüsterte ständig, dass Raoul ein Arsch war und er nicht hierher hätte kommen sollen.

Da war noch mehr. Der Grund, warum er besoffen war.

Sein Geburtstag.

Ob Raoul ein bisschen mit ihm feiern würde, bevor es ans Lernen ging?

Verdammt, war die Treppe steil. Und endlos. Dabei war er doch schon ganz weit oben. Wenn ihm bloß nicht so schwindelig wäre.

»Juli?«

Aha. Das war Raoul.

Hinter ihm.

Okay. Er musste zurück.

Wo, verdammt, waren die Stufen? Alles verschwamm vor seinen Augen.

Ein Tritt ins Leere.

Fallen.

Scheiße!

Schläge gegen Kopf und Rücken, was Dunkles, das auf ihn zuraste. Dröhnen bis in den Schädel.

Fliesen vor sich. Viel zu nah.

Er starrte auf seine Hände, die sich dagegenstützen. Seine Federtasche lag auf dem Boden. Auch die Hefte.

Scheiße, er hatte garantiert jede einzelne Stufe geküsst.

»Juli!« Raoul kniete sich zu ihm. »Junge, was machst du für Sachen?«

Das mit dem Antworten funktionierte nicht. Sein Mund fühlte sich komisch an. Außerdem huschten seine Gedanken weg. Schlimmer als vorhin.

Raoul hob vorsichtig sein Kinn an. »Da wachsen dir gerade zwei Ballonlippen. Sind noch alle Zähne drin?«

Jules fuhr mit der Zunge über seine Schneidezähne. Es tat ein bisschen weh, doch Lücken fand er keine.

»Komm.« Ein Arm schlang sich um ihn. »Ich sehe mir den Schaden oben an. Kannst du stehen?«

Auch das ging. Sein linkes Fußgelenk stach, aber er konnte auftreten. Jules fühlte sich wie seine Lippen. Wie mit Luft aufgepumpt. Kurz vorm Schweben.

»Halte dich am Geländer fest.« Raoul lehnte ihn dagegen. »Ich sammele deine Sachen auf.«

Nur Sekunden und er stand mit der Tasche über der Schulter wieder neben ihm. Erneut legte er den Arm um Jules Taille.

So ein wahnsinnig gutes Gefühl, obwohl es ihm eigentlich dreckig ging. »Du bist ein Arschloch«, nuschelte er durch die Autoreifen vor seinem Mund.

»Findest du?« Ein winziges Zwinkern. Viele kleine Falten um das Auge, die sofort verschwanden. »Dann wird es wohl so sein.«

»Ich lasse mich nicht ständig ficken.« Oft, aber nicht nur!Und jetzt sowie so nicht mehr.

»Und selbst wenn.« Raoul half ihm die letzten Stufen hinauf. Er stemmte mit der Hüfte die Tür auf, trat sie hinter ihnen wieder zu. »Es geht mich überhaupt nichts an, was du tust oder lässt.« Er schnappte sich eine Packung Papiertaschentücher von der Spiegelablage, schüttelte eines hinaus und tupfte an Jules’ Nase herum. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken.« Seufzend legte ihm Raoul die Hand auf die Schulter und führte ihn in ein fensterloses Bad. Sanft drückte er ihn aufs Klo und befeuchtete ein Handtuch. »Ich habe dich heute Nachmittag vermisst.«

Schön, wie sich plötzlich Kühle an Jules’ heißes Gesicht schmiegte. »Ich habe Geburtstag«, erzählte er ins Frotteehandtuch. »War niemand zum Feiern da. Und da dachte ich ...«

»Scheiße.«

»Genau.«

 

~*~

 

Der erste Juli. Raoul hatte es komplett vergessen. »Es tut mir leid.« Heute war der Tag der Dauerentschuldigungen.

»Dass ich Geburtstag habe?« Juli blinzelte verwirrt über den Rand des Handtuchs. »Muss es nicht. Kannst ja nichts dazu.«

Raoul tupfte dem Jungen das Blut ab, das erneut aus seiner Nase lief. Ein gruseliger Anblick, wie er die Treppe hinuntergerollt war. Zum Glück hatte er sich anscheinend nichts gebrochen. Sogar die Nase saß noch an der richtigen Stelle. Auch wenn sie ein bisschen dick wurde – passend zu den Lippen.

Raoul befeuchtete das Tuch zum zweiten Mal. Juli seufzte, als sein Gesicht darin verschwand.

»Warum bist du erst jetzt gekommen?«

»Hab’ verschlafen«, drang es dumpf aus dem Frottee. »Oder es vergessen. Ich weiß nicht mehr.«

Er war betrunken. So viel stand fest. Die Alkoholfahne, die ihn umwehte, sprach Bände.

Juli schälte sich in die Freiheit. »Kann ich duschen? Ich fühle mich eklig.«

»Sollten wir nicht lernen?« Okay, war ein Scherz.

Juli begriff ihn offenbar nicht, denn er sah ihn verwirrt an. »Eigentlich wollte ich mich von dir küssen lassen.« Sein Blick wanderte zu Raouls Mund, »Aber du bist ein Arschloch.« Sacht tippte er mit dem Zeigefinger gegen Raouls Unterlippe. »Doch küssen tust du echt gut.«

Raoul zog es im Herz. Der Junge war zuckersüß. Dass sein Gesicht beulig war und sein Atem nach einer Mischung aus Pfefferminze und Whisky roch, war völlig egal.

»Macht es dir was aus, mich mal schnell zu vögeln?« Tatsächlich schwang Hoffnung in der lallenden Stimme. »Irgendwie war der Tag räudig zu mir und ich brauche dringend was Schönes.« Er neigte sich zu ihm, rutschte dabei vom Klo.

Raoul fing ihn auf. Wie dünn und zerbrechlich sich Juli in seinem Arm anfühlte.

»Bitte im Bett«, nuschelte es an seinem Hals. »Im Stehen kriege ich es nicht mehr hin.«

»Ach Juli.« Raoul schlang die Arme um ihn, half ihm behutsam auf die Beine. »Du bist betrunken. Was wäre ich für ein Mann, wenn ich das ausnutzen würde?« Für einen Moment steckte er seine Nase ins schwarze Haar. Von seinem Bauch aus breitete sich Wärme in ihm aus.

»Angenommen, ich wäre nüchtern.« Juli bemühte sich, Raouls Blick zu begegnen. »Würdest du es dann?«

»Ja.« Gott, was hatte er gesagt?

»Ehrlich?«

Es war so niedlich, wie Julis rot geäderten Augen leuchteten. Raoul nickte. Die Wahrheit war die Wahrheit.

»Dann koch mir einen ganz starken Kaffee und wir legen los.« Mit unsicheren Fingern nestelte er an seinem Hosenknopf.

Raoul hielt ihm die Hand fest. »Eine gute, aber eine falsche Idee.«

Seit er den Jungen das erste Mal gesehen hatte, wollte er ihn. Nicht nur das. Auch mehr. Ihn halten, den Rücken streicheln, fragen, warum er so grässliche Musik hörte und wieso er so dünn und trotzdem so wahnsinnig sexy war.

Jede einzelne Rippe wollte er küssen und ausgiebig die vorwitzigen Schlüsselbeine lecken.

Er führte ihn ins Arbeitszimmer zur Couch, half ihm dabei, sich bequem hinzulegen. Es war schön, ihm über die Wange zu streichen. Und es war noch schöner, Julis behaglichem Brummen zu lauschen.

»Aber morgen, ja?« Juli angelte nach Raouls Hosenbein und zupfte daran. »Morgen vögelst du mich. Versprochen?«

»Können wir erst mal mit einem Kuss beginnen?«

»Klar.« Ein bezauberndes Lächeln umspielte Julis Mund, dann verschwand es. »Schlimm, wenn ich einschlafe?« Er schloss die Augen, sein Atem ging langsamer.

Raoul holte seine Bettdecke aus dem Schlafzimmer und deckte den Jungen zu.

Julis Haut wirkte bleicher als sonst. Sicher lag es an den Schatten unter den Augen. Er fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen der Wangenknochen und Schläfen nach. Auch über die Brauen strich er. Wie enttäuschend musste der Tag für ihn gewesen sein.

»Ich mach es wieder gut.« Irgendwie.

Das Irgendwiedefinierte sich über berauschenden Sex mit einem Siebzehnjährigen.

Dreck noch mal.

Wo steckten konstruktive Ideen, wenn man sie brauchte?

Egal. Aus jeder Zwickmühle gab es einen Ausweg, und wenn er dazu das Spielbrett zertrümmern musste.

Vorsichtig kletterte Raoul über Juli hinweg und kuschelte sich zwischen Sofalehne und den schmalen Körper.

Juli drehte sich zu ihm, schnüffelte mit einem behaglichen Seufzen an Raouls Hals. Gott, wie sehr er den Jungen begehrte.

»Juli?«

»Hm?«

»Würdest du wirklich gerne nach Rio?«

»Klar.« Feuchte Lippen benetzten Raouls Kehlkopf. »Wenn du mitkommst?«

»Lässt sich einrichten.«

»Kein Scheiß?«

»Kein Scheiß.«

»Krass.« Dünne Finger legten sich in Raouls Nacken, spielten mit ein paar losgelösten Haarsträhnen. »Ich kann echt gut Französisch«, murmelte er mit bleischwerer Zunge. »Zeig ich dir morgen, ja?«

»Ich freue mich drauf.« Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr.

Impressum

Cover: S.B. Sasori
Lektorat: Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2019

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