Er war wieder da.
Jaro legte den Kopf in den Nacken, genoss die kalten Regentropfen, die ihm übers Gesicht rannen.
Der Junge mit den Sehnsuchtsaugen war heimgekehrt. Zu ihm.
Jaro ballte die Fäuste, schrie den Namen in die Nacht.
Er hasste den Klang, weil er für Einsamkeit stand.
Und er liebte ihn. So sehr, dass sein Herz bei jedem Schlag wund wurde.
Noch einmal holte er Luft. Sein Schrei ließ den Boden erbeben und die Wolken am Himmel schneller ziehen.
Mattis musste ihn hören. Das war er ihm schuldig. Vielleicht konnte er die Stimme nicht zuordnen, dennoch würde sie ihn zum Erlenbruch locken. Wie damals.
Wie viele Jahre waren vergangen? Die Trauer hatte sie zu einer klebrigen Masse werden lassen, die sich eng um Jaros Herz gewickelt, es mehr und mehr erstickt hatte.
Er riss sie sich vom Leib. Mit jedem neuen Schrei.
Er war da.
Vorbei, die dunkle Zeit endloser Einsamkeit und grenzenlosem Zorn auf ein Kind, das ihm den Rücken gekehrt hatte, bevor er auch nur die Chance bekommen hatte, seine Freundschaft anzubieten. In der Hinterhand hatte längst mehr gelauert. Begehren, Liebe zu dem Mann, der er einst sein würde.
Doch nun war Mattis zurück. Die Eulen hatten es ihm zugetragen, waren immer wieder durch die spröden Äste geflogen, nicht ahnend, dass sie zu den wenigen Wesen gehörten, die mühelos die Grenzen des Erlenbruchs durchdringen konnten.
Wanderer zwischen den Welten.
Jaro beneidete sie brennend. Er selbst musste sich jedes Durchqueren der Grenze hart erkämpfen.
Die Eulen suchten für ihn die Welt der Menschen nach dem einen ab, den er unendlich vermisste. Jahr um Jahr, Tag für Tag. Stets war ihre Botschaft dieselbe gewesen. Mattis war und blieb verschwunden. Bis zu dieser Nacht.
Es würde dauern, bis er seinen Ruf hörte und ihm wirklich vertraute. Damals hatte er es getan. Würde er es nun wieder? Oder hing er in den Knoten der schnellen Welt wie ein Fisch im Netz? Unfähig, sich zu befreien?
Nein, Mattis war anders als der Rest der Menschen. Wo andere alles in Lärm und Hektik erstickten, hörte er zu und schwieg.
Der Wind würde Jaros Ruf zu ihm tragen. Mattis musste ihn erkennen, ihm folgen.
Jaro riss sich die Krone vom Kopf. Wie sehr er sie verachtete. Nichts weiter als eine Fessel, die ihn an ein schwindendes Reich zwischen Sumpf und Nebel band.
Die Zweige waren längst trocken. Sie brachen unter seinen Fingern. In seinen Haaren hatten sich welke Blätter verfangen. Er schüttelte sie hinaus, beobachtete ihren Tanz.
Auf einer Pfütze kamen sie zur Ruhe.
Jaro kniete sich davor und hauchte darüber. Eine dünne Eisschicht bildete sich auf dem Wasser. Das matte Schimmern verschwand und sein Spiegelbild sah ihm entgegen. In den dunklen Haaren hingen immer noch einzelne der winzigen, schwarzen Erlenzapfen. Sein Reich ließ ihn nicht los. Klebte wie eine Klette an ihm. Freiwillig gestattete es ihm lediglich einen sehnsuchtsvollen Blick nach draußen. Mehr nicht.
Die Einsamkeit erdrückte ihn. Auch seine Töchter vermochten es nicht, diesen Zustand zu ändern. Sie lockten sich Spielzeuge in den Erlenbruch, genossen sie eine Weile, und wenn es ihnen langweilig wurde, entließen sie die armen Seelen in den Nebel.
Ein stolzer Preis für ein paar Jahre zwischen flirrender Glückseligkeit und grausam eingeforderter Lusterfüllung.
Seine Töchter waren jung, ungestüm. Sie würden aus ihren Fehlern lernen, irgendwann.
Solange sie ihren Willen nicht nach Mattis ausstreckten, mischte er sich nicht in ihre Angelegenheiten.
Jaro schrieb mit dem Finger den Namen aufs Eis.
Früher hatte er Mattis’ Träume belauscht und ihn während seines hektischen Lebens beobachtet.
Da draußen ging alles zu schnell.
Schritte, Autos, Räder, Maschinen.
»Ich kann dir Langsamkeit schenken«, hauchte er über die Eisfläche. »Und Ewigkeit.«
Dazu musste er zu ihm kommen. Tat er es nicht freiwillig, würde er ihn holen.
Es lag weit zurück, als er sich das letzte Mal aus dem Bruchwald gekämpft hatte. Die Bäume hatten ihm die Magie zusammen mit Haut und Haar vom Körper gerissen und ihn schließlich wund und elend in die Welt außerhalb stolpern lassen.
Jahrelang hatte er sich dort umgesehen, die Menschen genossen, ihr Leid und ihre Freuden geteilt und Hana gefunden.
Flachsblondes Haar, ein Leib, biegsam wie das Schilf im Wind. Sie hatte ihm ihr Herz geschenkt und er ihr zwei Töchter.
Als die Mädchen alt genug waren, holte er sie zu sich in sein störrisches Reich, und brach damit Hanas Herz.
Vielleicht hatte sein Lied sie im Tod getröstet, vielleicht auch nicht. Der Fluch auf ihren Lippen war derb gewesen.
Er hatte ihn verdient.
Lange Zeit hatte er sich jede Leidenschaft versagt.
Bis sein Blick auf Mattis gefallen war.
»Wenn du nicht kommst, hole ich dich.«
Jaro ballte ein Faust, zerschlug die kalte Schicht.
»Du gehörst mir.«
~*~
»Ich liebe dich.« Die Stimme wisperte leiser als das Rascheln der Blätter. »Mich reizt deine schöne Gestalt.«
Mattis konzentrierte sich darauf, als hinge sein Leben davon ab. Ihm durfte keines der Worte entgehen. Sie waren ein Versprechen. Nein, wohl eher eine Drohung. Er fürchtete sie. Er wäre verrückt, es nicht zu tun. Schon viele Male hatte er dem körperlosen Flüstern gelauscht. In seinen Träumen, im Fieber, als er noch ein Kind gewesen war. Dann waren sein Vater und er nach Berlin gezogen und die Stimme war verstummt.
In Berlin klang sogar das Rauschen der Bäume anders als hier.
Vor vier Wochen hatte es begonnen. Kaum, dass er in das alte Haus zurückgekehrt war. Am deutlichsten hörte er das Flüstern kurz vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen, wenn er noch nicht wirklich klar im Kopf war. Wie damals.
Nein. Gar nicht wie damals. Es klang verzweifelter, drängender. Jagte ihm eine brennende Sehnsucht in den Körper, die nicht nur sein Herz, sondern auch seinen Unterleib quälte. Gierig kroch sie durch ihn hindurch, fraß ihn leer. Bis auf seinen Schwanz. Den stopfte sie mit Lust dermaßen voll, dass sie ihm aus der Spitze tropfte.
Ob er sich dafür schämte oder es bleiben ließ, das änderte nichts an Tatsachen. Deshalb steckte er in diesem Traum. Um den Ursprung der Sehnsucht zu finden. Wenn ihn dieses unerträgliche Gefühl nicht endlich in Ruhe ließ, würde er verrückt werden.
Kein Gesicht. Kein Körper. Nur diese Stimme, die ihn lockte und langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb.
Er lauschte in die Dunkelheit.
Der Wind strich durch die Blätter der Bäume, streichelte seine erhitzten Wangen und trug die leisen Worte an sein Ohr.
»Und bist du nicht willig ...«
Mattis hielt den Atem an.
»... so brauch ich ...«
Er wusste, was nun kam. Er sollte sich fürchten, zu fliehen versuchen. Doch alles, was er fertigbrachte, war, nur noch intensiver in die Nacht zu lauschen.
»... Gewalt.«
Der Wind wurde zu einem Sturm, bog Äste, bis sie brachen. Kalter Regen peitschte Mattis entgegen. Sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Er musste den Ursprung der wispernden Stimme erreichen. Endlich, nach so vielen Jahren, musste er dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ihn fragen, weshalb er ihn immer wieder rief, warum er so sehnsüchtig klang.
Er kämpfte sich tiefer in den Wald. Seine Füße versanken im Morast, Zweige schlugen nach ihm. Als wollten die Bäume verhindern, dass er sein Ziel erreichte.
Das Flüstern wurde vom Rauschen der Blätter verschlungen.
Wohin sollte er sich wenden?
»Rede mit mir! Sag mir, was du von mir willst, verdammt!« Und halte mich nicht zum Narren.
Das Tosen um ihn nahm zu.
Mattis stemmte sich gegen den Wind. Warum wurde er zwischen den vielen Stämmen nicht gebrochen? Wie konnte es sein, dass er mit dieser Macht mitten im Wald wehte?
»Hör nicht auf!« Wenn die Stimme schwieg, konnte er ihr nicht folgen. »Wo bist du?«
Über ihm knackten Zweige.
Eine Eule schrie auf, schwang sich aus dem Dickicht. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit.
Sie umkreiste ihn einmal, zweimal, dreimal. Ihre Flügelspitzen streiften Mattis’ nackte, vollkommen zerkratze Schultern.
»Sag ihm, dass ich auf ihn warte«, rief er dem Vogel zu. »Sag ihm, dass ich keine Angst mehr habe!« Was für eine Lüge.
Die Eule warf sich in den Sturm, ließ sich von ihm in die Höhe tragen. Wie ein Schatten glitt sie über den wolkenverhangenen Himmel.
Mattis kniete sich in die Nässe, vergrub die Hände im aufgeweichten Boden. »Ich bin zurück.«
Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.
»Du kannst mich haben.«
Ein penetrantes Piepen ließ ihn zusammenfahren.
Kein Wald, kein Sturm. Nur sein Schlafzimmer und das Gefühl, als ob sein Herz aus der Brust gezogen würde.
Mattis wischte sich über die Augen. Tränen. Verdammt, war er ein Kind?
Nein. Längst nicht mehr. Die Zeiten, in denen er Tag für Tag allein gewesen war, waren vorbei. Keine Fieberträume, keine Gesichter in den Bäumen, kein Vater, der auf den Autobahnen Deutschlands Möbel hin- und herfuhr und erst abends nach Hause kam.
Mattis stand auf, trat vor den Schlafzimmerspiegel. Der ständig kranke, blasse Junge war verschwunden und hatte einem Mann das Feld überlassen, der zwar sehr schlank, jedoch keinesfalls schwächlich wirkte.
Das hatte er seinem Vater zu verdanken.
Eines Tages hatte er ihm erklärt, dass Berlin besser für ihn wäre. Wegen der Schulen und der beruflichen Möglichkeiten. Außerdem hätte er dort eine Frau kennengelernt. Sehr nett, Mattis würde sie mögen.
Sandra war nett gewesen. Berlin weniger. Zu viele fremde Kinder, die komplett anders tickten als er. Nach dem zweiten blauen Auge hatte ihn sein Vater gepackt und in einen Ruderverein gesteckt.
Muskeln verschaffen Respekt, hatte er gemeint. Und Ausdauer könnte auch nichts schaden, wenn er doch einmal wegrennen musste.
Bis heute wusste Mattis nicht, wie sein Vater den Trainer überredet hatte, dem schmächtigen Jungen eine Chance zu geben, aber die Rechnung war aufgegangen.
Nach und nach war er stärker geworden und die Krankheiten waren verschwunden. Nur die Sehnsucht nach der Stimme in den Bäumen nicht.
Und nun rief sie ihn erneut.
Mattis versuchte, über das beklemmende Gefühl in ihm hinwegzulächeln. Lediglich ein Verziehen der Lippen gelang ihm.
Es lag an der Ballade. Er hätte sich nicht bis tief in die Nacht damit beschäftigen sollen. Seit er sie zum ersten Mal während seiner eigenen Schulzeit gelesen hatte, löste sie seltsame Empfindungen in ihm aus. Ein Ziehen hinter dem Brustbein, das Gefühl eines herben Verlustes gepaart mit einer unerklärlichen, alles verzehrenden Sehnsucht.
Mattis fuhr sich durchs Haar.
Der Erlkönig. Scheiße. Ab heute würde ihn die 9c hassen. Er unterrichtete die Klasse erst seit dem Ende der Sommerferien, doch die Mädchen aus seiner Klasse schwärmten bereits für ihn.
Zwar interessierte er sich nicht für Frauen, aber die Herzchen in den geschminkten Augen schmeichelten seinem Ego.
Sein erster Job als Lehrer und direkt nach dem Examen. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er mit Abstand der Jüngste im Kollegium, was seine Schüler honorierten.
Das würde sich jetzt ändern.
Tschüss, Lieblingslehrer-Status. Warum hatte er sich nicht für den Zauberlehrling entschieden?
Weil er wollte, dass seine Schüler ebenfalls eine Gänsehaut bekamen? Die Sehnsucht hinter den Lockungen und Drohungen erkannten?
Einen Dreck würden die. Er hörte bereits ihr empörtes Aufjaulen.
Zu spät. Er war vorbereitet und Balladen standen auf dem Lehrplan.
Mattis tappte ins Badezimmer. Eisige Kälte empfing ihn. Verdammt, er hatte vergessen, das Fenster zu schließen. Eine Efeuranke winkte in den schlauchschmalen Raum, dessen Siebziger-Jahre-Charme ihm jedes Mal neue Überwindung kostete. Irgendwann musste er das Haus von Grund auf renovieren lassen, sonst sah es bald so aus wie die Bruchbude nebenan. Die Efeuranke stammte von ihr. Das ganze Gebäude war mit dem Grünzeug überzogen. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der dort jemand gelebt hätte. Sein Vater hatte damals schon bei der Stadt vorgesprochen, weil er das abgerissen sehen wollte. Er hatte Angst, die Ratten würden sich bis in den eigenen Keller ausbreiten. Was sie mittlerweile wahrscheinlich längst getan hatten.
Es half nichts, Mattis musste etwas unternehmen. Bisher fehlte ihm dafür allerdings das nötige Kleingeld.
Der Efeu winkte immer noch. Wurde Zeit, dass er endlich das Fenster schloss.
Etwas Dunkles zitterte vor seiner Nase. Mattis ging einen Schritt zurück. Acht Beine, geschätzter Durchmesser: Handteller Größe. Das Vieh hatte sich in der Nacht ein Netz zwischen Waschbeckenrand und Spiegelablage gesponnen. Sehr akkurat, alle Achtung. Trotzdem schüttelte ihn eine Gänsehaut.
»War dir draußen zu kalt?« Hoffentlich reichte der Zahnputzbecher als Lebendfalle. Könnte knapp werden. »Tut mir leid, aber du bist als Untermieter inakzeptabel.«
Auf der Kommode im Flur lag die Urlaubskarte von Scott. Seit zwei Jahren waren sie nicht mehr zusammen, aber Scott schrieb ihm aus Frankreich, aus London, zum Geburtstag, zu Weihnachten. Warum auch immer. Selbst hierher waren ihm die Grüße gefolgt. Vielleicht war der Nachsendeauftrag keine gute Idee gewesen.
Die Trennung war sauber und fair vonstattengegangen. Grund: eingeschlichene Langeweile und nervtötendes Ausdebattieren auch des kleinsten Problems. Ohne Aussicht auf erneutes Schmetterlingsflügelflattern im Magen oder sonst wo. Scott hatte seine Sehnsucht nie stillen können und Mattis seine wahrscheinlich auch nicht. Immerhin hatten sie es versucht.
Mattis hatte sich schon im Job die Lippen fransig fusseln müssen. Zu Hause war ihm nach Schweigen, Fühlen, aufs Bett gedrängt und in den Himmel gevögelt werden. Einfach so, ohne vorherige Diskussion, Rechtfertigung oder sonst was. Täglich den Beziehungsstatus zu analysieren war ihm zuwider.
Außerdem hatte ihn Scotts eher hohes Timbre irritiert.
Eine Stimme musste tief und volltönend klingen. Selbst dann, wenn sie flüsterte. Sie musste sich unter die Haut schleichen, Schauder auslösen und den Wunsch wecken, sich bedingungslos hinzugeben.
Wie die Stimme in seinen Träumen.
Mattis versuchte, sich den dazu passenden Mann vorzustellen.
Es gelang ihm nicht.
Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken: Seit Kindesbeinen an schwärmte er für eine körperlose Stimme. Scheiterten deshalb seine Beziehungen oder kamen gar nicht erst zustande? Weil alle Kandidaten der engeren Wahl nicht mit einem Traumgespinst mithalten konnten?
Scheiße, Junge. Du bist total vermurkst.
Wie dem auch sei, Scotts Karte würde eine neue Aufgabe bekommen.
Vorsichtig näherte er sich der Spinne von beiden Seiten. Vorne der Zahnputzbecher, hinten der Urlaubsgruß. Ging die Rettungsaktion schief und das Vieh seilte sich plötzlich ab, um in rasender Geschwindigkeit auf seine nackten, mittlerweile eisigen Füße zuzukrabbeln, hatte er Pech gehabt.
Mattis kämpfte gegen das Gefühl an, ein Schwapp kaltes Wasser würde ihm ins Genick geschüttet. Wieso hatte er trotz beginnender Nachtfröste das Fenster aufstehen lassen? Es war Oktober, verdammt!
Auf drei: Eins, zwei ... und los. Ein haariges Beinchen zuckte zu den anderen unter den Rand.
Mattis stieß die Luft aus, die er angehalten hatte. »Alles klar da drin?« Das Alleinwohnen bekam ihm offenbar doch nicht so gut, wenn er nach nur vier Wochen schon mit vieläugigen Gliederfüßern sprach.
Das leise Tappen im Innern des Bechers stellte ihm sämtliche Härchen auf. Mit Schwung schleuderte er seinen Ex-Besucher ins Freie. »Guten Flug und brich dir nichts.« Extremitäten besaß der Krabbler genug. Hoffentlich blieben sie heil.
Wind fuhr ihm ins Haar. Am Himmel fegten graue Wolken, versprachen einen düsteren Herbsttag.
Fantastisch, das stopfte seine Laune zwei Etagen tiefer Richtung Keller.
Die Efeuranke strich ihm über die Wange, ihre Blätter raschelten.
Wie flüstern.
Leise, eindringlich.
~*~
Mattis lehnte sich weiter aus dem Fenster. Die Kälte zauberte auf die sehnigen Unterarme eine Gänsehaut.
Jaro biss die Zähne zusammen, um ein Seufzen zurückzuhalten.
Wie es sich wohl anfühlte, wenn er mit der Nase dicht über die Haut strich? Die aufgestellten Härchen würden ihn kitzeln und ihm ihren Duft schenken.
Er atmete tief ein, ahnte eine männlich herbe Note mit einem Hauch Apfel. Er entströmte den hellbraunen Strähnen, die Mattis bis zum Kinn fielen. Es war kantiger als damals und die Stoppeln standen ihm gut.
Aus dem betörend schönen Knaben war endlich ein Mann geworden.
Sein Herz pochte beim Anblick des vorspringenden Kehlkopfes.
Jaro leckte sich die Lippen. Seine Zunge erkannte den Betrug sofort, sehnte sich nur noch stärker an die zarte Haut von Mattis’ Hals.
Welche Laute würden seine Liebkosungen entlocken? Seufzte Mattis leise, wenn aufbegehrende Lust in seinen Lenden brannte? Oder stöhnte er sie aus sich heraus, um den Druck erträglicher zu machen? Würde er ihm in die Haare greifen? Sich daran festhalten? Die langen Strähnen um seine Faust schlingen?
Jaro schluckte das Zuviel an Nässe aus seinem Mund.
Der Junge hatte lediglich sein Herz berührt. Mit seiner Fragilität, seiner Hilfsbedürftigkeit, hatte er den tiefen Wunsch in ihm geweckt, ihn beschützen, halten zu wollen. Ihm die schweißnassen Haare aus der Stirn zu streichen, die glühenden Wangen zu kühlen und den Tag zu ersehen, an dem er nicht nur sie küssen durfte.
Der Mann vor ihm jedoch weckte Gefühle, die weit sinnlicherer Natur waren. Mattis war stark geworden. Würde sich eventuell wehren, statt sich ihm willenlos hinzugeben.
Jaro freute sich auf den Kampf. Am Ende würde er Mattis auf reifbedecktes Gras werfen, ihm die Arme über den Kopf biegen und die begehrte Kehle mit Küssen und Bissen überziehen.
Ein Knurren entrang sich ihm. Ob es Mattis hörte?
Er runzelte die Stirn, blickte sich um.
Erstaunlich, in dem Haselnussbraun seiner Augen lag derselbe Ausdruck, den er bei ihm bereits als Kind wahrgenommen hatte. Eine verträumte Sehnsucht, zögernde Neugierde und der Wunsch, bis tief in die Seele berührt zu werden.
Schon damals hatte Mattis seinen Geschichten gelauscht, seinen Versprechungen vertraut. Doch immer, wenn er dabei gewesen war, einen Fuß in das Reich der Erlen zu setzen, war sein Vater mit Fiebermitteln und Wadenwickeln gekommen, und hatte ihm Mattis entrissen.
Der Mann war zusammen mit Mattis eines Tages verschwunden.
Mattis war allein zurückgekehrt.
Ein Lächeln zuckte um Jaros Lippen.
Allein. Und der Herbst zog durchs Land. Mit rauen Winden, kalten Nächten und Regenschauern.
Mattis würde sich unter einen warmen Körper sehnen, der ihm Glut in die Lenden rieb.
»Ich liebe dich.« Jaro vertraute die kostbaren Worte den raschelnden Blättern an. »Mich reizt deine schöne Gestalt.« Sie würden sie bis zu Mattis tragen.
»Und bist du nicht willig ...«
~*~
Scheiße! Erst einen Monat im Job und überarbeitet? Unsinn. Bis auf die seltsame Stimme, die er sich garantiert einbildete, war er topfit. Wahrscheinlich fehlte ihm lediglich Schlaf.
Mattis schloss das Fenster und schaltete das Heißluftgebläse an. Die alte Heizung war mit der Kälte des Badezimmers überfordert.
Er musste sich beeilen, sonst kam er zu spät. Bis zum Gymnasium waren es gute zwanzig Minuten Fahrzeit und nur dann, wenn er die lächerliche Geschwindigkeitsbegrenzung konsequent ignorierte. Wozu hundert fahren, wenn die Landstraße bis auf wenige Ausnahmen schnurgeradeaus führte?
Shorts und Shirt landeten auf den Fliesen. Speedduschen. Hätte er bloß den Wecker auf ein paar Minuten früher eingestellt.
Er seifte sich ein, wusch sich die Haare.
Seltsam. Ihm saß ein beklemmendes Gefühl im Nacken. Und hatte er nicht eben etwas gehört? Kein Wispern, eher ein ... Seufzen. Unsinn. Dazu rauschte das Wasser zu laut. Und wer sollte seufzen? Bis auf ihn war die Wohnung leer.
Mattis spülte sich Duschgel und Shampoo vom Körper. Der Apfelduft roch lecker.
Er schaltete das Wasser ab, angelte nach dem Handtuch.
Da! Wieder dieses Geräusch und dieses Mal rauschte gar nichts.
Leise schlich er zur Tür, öffnete sie einen Spalt.
Einbrecher? Am frühen Morgen? Dämlicher ging es kaum.
»Hallo? Ist da wer?« Ebenfalls dämlich. Wer sich verbotenerweise hier aufhielt, würde auf diese Frage garantiert nicht antworten.
Stille. Bis auf das Zerplatzen der Tropfen auf der Diele.
Mattis schauderte. Verdammt, war ihm kalt. Zurück ins Bad und ins Handtuch einwickeln. So schnell wie möglich rubbelte er sich trocken und wrang seine Haare aus.
Auf Rasieren musste er verzichten, Zähneputzen und Föhnen funktionierte im Schnelldurchlauf.
Jeans von gestern? Noch okay.
Rollkragenpullover? Auch.
Shirt? Auf keinen Fall.
Er warf sich in die Kleidung, brühte nebenbei einen Kaffee auf. Er würde ihn mitnehmen. Coffee-To-Go-Becher als Werbegeschenke waren eine super Idee.
Schlüssel, Tasche, Balladensammlung plus Kopien und ab!
Scheiße, was würde er aufs Gas treten müssen.
~*~
Wie das Wasser über die muskulöse Brust geronnen war. Es hatte Spuren hinterlassen. Auf dem Bauch, auf den Lenden, um sich in dunklen Härchen zu verfangen und wie Tau im Moos zu glitzern.
Keine Frage. Mattis war ein Mann geworden. Der Anblick seiner Männlichkeit war Jaro in den Unterleib gefahren.
Sich vor ihn knien, die Nässe aus dem gestutzten Pelz lecken und dabei tief jenen herben Duft inhalieren, den er vorhin bereits wahrgenommen hatte. Den bildschönen Schwanz mit seinen Fingern umschließen, ihn reiben, bis er pochte und seine ganz eigenen Tropfen entließ.
Jaro stöhnte auf, ließ sich zurück auf die Hacken sinken.
Das Fenster zur Menschenwelt schloss sich raschelnd. Am liebsten würde er den Zweigen mit einer Axt zu Leibe rücken, fliehen und Mattis hinterherhetzen. Keine Erklärungen, dazu war sein eigener Schwanz zu prall. Ihn an den Schultern packen, an die nächstbeste Wand drücken und den köstlichen Mund verschlingen, bis Mattis atemlos und zitternd vor Lust um mehr flehte.
Jaro fuhr sich mit der Hand unters Leinenhemd. Wie wäre es, wenn nicht seine Finger ihn streichelten, sondern Mattis’?
Ihm fest in die muskulöse Brust griffen, die Achseln erforschten, sacht bis hinab zum Nabel strichen und mit den Fingernägeln über die empfindliche Stelle darunter kratzen.
Hitze schoss ihm in den Unterleib, während seine Hand in den Hosenbund glitt. »Ich kriege dich«, seufzte er unter den tiefer werdenden Atemzügen. »Und dann wirst du mir gehören. Ganz und gar.«
~*~
Dreißig Schüler sollten gebannt an seinen Lippen hängen oder zumindest in irgendeiner Weise signalisieren, dass sie seinem Unterricht interessiert folgten. Stattdessen tuschelten sie miteinander, checkten ihre Nachrichten auf WhatsApp oder träumten schlicht in den grauen Tag.
Mattis ignorierte das seltsame Kribbeln, das ihn seit heute Morgen nicht mehr verlassen hatte.
Er schlug die Balladensammlung auf. Sein Herz pochte schneller, wie jedes Mal, wenn er vor einer Klasse etwas vortragen musste. Zwar war das als Deutschlehrer unter anderem sein Job, aber dennoch stieg sein Adrenalinspiegel an. Nicht unangenehm und bis zum Händezittern, sondern nur ein wenig.
Er strich die Seiten glatt.
Das leise Getuschel im Klassenzimmer blendete er aus.
Er war im Begriff, einen Vertrauten zu treffen. Sein Puls legte einen Zahn zu. Verrückt, sich auf die Begegnung mit einem fiktiven Wesen zu freuen, das letztendlich als Kinder mordendes Scheusal durchgehen konnte.
Mattis räusperte sich. Die Zeilen vor seinen Augen verwandelnden sich in Dunkelheit, den feuchten Moosduft eines Waldes und das Klappern von Pferdehufen. Einzelne Nebelfetzen hingen wie dicke Spinnweben in der Luft.
Die Unruhe des Jungen spürte er im Magen, die Sehnsucht des Erlkönigs im Herz. Nur die Angst des Vaters lehnte er ab. Sie hatte nichts mit ihm zu tun.
»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.«
Beneidenswert. Als Kind hatte ihn sein eigener Vater nur höchst selten umarmt und wenn, war es eine flüchtige Angelegenheit gewesen. Beinahe ein Versehen. Doch darum ging es jetzt nicht.
»Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.
‘Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.’
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.
‘Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.’
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.«
Gleich. Mattis biss sich auf die Zunge, um das nervöse Beben zu unterdrücken, dass ihn jedes Mal bei dieser Stelle überfiel. Ihm war, als würde ihm der Erlkönig die Worte zuflüstern. Mit seiner leisen, tiefen Stimme. Mattis schluckte den Kloß im Hals hinunter. Hoffentlich merkten die Schüler nichts.
»Ich liebe dich«, begann er zögernd. »Mich reizt deine schöne Gestalt.«
Die Sätze waren ungeheuerlich. Sie implizierten viel zu viel, was er mit der Klasse keinesfalls erörtern wollte.
»Und bist du nicht willig ...«
Gott! Warum hatte er nicht den Zauberlehrling genommen?
»... so brauch’ ich Gewalt.«
Tief ein und ausatmen, um seinen Herzschlag zu beruhigen. Nur noch ein bisschen, dann hatte er es geschafft.
»Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!«
Nein. Das hatte er nicht. Das durfte er nicht. Die Stimme in den Bäumen. Aus seiner Kindheit. Hätte sie ihm jemals etwas antun können?
Mattis wurde schwindelig.
Durchhalten. Nur noch eine Strophe.
»Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;«
Verdammtes Gedicht!
»In seinen Armen das Kind ...«
Nein. Eine schlichte Lüge. Goethe hatte sich getäuscht.
Mattis klappte das Buch zu.
Das Rauschen des Waldes verstummte. Ebenso wie das Schnauben des Pferdes. Stattdessen drang leises Gemurmel an sein Ohr.
Er stand vor seiner Klasse. Kein verzweifelter Vater, kein sterbender Sohn.
»Und dann?«, fragte Chris konsterniert. »Was ist denn nun mit dem Kind?«
»Es ist tot.« Zack und raus damit. Mattis räusperte sich, heuchelte ein Grinsen. »Ganz einfach.« Hatte er den Schuss nicht gehört?
»Arme Sau«, kommentierte Gunnar und blähte die Wangen. »Echt scheiße gelaufen.«
»Ziemlich.« Tanja wirkte ehrlich betroffen. »Wenn wir zu dem Kram eine Interpretation schreiben müssen, kommt der Erlkönig bei mir verdammt schlecht weg.«
Mattis nickte, ohne ihr zuzustimmen.
Die unermessliche Sehnsucht des Erlkönigs hatte ihn aus den gedruckten Zeilen heraus umschlungen, ihm ins Ohr gewispert.
Er atmete tief ein, aber der Druck in seiner Brust blieb. Jemanden dermaßen zu begehren, dass man ihn aus den Armen seines Vaters, aus seinem Leben stahl, war ebenso verwerflich wie – bis über jegliche Grenzen der Vernunft und Moral hinweg – leidenschaftlich.
Der Moment absoluten Begehrens. Der unerträgliche Wunsch, etwas über die Maßen Geliebtes zu besitzen, an das man sein gesamtes Sein gehängt hatte.
Während sich Mattis innerlich für seine Gedanken vor die Stirn schlug, nahm der Geräuschpegel um ihn her zu.
»Sagen Sie bloß, wir müssen zu dem Mist was schreiben.« Daniel aus der zweiten Reihe plusterte sich auf. »Herr Hannak, das können Sie uns nicht antun. Immer dieser Sülz. Da ist der alte Sack mit den Birnen ja leichter zu verdauen.«
»Genau«, maulte Pauline. »Meinetwegen auch das bekloppte Gedicht mit der Brücke, aber nicht diesen Kram.«
»Warum ist der Junge eigentlich gestorben?« Gunter schob sich die Brille höher auf den Nasenrücken. »War der vorher schon krank und hat deshalb fantasiert, oder hat ihn dieser Erlkönig irgendwie kaltgemacht?«
»Echt, Gunter«, erscholl es aus zig Mündern. »Du wieder!«
Gunter ignorierte es. »Im ersten Fall wäre der Tod eher zufällig. Also in Bezug zu der Fantasie des Erlkönigs. Im zweiten jedoch ...«
»Gunter!« Fabian boxte ihm auf die Schulter. »Fresse Mann!«
Okay, der Zauberlehrling wäre tatsächlich eine Alternative gewesen.
»Seid froh, dass ich nicht einem von euch das Vorlesen aufgetragen habe.« Mattis begann, die Kopien zu verteilen. »Wer sich beschwert, lernt die Ballade bis morgen auswendig und trägt sie der Klasse vor.«
Der Empörungssturm war immens.
»Fein, dann alle.«
Hatte er sich wirklich eingebildet, die Ballade würde etwas in den Schülern berühren? Sie fesseln? Ihnen eine Gänsehaut über den Rücken jagen?
Da war etwas, das anscheinend nur er spürte.
Es saß tief, hüllte ihn in das Gefühl eines Traumes, den man nach dem Aufwachen nicht hergeben will, obwohl er unheimlich war.
»Herr Hannak?« Tanja hielt ihr aufgeklapptes Hausaufgabenbuch hoch. »Sehen Sie das?«
Ich liebe dich. Mich reizt deine schöne Gestalt ...
»Bis morgen muss ich das erledigt haben. Alles!«
Und bist du nicht willig ...
»Seien Sie ein braver Lehrer und geben Sie uns keine Gedichtinterpretation auf, ja?«
... so brauch ich Gewalt.
Keine Chance, in seinem Kopf war der Erlkönig kein Kinder schändender Wüstling, sondern ein von unermesslicher Sehnsucht getriebener Mann, der selbst vor einer Entführung nicht zurückschreckte.
Mattis rieb sich über die Augen. Kriminell war kriminell und tot war der Knabe am Schluss so oder so.
Er versuchte, sich in die Lage des Vaters zu versetzen, die Verzweiflung zu spüren. Alles, was er empfand, war der Wunsch, die wispernde Stimme zu hören, die mit Versprechungen lockte und schließlich drohte.
Scheiße. Der Erlkönig war eine schlechte Wahl gewesen.
»Erde an Herr Hannak. Herr Hannak, bitte melden.« Tanja hielt das vollgekrakelte Buch immer noch hoch.
»Keine Angst.« Um sich selbst aus dieser schweren, fast zähen Stimmung zu befreien, schlug er beim Aufstehen mit beiden Händen auf die Tischplatte. »Keine Gedichtinterpretation.«
Witzig, den dreißig Steinen zuzusehen, die zeitgleich von Schülerherzen fielen.
»Sondern eine Balladeninterpretation.«
Ein Aufschrei brachte den Klassenraum zum Erbeben.
Mattis verkniff sich ein Grinsen. Machte Spaß, Schüler zu quälen.
Bevor sie sich wie die Hyänen auf ihn stürzen konnten, flüchtete er ins Lehrerzimmer.
»Ich mag keine Kollegen, die halb so alt und doppelt so motiviert sind wie ich.« Petra Saitenschläger warf ihm einen düsteren Blick über ihre Kaffeetasse zu.
Mattis grinste noch breiter. »Habe es mir gerade mit der 9c verscherzt.«
»Echt?« Die Augen seiner Kollegin leuchteten. Als Physiklehrerin war es für gewöhnlich ihr Job, für Schülerfrustration zu sorgen.
»Der Erlkönig.«
»Oh, bist du fies.« Ihre Mundwinkel schauten über den Tassenrand. »Hättest du nicht den Zauberlehrling nehmen können?«
»Wenn ich dieses Wort heute noch einmal hören, sagen oder denken muss, übergebe ich mich.« Wie hatte er ihn nur in Erwägung ziehen können? Das glich Verrat. »Außerdem ist der Erlkönig ein Freund aus Kindertagen.« Seltsam, während er es aussprach, wurde es wahr. »Er saß im Baum gegenüber und hat mir wilde Geschichten erzählt.«
Ein kühler Hauch blies ihm in den Nacken.
Mattis wandte sich um, doch niemand stand hinter ihm.
Petra runzelte die Stirn. »Alles klar, bei mir waren es Hanni und Nanni.«
»Aha.« Manchmal vergaß er, dass sie zwei unterschiedlichen Generationen entstammten.
»Denk an die Konferenz.« Petra seufzte gequält. »Wie ich Anwesenheitspflichten hasse.«
Mattis verbiss sich einen Fluch. Er hatte es tatsächlich vergessen. Nix mit einem frühen Feierabend. Vorm Dunkelwerden würde er nicht daheim sein.
Von draußen schlug der Regen an die Fensterscheiben. Bereits jetzt wirkte der Tag dämmerig.
Mattis fröstelte. Seltsamerweise nur im Nacken.
Irgendwo musste ein Fenster offen stehen.
Er nahm sich einen Kaffee, stellte sich dicht an die Heizung.
Die Blätter der Linde auf dem Schulhof waren schon gelb. Griff der Wind hinein, riss er jedes Mal einige von den Zweigen. Sie tanzten durch den Regen, bis sie auf dem Asphalt landeten und unter zu vielen Schuhsohlen platt getreten wurden.
Kalt, ungemütlich, nass. Und bald dunkel. Ein Empfinden, ähnlich wie Heimweh breitete sich in ihm aus. Oder Einsamkeit, was ebenso abwegig war. Immerhin unterrichtete er an der Schule, die er selbst früher besucht hatte. Bevor ihn sein Vater nach Berlin verschleppt hatte.
Trotzdem wollte sich kein Zuhausgefühl einstellen. Die Kollegen waren in Ordnung, manche mehr, manche weniger. Ein paar, wie Petra, kannte er noch aus der eigenen Schulzeit. Wirkliche Freundschaften hatte er bisher nicht geschlossen. Die meisten besaßen Familie und waren froh, nach dem Unterricht schnell nach Hause zu kommen.
An einem dunklen Tag wie diesem hätte er gern jemanden auf ein Glas Wein eingeladen.
~*~
»Er ist sehr hübsch.« Lenka legte Jaro die Hand auf die Schulter. »Schenkst du ihn uns?«
Jaro wandte den Erlen den Rücken zu und die Zweige schlossen sich vor der Menschenwelt. »Er gehört mir.« Mit niemandem würde er Mattis teilen. Auch nicht mit seinen Töchtern. Dazu hatte er zu lange auf ihn gewartet.
Lenka schürzte die Lippen. »Du hättest ihn damals schon holen können.«
»Wozu?« Mattis war ein Kind gewesen. Bezaubernd, reizend und damit viel zu schade, um von seinen Töchtern wie ein Spielzeug behandelt zu werden. Sie besaßen genug Zerstreuung. Früher oder später wäre Mattis zu einem Nebelstreif ausgedünnt und im ersten Sonnenlicht vergangen.
Es war notwendig gewesen, zu warten.
Jetzt war er erwachsen, frei von Heimweh und Bindungen an Menschen, die er zum Überleben brauchte.
Und er spürte ihn.
Jaro legte die Hand auf die Brust. Sein Herzschlag ließ ihm die Finger erbeben. Lange hielt er es nicht mehr aus. Die Sehnsucht, Mattis’ warmen Körper an seinem zu spüren, wuchs von Tag zu Tag.
Lenka verschränkte die Arme vor der Brust, schleuderte sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Du begehrst ihn.«
»Und wenn?« Es ging sie nichts an.
»Nichts.« Ihr voller Mund verzog sich zu einem Spottlächeln. »Rosa wird sich aufregen, dass du dir keine Frau nimmst. Sie jammert Mutter immer noch hinterher.«
Hana. Schön wie eine Holunderblüte und ebenso zart.
Rosa glich ihrer Mutter von Statur und Gesicht. Lenka dagegen besaß die eher kräftige und hochgewachsene Gestalt Jaros. Bis auf ihre flachsblonden Haare.
Jaro griff hinein, wand sich eine Strähne um den Finger.
Seine Töchter waren schön. Jede auf ihre Weise und da er sie zu sich genommen hatte, blieben sie es auch.
Hana hätte ihm dankbar sein sollen, statt ihn zu verfluchen.
»Rufe ihn.« Lenka pflückte ihre Haare aus seinem Griff. »Ist mir egal, mit wem du dein Bett teilst, solange er es schafft, dass du endlich wieder lächelst.«
»Er gehorcht mir nicht.« Wahrlich, Mattis war stur. »Ich werde ihn holen müssen.«
Lenka stieß einen leisen Pfiff aus. »Du willst den Erlenbruch verlassen?«
»Ich werde wiederkommen.« Nicht allein.
»Viel Glück.« Der Zweifel in ihrer Stimme war deutlich zu hören. »Hoffentlich lassen die Bäume wenigstens ein bisschen an dir dran, das du diesem Mann präsentieren kannst. Du weißt ja, wie empfindlich sie auf deine Ausflüge reagieren.«
Heute Nacht. Und wenn es nötig war, würde er sich den Weg mit einer Axt freischlagen.
~*~
Mattis konnte die Augen kaum aufhalten. Musste am trüben Wetter liegen. Und an der Zeit. Beinahe zehn Uhr abends. Er wollte nur noch nach Hause.
An sich dauerte die Fahrt nicht lange, aber er war müde und das Letzte, was er wollte, war ein Wildschwein auf der Motorhaube.
Im Graben neben der Straße huschte ein Fuchs, etwas weiter auf dem abgeernteten Feld standen Rehe und eine Maus war ihm auch schon zwischen die Räder gekommen. Laut Rückspiegel hatte sie das Abenteuer überlebt.
Kein anderer Wagen war unterwegs. Die Landstraße lag einsam und finster vor ihm.
Die Hälfte des Weges hatte er immerhin geschafft. Vor ihm lag der Erlenbruch. Ein Fließ teilte die Senke. Die Silhouetten der Bäume wirkten im Licht der Scheinwerfer gespenstisch. Nebelschwaden hingen wie Watte zwischen den Stämmen. Sie schluckten die Straße und verwandelten die Dunkelheit in eine weiße Wand.
Mattis ging vom Gas und schaltete den Nebelscheinwerfer an. Verdammt, von jetzt auf gleich konnte er lediglich den Randstreifen erkennen. Hoffentlich zog sich der Nebel nicht bis zur Stadtgrenze.
Wenigstens kannte er die Strecke auswendig. Im Prinzip musste er nur geradeaus fahren. Kaum Kurven, keine Überraschungen und mit etwas Glück löste sich die Suppe hinter dem Bruchwald wieder auf.
Ein Schatten links von ihm.
Ein dumpfer Aufschlag.
Helle Augen, die ihn erschrocken durch die Windschutzscheibe anstarrten – und im Weiß verschwanden.
Mattis trat die Bremse durch, der Wagen brach aus, schleuderte, kam irgendwann innerhalb unzähliger Herzschläge zum Stehen. Eine Handbreit vor einem Baum.
Scheiße! War das knapp gewesen.
Zur Erleichterung mischte sich ein eisiger Schreck.
Hatte er gerade jemanden angefahren?
Mit zitternden Beinen stieg er aus. Adrenalin rauschte ihm in den Ohren, ließ seinen Puls rasen.
»Hallo?« Mit jedem zögernden Schritt tauchte er in nasse Kälte.
Was hatte auch ein Mensch mitten in der Nacht in diesem scheiß Nebel verloren?
»Hallo!« Er umrundete den Wagen, starrte in undurchdringliches Weiß. Bis auf das Pochen seines Herzens hörte er nichts.
»Ist da einer? Hallo! Ich will Ihnen helfen!« Verdammt!
»Das ist nett«, klang eine tiefe Stimme von irgendwo links unten.
Sie kam ihm vertraut vor.
»Pass auf, da ist ein ...«
Wo war der Grund? Mattis trat ins Leere, fiel, rollte. Ein dumpfer Aufschlag wurde von einem Stöhnen begleitet.
»... Graben.«
Neben ihm erschien schemenhaft ein Gesicht.
»Ich habe dir gesagt, du sollst aufpassen.«
Was für ein Wahnsinns Timbre. Er löste bei ihm von Kopf bis Fuß eine wohlige Gänsehaut aus.
»Geht es dir gut?«
»Das sollte ich dich fragen.« Mattis rappelte sich auf. Knie und Ellbogen schmerzten, sonst war alles in Ordnung. »Immerhin habe ich dich angefahren.«
»Allerdings.« Der Fremde hielt sich die Schulter. »Du warst auf einmal da.«
»Da?« Er hatte Humor. »Das ist eine Straße. Was hast du da verloren?«
»Plötzlich ließen sie mich los und ich stolperte in deine ...« Neben ihm seufzte es. »Spielt keine Rolle.«
»Jemand ließ dich los?« Eine Schlägerei? Steckten noch mehr Typen im Nebel? Mattis sah sich um. Alles, was weiter als drei Schritte entfernt war, versank im Weiß.
»Mach dir keine Gedanken.« Der Mann erhob sich – trotz seiner beachtlichen Größe und Statur außerordentlich anmutig. »Du hast nichts zu befürchten.«
Eine Hand erschien vor Mattis’ Gesicht. Er ergriff sie, wurde hochgezogen. »Nimm mich ein Stück mit. Der Bruchwald ist mir zu nah. Das ist nicht gut.«
Er klang so ernst, als ob er sich wahrhaftig vor ein paar Bäumen fürchtete.
In der Nähe lagen zwei Dörfer. Wahrscheinlich wohnte er in einem von ihnen. Die Frage war nur, ob Mattis in dieser Suppe die Abzweigungen fand.
Der Fremde ging die Böschung hinauf, zog ihn mit sich. Oben angekommen ließ er ihn los, lehnte sich mit dem Hintern ans Auto und stützte sich auf den Knien ab. Die Haare hingen ihm nass ins Gesicht. Alte Fruchtstände einer Erle hatten sich darin verfangen.
Mattis zupfte die winzigen Zäpfchen aus den dunklen Strähnen und erntete ein flüchtiges Lächeln dafür.
Ein relativ großer Mund mit eher schmalen Lippen. Ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen, nebelgraue Augen, die ihn zwischen den Haaren hindurch musterten.
Ein kalter Schauder schüttelte Mattis. Etwas Seltsames lag in dem Blick. Er kannte es, konnte es bloß nicht benennen.
»Was ist?« Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. »Du siehst mich an, als wäre ich ein Geist.«
»Bist du einer?« Schwachsinn! Mattis rettete sich seinerseits in ein Grinsen. Der Mann musste ihn für debil halten.
Er hielt Mattis erneut die Hand hin. »Greif zu.«
Mattis winkte ab. »Schon klar, dass du kein Geist bist.« Geister zogen niemanden mit einem verdammt festen Händedruck Böschungen hinauf. »Mir sitzt der Unfall in den Knochen.«
Augenblicklich verschwand das Grinsen in dem fremden Gesicht. »Was geschehen ist, tut mir leid. Aber mir blieb nichts anderes übrig.«
»Als mir vors Auto zu laufen?« Mattis musste lachen.
Der Fremde stimmte nicht mit ein. »Es tut mir wirklich leid.«
»Was soll’s?« Bis auf ein paar blaue Flecke und einen gehörigen Schreck war nichts passiert.
Apropos. Über die Wangen des Mannes verliefen dunkle Kratzer. Das Kinn hatte auch was abbekommen. So, wie er aussah, war er in einen Dornenstrauch gefallen.
»Es macht dir nichts aus?« Zögernd hob sein Beinahe-Unfallopfer den Blick.
Mattis schüttelte den Kopf. »Sogar der Wagen ist heil geblieben.« Sie hatten verdammtes Glück gehabt.
Die irritierend hellgrauen Augen musterten ihn eindringlich. »Ich hoffe, du siehst die Sache morgen früh noch genauso locker.« Er stieß sich ab, strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. »Gut. Dann lass uns fahren.«
»Wohin willst du?«
»Zu dir.«
Was? Er kannte ihn nicht.
»Das alte Haus neben deinem.« Der überraschend große Mund zog sich in die Breite. »Ich wohne da.«
»Seit wann das denn?« Das Gebäude war abbruchreif. Wenn etwas dort hauste, dann Ratten und streunende Katzen.
»Seit heute.« Er reichte Mattis erneut die Hand. »Ich bin Jaro.«
»Freut mich.« Nun ja. »Mattis.«
»Ich weiß«, murmelte Jaro und lächelte auf eine Weise, die es in Mattis’ Magen kribbeln ließ. »Lass uns fahren.«
»Woher kennst du meinen Namen?« Der Kerl wurde ihm unheimlich.
»In einem deiner Träume hast du ihn mir zugeflüstert. Seitdem trage ich ihn bei mir.« Jaro legte sich die Hand auf die Brust.
Kräftige, lange Finger. Was sie hielten, ließen sie sicher nicht so schnell wieder los. Dennoch wirkten sie sensibel und auf eine seltsame Art vertrauenerweckend.
»Hast du Angst vor mir?«
Die Frage lag nahe, traf Mattis jedoch vollkommen unvorbereitet. Eigentlich müssten sämtliche Alarmleuchten blinken. Ein Fremder auf einer einsamen Landstraße, dicker Nebel, und in seinem Auto sollte er ihn auch noch mitnehmen. Mattis’ Vernunft schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Angst ...
Ein bisschen.
Die Neugier überwog. Und das untrügliche Gefühl, dass der Fremde ihm weit weniger fremd war, als es den Anschein hatte. Obwohl das mit den Träumen nur ein Scherz sein konnte.
Wind griff Jaro ins Haar, wehte es ihm ums Gesicht. Die Zweige der alten Erlen am Straßenrand knackten und ächzten.
Jaro sah sich um, zog die Schultern höher. »Wir sollten gehen.« Auf der Stirn bildete sich eine tiefe Falte.
Mattis fröstelte.
Was sollte er tun? Er konnte ihn nicht zurücklassen. Trotzdem warnte ihn eine leise Stimme, ihn mitzunehmen.
»Du zweifelst?« Jaro neigte den Kopf. Sein Blick begegnete seinem – beneidenswert gelassen. »Fürchtest du, ich könnte dir ein Leid zufügen?«
»Nein, natürlich nicht.« Und dennoch war da etwas ... Unheimliches, das von ihm ausging.
Jaro hob die Brauen. »Worauf wartest du dann? Alles, was ich dir hätte antun können, habe ich längst getan.«
Meinte er den Unfall? In erster Linie hatte er sich damit selbst etwas angetan.
»Okay.« Diese Situation war unwirklich wie ein Traum. »Steig ein.« Mattis öffnete die Beifahrertür, versuchte zu lächeln, gab es auf. Sein Herz klopfte im Hals, seine Hände fühlten sich klamm und gefühllos an. Und ständig rannen ihm Schauder den Rücken hinab. »Kennst du das Gefühl, als ob jemand über dein Grab läuft?« Er schüttelte den Kopf wegen seines eigenen Schwachsinns.
Jaro lächelte. »Nein. Bisher lag ich noch nie in einem Grab. Du?«
Mattis’ Gänsehaut erblühte zur vollen Pracht. »Ich weiß es nicht«, entkam es ihm. Was war bloß los?
Jaro trat einen Schritt auf ihn zu. Warme Finger legten sich an Mattis’ Wange. »Vielleicht ist es nur ein Gerücht, dass der Tod dunkel und einsam ist.« Er neigte sich zu ihm. Sein Atem streifte Mattis’ Lippen. »Vielleicht ist er eher wie der Nebel. Ein Schleier zwischen den Welten, der sich ab und an zurückzieht, um unser Herz höher schlagen zu lassen.«
Mattis schloss die Lider. Das Gefühl, durch einen Traum zu wandeln, hielt ihn umfangen.
Du liebes Kind, komm geh mit mir ...
Mattis zuckte zusammen. Ein Sekundenschlaf? Hier, vor den Augen eines Fremden? Stehend?
Jaro ließ die Hand sinken. »Es war gut, dass ich gewartet habe.« Ein Lächeln, flüchtig wie eine Schneeflocke, erhellte die ernste Miene. »Auch wenn es mich beinahe den Verstand gekostet hat.«
»Von was redest du?« Mattis’ Gedanken schwirrten.
»Lass uns fahren.« Geschmeidig glitt Jaro auf den Beifahrersitz.
Mattis schloss die Tür. Ein Traum. Keine Frage. Was er jedoch nicht wusste, war, ob er aufwachen oder weiterträumen wollte.
Jaro war seltsam – milde ausgedrückt. Nicht nur wegen dem, was er sagte und wie er sich verhielt, auch wegen seiner Kleidung.
Ein helles Hemd aus erstaunlich grobem Stoff und lediglich mit einer Schnürung am Hals zusammengebunden. Darüber eine dicke Wollweste, aber keine Jacke.
Draußen schrammten die Temperaturen an der Null-Grad-Grenze. Trotzdem schien Jaro nicht zu frieren. Seine Beine steckten in einer Hose, deren Stoff noch derber war, als der des Hemdes. Ein breiter Ledergürtel hielt sie auf der Hüfte. Mattis beugte sich beim Anlassen des Motors unnötig weit vor, um einen Blick darauf zu erhaschen.
Die Gürtelschnalle wirkte wie geschmiedet.
War in der Nähe ein Mittelaltermarkt angesetzt?
Verrückt, wie der gesamte Tag. Dennoch passte dieses grobe Outfit zu dem Mann neben ihm. Es unterstrich seine unglaubliche, körperliche Präsenz.
Die Hemdärmel waren bis knapp unter die Ellbogen hochgekrempelt und zeigten sehr kräftige, allerdings völlig zerkratzte Unterarme.
Sauber definierte Muskulatur. Ob das für Jaros restlichen Körper ebenfalls zutraf?
Jaro folgte seinem Blick, lächelte und spannte wie nebenbei die Muskeln an.
Verdammt! Er hatte ihn beim Schmachten erwischt.
»Bist du ein Schmied?« Nur ein Schuss ins Blaue und ein kläglicher Versuch, die Situation zu retten. »Wegen deiner ... Kleidung.« Gütiger!
»Gelegentlich«, antwortete Jaro gelassen. »Und ein Fischer, ein Tischler, ein Jäger, ein Köhler, ein Bauer und Pferde habe ich auch schon gezüchtet.«
»Wow.« Beeindruckender Lebenslauf. »Alles sehr handwerklich, hm?« Wie alt war er? Wer dermaßen viele Jobs erledigt hatte, musste die fünfzig doch locker überschritten haben. Jaro wirkte dagegen eher wie ein Mittdreißiger bei bester Pflege und höchstmöglichem Fitnessgrad.
»Dazu sind Hände da.«
Das offene Lächeln, mit nur einer Spur Spott darin, verschlug Mattis den Atem.
»Zum Arbeiten.«
Klar. Warum fragte er auch.
Jaro pflückte Mattis’ Hand vom Lenkrad, drehte sie in seiner hin und her und strich schließlich über die Innenfläche.
Der Schauder, der von dieser Berührung ausging, erfasste Mattis von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln.
»Ganz weich.« Sein Daumen glitt über die kaum noch vorhandenen Schwielen aus Ruderzeiten. »Du schonst dich.«
Mattis zog seine Hand zurück. »Ich bin Lehrer!« Konnte nicht jeder den Schmiedehammer schwingen.
Jaro verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. »Und was bringst du den Kindern bei?«
»Den Erlkönig.« Okay. Aus. Mattis ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. Für jemanden, der anscheinend seinen kompletten Lebensbedarf selbst produzierte, musste das lächerlich klingen.
Eine schwere, raue Hand landete in seinem Nacken. »Cool.«
Bitte? Mattis sah auf. Verarschte ihn Jaro? Offenbar nicht, denn er schaute ihn freundlich an.
»Cool?« Das Wort passte kein bisschen zu ihm. Davon abgesehen, dass man Goethes Ballade als alles Mögliche, doch niemals als cool bezeichnen konnte.
»Sagt man das nicht so?« Jaro runzelte die Stirn. »Ich meine, das mal von einem von euch gehört zu haben.«
Woher kam der Kerl?
»Ich komme nur selten von Zuhause weg«, plauderte er mit seiner angenehmen, beeindruckend tiefen Stimme. »Man könnte sagen, dass mein Zuhause wie eine Klette an mir hängt und mich ums Verrecken nicht ziehen lassen will.« Der wütende Unterton war keine Einbildung. »Es ist recht groß, um von einem allein bewirtschaftet zu werden, auch wenn es von außen nicht so aussieht.«
»Wo liegt es?«
»Hinter mir.« Jaro klappte den Schminkspiegel hinunter. Er betrachtete sich eine Weile, zuckte dann mit der Schulter. »Und es wird so lange auf mich warten müssen, bis ich meine Angelegenheiten erledigt habe.« Grinsend wandte er sich wieder zu Mattis. »Fahr! Ich mag Autos.«
»Du verarschst mich doch.« Fahren sollte er trotzdem. Sonst standen sie die ganze Nacht vor einem Baum herum. Mattis legte den Gang ein.
»Was machst du jetzt?« Die klassische Spießerfrage. Und womit verdienen Sie ihr Geld? Mattis biss sich auf die Lippen. Wie hatte ihm dieser Satz entwischen können? Andererseits interessierte es ihn wirklich, auch auf die Gefahr hin, dass Jaro ihm erneut einen Bären aufband.
»Noch dasselbe wie vorher, bloß dass ich mich nebenbei um zwei eigenwillige Töchter und einen besitzergreifenden Wald kümmern muss.« Sein Seufzen sprach von einer gewissen Überforderung. »Es würde mir leichter fallen, wenn ich jemandes Herz besitzen würde, aber das ist eine komplizierte Sache für einen wie mich.«
»Warum?« Jaro war ein Bild von einem Mann. Die Frauen mussten Schlange stehen.
»Mich zu lieben, heißt Abschied nehmen.« Jaro hatte das Handschuhfach entdeckt und spielte an dem Verschluss. »Das ist etwas, das euch schwerfällt.« Er klappte es auf und pfiff leise durch die Zähne. »Praktisch.«
»Euch?« Oh Mann. »So wie du das sagst, klingt es, als wärst du anders als ich.« Oder der Rest der Menschheit.
»Bin ich auch.« Er pflückte Mattis’ Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. »Aber das passt schon.« Mit vorgeschobenen Lippen betrachtete er sich im Schminkspiegel. »Wolltest du nicht losfahren?«
Mattis startete den Motor. Allein deshalb, um sich abzulenken.
Er schlich mit zehn Stundenkilometern am Randstreifen entlang und starrte ins Weiß, bis ihm die Augen tränten.
Was für eine komplett verrückte Nacht.
Jaro trennte sich von seinem Fund und legte ihn wieder zurück. »Macht Spaß.«
»Was?«
»Das Autofahren. Ist mein zweites Mal.«
»Dein Ernst?« Beinahe hätte Mattis ihn angestarrt und nach einem Zeichen für die erneute Verarsche gesucht. Zum Glück wurde seine gesamte Aufmerksamkeit von den zwei Metern sichtbarer Straße gefesselt.
»Ich sagte ja, ich komme nicht oft raus.«
Es klang nach einer Entschuldigung.
»War damals eine zugige Angelegenheit, so ohne Scheiben. Und die Räder waren auch viel größer – und dünner.«
»Ist gut, ich hab’s verstanden.« Der Typ nahm ihn hoch. Von der ersten Sekunde an.
Mattis versank in Schweigen. Bis zur Stadtgrenze würde er ihn mitnehmen und dann ... tschüss!
Wenigstens löste sich der Nebel hinter der Senke auf. Gleichzeitig fiel das Gefühl von ihm ab, meilenweit neben sich zu stehen. Er hatte einen exzentrischen Mann beinahe überfahren und nahm ihn nun ein Stück mit. Das war’s. Kein großes Ding.
Wenn er einen Bankräuber, Mörder oder Irren aufgesammelt hatte, war er allerdings am Arsch.
Ausdruck: sechs. Setzen!
Das Lachen schaffte es nicht einmal aus seiner Brust heraus.
Jaro hatte den Kopf zur Seite gewandt und sah aus dem Fenster.
Er machte nicht den Eindruck, ein Schwerverbrecher zu sein. Trotz seines Spottes und der Flunkereien wirkte er auf eine undefinierbare Weise aufrichtig. Außerdem erschien er traurig, wie er in die Nacht starrte.
»Bist du wirklich in Ordnung? Immerhin bist du mir auf die Motorhaube geklatscht.« Er hätte ihn sicherheitshalber ins Krankenhaus fahren sollen.
»Mir geht’s gut.« Die Scheibe beschlug unter seinem Atem. »Es ist nur ...«
»Ja?«
Jaro schluckte. »Ich habe etwas getan, auf das ich nicht sehr stolz bin.«
Scheiße, jetzt kam’s. »Was denn?« Erbärmlich, wie ängstlich seine Stimme klang.
~*~
Ich habe dir in dein Schicksal gepfuscht und dir den Rückweg versperrt.
Das konnte er Mattis auf keinen Fall sagen.
Ich liebe dich, seit du ein Kind warst, und begehre dich mit einer Leidenschaft, die dir die Kleider vom Leib brennen wird.
Das eventuell schon eher. Später. Oder besser, er zeigte es ihm zu gegebener Zeit. Taten taugten mehr als dahingesagte Worte.
Fast hätte er ihn geküsst. Vorhin, als sie dicht voreinander gestanden hatten. Mit aller Gewalt hatte er sich davon abhalten müssen, die Lippen auf Mattis’ Mund zu pressen. In seinem eigenen wurde es feucht. Die Sehnsucht nach diesem Mann kroch wie ein hungriges Tier in seinem Herz und wollte endlich gefüttert werden.
Er kannte nicht einmal Mattis’ Geschmack. Dafür erfüllte sein Duft den Innenraum des Autos. Es war mit dem anderen nicht zu vergleichen. Ein viel bequemerer Sitz, überall glatte Flächen und die Fenster machten wirklich Sinn. Auch das Motorengeräusch klang beeindruckender. Von der Geschwindigkeit ganz zu schweigen.
Ein schönes Gefühl, auf diese Weise durch die Nacht zu gleiten.
Das gleichmäßige Brummen beruhigte sein schlechtes Gewissen, das leichte Vibrieren entspannte seinen geschundenen Körper.
Er würde den Tag nicht mehr erleben, an dem ihm der Erlenbruch freies Geleit zubilligte. Ungeheuerlich, der Trotz der Bäume. Zwischendurch war ihm der Verdacht gekommen, sie würden ihn lieber aufspießen, als passieren lassen.
»Willst du darüber reden?« Mattis warf ihm einen Seitenblick zu.
Richtig, er schuldete ihm noch eine Antwort. »Nein.« Morgen würde er es von allein verstehen. Und ihn dafür hassen – vorerst.
»Ich gebe zu, ich bin nervös.« Mattis kaute auf seiner Unterlippe. »Du scheinst aus deiner Zeit gefallen zu sein.« Eine flüchtige Geste wies auf seine Kleidung. »Der Satz: Ich bin vorzeitig von einer langweiligen Themenparty geflohen, würde mich ungemein beruhigen.«
»Aber er ist eine Lüge.« Was war eine Themenparty?
Mattis verzog das Gesicht. »Schade.«
»Du brauchst dich nicht vor mir fürchten.« Nicht mehr. Die Dinge waren längst auf den Weg gebracht. »Fahr mich einfach zu dem alten Haus.«
»Es ist abbruchreif«, brauste Mattis auf. »Ehrlich, Mann. Du kannst da nicht wohnen.«
»Warst du drin?«
»In dem Haus?«
Haselnussbraune Augen blickten Jaro verwundert an.
»Nein. Bisher nicht. Die Fenster sind mit Brettern zugenagelt und die Tür ist versperrt.«
»Ich bin sehr hartnäckig, wenn es um verschlossene Türen geht.« Der Preis war hoch. Sein gesamter Körper schmerzte.
»Mag sein«, sagte Mattis leise. »Dennoch glaube ich dir kein Wort.«
»Du bist ehrlich.« Das war er schon als Kind gewesen.
»Und du nicht.«
Jaro sparte sich die Antwort. Er lehnte die Stirn an die Scheibe, betrachtete die Dunkelheit beim Vorbeiziehen.
Er hatte nie gelogen, stets die Versprechen gehalten, die er gegeben hatte.
Als Kind hatte ihn Mattis geliebt. Stundenlang seinen Geschichten gelauscht und sich von seinen Töchtern Lieder vorsingen lassen, die längst kein Mensch mehr kannte.
Auf dem Weg zum Erwachsensein musste er ihn vergessen haben. Jaros Herz fühlte sich wie ein Stein an. Er selbst hatte Mattis keine Sekunde vergessen. Tag und Nacht von ihm geträumt, sich ausgemalt, wie es wäre, ihn endlich bei sich zu haben. Ihn zu berühren, ihn zu küssen.
Ihn zu lieben.
~*~
Locker bleiben. Vielleicht war die Situation simpler, als er dachte. Mattis atmete tief durch. Er hatte überreagiert. Lag an seiner Müdigkeit, von der mittlerweile nichts übrig geblieben war.
Das gelbe Schild reflektierte das Scheinwerferlicht.
Angekommen. Und nun? Wenn er zu sich nach Hause fuhr, zeigte er einem Fremden den Weg.
Unsinn. Jaro wusste offenbar längst, wo er wohnte. Oder hatte er nur geraten?
Mattis bog von der Hauptstraße ab, lenkte den Wagen durch enge Gassen, bis er sein Ziel erreicht hatte.
Das Haus nebenan hockte wie ein versteinertes Ungetüm zwischen seinem Zuhause und einem frisch renovierten Fachwerkgebäude. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt und aus den Rissen in den Stufen, die zur Eingangstür führten, wuchst Löwenzahn. Im Dach klaffte ein Loch. Die Dachbalken standen heraus.
Niemals konnte irgendjemand darin wohnen.
»Okay. Du hast mich angelogen.« Mattis schnallte sich ab. Für den Notfall wollte er beweglich sein. »Ich lebe schon immer hier. Und seitdem steht der alte Kasten leer.«
»Mit Unterbrechung.«
»Bitte?«
Jaro lächelte. »Du wohnst mit einer Unterbrechung schon immer hier.«
»Wieso ...?« Egal! »Woher kennst du das Haus überhaupt?« Schluss jetzt! Er hatte sich lange genug an der Nase herumführen lassen.
»Du wohnst daneben«, antwortete Jaro in aller Unschuld.
Ein Stalker? Sollte er sich geschmeichelt oder bedroht fühlen?
»Lädst du mich auf einen Kaffee ein?« Das schmale Lächeln wirkte aufrichtig. »Ihr trinkt die braune Brühe gern, habe ich im Lauf der Zeit mitbekommen.«
»Ist das eine Anmache?« Sah man ihm das Schwulsein an? Bisher hatte sich Mattis weder im Kollegium noch hier bei irgendwem geoutet.
»Ja.« Jaro zupfte seine Weste zurecht. »Wenn du es so nennen willst?« Er öffnete die Tür, stieg aus. »Danke, dass du mich mitgenommen hast.« Er ging die wenigen Schritte bis zu dem einsamen Haus, stieß die Tür auf und verschwand im Dunklen.
Mattis verließ ebenfalls den Wagen. »Hey, du musst das nicht durchziehen. Komm da raus.« Die Tür fiel ihm vor der Nase zu. Er drückte auf die Klinke, ohne etwas auszurichten. »Jaro, ehrlich. Du hattest deinen Spaß. Lass es gut sein.«
Absolute Stille antwortete ihm.
Er versuchte, durch die Ritzen der Bretter zu linsen. Nicht der kleinste Lichtschein ließ sich ausmachen.
Stolperte Jaro da drin im Dunkeln herum? Mattis pochte gegen das Holz. »Komm zurück! Das mit dem Kaffee ist kein Problem.« Ach nein?
Er legte das Ohr an die Tür, hielt den Atem an.
Kein Mucks drang zu ihm. Hatte sich Jaro in Luft aufgelöst?
»Ich bin drüben, wenn du was brauchst.« Zum Beispiel ein Sofa zum Schlafen.
Nein. Nicht das Sofa. Wie kam er auf den Gedanken, einen Fremden bei sich übernachten zu lassen? Bloß weil er eine verdammt sexy Stimme hatte?
Himmel, er war komplett durch den Wind.
Mattis schloss das Auto ab und die Haustür auf. Das Licht im Flur beruhigte seine Nerven.
Was für ein seltsamer, ganz und gar faszinierender Mann.
Bei der Erinnerung an die muskulösen Unterarme schlug sein Herz schneller.
Wollte Jaro wirklich in der Bruchbude nebenan wohnen? Unsinn. Wahrscheinlich hatte er sich mittlerweile hinausgeschlichen und sich ein Taxi gerufen, um nach Hause zu fahren. Wo immer das auch war.
Mattis kochte sich einen Tee und kuschelte sich aufs Sofa. Noch ein bisschen Nachrichten sehen und ab ins Bett. Trotz der Ereignisse war er plötzlich hundemüde.
~*~
Ein stilles, zu lang allein gelassenes Haus. Jaro atmete den Staub vieler Jahre, hörte das Rascheln der Tiere, die sich eingenistet hatten. Gut. So war die Einsamkeit nicht vollkommen gewesen.
An den Zimmerdecken entlang zogen sich rauchschwarze Balken. An dem einen hingen künstliche Blumen. Jaro riss sie ab.
Er legte die Hand an die Mauer. Die abblätternden Tapeten interessierten ihn nicht. Auch nicht das Stroh, das durch die Löcher in der Decke rieselte.
Lediglich die Magie, die sich im Dunkeln verbarg, weckte seine Aufmerksamkeit. Sie schlummerte in der Kühle der Steine, ruhte im Lehm, versteckte sich unter den gerissenen Bodenfließen.
Längst nicht so gewaltig wie im Erlenbruch, doch für seine Bedürfnisse genügte sie.
»Für dich, Mattis«, wisperte er in Spinnweben. Sie tanzten sacht in seinem Atem.
Langsam drehte er sich im Kreis, hob die Arme. Das Lied war so alt wie der Wind, der unablässig um die Mauern strich. Es rief die Segenssprüche und Schutzzauber aus den Ritzen der Wände. Sie sammelten sich in silberweißen Schlieren zwischen seinen gespreizten Fingern. Wer immer hier früher gelebt hatte, hatte akzeptable Arbeit geleistet. Für einen Menschen war es nicht leicht, das Böse fernzuhalten, während er dem Guten gleichzeitig die Tür öffnete.
Kinder- und Erntesegen, Neujahrswünsche, Bannsprüche und Einladungen an die Lutken, der Familie stets wohlgesonnen zu bleiben. Die kleinen Leute hatten diesen Ort längst verlassen und sich tief in die Erde zurückgezogen.
Rosa lockte sie mit Leckereien ab und zu in den Erlenbruch, wenn sie keine Lust hatte, die Hausarbeit allein zu bewältigen.
Was würde seine Jüngste dazu sagen, wenn er mit Mattis aufkreuzte? Sie war seine Tochter und hatte seine Entscheidung zu respektieren, dennoch war sie sehr wohl in der Lage, Mattis das Leben schwer zu machen. Immerhin war sie eine Frau.
Der Zauber flackerte, dünnte aus.
Verdammt! Statt sich zu sorgen, sollte er sich besser konzentrieren. Er rief die silbernen Schlieren zurück, bis ihr mildes Licht die Finsternis um ihn herum verdrängte.
Später würde er sie wieder entlassen. Waren die Menschen wirklich so dumm, das Gebäude abzureißen, würden sich die magischen Gespinste im Morgentau auflösen und in die Erde sickern.
Magie verging nicht. Sie versteckte sich bloß.
Jaro schickte sie an die Arbeit.
Fenster, die das Sternenlicht einließen, die Nachtkälte jedoch draußen hielten.
Flammen, die Mattis wärmen würden.
Ein guter Tropfen, um die Zunge zu verwöhnen und das Misstrauen zu verscheuchen.
Ein weiches Lager, um sich darauf auszustrecken und sich gegenseitig mit Liebkosungen zu beschenken.
Jaro verbannte den Staub und Dreck der langen Einsamkeit in die Mauerritzen, verscheuchte alles, was trippelte und kroch in dunkle Winkel. Heute Nacht gehörte dieser Ort ihm allein und nur er entschied, mit wem er ihn teilte.
~*~
Wind fuhr durch die Bäume, riss die Blätter ab, ließ sie durch die Finsternis tanzen. Die Zweige schlugen an die Scheibe. Das Geräusch hatte Mattis geweckt.
Er lag nach wie vor auf dem Sofa. Musste wohl eingeschlafen sein. In der Wohnung war es dunkel. Hatte er es noch geschafft, das Licht auszuschalten? Warum war er dann nicht gleich ins Bett gegangen?
Er stand auf, ging zum Fenster. Über den Himmel hetzten Wolken. Sie verschlangen die hauchdünne Mondsichel, spuckten sie wieder aus, verschlangen sie erneut.
Ein richtiger Herbststurm.
Mattis trat hinaus auf den Balkon, atmete tief ein. Die Luft roch nach Regen und welkem Laub, Kälte und einer Ahnung von Winter.
Aus dem alten Haus nebenan drang warmes, flackerndes Licht. Jemand hatte die Bretter vor den Fenstern entfernt und bei der Gelegenheit auch gleich neue Scheiben einsetzen lassen. Sie glitzerten wie schmelzendes Eis.
Jaro.
Wo hatte er mitten in der Nacht einen Glaser aufgetrieben?
Mattis lehnte sich so weit über das Geländer wie möglich. Ins Innere vermochte er trotzdem nicht zu sehen.
Der Wind ließ nach, das Rauschen verstummte. Stattdessen erklang eine leise Melodie.
Zart wie frisch gefallener Schnee, legte sie sich auf seine Seele und schmolz ihm ins Herz. Es schlug schneller, dehnte sich aus, um die Töne aufnehmen zu können.
Bevor er darüber nachdachte, stand er vor Jaros Tür. War er eben nicht noch auf dem Balkon gewesen? An den Moment im Treppenhaus konnte er sich nicht erinnern. Auch nicht, dass er Schuhe angezogen und den Schlüssel eingesteckt hatte.
Hatte er nicht. Er war barfuß, trug bloß Jeans und T-Shirt. Die nasse Kälte des Pflasters stach ihm in die Sohlen. Was hatte er sich dabei gedacht?
Ein dumpfes Klock.
Verdammt, die Haustür war ins Schloss gefallen. Mattis durchsuchte die Hosentaschen. Kein Schlüssel.
Scheiße! Stand wenigstens das Badezimmerfenster offen? Natürlich nicht. Er hatte es ja am Morgen geschlossen.
Keine Chance. Ihm blieb nur, sich bei Jaro bemerkbar zu machen. Vorhin hatte er ihm Asyl angeboten. Jetzt war er selbst zum Bittsteller geworden.
Trotz seiner eisigen Füße und der jämmerlichen Situation musste er lachen. Was für ein komplett vermurkster Tag. Bis zu seinem Lebensende würde er den nicht vergessen.
Besser, er klopfte gleich, bevor er Frostbeulen bekam.
Die Tür schwang auf.
Er hatte sie nicht einmal berührt, geschweige denn, die Klinke gedrückt.
Licht und Wärme fluteten ihm entgegen. Beides stammte von unzähligen Kerzen, die ihm den Weg ins Innere des Hauses wiesen.
Hinter ihm verschloss sich leise die Tür. Die Flammen zitterten im Lufthauch.
»Ich habe auf dich gewartet.« Am Fuß der Treppe stand Jaro. Die Schnürung des Hemdes war locker, zeigte viel von der beneidenswert muskulösen Brust.
Sie war unrasiert.
Der Anblick irritierte nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ein Mann wie Jaro gab sich nicht mit kosmetischen Trends ab. Dazu war ihm die Zeit garantiert zu schade.
Mattis konnte den Blick nicht von dieser gelassen zur Schau getragenen, beinahe schon archaischen Männlichkeit wenden. Seine Finger zuckten. Sie wollten durch die Härchen fahren, die Haut darunter kraulen.
»Bitte sei mein Gast.« Mit einer ausholenden Geste wies er auf eine Decke am Boden. Weiß, fast schwebend. Sie sah unendlich weich aus. Als hätte Jaro den Nebel eingefangen und ineinander verwoben.
Zwei Gläser standen daneben. Tropfen rannen die filigranen Stiele hinab. Milchig wie die Fensterscheiben und ebenso glitzernd.
Eine Flasche mit dunkler Flüssigkeit. Wein? Er war blutrot.
Jaro lächelte. Mit einer Wärme im Blick, die Mattis schlucken ließ.
»Für mehr hat die Zeit leider nicht gereicht.« Er kam ein paar Schritte näher. »Ich hoffe, es gefällt dir.«
Mattis räusperte sich, suchte nach Worten, fand jedoch nur Schwachsinn.
»Woher hast du die vielen Kerzen?« Himmel! Als ob es von Bedeutung wäre. Weshalb hatte er nicht gefragt, warum Jaro dies alles für ihn arrangiert hatte? Es war überwältigend schön.
Jaro lachte. Es klang nach gutmütigem Spott. »Das alte Haus birgt eine Menge Überraschungen.« Jaros Blick durchdrang ihn, versprach Dinge, die Mattis nicht einmal benennen konnte.
Er wollte sie erfahren. Der Schreck dieser Erkenntnis brachte sein Herz zum Flattern.
Jaro schritt zur Decke und ließ sich im Schneidersitz darauf nieder.
Er war barfuß, ebenso wie Mattis.
Die Stiefel standen neben der Treppe, die Weste hing über dem Geländer.
»Komm.« Jaro füllte die Gläser, hielt ihm eines entgegen. »Wir stoßen auf das dritte Geheimnis an.«
»Und das wäre?« Nur mit Mühe überredete er seine Beine, ihn zu Jaro zu tragen. Sie fühlten sich wie Pudding an.
»Die Liebe.«
Erstaunlich, wie breit Jaro grinsen konnte.
Irgendwie hatte es Mattis zu ihm geschafft. Seine Finger zitterten, als er das Glas entgegennahm. »Was sind die anderen beiden?«
»Das Leben ...« Jaro erfasste seine Hand. Seine Finger schlossen sich fest um Mattis’. »... und der Tod.« Er zog ihn zu sich hinab. So nah, dass Mattis meinte, in den hellen Iriden Nebelschwaden zu sehen. »Diese Drei. Mehr Wahrheit gibt es nicht.«
Ein atemberaubend sinnlicher Mund. Trotzdem so scharf geschnitten – beinahe kantig – wie das restliche Gesicht.
Jaro hielt ihm das Weinglas an die Lippen.
Mattis wollte nur nippen, doch Jaro neigte es, dass ihm ein großer Schluck in den Mund und übers Kinn lief.
»Nicht kosten«, wisperte er. »Genießen.«
Wärme floss durch Mattis’ Kehle, streifte sein Herz, füllte seinen Magen. Von dort breitete sie sich in seinem gesamten Körper aus.
»Das erste und zweite Geheimnis kennst du bereits.«
Jaros Stimme ...
Das verlockende Wispern, wie das Rauschen der Blätter ...
In alten Bäumen, vor langer Zeit. Gesichter zwischen Licht und Schatten, ein Nicken, ein Flüstern.
Geschichten, vergänglich wie Morgentau im Gras, schwermütig wie ein Lied in der Nacht.
Mattis hatte sich nicht daran satthören können.
»Die dritte werde ich dir heute zeigen.«
Mattis starrte auf den Mund, der sich zu einem Lächeln verzog.
Er sollte widersprechen. Das Leben? Natürlich. Der Tod? Nein, woher sollte er ihn kennen? Zumindest nicht aus erster Hand. Die Liebe? Er hatte bereits geliebt. Scott.
Wobei ...
Liebe? Wohl eher ...
Jaro lehnte sich zu ihm. Sein warmer Atem streichelte Mattis’ Lippen. »Schenke mir dein Herz.«
Das Wispern ...
Er kannte es.
»Ich warte schon so lange darauf.«
»Wer bist du?« In Mattis’ Ohren rauschte es. Das Zimmer begann, sich um ihn zu drehen.
Das Flüstern in seinen Träumen, die Lockungen, die Drohungen. Die qualvolle Sehnsucht hinter jedem Wort.
Jaro. Er war es. Wie war das möglich?
Der Wein schwappte aus dem Glas.
Jaro hielt seine Hand fest, streichelte mit dem Daumen über Mattis’ Fingerknöchel. »Du weißt es bereits.«
Mattis schüttelte den Kopf. Was lief hier? Nichts davon konnte real sein. Er lag zu Hause auf dem Sofa und schlief. Morgen würde er aufwachen und darüber lachen, dass er geträumt hatte, der Erlkönig hätte ihn verführt.
»Von Beginn an hat mich deine Schönheit verlockt«, wisperte es außerhalb seiner zusammengekniffenen Augen. »Wenn du dich mir versagst, werde ich ...«
»Nein!« Mattis sprang auf, taumelte zurück. »Du wirst mir nichts antun! Ich bin ein Mann wie du. Ich werde mich wehren!«
Jaro war doppelt so breit wie er und mindestens einen halben Kopf größer.
Mattis ballte die Fäuste. Er hatte bisher nie gekämpft. Irgendwann war immer das erste Mal.
Jaro lehnte sich zurück, stütze sich mit den Händen hinter dem Rücken auf. Er neigte den Kopf, lächelte.
Er war sich seiner Beute sicher. Genoss es, sie in der Falle zappeln zu sehen.
Mattis wurde übel. Er rannte zur Tür, rüttelte an der Klinke.
Nichts.
»Wie kommst du darauf, dass ich dir etwas antun will?«, erklang es amüsiert hinter ihm. »Ich biete dir meine Liebe an und erwarte dafür nichts weniger als dein kostbares Herz. Ein fairer Preis. Findest du nicht?«
Mattis fuhr herum. »Schluss jetzt mit diesem Spiel! Sag mir, was du von mir willst und wer du bist!« Er schlug sich vor die Stirn. Was Jaro von ihm wollte, war sonnenklar. Unter anderen Umständen hätte er es ihm vielleicht freiwillig gegeben.
Jaro seufzte. »Also gut.« Er setzte sich zurecht, trank mit entnervender Ruhe einen großen Schluck Wein. »Meinen Namen kennst du. Die meisten meiner Berufe ebenfalls. Zu meinem Alter: Ich habe vor langer Zeit aufgehört, die Jahre zu zählen.«
»Verarsch mich nicht!« Mattis zitterte vor Anspannung.
»Tue ich nicht.« Die hellen Augen begegneten ernst seinem Blick. »Spätestens morgen früh wirst du mir glauben.«
»Warum erst morgen?«
»Weil ich erst dann gewillt bin, mit dir zusammen diese von mir wirklich aufwendig bereitete Inszenierung zu verlassen.« Eine der buschigen Brauen zuckte nach oben. »Lust darauf, danke zu sagen?«
»Nein!« Verdammt, jetzt brüllte er schon. Mattis atmete tief ein und aus. Nie zuvor war ihm eine Situation dermaßen entglitten.
Drei Möglichkeiten: Er war einem Irren zum Opfer gefallen, er träumte, oder – die gruseligste Variante – er hatte seinen Verstand verloren.
Scheiße. Variante drei war am wahrscheinlichsten. Wer bereits als Kind Stimmen hörte, dem war nicht mehr zu helfen.
»Du bist nicht real.«
»Die Wahrheit?«
Sie würde wie ein Märchen klingen. Mattis nickte dennoch.
»Ich bin so real, wie du in diesem Moment.« Sein Blick schweifte durchs Zimmer. »Wie das Licht der Kerzen, wie ihre Wärme, wie die Spinnweben, die ich vor dir versteckt habe.«
»Aber woher kennst du mich?« Eine rhetorische Frage. Mattis wusste es längst.
Jaro straffte die Schultern. »Ich habe dich gesehen, als du in deinem Bett lagst. Fiebrig und völlig allein. Trotz deiner Krankheit warst du bezaubernd schön und deine Hilflosigkeit hat mich berührt.«
Allein. Das war er oft gewesen. Bevor er sich von den Stimmen hatte ablenken lassen, hatte er sich davor gefürchtet.
»Als ich bemerkte, dass du mich hören konntest, beschloss ich, dir die Zeit zu vertreiben.« Jaro streckte ihm die Hand entgegen. Die Geste lud ihn ein, zurückzukommen und sich zu ihm zu setzen. »Später wollte ich dich zu mir locken, aber ...«
Bevor Mattis begriff, was er tat, gehorchte er.
Jaro quittierte es mit einem flüchtigen Lächeln. »... dann kam dein Vater und unsere Verbindung riss ab.«
»Die Paracetamolzäpfchen.« Mattis Wangen glühten. Hatte Jaro ihn dabei beobachtet, wie ihm sein Vater die Dinger in den Hintern geschoben hatte?
»Du warst ein Kind.« Jaro schmunzelte. »Ich empfand bei diesem Anblick lediglich Bedauern, weil ich wusste, dass du mich danach nicht mehr wahrnehmen konntest.«
»Ich habe es auch bedauert.« Die Stille, nachdem das Fieber gesunken war. Die Einsamkeit. »Aber ich dachte ...«
»Du hast mich für eine Einbildung gehalten, ja?« Jaro nahm seine Hand, legte sie sich aufs Herz. »Spürst du es schlagen?«
Mattis wollte zurückziehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Ein Duft nach Erde und Laub streifte ihn, nach Regen und Wind. Er hielt ihn gefangen, lockte ihn an einen verzauberten Ort.
»Ich habe eine Stimme, die dich ruft.«
Wie warm sich Jaros Brust anfühlte.
»Ich habe eine Hand, die deine hält.«
Das Pochen unter Mattis’ Fingern wurde schneller.
»Und ich habe ein Herz, das ich dir längst geschenkt habe. Du musst es nur noch annehmen.«
Erstaunlich, dass graue Augen glühen konnten. In einer Intensität, die ihm den Atem stocken ließ.
»Nur für dich habe ich mein Zuhause verlassen.« Jaros Flüstern streichelte ihm übers Gesicht.
»Es wollte mich nicht gehen lassen. Sieh.« Er lockerte die Schnürung seines Hemdes, streifte es sich von den Schultern.
Sonnengebräunte Haut glänzte matt im Kerzenschein.
Die sehnigen Muskeln versprachen eine Kraft, die Mattis spüren wollte.
Die dunklen Nippel verlockten seine Lippen, sie sanft einzusaugen, die Spur schwarzer Härchen führte hinab zum Hosenbund, verschwand darunter.
Mattis schluckte. Was würde er dafür geben, den Gürtel zu lösen.
»Hast du kein Mitleid mit mir?« In den hellgrauen Augen funkelte es spöttisch. »Ich habe für dich gelitten.«
Mattis blinzelte sich aus seinen Sehnsüchten. Von was redete Jaro?
Über den Oberkörper zogen sich frisch verkrustete Schrammen und blaue Flecken. Mein Gott, wie hatte er das übersehen können? Es musste von dem Unfall stammen.
»Es tut mir leid.« Die Wunden waren nicht sehr tief, aber sie sollten versorgt werden. »Ich hole schnell ...« was? Seine Haustür war versperrt und der Schlüssel lag auf der Ablage im Flur.
»Nein.« Jaro legte ihm die Hand auf den Oberschenkel und verhinderte, dass Mattis aufsprang. »In deiner Nähe ist kein Platz für Schmerz. Außerdem trägst du keine Schuld.«
»Hätte ich dich nicht angefahren ...« Gott, sah Jaro fantastisch aus. Mattis schluckte, versuchte vergeblich, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Seine Aufmerksamkeit klebte an dem Mann ihm gegenüber, dessen kraftvolle Männlichkeit ihm jeden Gedanken aus dem Hirn scheuchte.
In einem schwachen Moment ihm in den Arm sinken. Die Lippen auf seinen fühlen, eine fordernde Zunge willkommen heißen und dann, irgendwann, wenn sich die Lust zu einem glühenden Ball in seinem Unterleib gesammelt hatte, sich wild und hemmungslos von ihm nehmen lassen.
Mattis brach der Schweiß aus. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen und in seinem Schritt wurde es immer enger.
»Das hat mit dem Unfall nichts zu tun«, unterbrach Jaro seine Qual. Er nippte an seinem Wein, schloss genießend die Augen. »Es geschah davor.«
»Wobei?« Als hätte ihm jemand mit Krallen über die Haut gekratzt. Statt Mitleid empfand Mattis jedoch nur den dringenden Wunsch, über die Kratzer zu lecken und sich an den geschundenen Körper zu pressen.
»Ich verlasse nicht oft meine Heimat«, sagte Jaro, ohne die Lider zu heben. »Der Übertritt in eure Welt ist beschwerlich.«
»Unsere Welt?« Woher kam er?
»Die Grenzen werden streng bewacht.«
Die Kerzen schienen heller zu brennen.
»Mir bleibt nichts übrig, als aus meinem eigenen Reich zu fliehen.«
Das war der Moment, aufzustehen und zu verschwinden. Mattis blieb. »Wo liegt es?«, fragte er stattdessen und verdrängte das Gefühl kompletter Unwirklichkeit.
»Ganz in der Nähe.« Jaros Hand lag nach wie vor auf Mattis’ Bein. »Da, wo ich dir vors Auto gerannt bin.«
»Der Erlenbruch?« Sämtliche Härchen stellten sich auf.
»Die Bäume wollten mich zurückhalten. Mit aller Macht. Ein Herrscher darf sein Reich nicht verlassen. Das nimmt es ihm übel.« Jaro lächelte.
Gott, er war unsagbar beeindruckend. Die breiten Schultern, die muskulöse Brust, die beinahe schwarzen, glänzenden Haare.
Mattis sehnte sich nach dem großen Mund. Nach den kräftigen Fingern, die über seinen Körper glitten.
»Ein Traum.« Die einzige, logische Erklärung. Mattis klammerte sich an den Gedanken. Er war allemal besser als die Alternativen.
Jaro zog seine Hand zurück. »Fühlt es sich für dich nach einem an?«
»Allerdings.« Mattis kniff sich. »Au!«
»Wie kommt ihr nur immer auf die Idee, euch durch diesen Unsinn aufwecken zu wollen?«
»Mit kneifen?« Irgendjemand musste damit angefangen haben.
»Wenn das hier dein Traum ist, wie möchtest du, dass er weitergeht?«
»Dass du mich verführst.« Die Worte sprudelten schneller aus seinem Mund, als er sie zurückhalten konnte. Seine Finger brannten von der Berührung, spürten noch den Herzschlag.
Letzte Nacht im Schlaf hatte er nach einem Fremden gesucht, dessen Sehnsucht gehört und mitempfunden. Er war bereit gewesen, sich ihm hinzugeben, so sehr hatte ihn die Stimme verführt.
Es war wieder Nacht.
Wieder ein Traum, nur dass er dieses Mal den Mann gefunden hatte.
»Ich will, dass du mich küsst, bis mir der Atem versiegt. Dass du mir die Kleidung vom Leib streichelst, meinen Körper erforschst und mich bis zum Morgengrauen in diesem flirrenden, beinahe schmerzenden Zustand geballter Erregung hältst.« Unter Jaros kräftigen Händen musste jede Berührung eine Offenbarung sein.
Jaros Pupillen weiteten sich. Tief in ihnen flackerte es heller, als das Meer der Kerzenflammen. »Was soll dann geschehen?«, fragte er leise. »Möchtest du in der Glut verharren, die ich in dir geschürt habe, oder darf ich sie auflodern lassen, um dich darin zu verbrennen?«
»Verbrenne mich.« Seine Stimme klang fremd. Zu rau, verzweifelt sehnsüchtig.
In Jaros Augen schlugen die Flammen höher. »Du weißt nicht, wie lange ich darauf gewartet habe.« Er neigte sich zu ihm.
Sacht legten sich Jaros Lippen auf seine. Sie fühlten sich fest an, gaben kaum nach. Dennoch kosteten sie ihn unendlich zärtlich.
Eine warme Hand in seinem Nacken, die ihn näher zog. Ein Arm um seine Taille, der ihn festhielt.
Kein Entkommen. Der Gedanke flackerte auf, ohne Angst auszulösen.
Mattis wollte nicht fliehen. Wovor?
Vor den Gefühlen, die ihm Jaro in den Körper küsste?
Sie fluteten seinen Mund, eroberten sein Herz, brachten es aus dem Takt, doch das genügte ihnen nicht. Sie wollten Mattis ganz und gar, drangen immer tiefer in ihn, ließen ihn glühen, zittern.
~*~
Mattis gab sich hin, mit einer Leidenschaft, die an Jaros Beherrschung zerrte.
Er leckte über die weichen Lippen, drängte sie auseinander.
Mattis empfing seine Zunge mit einem erleichterten Seufzen.
Die geschlossenen Lider flatterten, der Gesichtsausdruck wirkte entrückt.
Jaro griff ihm in die Haare, zog Mattis’ Kopf in den Nacken, küsste den hervorstechenden Kehlkopf.
Mattis stöhnte auf. Der Laut setzte Jaros Nerven in Brand.
Er leckte über die zarte Haut am Hals, biss hinein.
Mattis bebte in seinem Arm, krallte sich in Jaros Schultern. »Mehr«, keuchte er. »Oh Gott, mehr!« Er zog ihn auf sich, schlang die Beine um seine Hüfte.
Jaro zerrte das Oberteil von Mattis’ geschmeidigem Körper.
Glatte, makellose Haut.
Ungläubig strich Jaro darüber.
Unter seinen Fingerkuppen fühlte es sich an wie Samt.
Seine Daumen fanden die blassrosa Brustwarzen.
Mattis bog sich stärker nach hinten.
Wachs in seinem Arm.
Jaro fiel über den wundervoll schlanken Hals her. Er zog die Haut zwischen die Lippen, leckte bis hoch zum Ohrläppchen.
Mattis wimmerte, rieb sich wild an Jaros Unterleib.
Er war sein. Ganz und gar. Darauf hatte er all die Jahre gewartet.
Es war wie damals, als er seine Töchter zu sich geholt hatte.
Schuld streifte ihn, verglühte in Mattis’ kehligem Stöhnen.
Einhändig befreite sich Jaro von Gürtel und Hose.
Mattis’ Blick heftete sich auf Jaros pralle Lust, wurde glasig. »Hilf mir«, flehte er. »Hol mich aus dieser Scheiß engen Jeans raus!« Hektisch öffnete er die Verschlüsse, strampelte, ohne etwas auszurichten.
Jaro zog an den Hosenbeinen, musste lachen. Mattis zappelte wie ein frisch gefangener Fisch.
Jaro zerrte sämtliche Kleidung von Mattis.
Ein erregender Duft hüllte ihn ein.
Er presste sein Gesicht an Mattis’ Lenden, inhalierte tief.
Seine Nerven flirrten vor Glück, seine Sinne tanzten.
Küssen, Lecken, die Nase an dem köstlichen Unterleib reiben, dessen geschorene Härchen süße Herbe gefangen hielten.
»Bitte!« Mattis legte ihm die Beine auf die Schultern. »Worauf wartest du?«
»Denkst du immer noch, ich sei ein Traum?« Sacht streichelte er über die zarte Haut zwischen Mattis’ Backen, drückte mit dem Finger gegen den Eingang.
Mattis stöhnte laut auf.
»Sag es.«
»Ja!«
Ein Schrei, der um Erlösung flehte.
»Und wenn du erwachst, was tust du dann?« Er wollte kein Traum für ihn sein. Das war er lange genug gewesen.
Langsam schob sich sein Finger tiefer.
Mattis wand sich. »Dich vermissen.« Er bäumte sich auf, griff Jaro ins Genick und zog sich hoch bis zu seinem Mund. »Ich werde verzweifeln, dass ich dich an die Nacht verloren habe. Dass du nur in meinem Kopf existierst, dass ich nicht neben dir aufwachen kann, nicht mit dir frühstücken, nicht mein Leben mit dir teilen kann.«
»Dann bleib in diesem Traum.« Jaros Herz schlug ihm im Hals. »Bleib hier, bei mir.« Er sehnte sich so sehr danach.
Mattis Blick verschleierte sich. »Deine Stimme.« Seine Zungenspitze streichelte Jaros Lippen. »Sie hat mich schon so oft verführt. Ich bin ihr gefolgt, konnte dich nie finden.«
»Nun hast du mich gefunden.« Er griff in die weichen Haare. »Ich will, dass du mir folgst, mir dein Herz schenkst und es nie wieder zurückforderst.« Er spuckte sich auf die Finger, benetze seinen Schwanz.
Mattis folgte seinem Beispiel, nur dass er sich die Nässe an seinen Eingang schmierte. »Bitte, ich halte es nicht länger aus.« Er presste sich mit aller Gewalt gegen ihn.
»Dann sei mein.« Jaro stieß zu, Mattis schrie heiser auf.
~*~
Glühender Schmerz versengte ihn. Er grub sich tiefer, füllte ihn aus.
Und löste sich in brennender Lust, je heftiger Jaro in ihn stieß.
Mattis entkamen Laute, die er nie von sich gehört hatte.
Halt. Er brauchte Halt! Sonst ging er verloren, wurde zu Asche, wehte mit dem Wind davon.
Er klammerte sich an Jaros breite Schultern, bohrte die Finger in die Muskeln. »Hilf mir!« Die Welt geriet aus dem Gleichgewicht, trudelte im leeren Raum. Atemlos kämpfte er um ...
Was? Alles, was er war, löste sich auf.
Nur der Rhythmus Jaros wilder Stöße band ihn an den letzten Rest Existenz.
Nässe tropfte auf ihn, schmeckte nach Salz, Leidenschaft, Herbstregen. Mattis leckte ihn sich von den Lippen, flehte um mehr. Mehr von allem. Von Jaro, seinem Schweiß, seiner Wildheit, von dem Übermaß an Gefühl, das ihn auseinanderriss und dennoch zu einem glühenden Punkt zusammenschmolz.
Er würde sterben.
Niemand ertrug dieses irrsinnige Glühen.
Kein Denken mehr. Verblassende Bilder.
Ein Taumel inmitten explodierender Lust.
Mattis gab sich auf, fiel in starke Arme zurück, lauschte dem heiseren Schrei, der ihn bis ins Mark erschütterte, ihn in den Abgrund stieß.
~*~
Die Arme um den bebenden Körper geschlungen, die Nase im Duft der nassen Haare. Jaro keuchte ebenso laut wie Mattis.
Nie zuvor hatte er sich dermaßen verloren. Niemals hatte er bis über alle Grenzen hinweg geliebt.
Er presste Mattis fester an sich, wärmte ihn mit der Glut, die gar nicht daran dachte, ihn zu verlassen.
Rings herum erloschen die Kerzen, die Dunkelheit schluckte ihr Licht und ließ Kälte über den Boden kriechen.
»Wir müssen gehen.« Das Eis war von den Fensteröffnungen geschmolzen, das erste Grau des Tages sickerte ins Zimmer. »Es wird Zeit.«
»Wohin«, fragte Mattis verschlafen. »Zu mir?« Er rieb sich die Augen, blickte sich verwundert um. »Oh Mann.« Erschrocken erhob er sich. »Soll das heißen, ich habe nicht geträumt?«
»Zieh dich an.« Er würde ihm später erklären, dass das Leben nicht zwischen Träumen und vermeintlicher Realität unterschied.
Ebenso wenig wie der Tod.
Mattis streifte sich seine Kleidung über, betrachtete seine nackten Füße. »Irgendwie muss ich in meine Wohnung. Ich habe den Schlüssel gestern liegen lassen.«
»Komm zu mir.« Jaro zog sich die Hose an, schloss den Gürtel. Er schlüpfte in Hemd und Weste, ließ seinen Blick noch einmal durchs Zimmer streifen. Die Zauber hatten sich längst wieder in ihre Verstecke verkrochen. Nichts erinnerte mehr an die vergangene Nacht. Bis auf die zwei Pfützen auf den Holzbohlen, die für kurze Zeit Gläser gewesen waren.
»Zu dir?« Mattis runzelte die Stirn. »Das geht nicht, ich muss arbeiten.«
»Heute nicht.« Jaro nahm seine Hand. Erklärungen würden Mattis nicht helfen. Er musste es erleben.
Sie schritten durch die Straßen, ließen die kleine Stadt hinter sich. Unter einem Schwarm Wildgänsen entlang erreichten sie die Senke.
Noch hing Nebel über dem Erlenbruch. In den ersten Sonnenstrahlen würde er sich auflösen.
Immer wieder blickte sich Mattis um. »Wie sind wir so schnell hierhergekommen?«, fragte er schließlich. »Eben waren wir doch noch ...«
Der Wagen am Straßenrand. Eingedrücktes Blech, zersplitterte Scheiben. Blinkende Lichter an Fahrzeugen, die doppelt so groß waren wie er.
Mattis starrte auf die Szene vor ihm. Er ging schneller, wollte dahin rennen, wo es nichts mehr für ihn zu tun gab.
Bevor er den Körper erreichte, der vorsichtig auf eine Liege gehoben und zugedeckt wurde, griff der Erlenbruch nach ihnen.
Straße und Lichter verschwanden hinter Ästen und Herbstlaub. Die ernsten Gesichter der Männer lösten sich im Nebel auf.
Taunasses Gras kitzelte ihre Füße, die Sonne erhob sich über die Wipfel der Bäume.
Die Schwingen der Wildgänse sirrten durch die Luft, mischten sich mit dem Rascheln der Blätter.
Ein kalter, klarer Himmel spannte sich über sie hinweg.
Er war zu Hause. Zum ersten Mal seit Langem freute er sich darüber.
Mattis Finger verschränkten sich in seinen. »Ein Traum?«
Jaro schüttelte den Kopf.
~*~
Texte: S.B. Sasori / https://sbnachtgeschichten.com
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Cover: S.B. Sasori
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2019
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