ZWISCHEN JETZT
UND NIE
GESCHEHEN
S.B. Sasori
1. Prolog
Ich gelobe, dir treu zu dienen, dir in die größte Finsternis und in gleißendes Licht zu folgen.
Ich gelobe, weder dich noch deine Ziele zu verraten.
Mein Schwertarm soll deinen Leib schützen, mein Herz deiner Seele Zuflucht schenken, wann immer sie danach verlangt.
Ich gelobe, dich niemals zu enttäuschen und mich dir mit jedem Atemzug und jedem Augenblick meines Lebens zur Verfügung zu stellen.
Nimm meine Kraft, meine Liebe und meinen Mut und bediene dich ihrer nach deinem Ermessen.
Die Handschrift meines Vaters. Sie steht auf der Titelseite eines Artusromans. Die Seiten sind vergilbt, der Buchrücken ist gebrochen. Ein billiges Taschenbuch, wie die meisten Bücher von ihm. Ich habe sie alle gelesen. So wie dieses hier. Es handelt von Gawain und der Loyalität gegenüber seinem König. Es erzählt seinen Kampf gegen die finsteren Mächte, die versuchen, Camelot und die Tafelrunde in ewige Dunkelheit zu stürzen. Immer wieder werden die treuen Ritter in den Irrsinn gelockt, immer wieder müssen sie erneut ihre Treue unter Beweis stellen.
Ich liebe den Roman. Ich liebe sämtliche Bücher meines Vaters. Sie sind das Einzige, was ich von ihm besitze.
Ich streiche über die geschwungenen Buchstaben, frage mich, warum er den Eid aufgeschrieben hat. In der Geschichte kommt er nicht vor. Auch in keiner anderen der Artussagen, in die er Nacht für Nacht versank.
Ich weiß nicht, wem der Schwur gilt. Mein Vater besaß keine Freunde. Jedenfalls erinnere ich mich nicht, dass jemals Gäste in der schäbigen, kleinen Wohnung gewesen wäre.
Nur er und ich.
Bis zu dem Tag, als er zu einer Reise aufbrach, von der er nie zurückkehrte.
Ich packe das Buch zu den anderen in eine Umzugskiste. Mehr werde ich aus dem Zimmer nicht mitnehmen, das mir mein Onkel nach Vaters Verschwinden als Zuhause angeboten hat.
Es war nie eines.
Tante Paula steht in der Tür, nippt an einem Kaffee. »Du hättest zur Beerdigung kommen können.«
»Ich war in Wales.« Bei einem Retro-Hippie-Paar. Für meine Hilfe, eine Scheune auszubauen, konnte ich dort umsonst schlafen und essen. Eine schöne Zeit. Meine Gastgeber waren recht anschmiegsam gewesen. Vor allem nachts.
»Tomke sagte mir, er hätte dir geschrieben, wann die Beerdigung stattfinden würde.«
»Das hat er.«
»Dann wolltest du deinem Onkel den letzten Dienst verweigern?«
Ihr Seufzen knüpft in Sekunden eine Verbindung zu einer Zeit, die längst hinter mir liegt.
»Ja.« Mehr gibt es nicht zu sagen.
»Es tut mir leid, dass du dich mit Andreas nie ausgesöhnt hast.«
»Mir nicht.« Er hat aufgehört, in meinem Leben eine Rolle zu spielen, als ich diesem Haus den Rücken kehrte. »Doch mir tut es leid, dass er tot ist. Für dich.« Mich selbst lässt es kalt.
»Tatsächlich?« Ihr Lächeln ist eher traurig als überrascht. »Ich weiß, du konntest ihn nicht ausstehen.«
»Er mich auch nicht.« Ich erinnerte ihn zu sehr an meinen Vater. Mit aller Gewalt hat er versucht, mich auf einem geraden Weg zu halten. Aber ich liebe verschlungene Wege. Wege, die niemals zum Ziel führen. Die nur dazu dienen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Onkel Andreas wollte nur eines: ankommen. Der Weg war nebensächlich.
»Du warst lange fort.« Meine Tante kniet sich zu mir, weicht jedoch meinem Blick aus. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Dass ich verloren gehe wie mein Vater?« Es gibt keine Verantwortung, vor der ich fliehen müsste. Dafür habe ich gesorgt. Außer mir selbst, gehört niemand in mein Leben. Die flüchtigen Bekanntschaften zählen nicht und Tomke ist etwas anderes. Er kommt allein zurecht und würde eher den Teufel tun, als sich in irgendeiner Weise auf mich zu verlassen.
»Es waren immerhin zwölf Jahre.«
»Ich war auf Reisen.« Das bin ich immer.
»Kommst du klar? Auch finanziell, meine ich?«
»Ja.« Ich brauche nicht viel und das, was ich benötige, sponsort mein Cousin Tomke. Tante Paula ahnt nicht, dass ich mit keinem Menschen öfter das Bett geteilt habe als mit ihrem Sohn. Sie weiß nur vom ersten Mal und das wird ihr genügen.
Tomke und mich verbindet keine romantische Liebe, aber eine enge Freundschaft, die in Leidenschaft mündet, wenn wir beide betrunken sind.
»Wohin fährst du als Nächstes?« Endlich sieht sie mir in die Augen.
»Interessiert es dich oder möchtest du nur nett sein?«
»Ich teile die Angst deines Onkels um dich, Demian. Du wirkst auf mich ebenso haltlos, wie es dein Vater gewesen ist.« Als wäre ich der kleine verlassene Junge, streicht sie mir sanft über die Wange. »Er war ein Träumer. Lebte nur in diesen Geschichten. Sie wurden zu einer fixen Idee, bis er die Realität nicht länger ertrug.«
»Ich habe kein Problem mit der Realität.« Ohne grob zu sein, wische ich ihre Hand von mir. »Ich kenne mehr von ihr als du.« Das Reihenhaus mit dem akkuraten Vorgarten hat die Nackenschläge von ihr ferngehalten. Jede Nacht konnte sie in einem sauberen Bett schlafen, täglich etwas Warmes essen. Onkel Andreas hat die Versicherungen bezahlt und die Kredite getilgt. Auch wenn er mir gegenüber ein kaltes Arschloch gewesen war, er hat sich um seine Familie gekümmert. Da waren keine Sorgen in Paulas Leben. Die sind erst nach seinem Tod über sie hereingebrochen.
Meine Tante senkt den Blick. »Du hättest damals nicht gehen müssen. Er hat es nicht so gemeint.«
»Er hat mich rausgeschmissen.«
»Er war erschrocken!«
»Weil ich seinen Sohn gevögelt habe?«
»Tomke war wie ein Bruder zu dir!«
»Das ist er immer noch.« Mir fehlt die Geduld, ihrer Empörung zuzuhören. Erstens kommt sie zu spät und zweitens spielt sie keine Rolle.
An meinem achtzehnten Geburtstag erwischte mich mein Onkel mit Tomke im Partykeller.
Während Tomke im Rhythmus meiner Stöße vor Lust schrie, verkündete mir mein Onkel, dass ich bis zum Abend meine Sachen gepackt und das Haus zu verlassen hätte. Er wollte mich nie mehr sehen.
Ich keuchte ein »ist okay für mich« und fickte Tomke ins Nirwana, um ihm nur einen Augenblick später zu folgen.
Noch Tage danach prangten meine Saug- und Bissmale an seinem Körper. Er nahm mich für die erste Zeit bei sich auf und lehrte mich seine Version von verwandtschaftlicher Nächstenliebe.
Hin und wieder führt mich mein Weg nach Eimsbüttel in sein Junggesellenappartement und dabei direkt in seine Arme. Reise ich ab, geht es mir und meinem Konto besser als vorher.
Er muss das nicht tun. Er weiß das. Aber er will, dass ich ihm alles über meine Reisen erzähle. Manchmal berichte ich es ihm, während wir uns lieben. Das genießt er besonders.
Da er nicht nur ein Kieferorthopäde mit einer florierenden Praxis ist, sondern auch ein Mann von Stil, zieht er erotische Geschichten, die sich in Hotelzimmern statt in Hinterhausecken abspielen, vor. Er beteuert mir jedes Mal vor einer Überweisung, dass es ihm eine Freude ist, mir diesen Gefallen zu tun. Und ich versichere ihm jedes Mal, dass es nicht nötig ist.
Ich schätze ihn sehr.
Seine Großzügigkeit, die nie hinterfragt. Seine Nonchalance, seine Liebenswürdigkeit und seine Offenheit beim Sex. Viele Leute lieben ihn. Aus denselben Gründen.
Und viele nutzen ihn aus. Ich habe dennoch nie gehört, dass über seine Lippen eine Verurteilung gekommen wäre. Er nimmt die Menschen, wie sie sind. Reicht ihnen seine Hand und klagt nicht, wenn danach ein paar Finger oder der komplette Arm fehlen.
Nur einmal hat er mich enttäuscht. Es war an Silvester vor zwei Jahren.
»Sehnst du dich nicht nach einer Aufgabe?« Er schenkte mir ein Glas Champagner nach und sah mich mit beinahe väterlichem Blick an. »Du gehst auf die Dreißig zu, Demian. Es wird Zeit, dem Leben etwas von dir zurückzugeben.«
»Das mache ich.« Ich grinste ihn an und packte so viel Sarkasmus wie möglich in meine Stimme. »Ich vögele es mit jedem Geliebten ins Glück. Ist das nichts?«
»Das meine ich nicht und das weißt du.«
»Hast du mit deinem Vater telefoniert?«
»Er sorgt sich um dich. Du vagabundierst in der Weltgeschichte herum und lebst von Gelegenheitsjobs.«
»Und von dir.«
»Das ist etwas anderes.« Statt mir eine zu verpassen, wie ich es verdient hätte, küsste er mich auf die Wange. »Ich mach das gern. Trotzdem solltest du zur Ruhe kommen und dir eine richtige Arbeit suchen.«
Ich trank das Glas aus, warf es in den Kamin. Mir war nach Dramatik. Auf jeden Fall nach Wut. »Gute Nacht, ich gehe ins Bett.« Mit einem Seitenblick zu ihm fügte ich ein allein hinzu und fühlte mich eine Sekunde später wie ein Schurke.
Am nächsten Morgen hat Tomke kein Wort darüber verloren. Weder über das Thema noch über meine Reaktion darauf.
»Ab und zu ein Lebenszeichen von dir, würde mir schon genügen.« Paula schafft es, ehrlich besorgt zu klingen. Wahrscheinlich ist sie es auch. »Sag mir wenigstens, wohin du fährst.«
»Ich weiß es nicht.« Das ist die Wahrheit. Reisen plane ich nicht. Ich lasse sie geschehen. Die Straße hat ihre eigene Art, mich zu locken. Oft habe ich keine Ahnung, wo ich abends sein werde. Was zählt, ist der Aufbruch und der Weg. Das Ankommen, spielt keine Rolle.
Drei Kisten. Ich verstaue sie im Kofferraum und fahre zu Tomke. Sicher hat er einen trockenen Platz für meine Bücher. Unterwegs schreibe ich ihm eine Nachricht und die Antwort kommt sofort.
Kein Problem.
Das mag ich an ihm. Er ist unkompliziert.
~*~
2. Eine Reise
Rouen liegt hinter mir, graue Wolkenberge hängen vor mir. Die Regenschleier wirken bedrohlich, zumal das Unwetter direkt auf mich zukommt. Innerlich fluchend trinke ich den letzten Rest Kaffee. Er ist über drei Stunden alt und schmeckt auch so.
Um vier Uhr morgens habe ich mich von Tomke verabschiedet und bin ins Auto gestiegen. Ich musste nicht nachdenken, wohin ich fahre. Der Weg führte mich. An Aachen vorbei, durch Belgien nach Frankreich. Ich bin etwa anderthalb Jahre nicht hier gewesen und es wurde wieder Zeit. Ich liebe dieses Land. Vor allem die Bretagne. Als wäre ich dort zu Hause und hätte es nur vergessen.
Von Fern grollt es. Blitze zucken aus Dunkelgrau. Ich bin zu müde, um mich durch ein Gewitter zu quälen, seit zehn Stunden sitze ich hinterm Steuer.
Der Wind frischt auf, dicke Tropfen klatschen auf die Frontscheibe. Binnen Minuten erkenne ich kaum noch die Straße. Es gießt wie aus Eimern und die Böen versuchen mich beharrlich von der Straße zu drängen.
Nur bis zur nächsten Abfahrt. Weiter muss ich heute nicht mehr kommen.
Honfleur.
Bestens. Ich mag die kleine Hafenstadt. Im Herbst habe ich ihr bisher nie einen Besuch abgestattet.
Die Straßen schwimmen, als ich das Ortsschild hinter mir lasse.
Im Zentrum ist eine günstige Pension direkt über einer Crêperie. Bin ich in Honfleur, übernachte ich dort.
Ich bahne mir einen Weg durch das Unwetter, bis ich den zentralen Parkplatz eher ahne, als sehe.
Es dauert eine Stunde, bevor aus der Sintflut ein sachter Regen wird, der mich aussteigen lässt. Ich melde mich in der Crêperie und die Frau hinter dem Tresen ruft die Pensionswirtin an.
Die kleine Frau mit dem strengen Dutt lächelt, als sie mich sieht. »Monsieur Eibenstetter!« Sie nimmt meine Hand in ihre und schüttelt kräftig. »Wieder nur eine Nacht oder bleiben Sie dieses Mal länger?«
»Nur eine Nacht, Madame Fouet.«
»Wie schade! Doch Sie kommen zum rechten Zeitpunkt. Der Barde ist in der Stadt.«
Ihrem Blick nach erwartet sie, dass es bei mir klingelt.
»Der junge Geschichtenerzähler«, hilft sie mir umsonst auf die Sprünge. »Nur einmal im Jahr, immer am letzten Tag des Oktobers erzählt er auf dem Kirchplatz keltische Sagen. Manchmal singt er sogar.« Ihre Augen leuchten wie die einer frisch Verliebten. »Es ist jedes Mal ein Ereignis. Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen.«
»Werde ich nicht. Darf ich vorher meine Tasche aufs Zimmer bringen?«
»Natürlich.« Ihr Lächeln ist breit und ehrlich.
Die Treppe zu den Pensionszimmern ist mir so vertraut, dass ich weiß, welche Stufen quietschen und welche nicht. In dem schmalen Flur riecht es nach alten Dielen und der Schlüssel hakt wie immer im Türschloss und braucht Zuspruch, bevor er seinen Job korrekt ausführt.
Ich lasse die Reisetasche zu Boden und mich aufs Bett fallen. Ich bin hundemüde. Nur einen Moment die Augen schließen, solange muss der Mann warten.
Ein Barde.
Ich liebe Geschichten.
~*~
»Die Realität findet nicht in deinen lächerlichen Büchern statt.«
Natürlich betritt mein Onkel mein Zimmer, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, vorher anzuklopfen.
»Sondern da draußen.« Gleichgültig nickt er zum Fenster. »Dir bleiben zwei Jahre bis zum Abitur. Nur zwei Jahre, in denen du deinen Notendurchschnitt auf ein akzeptables Niveau hieven musst. Ansonsten hättest du dir diese Hürde sparen können.«
Ich hasse die Kälte in seiner Stimme. Sie schneidet wie ein frisch geschliffenes Gemüsemesser. Es dringt durch mein Fleisch, lässt mich bluten, aber er bemerkt nichts davon. Stattdessen wirft er einen Blick auf das Buch in meiner Hand, als bestünde es aus fauligem Schleim.
Eine Artuserzählung. Ich lese sie zum dritten Mal. Eben stand ich an einer einsamen Bucht und sah Lughs Boot entgegen. Es sollte mich retten, vor meiner hexenhaften Mutter.
Lugh von der Langen Hand. Einer der keltischen Götter.
Mein Onkel hat mich aus dem jungen Gawain herausgerissen und mich zurück in die Realität gezerrt. So etwas macht er ständig. Er platzt in meine Träume und zerschlägt sie. Einen nach dem anderen.
»Im Prinzip bin ich nur gekommen, um dir mitzuteilen, dass du die Reise nach Frankreich canceln musst.« Er sieht aus dem Fenster, statt in mein Gesicht. »Du brauchst die Sommerferien, um zu lernen. Das ist klar. Dein Zeugnis ist miserabel.«
Und wieder ein zersplitterter Traum.
»Ich bezahle sie selbst.« Die Wut in meinem Bauch lässt mich kaum sprechen. »Ich habe ewig dafür gespart!« Eine organisierte Jugendreise durch die Normandie bis in die Bretagne. Ohne meine Tante, ohne meinen Onkel. Exakt das, was ich will.
»Nicht mit diesen Noten.« Er schüttelt den Kopf, heuchelt Bedauern, dabei wissen wir beide, dass es reine Enttäuschung ist. So war es, seit er das Sorgerecht für mich übernommen hat.
Ich enttäusche ihn, er enttäuscht mich. Es wird sich nie ändern.
Habe ich meinen Vater ebenfalls enttäuscht? Ist er deshalb gegangen?
Ich war erst fünf.
Eine Sturmnacht. Ich weiß es noch genau. Blitze durchzuckten den Himmel und der Donner krachte so laut, dass ich jedes Mal zusammenfuhr. Ich flüchtete zu meinem Vater ins Wohnzimmer. Er saß seelenruhig auf dem Sofa, in ein Buch vertieft.
Dieser Anblick war mir vertraut.
Ich kletterte auf seinen Schoß, lehnte mich gegen ihn und betrachtete wie er die Buchseiten.
»Es ist das letzte Herbstgewitter, Demian. Du musst dich nicht fürchten. Morgen scheint die Sonne wieder.« Er blätterte die Seite um und begann, mir vorzulesen. Mit jedem Wort tauchte ich tiefer in die Geschichte. Fort von der Angst, fort von dem Donner und dem heulenden Sturm. Mitten hinein in ein Leben am Hofe von König Artus.
Jetzt gehören die Bücher mir und ich lese sie, so oft ich will.
Mein Onkel hasst das. Ich frage mich wieso? Es sind nur Geschichten, aber er führt sich auf, als würden sie die Sicherheit seines Reihenhauslebens bedrohen.
Vielleicht gibt er ihnen die Schuld, dass sein Bruder verschwunden ist.
Vielleicht auch mir.
Am Morgen nach dem Sturm hat mich mein Vater geweckt. Seine Augen sahen seltsam aus und seine Bewegungen waren ungewohnt langsam. Er sagte mir, er müsse verreisen und würde mich zu Onkel Andreas bringen.
Das hat er getan. Vor dem grün gestrichenen Tor hat er mich aus dem Wagen aussteigen lassen und ist losgefahren. Ohne sich richtig zu verabschieden. Ich erinnere mich an die zusammengerechten Laubhügel auf dem Rasen, während ich den Gartenweg bis zur Haustür gegangen bin.
Aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre. Niemand wusste, wo er steckte. Er hat sich weder bei seinen wenigen Freunden noch bei meinem Onkel oder mir gemeldet.
Seit letztem November gilt er als verschollen.
Bei diesem Wort denke ich an Schiffbruch und nicht an den klapprigen Golf, der in meiner Erinnerung kleiner und kleiner wurde, bis er hinter der Kurve verschwand.
Mittlerweile weiß ich von Tante Paula, dass er ein Problem gehabt hatte. Mit sich, der Welt, den Menschen darin. Tiefer und tiefer hätte er sich in alte Sagen und Geschichten vergraben, bis er nicht mehr aus ihnen hinauswollte. Jede Hilfe, jeder Vorschlag, zu einem Therapeuten zu gehen, wären von ihm abgeschmettert worden. Tante Paula vermutet, dass es an meiner Mutter gelegen hat. Angeblich hätte mein Vater sie abgöttisch geliebt. Was sie nicht daran gehindert hat, ihm ihr frisch geborenes Kind in den Arm zu drücken und zu verschwinden.
Ich habe keine Ahnung, wie sie ausgesehen hat. Es gibt keine Fotos, keine Zeichnungen. Vielleicht hat mein Vater sie alle verbrannt.
»Bist du achtzehn, kannst du tun und lassen, was du willst.« Mein Onkel blickt mit zusammengezogenen Brauen auf meinen unaufgeräumten Schreibtisch. »Bis dahin solltest du jedoch Ordnung gelernt haben.« Missmutig schüttelt er den Kopf, murmelt, dass ich meinem Vater immer ähnlicher werde und dass ihm das Sorgen bereite.
So etwas sagt er oft. Dass ich die meiste Zeit mit lesen verbringe, macht es nicht besser. Zumal es dieselben Bücher sind, in die sich auch sein Bruder verkrochen hat.
Mittlerweile verstehe ich meinen Vater. Die Geschichten sind mehr als Fantasie. Sie sind eine Zuflucht.
Vor der Dunkelheit in mir, der Angst, verloren zu sein, der Wut auf mein Leben, meine Lehrer, meinen Onkel. An manchen Tagen bestehe ich nur daraus.
Tante Paula ermahnt mich zu Dankbarkeit. Onkel Andreas hätte nicht eine Sekunde gezögert, mich wie einen Sohn bei sich aufzunehmen.
Ich kann nicht auf Befehl dankbar sein. Ich habe es versucht. Doch dann betritt er wieder mein Zimmer, als wäre es seines, ordnet an, was ich zu tun und zu lassen hätte, beklagt sich über mein Verhalten oder die Unordnung und bevor er geht, wirft er meinen Büchern einen Blick zu, als wollte er sie am liebsten im Vorgarten verbrennen.
Sie sind mein Schatz. Nicht das Papier, das langsam auseinanderfällt, aber die Geschichten darin. Sie handeln von Menschen, die anders sind, als alle, die ich kenne. Als würden sie von einem Licht geleitet, das sie trotz Gefahren und Leid immer weiter zu ihrem Ziel hinführt.
In meinem Leben gibt es weder dieses Licht noch irgendein Ziel. Die Schule ist ein notwendiges Übel und was ich danach mit meinem Leben anfange, weiß ich nicht.
»Ich sorge mich um dich.« Mein Onkel legt seine ernste Miene auf. Je nach Bedarf tauscht er sie in Sekundenschnelle gegen eine ärgerliche aus. Manchmal nimmt er sie ab und nichts bleibt zurück. Ein ausdrucksloses Gesicht. Reine Gleichgültigkeit.
»Du hast keine Hobbys, nur wenig Freunde und was du später werden willst, weiß du auch nicht. Dir fehlt es an sinnvollen Aufgaben.« Er setzt sich auf meine Bettkante.
Ich will ihn dort nicht. Er soll gehen, mich in Ruhe lassen. Aber vorher muss er mir die Reise erlauben.
»Du kümmerst dich nur um diese Bücher.«
»Wäre es dir lieber, ich würde um die Häuser ziehen und Scheiben einschlagen?« Wo ist sein Problem?
»Demian, jeder Mensch braucht eine Aufgabe. Sonst verliert er den Halt und trudelt sinnlos durchs Leben. Hast du vergessen, was aus deinem Vater geworden ist?«
»Er ist fort.« Ich weiß nicht einmal, ob er lebt. »Und genau das will ich auch. Weg sein. Lass mich verreisen!« Es ist wichtig für mich. Ich fühle es bis tief ins Herz. Ich will unterwegs sein. Neues sehen. Andere Menschen kennenlernen. Wie soll ich es ihm erklären? Da ist etwas in mir, dass sich auf den Weg machen muss.
Mein Onkel würde es niemals verstehen.
»Nicht dieses Jahr.«
Den bedauernden Unterton kann er sich stecken.
»Nächstes Jahr bekomme ich garantiert noch schlechtere Noten und du wirst wieder sagen, dass ich lernen soll!«
»Dann tu es.« Er steht auf, sieht unerträglich lange auf mich herab. »Lerne, ergreife einen vernünftigen Beruf und baue dein Leben auf ein solides Fundament.«
»Da draußen wartet etwas auf mich! Etwas Großes, ungeheuer Wichtiges!« Erst als ich die Worte ausspreche, wird mir klar, dass sie wahr sind. »Wichtiger als die Schule und irgendein Beruf! Ich muss es finden!«
»Hat es etwas mit diesen Geschichten zu tun?« Er nickt zu dem Bücherstapel vor meinem Bett. »Sehnst du dich nach Heldentaten, nach Abenteuern? Willst du gefangene Prinzessinnen retten und Drachen erschlagen oder lieber dein Leben an der Seite eines Sagenkönigs riskieren?«
Eine Prinzessin hatte ich nicht im Sinn. Das mit dem König schon eher.
Wie fühlt es sich an, alles, was man ist, alles, was man kann, in den Dienst eines anderen zu stellen, von dem man weiß, dass er viel, viel wichtiger ist als man selbst. Seine Ziele zu den eigenen zu machen. Ihm den Weg zu ebnen, ihm eine Stütze sein, wenn alle anderen ihn verraten und hintergehen.
»Du bleibst in den Ferien zuhause und lernst. Das ist mein letztes Wort.« Er geht, schließt die Tür zu leise hinter sich.
Hätte er sie doch zugeschmissen!
Ich schleudere das Buch dagegen, brülle vor Zorn.
Es fällt zu Boden.
Der Rücken ist gebrochen.
~*~
Fünf Uhr nachmittags. Ich bin eingeschlafen. Ob der Geschichtenerzähler noch da ist? Wahrscheinlich hat ihn das Unwetter in die Flucht geschlagen.
Ich dusche mir den Rest der Reisemüdigkeit vom Leib und schlendere durch Honfleur. Es ist ungewöhnlich mild für die Jahreszeit. Als würde sich die Sommerwärme zwischen den Häuserwänden vor dem herrannahenden Winter verstecken. Ich genieße es, diese Stadt ohne Touristenmengen zu erleben.
Nur wenige streunen durch die engen Gassen, betrachten die mit Kunst oder Süßigkeiten gefüllten Schaufenster.
Ich mag das selbstgemachte Nougat, aber Süßes auf zwei Beinen mit einem hübschen Schwanz dazwischen ist mir lieber.
Temporäre Liebe. Sie währt nur so lange, wie wir dieselbe Stadt miteinander teilen. Wenn ich weiterziehe, lasse ich sie hinter mir.
Nie länger als ein, zwei Tage.
Ich besitze keine Wurzeln, also treibt mich der Wind vor sich her. Es ist okay für mich.
Steinerne Köpfe ohne Augen, ohne Nase. Nur ein menschliches Gebiss verrät, dass es sich überhaupt um Köpfe handelt.
Ich bleibe vor dem Laden stehen, betrachte die skurrile Auslage. Die Zähne sehen täuschend echt aus. Tomke hätte seine Freude an diesem Souvenir.
Ich wähle den schauerlichsten und lasse ihn mir von einem smarten Mittvierziger als Geschenk verpacken. Nebenbei plaudern wir über das Unwetter und den Vorteil eines intakten Gebisses. Wir lachen zusammen, als wären wir Bekannte.
Ich genieße den Moment.
»Der Barde ist da, Monsieur.« Er nickt Richtung Straße. »Eine Kundin sagte mir gerade, dass er wieder
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: S.B. Sasori; https://sbnachtgeschichten.com
Bildmaterialien: Shutterstock.com, Arman Zhenikeyev
Cover: S.B. Sasori
Lektorat: Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8641-4
Alle Rechte vorbehalten