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Leseprobe

 

S.B. SASORI

 

Mr. Cutter’s

Special Way of

Kissing

 

 

 

 

 

1. Prolog

 

Vor einem Jahr, Meiko-Higashi-Brücke, Nagoya, Japan.

 

»Dein Fall war tief.« Wie eine zerbrochene Puppe liegt der Mann auf dem Asphalt. Eine Pfütze aus Blut besudelt die langen, schwarzen Haare. »Wie alt bist du gewesen? Fünfundzwanzig? Dreißig?« Zu jung, um die Hoffnung aufzugeben. Das Leben selbst hatte sich an ihm vergangen, ihn hin- und hergeschleudert. Ein übermütiges Spiel war eine Freude für die Zuschauer, nicht jedoch für das Spielzeug.

Ich habe schon viele wie ihn gesehen. Sie kommen mir auf ihrem Weg entgegen, und betteln darum, dass ich sie mitnehme.

Anfangs war es eine schmeichelnde Erfahrung für mich, statt Angst und Entsetzen, Dankbarkeit in den Augen meiner Schützlinge zu sehen. Manchmal auch nur jene Art tiefer Resignation, die alles Lebendige negiert, obwohl es allgegenwärtig ist.

Um die Mittwinternacht häufen sich die freiwilligen Übertritte. Hin und wieder ereignen sie sich so spontan, so unvorhersehbar, dass mir die Gelegenheit genommen wird, einen würdigen Moment zu inszenieren.

Ich reiche meine Hand jedem von ihnen. Denen, die mir aus freien Stücken folgen und denen, die sich zu sträuben versuchen. In dem Augenblick des Zugreifens, wenn sich unsere Finger berühren und sie erkennen, dass es sich warm und fest anfühlt, fällt die Angst von ihnen. Der Ausdruck der Überraschung, der sich zu Erleichterung, sogar in Freude wandelt, ist mein täglicher Lohn und entschädigt mich für die Schmähreden, die mich noch kurz zuvor wie ein Gewittersturm bedrängt haben.

Der Mann auf dem Asphalt ist mir in den Arm gesprungen. Während des Fallens hat er meinen Kuss wie ein köstliches Geschenk empfangen. So innig geben sich mir nur wenige Menschen hin. Sie misstrauen der ungewohnten Leidenschaft, die plötzlich nach ihrer Seele greift. Verstehen nicht, woher sie kommt und fürchten ihre Unmoral.

Für Außenstehende, und viele stehen außen, ist der Gedanke, sich mit mir zu verbinden, abstoßend.

Sie kennen mein Geheimnis nicht. Ihre Erinnerungen reichen nicht weit genug zurück. Sie haben den Pakt, den wir miteinander geschlossen haben, vergessen.

»Wach auf.« Haru Matsukuro. Ein Name, der die spanische Mutter verschweigt. »Haru!« Meine Stimme klingt rau vor Schmerz. Es ist seiner, doch er zersplittert in meinem Herz, schneidet mich, bis sich alles in mir wund anfühlt. Es ist ein letzter Dienst am Leben, ihm diese Qual abzunehmen, damit es aufatmen und loslassen kann. Früher hat mich dieser Akt des Mitgefühls an den Rand meiner Belastbarkeit geschleudert. Im Laufe der Jahrtausende habe ich gelernt, ihn wie eine Welle über mich hinwegschwappen zu lassen. Er kommt, er geht. Wie das Leben selbst.

Haru ist schön. Schönheit springt selten von Autobahnbrücken. Sie findet leichter Wege, die gangbar sind. Haru ist an ihnen vorbeigestolpert, immer wieder ins Dickicht gedrungen oder erschöpft in Wüsten zusammengesunken. Es existieren nur wenige persönliche Dinge, die ich ihm hätte zeigen können, hätte er gewartet und mir Zeit für meine Ouvertüre geschenkt. Ich setze mich gern angemessen in Szene.

Ein Stofftier mit Rüssel, das nie einem Elefanten ähnelte, eine Teeschale aus dem Service seines Großvaters, die Risse in der Keramik mit Goldstaub bedeckt, eine Zigarrenschachtel mit abgenutzten Buntstiften. Letztendlich der Grund, weshalb er vor mir liegt. Übermotivierte Eltern neigen dazu, ihren Kindern Schneisen in das Wirrwarr der Möglichkeiten zu schlagen und bemerken zu spät, dass sie damit die eigentlichen Pfade versperren.

Das Foto eines jungen Mannes. Er hat Haru nicht nur bis in die Seele berührt. Auch diesen Weg haben seine eifrigen Eltern verschüttet. Sie werden erschüttert sein, wenn sie erfahren, dass ihr einziger Sohn in der von ihnen sorgfältig erschaffenen Ordnung verlorengegangen ist.

Ich beuge mich über das blasse Gesicht, küsse die kälter werdenden Lippen. Seelen lassen sich mit Zärtlichkeit locken wie Mäuse mit Speck.

Ich streichele mit der Zungenspitze den Mund, der eben noch Entschuldigungen in die Nacht gewispert hat. Keine der Schemen, die in Blech eingezwängt an mir vorbeirauschen, bemerkt mich. Auch nicht den Körper, um den ich behutsam die Arme schlinge. Ein Trick mit der Zeit, um meine Arbeit bewältigen zu können. Illusionen an meine Bedürfnisse anzupassen, gehört zu meinen Talenten.

Ich verberge Haru an dem Ort, zu dem die Lebenden nicht hinsehen. Nicht, dass dort nichts wäre. Sie erwarten lediglich nicht, es zu sehen. Sie bleiben blind, ohne es zu bemerken. Erst, wenn Harus Hülle vollkommen einsam ist, werde ich den Taschenspielertrick beenden. Die Hektik wird mit quietschenden Reifen bremsen und das Entsetzen panisch die Ambulanz rufen. Die Abläufe in diesen Momenten ähneln einander wie Geschwister. Sie überraschen mich nicht mehr, dabei werde ich gern überrascht.

Sanft legen sich Schneeflocken auf meinen Nacken, schmelzen unter dem Mantelkragen. Ich liebe ihre Kühle.

Mit dem Daumen öffne ich den Mund meines Schützlings ein wenig weiter, verwöhne ihn mit der Zunge. Die Einladung gilt allein der zögerlichen Seele. Der Aufschlag muss sie eingeschüchtert haben, sonst würde sie sich mir zeigen. Steht ihnen der Verstand nicht mehr im Weg, wissen selbst die verstocktesten Seelen, dass sie bei mir gut aufgehoben sind.

Harus sträubt sich, schickt etwas anderes vor, das längst hätte gehen sollen. Leben.

Ich schmecke es deutlich. Nur ein ängstlicher, zusammengekauerter Rest, doch es klammert sich an die sterbende Hülle, als gäbe es auf dieser Bühne einen Grund dazu.

Hartnäckig. Harus trostloser Entschlossenheit zum Trotz besteht es auf seine Existenz.

Wo? In dem zerschlagenen Körper kann es sich nicht entfalten.

Es sei denn …

Ich habe es lange nicht mehr getan. Einen Menschen mir zur Seite gestellt, ihn in die Geheimnisse meiner Kunst eingeweiht. Er muss den Schritt von sich selbst fortgehen, hin zu mir. Alles ablegen, was ihm vertraut ist. Haru wird es leichtfallen. Er hat den Abschied auf der Brüstung der Brücke hinter sich gebracht.

Wie erleichtert er mir in den Arm gesprungen ist. Mit welcher Hingabe er sich an mich geschmiegt hat.

Ich könnte ihn lehren.

Und lieben.

Die dunklen Wimpernkränze heben sich. Der Blick darunter fragt mich nach Dingen, die der Verstand nicht begreifen kann.

Noch nicht.

Der Kuss auf die Stirn entlockt meinem Schützling ein Seufzen.

»Teshi.« Ein neues Leben fordert einen neuen Namen.

2. Mr. Cutter’s special way of kissing

 

- Jacob Getty -

 

»Ich werde Chauffeur.« Der Plan steht. Unumstößlich. Ich liebe das Fahren. Vor allem in protzigen Wagen. Da ich sie mir nicht leisten kann, komme ich selten in den Genuss.

Der Duft des Leders, das angenehm Haftende, dennoch Glatte des Lenkrades, das mühelose Schalten mit einem perfekt in die Handfläche gebetteten Knaufs. Sanftes Dahingleiten, bei dem es gefühlstechnisch keine Rolle spielt, ob achtzig oder hundertachtzig Stundenkilometer auf dem Tacho stehen.

Limousinen. Alles andere sind bessere Vehikel. Ich muss das wissen. Mein Stiefvater besaß einen Jaguar XF. Volllederausstattung. Niemand außer ihm durfte sich hinters Lenkrad setzen. Ich war die Ausnahme. Dafür investierte ich eine Menge. Es hat sich gelohnt. Zugegeben, meine Mutter sah das anders. Nicht einmal auf ihrem Totenbett hat sie mir verziehen.

Ein Fakt, mit dem ich leben muss.

Ich fahre nebenbei Taxi. In Madison, Wisconsin. Allerdings sind Taxen keine Limousinen im eigentlichen Sinn und stinken, statt zu duften. Die Fahrgäste lassen ebenfalls oft zu wünschen übrig.

Sie reden. Nicht jeder, aber die meisten. Belangloses, was mich weder interessiert, noch jemals interessieren wird. Ich wünschte, sie würden schweigen. Ein schlüssiger Eingangssatz, der lediglich so konkret wie möglich das Ziel erwähnt, genügt vollkommen. Auch diese penetrante Art des Nachhakens, um mich in ein Gespräch zu verwickeln, ist mir zuwider und beeinträchtig meinen Fahrgenuss immens.

Mein Traum: ein schweigender, gern zungenamputierter oder stimmbandgeschädigter Fahrgast. Oder jemand, der mich als Modul des von ihm gekauften Service betrachtet und dementsprechend in Ruhe lässt. Von dem ich nichts weiß, außer, dass er sich einen Chauffeur plus Limousine leisten kann.

»Chauffeur?« Tante Nelly hebt zweifelnd die Brauen. »Dazu braucht man eine Ausbildung.«

»Ich fahre dich. Das ist Ausbildung genug.« In der Army bin ich alles gefahren, das Räder besaß.

»Ich kann sehr gut allein fahren.«

»Keinesfalls.« Ihr Fahrstiel beschert mir Panikattacken. Es liegt weniger daran, dass sie auf einem Auge blind ist, was sie jedoch seit Jahren konsequent leugnet, sondern eher an ihrem ausgeprägten Hang zum Risiko. Der Gedanke das klappt noch, wird zweifelsfrei der letzte ihres Lebens sein.

»Jacob.« Tante Nelly gießt sich einen Tee ein. »Überdenke dieses Vorhaben in Ruhe. Ein Chauffeur ist eine Art Miet-Diener. Willst du das wirklich?«

»Der Dienst ist indirekter Natur. In erster Linie fahre ich.« Und zwar exakt mit den Wagen, die ich liebe. Ich brauche nicht viel. Doch die Dinge, die ich nutze, sind wertig oder sie sind gar nicht. Demzufolge besitze ich kaum etwas. Wesentlich weniger, als ich bräuchte. Tante Nelly hat erfreulicherweise kein Problem damit, mir ihren Hausrat zur Verfügung zu stellen.

»Erstklassige Chauffeure verdienen gut«, wendet Nelly ein. »Du könntest deine Spielschulden begleichen.«

»Welche Spielschulden?« Ich spiele nie. Ich wüsste weder um, noch mit was.

»Nicht?« Sie wirkt ehrlich erstaunt. »Ich dachte, deine traurige Vergangenheit zwingt dich zu exzessiven Trinkgelagen und nächtelangen Casinobesuchen. Immerhin bist du unehrenhaft aus der Army entlassen worden.«

Ein Umstand, den sie mir häufig unter die Nase reibt. Ich habe ihr meine Entscheidungen erklärt. Sie hat behauptet, sie verstanden zu haben. Eine saubere Lüge.

Es gibt Dinge, die erledige ich auch aus Gründen der Vaterlandsliebe zu allseitiger Zufriedenheit. Und es gibt Dinge, die verweigere ich auch dann, wenn mir eine Pistole an die Schläfe gehalten wird. Eine unehrenhafte Entlassung als Folge solcher Entscheidungen ist Dreck dagegen. Ehre und Stolz können nur dort angekratzt werden, wo sie existieren. Beides habe ich aus meinem Leben getreten. Zusammen mit den meisten meiner sogenannten Freunde und unschöner Erinnerungen an Explosionen, abgerissener Körperteile und dem Anblick von Staub auf offenen Augen.

Träume zählen nicht. Sie sind heimtückisch, schleichen sich aus der Dunkelheit an, wenn du dich nicht wehren kannst. Sie überfallen dich. Brutal, skrupellos. Zwecklos, eine Waffe zu laden und ins Finstere zu schießen. Nichts und niemand wird ächzend niedersinken. Nichts und niemand wird dich aufgrund seines Todes für immer in Ruhe lassen. Träume dünnen aus, wenn die Kugel naht. Sie lassen sich durchdringen, ohne Wunden, ohne Narben. Beides bekommst nur du. Reichlich. Nicht außen. Aber innen.

Deshalb schlafe ich ungern. Kaffee ist mein Freund. Der beste, den ich vorweisen kann. Einer meiner Tricks: Früh zu Bett und früh raus. Die übelsten Träume ducken sich in den ersten Morgenstunden zum Sprung. Stehe ich vor vier Uhr auf, entkomme ich ihnen hin und wieder.

»Der nette junge Mann mit dem Ring in der Unterlippe hat heute Morgen nach dir gefragt.« Nur ein Tropfen Sahne. Mehr nimmt Nelly pro Tasse nie. Er schwimmt nach einer Sekunde als Wolke auf der goldbraunen Oberfläche. »Ich habe dich verleugnet, wie abgesprochen.«

»Gut.« Markus begann, mir lästig zu werden.

»Warum?« Nelly betrachtet mich mit ihrem Unschuldsblick. »Ich dachte, es wäre was Ernstes zwischen euch beiden.«

»War es auch.« Bis er mich geküsst hat. Keine Küsse. Nie und nirgendwo hin. Zu nah, zu intim, zu verbindlich. Er wusste, dass ich diese antiquierte Form der Liebesbezeugung ablehne, und hat sich schulterzuckend über meinen Wunsch hinweggesetzt.

Nein, seine Schulter hatte dabei nicht gezuckt. Nur sein Schwanz. In meiner Faust. Zukünftig wird er das in einer anderen machen.

Ich habe mir danach die Hände gewaschen und ihn freundlich aber bestimmt gebeten, zu gehen und sich das Wiederkommen zu sparen. Ich bin kein Romantiker. Mir fiele es nicht ein, den Fortpflanzungstrieb, der bei mir etwas umgeleitet ausfällt, mit Liebe zu verwechseln. Aus einem einzigen Grund: Liebe ist die pathetische Bezeichnung einer Anhäufung chemischer Reaktionen in Hirn und Unterleib. Es macht Sinn, diesem Trieb nachzugeben, weil ein Orgasmus inklusive des Weges dorthin eine feine Sache ist. Flirrendes Sekundenglück. Ausreichend, um einen grauen Tag in ein helleres Licht zu tauchen.

Außerdem fühlt man sich zu keinem Zeitpunkt intensiver, als während es aus einem herausspritzt. Ein Garant dafür, lebendig zu sein. Hin und wieder brauche ich diese schlichte Gewissheit.

»Da gibt es Firmen, die machen so was.« Nelly rührt in ihrem Tee.

»Was? Küssen?« Das halte ich für ein Gerücht.

»Nein.« Liebenswert, ihr Lächeln. »Einen zum Chauffeur auszubilden. Ein paar Tage in Praxis und Theorie, dann eine Prüfung von irgendeiner Verkehrsinstanz und wenn du willst, kannst du noch einen zweiten Kurs ranhängen. So für die ganz besonders anspruchsvollen Kunden.«

»Woher weißt du das?« Das Geräusch des ans Porzellan schlagenden Löffels stellt mir die Härchen auf. Sie ignoriert meinen Blick und klackert weiter. Dabei ist ihr meine Geräuschempfindlichkeit durchaus vertraut. An Silvester ziehe ich mich an den Devil’s Lake zurück. Eine Jagdhütte, Wald, der See, Stille, ich. Ein super Team.

Stille ist zweierlei in meinem Leben: Frieden oder Tod. Ich komme mit beidem klar. Beim Lärm sieht es anders aus.

»Ich habe in deinem Zimmer Staub gewischt und die ausgedruckten Prospekte gefunden.« Wieder dieses Lächeln. »Ruf dort an, wenn es dich glücklich macht.«

Nelly meint den Job. Nicht den Anruf. Ich telefoniere ebenso ungern, wie ich mich unterhalte. Nelly stellt die einzige Ausnahme dar. Immerhin gewährt sie mir Obdach und das schon ziemlich lange. Aufgrund eines familiären Missverständnisses sah ich mich gezwungen, mit siebzehn Jahren mein Elternhaus zu verlassen.

Nein, es war kein Missverständnis. Ich verführte meinen Stiefvater versehentlich vor den Augen meiner Mutter. Damals für mich eine Notwendigkeit. Für sie eher ein Drama, in das sie trotz Hyperventilation nicht eingriff. Sie wartete nach Luft schnappend ab, bis ihr Mann schweißnass und zu tiefst befriedigt zurück auf die Sofakissen sank, bevor sie ihren Hausschuh auszog und auf mich losging.

Ich war schneller und Tante Nellys Wohnung zum Glück nicht allzuweit entfernt. Meinem Ersuch nach Asyl wurde nachgekommen, zog jedoch einen heftigen Familienstreit nach sich, der zum Bruch des ohnehin mürben Verhältnisses der Schwestern führte.

Seitdem wohne ich mit jahrelangen Unterbrechungen in einem zwölf Quadratmeter großen Zimmer mit Samtvorhängen und teile mir das Bad mit einer mittlerweile Fünfundsechzigjährigen. Kein Problem. Wir kommen beide damit klar, zumal ich auf Herrenbesuche verzichte. Das mute ich ihr nicht zu. Ist mir nach Sex, organisiere ich den entweder in der Wohnung des jeweiligen Partners oder schlicht in Klubs.

Die Idee, allein zu leben, kam mir früher oft. Dann begann die Zeit beim Militär. Sie bescherte mir einen längeren Aufenthalt in Afghanistan.

Meine Karriere endete 2009 mit einem Schuss, der nie abgefeuert wurde, den ich aber hätte abfeuern müssen. Zwingend.

Befehlsverweigerung und das anschließende Verfahren samt der unehrenhaften Entlassung ist ein gesellschaftlicher Genickbruch. Mir wurde es erst klar, als die Gesellschaft mein Genick brach. Leise, doch nachhaltig. Ohne das geringste Knacken.

Ich war damals froh, dass ich den Job als Taxifahrer bekommen habe. Erneut bei Tante Nelly unterzukriechen, war zum einen eine finanzielle Entscheidung, zum anderen nicht. Die alte Dame hat sich gefreut. Nicht über die Entlassung. Diese Nummer wird sie mir noch bis zu ihrem Tod hinaus nachtragen, sondern über die Aussicht, nicht länger allein zu wohnen.

Ich trinke den Tee, nicke ihr zu und verschwinde in meinem Zimmer.

Es wird Zeit, meine Zukunft zu organisieren.

Nach neun Anrufen bei neun Agenturen, die die Ausbildung zum Chauffeur anbieten, reihe ich neun Absagen aneinander. Alle aus einem Grund. Die verdammte, verfickte, beschissene unehrenhafte Entlassung aus dem Militärdienst.

Die Phasen, in denen ich das Handy an die Wand geschmettert hätte, sind vorbei. Ich werfe es lediglich aufs Bett und mich daneben. Ich bin müde. Todmüde. Ich sollte mehr schlafen.

Während meine Lider sinken, vergesse ich, über den Witz zu lachen.

 

Nuri schnappt sich das Funkgerät, rennt. Sand stiebt von seinen löchrigen Schuhsohlen.

Codierte Frequenzen. Für den Bruchteil einer Sekunde ist das der einzige Gedanke in meinem Hirn.

»Bleib stehen!« Ich will aus dem Wagen springen. Ihm hinterher. Bekomme den Gurt nicht auf. »Nuri!« Dieser Bastard! Kann ihn nicht fliehen lassen. Er stiehlt nicht für sich. Niemals. Er wird das Ding einem verdammten Warlord bringen. Alles klar, dann stiehlt er doch für sich.

»Nuri!« Ich hetze hinter ihm her. Muss ihn aufhalten. Das Funkgerät darf nicht in feindliche Hände gelangen. Gar nichts darf das. Keine Medikamente, keine Nahrung, und schon gar keine Codes.

Ich muss schießen. In den Rücken? Gott!

Ins Bein. Damit kommt er zurecht. Unsere Sanitäter taugen eine Menge. »Nuri! Bleib stehen!«

Er dreht sich um, sieht mich an. Über den Lauf des Sturmgewehrs hinweg findet er meinen Blick.

Ich lasse es sinken, sehe ihm nach, bis er verschwunden ist.

 

 

- Teshi -

 

Silbern. Ich mag diese Farbe. Vor allem, weil ich sie Senpai verdanke. Sehe ich in den Spiegel, erinnern mich meine Haare an die Bürde, die er mir auferlegt.

Ich binde sie im Nacken

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: S.B. Sasori; https://sbnachtgeschichten.com
Bildmaterialien: Bildmaterial: depositphotos.com; oo Gleb; fotolia.com, chuck
Cover: S.B. Sasori
Lektorat: Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8639-1

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