Scharfe Küsse schmecken besser!
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2. Auflage
Der knallrote Fiat 500 zuckelte gemächlich die eng gewundenen Serpentinen hinauf. Am oberen Ende der Steigung führte die Straße nahtlos durch die unbedarfte Ortschaft Cassandria im tiefsten Süden Italiens. Zwischen den Städten Crotone und Catanzaro auf einer langgezogenen Hügelkette angesiedelt und schätzungsweise zehn Kilometer von der Küste entfernt, lag das Städtchen gut dreihundertfünfzig Meter über dem Meeresspiegel und bot einen fantastischen Ausblick über die sanften Ausläufer des kalabrischen Apennin. Das Panorama wurde mit jedem zurückgelegtem Höhenmeter grandioser, doch die Fahrerin des Kleinwagens war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um der farbenprächtigen Natur mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken. Nur hin und wieder erfreute sie sich am Oleander, der in unregelmäßigen Abständen den Straßenrand säumte und mit seinen leuchtend pinkfarbenen Blüten einen sehenswerten Kontrast zum azurblauen, wolkenlosen Himmel bildete. Ließ man seine Augen über die von der Sonne verbrannte Landschaft streichen, konnte man in der Ferne den kilometerlangen Küstenabschnitt ausmachen und die beinahe unnatürlich wirkenden Aquamarinschattierungen des Ionischen Meeres bewundern.
Rechts der Straße bildeten massive Felsen eine natürliche Wegbegrenzung, linker Hand verhinderten Steinmauern und Leitplanken den unvermeidlichen freien Fall in die Tiefe. Die sich stetig wiederholenden Haarnadelkurven drosselten die Fahrgeschwindigkeit ohnehin auf unter vierzig Stundenkilometer. Stellenweise durchbrachen imposante Schlaglöcher die vor Hitze flirrende Asphaltdecke. Zum Teil waren die Straßenschäden einfach nachlässig mit Schotter aufgefüllt. Die verbogene, teils zerstörte Leitplanke an der abgrundgerichteten Straßenseite zeugte von einem schweren Verkehrsunfall und gemahnte zu Vorsicht und Konzentration.
Estella fluchte lautlos vor sich hin, als dem Auspuff des vor ihnen fahrenden Lasters eine dunkle, stinkende Abgaswolke entströmte und ihre Sicht behinderte. Eigentlich ist diese Straße eine typische Metapher für mein derzeitiges Leben, dachte sie griesgrämig. Eine Achterbahnfahrt mit Augenbinde ohne Sicherheitsgurt und Airbag. Nur dass sie beziehungsweise ihr Gefühlsleben im letzten Jahr gänzlich von den kurvenreichen Wegen der Liebe abgekommen war und in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Hinuntergestürzt wurde, verbesserte sie sich im Stillen. Und zwar von dem eiskalt lächelnden Mann ihrer Träume, dem sie seit achtzehn Jahren verfallen war und der ihre Treue und Zuneigung durch eine wilde außereheliche Affäre mit anschließender Reproduktion verhöhnte und ihr Herz mit seiner maskulinen Schuhgröße 44 zu einem blutroten Brei zerstampfte. Wie konnte sie nur so blind sein, haderte sie zum gefühlten millionsten Mal mit sich. Ihre Hände würgten das Lenkrad, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Die typischen Anzeichen waren doch alle vorhanden gewesen! Die immer häufiger stattfindenden Geschäftsessen, das neue, sündhaft teure Rasierwasser, sein wachsendes Interesse an Mode und körperlicher Fitness. Ihre Wahrnehmung offensichtlicher Tatsachen war schlicht und einfach durch die tiefen Empfindungen zu diesem Mann abgestumpft, ihr Blick auf die Realität durch die rosarote Brille vernebelt. Anders ließ es sich nicht erklären, dass sie sich monatelang hinters Licht führen ließ. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an seine Ausreden, machte in ihrer grenzenlosen Naivität seine Lügen zu ihrer Wahrheit. Kein Wunder, dass Manuel sich einer Anderen, Klügeren zuwandte – ein Dummerchen wie sie konnte einfach nicht in seiner Liga mitspielen, selbst wenn sie es wollte.
Estella stöhnte frustriert auf. Sofort warf sie einen erschrockenen Blick auf die Beifahrerseite, doch ihre Tochter Lara schien ihren kleinen Gefühlsausbruch aufgrund der eingestöpselten Kopfhörer überhört zu haben. Scheinbar entspannt lümmelte sie in ihrem Sitz, ihr Kopf mit den geschlossenen Augen war gegen die Seitenscheibe gesunken. Wahrscheinlich hätte der Seelenzustand ihrer Mutter sie ohnehin nicht weiter gekümmert. Aus dem einst süßen kleinen Mädchen, welches ständig an Mamas Rockzipfel hing und für das Estellas Worte gleichbedeutend waren wie die heilige Schrift, hatte sich im Laufe der Pubertät ein launisches, widerspenstiges junges Geschöpf herauskristallisiert, welches nur noch entfernt an das engelsgleiche Wesen aus Kindertagen erinnerte. Gleichermaßen hübsch wie rebellisch – so ließ sich die bald Siebzehnjährige wohl am Besten beschreiben. Das vergangene Jahr war leider auch nicht spurlos an dem jungen Mädchen vorübergegangen: Die unschöne Trennung der Eltern erfolgte zum denkbar schlechtestem Zeitpunkt. Das Trauma eines zerrütteten Elternhauses und die darauf folgende frohe Botschaft eines neuen Geschwisterchens verarbeitete die bis dahin pflegeleichte Vorzeigetochter in ihrer eigenen Teenagermanier: Sex, Drugs & Rock´n Roll. Obwohl sich die Laras Drogenexzesse bis dato nur auf den einen oder anderen Freizeit-Joint beschränkten, versetzten sie ihre Eltern in höchste Alarmbereitschaft. Dagegen verblasste die Aufregung um das Brauen- und Zungenpiercing und das darauf folgende Drachen-Tattoo am Knöchel zu einer lächerlichen Anekdote. Doch damit nicht genug. Lara wartete noch mit ganz anderen Eskapaden auf. Vor allem die unsägliche Beziehung zu dem zehn Jahre älteren Gelegenheitsarbeiter Gerald war für die Familie ein Schock. Beim Aufräumen von Laras Zimmer fand Estella neben leeren Zigarettenschachteln Kondome in den verschiedensten Geschmacksrichtungen und wusste nicht, ob anhand ihrer Entdeckung weinen oder eher lachen angebrachter wäre. Letzten Endes tat sie beides – und zwar gleichzeitig. Auch wenn sich ihr wertvolles Kind schon dem erstbesten Versager hingab, war sie wenigstens verantwortungsbewusst genug, um sich vor Geschlechtskrankheiten zu schützen. Als Lara ihren inakzeptablen Freund zu Estellas Erleichterung endlich abserviert hatte, ließ sie sich auf eine äußerst emotionale On-Off-Liebelei mit einem jungen Tänzer ein, in deren Verlauf sie sich langsam, aber sicher zur Drama-Queen entwickelte. Nach monatelangem Hin- und Her outete sich besagter Freund als bisexuell und gab Lara wegen eines aufstrebenden YouTubers den Laufpass. Als das Mädchen zur Krönung ihrer jugendlichen Rebellion auch noch bekanntgab, die Schule abbrechen und eine Stelle als Au-pair in London antreten zu wollen, zog Manuel mit Estellas ausdrücklichem Einverständnis die Notbremse und schickte Lara auf ein privates Internat in der Nähe von Lüneburg. Entgegen aller Erwartungen lebte sich die kleine Rebellin in der idyllisch gelegenen Schule Marienau recht schnell ein. Vermutlich war ein strikt durchorganisierter Tagesablauf nebst systematischem Controlling genau das Richtige für Laras aus den Fugen geratenen Gefühlsleben. Nachdem sie ihre Grenzen abgesteckt und akzeptiert hatte, mauserte sie sich zu einer überraschend fleißigen Schülerin. Einem erfolgreichen Abschluss auf dem renommierten Gymnasium im kommenden Schuljahr stand demnach nichts mehr im Weg.
Estella wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr zu. Verärgert ließ sie den Wagen etwas zurückfallen, als weitere Rußwolken dem Auspuff des Vordermanns entfleuchten. Was für eine Umweltverschmutzung! Und überhaupt: Wie lange wollte sie sich denn noch dieses Schneckentempo vorschreiben lassen? Hatte sie sich nicht geschworen, von nun an ihr Leben selbst zu bestimmen?
Weiter vorne konnte sie eine willkommene Verbreiterung der Bergstraße ausmachen. Estella machte sich bereit, schaltete in den zweiten Gang zurück und lauerte wie eine Berglöwin auf Beutezug auf ihre Gelegenheit. Endlich! Der ausbleibende Gegenverkehr erlaubte trotz der Steigung ein flottes Überholmanöver, welches dem Motor des Kleinwagens ein entrüstetes Aufjaulen entlockte und ihr einen erstaunten Blick ihrer plötzlich hellwachen Tochter einbrachte.
"Dir ist schon bewusst, dass es hier ziemlich tief runtergeht, oder?", murrte der Teenager und reckte den Kopf, um einen Blick über die Leitplanke in die Tiefe zu erhaschen.
Estella schenkte Lara ein beruhigendes Lächeln. "Keine Sorge, Liebling. Deine Mutter hat vielleicht nicht viele Talente, doch Autofahren gehört definitiv dazu. Immerhin fahre ich nicht umsonst seit fast zwanzig Jahren unfallfrei."
"Hauptsache du meckerst nicht, wenn du nächstes Jahr bei mir mitfährst", meinte das Mädchen lapidar. Immerhin war vorgesehen, dass Lara nach dem Abitur Fahrstunden nehmen sollte. Und wie Manuel bereits seit Jahren ankündigte, würde an Laras achtzehntem Geburtstag ein fabrikneuer Kleinwagen als überdimensionales Geschenk unter dem Fenster seiner Tochter parken. Estella schüttelte widerwillig den Kopf. Ihr zukünftiger Exmann war schon immer der Meinung, sich mit Geld alles erkaufen zu können, sei es auf geschäftlicher Basis oder im Privatleben. Im Laufe der Zeit hatte er diese Idee so verinnerlicht, dass er sie offenbar sogar auf die Liebe seines Kindes übertrug.
Nach kurzer Zeit hatte Estella die letzte, besonders haarsträubende Kurve passiert und folgte der endlich geraden Straße zum Ortseingang. Ein großes Schild mit der Aufschrift Benvenuto a Cassandria hieß die Neuankömmlinge willkommen. Mit einem erwartungsfrohen Grinsen wandte sich Estella an ihre Tochter.
„Na, was meinst du? Willst du eine schnelle Stadtführung, bevor wir zu dem Haus deiner Urgroßmutter fahren?“
Lara starrte gelangweilt aus dem Fenster. „Stadtführung klingt wohl ein bisschen idealistisch, Mama. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mehr als zwei Minuten braucht, um dieses Kaff einmal komplett zu durchqueren.“
„Meinst du? Immerhin zählt Cassandria fast zehntausend Einwohner. Von einem Kaff kann man also wirklich nicht sprechen. In den sechziger und siebziger Jahren ja – da mussten die jungen Leute aufgrund der hiesigen Arbeitslosigkeit notgedrungenen in den Norden oder ins benachbarte Ausland ziehen. In diesen mageren Jahren war Cassandria, ach was – die ganze Region – regelrecht entvölkert. Die meisten fanden in der Emilia Romagna oder in der Lombardei feste Anstellungen, andere wiederum suchten in der Schweiz und in Deutschland ihr Glück. Wie mein Vater zum Beispiel. Er reiste einer Eingebung folgend nach Augsburg und machte dort seinen Weg. Viele zog es auch nach Amerika. Damals blieben nur die Alten zurück, und die jungen Familien kehrten nur im Sommer heim.“
„Weiß ich doch alles, Mama. Opa Francesco hat es ja nur ungefähr eine Million Mal erzählt. Wie er als junger Mann in die Fremde aufbrach und so weiter. Wie ihm vor Heimweh fast das Herz zerriss, wie die Deutschen ihn anfangs misstrauisch begegneten und wie Oma Jasmins Vater die Beziehung der beiden zu sabotieren versuchte.“
Estella verlor sich in der Vergangenheit. „Ja, der Vater meiner Mutter war schon ein harter Knochen. Ich konnte nie eine wirklich herzliche Beziehung zu ihm aufbauen, so sehr ich mich auch bemühte, ihm zu gefallen. Meinen Vater ignorierte er komplett, und ich war für ihn nur die Enkelin zweiter Wahl. Die Tochter eines Immigranten. Mit jedem Lebensjahr verhärtete sich sein Charakter, bis Mama schließlich den Kontakt zu ihm abbrach.“ Sie seufzte. „Ich war zehn Jahre alt, als er starb und habe ihn eigentlich nie richtig kennengelernt.
„Und damit hast du offenbar auch nicht viel verpasst. Ich kann Leute nicht ausstehen, die andere wegen ihrer Herkunft ablehnen.“
Estella konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. „Das ist meine Tochter!“
„Trotzdem, ich verstehe nicht, warum Opas Stimme immer melancholisch klingt, wenn er von diesem Nest hier erzählt“, lenkte Lara das Gespräch wieder in die Gegenwart zurück. „Ich finde diesen Ort jedenfalls nicht besonders originell. Die meisten Häuser machen doch einen ziemlich verwahrlosten Eindruck, wenn du ehrlich bist. Schau mal, die hässliche Bauruine da vorne! Und das hier – soll das etwa ein Kinderspielplatz sein? Also bitte! Nee, Mama – hier werden wir den langweiligsten Urlaub unseres Lebens verbringen“, prophezeite sie.
„Schätzchen, mach dir mal keine Sorgen. In spätestens einer Woche wimmelt es hier von jungen Menschen in deinem Alter. Im Sommer sind hier dreimal so viele Leute wie in den übrigen Monaten. Alle, die hier verwurzelt sind und aus welchen Gründen auch immer woanders wohnen, kehren in den nächsten Tagen hierher zurück. Cassandria ist im August rappelvoll. Du wirst schneller Anschluss finden, als du denkst und am Ende gar nicht mehr nach Hause fahren wollen. Ich meine, du sprichst dank deines Großvaters sehr gut italienisch -“
„Leidlich gut trifft es wohl eher. Ich kann mich verständigen, aber mehr auch nicht. Aber um dies überhaupt tun zu können, müsste ich auch Leute zum reden finden. Doch wo sind diese Unmengen von Einwohnern, von denen du sprachst? Schau doch, keine Menschenseele weit und breit. Sieht aus wie in einer Geisterstadt!“
„Kein Wunder, bei fünfunddreißig Grad im Schatten geht doch kein vernünftiger Mensch vor die Türe. Es ist Mittagszeit, die Leute bleiben bei der Hitze in ihren Häusern und halten Siesta. Oder sie gehen ans Meer.“
„Das ist wahrscheinlich auch das einzig Wahre, was man hier am Ende der Welt tun kann!“
Estella schmunzelte in sich hinein. „Okay, ich sehe schon: hier herrscht großer Nachholbedarf. Es ist bei weitem nicht so schlimm, wie du denkst. Pass auf, wir fahren jetzt zu Omas Haus, machen uns frisch und essen eine Kleinigkeit. Ich habe gestern noch einmal mit Angelita telefoniert. Mamma mia, so eine herzliche Frau! Ich kenne sie schon seit meiner Kindheit. Du wirst sie bestimmt sofort mögen. Sie war die beste Freundin meiner Oma und hat das Haus schon ein bisschen für unsere Ankunft vorbereitet. Sie hat mir versichert, für unser leibliches Wohl zu sorgen, also werden wir bestimmt Zutaten für eine Brotzeit im Kühlschrank vorfinden. Danach ruhen wir uns ein wenig aus. Die Läden öffnen sowieso erst wieder um sechzehn Uhr.“
„Das ist eine wirklich vernünftige Ansage, Mama.“ Lara gähnte demonstrativ. „Ich bin todmüde und komme außerdem um vor Hunger. Wann sind wir denn endlich bei diesem sagenumwobenen Haus?“
„Wenn ich mich richtig erinnere, müssen wir hier … Nein, falsch! Himmel, seit über zwanzig Jahren war ich nicht mehr hier! Ich weiß noch, dass man nach der Piazza nach links abbiegen muss …“ Estella setzte den Blinker, bog in eine leicht ansteigende Seitenstraße ein und folgte ihr ein Stück. „An diese kleine Kreuzung erinnere ich mich …“, murmelte sie konzentriert vor sich hin. „Wir müssen ganz in der Nähe sein … Ha! Ecco qua! Wir sind angekommen, mein Kind. Via Costantino“, rief sie aus und deutete auf ein an einer Hauswand angebrachtes Marmorschild.
Vor einem schmucken, sonnengelb getünchtem zweistöckigem Haus am am Ende der Straße stoppte Estella schließlich den Wagen und seufzte erleichtert. „Mein Gott, ist das ein schönes Gefühl! Es ist wie nach Hause kommen.“ Sie lachte befreit auf. „Ich hätte gar nicht gedacht, wie ich diesen Ort über die Jahre hinweg vermisst habe! Komm schon, Schnecke, lass uns endlich hinein gehen!“
Lara schwang ihre langen Beine aus dem Auto und streckte sich ausgiebig. Die Autofahrt in dem ungemütlichen Kleinwagen vom Flughafen in Lamezia Terme bis hierher war für ihre stattliche Körpergröße von ein Meter fünfundsiebzig die reinste Tortur. Als sie sich nochmals in Wageninnere beugte und nach ihrem Rucksack griff, hörte sie auf einmal, wie eine Türe geöffnet wurde. Gleich darauf ertönten neben hastigem Trippeln freudige, stark dialektgefärbte Begrüßungsfloskeln, die gewehrsalvenartig aus dem Mund einer verhutzelten alten Frau schossen. Lara verstand nicht mal die Hälfte, doch Mama quietsche beglückt auf, eilte der Greisin entgegen und umarmte sie liebevoll. Sogleich plapperte sie munter in fließendem Italienisch mit der gerührten alten Dame und rief im nächsten Moment nach ihrer Tochter.
„Lara! Komm schnell, Liebes, ich möchte dir jemand ganz Besonderes vorstellen: Signora Angelita, die beste Freundin deiner Urgroßmutter!“
Lara ging auf die beiden zu und streckte der Fremden artig lächelnd die Hand zur Begrüßung entgegen. „Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Lara“, begrüßte sie in ihrem besten Italienisch.
Die alte Dame ergriff die ihr dargebotene Hand und zog Lara dann mit überraschender Kraft zu sich hinunter. Schnell gab sie dem überraschten Mädchen Küsschen auf beide Wangen. „Sei bellissima, Lara, davvero!“, piepste sie ergriffen, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Gegenüber. „Wunderschönes Mädchen. Schön wie die Sonne, wie deine Mutter!"
„Grazie, signora“, stammelte Lara und blickte hilflos zu ihrer Mutter.
Die alte Frau winkte ungeduldig ab. „Ah, nix da signora! Nenn mich ruhig Lita, das tun hier alle. Bei uns im Süden es geht nicht so – wie sagt man? - förmlich zu wie in Deutschland. Und außerdem bist du fast so etwas wie eine Verwandte. Non lo sapevi? La tua bisnonna, deine Urgroßmutter, war nicht nur la mia migliore amica, sondern auch eine entfernte Cousine.“
Wie Mama Lara in einer Schnellfassung erklärte, lebte Angelita lange Jahre bis zu ihrer Pensionierung in Düsseldorf, bevor sie und ihr Mann beschlossen, ihren Lebensabend in der geliebten Heimat zu beschließen. „Ich habe lange Zeit nicht mehr Deutsch gesprochen und bin ein bisschen – come si dice?“ Angelita runzelte ratlos die Stirn.
„Eingerostet?“, half Lara lächelnd.
„Si, eingerostet. Aber das kommt wieder alles. Ihr beide werdet mir helfen, meine Sprachkenntnisse aufzufrischen, vero?“
„Und du redest im Gegenzug italienisch mit Lara“, warf Mama lachend ein.
„Ma certo, cara! Doch jetzt lasst uns aus dieser Hitze gehen, ihr Lieben! È ora di pranzo! Heute Mittag ihr seid meine Gäste.“ Das Weiblein hakte sich kurzerhand bei Lara und deren Mutter unter und führte die beiden zu ihrem Haus schräg gegenüber. Auf dem Gehsteig zu beiden Seiten der halbgeöffneten Haustür standen Dutzende Blumentöpfe mit den größten Basilikumpflanzen, die Lara je gesehen hatte. Die stark aromatischen Blätter waren zum Teil so groß wie ihre Hand. Putzige Insekten, die wegen ihrer besonderen Art zu fliegen auf Lara wirkten wie Mikro-Kolibris, umschwirrten die weißen Blüten. Ein schwarzweißes Kätzchen erschien auf der Türschwelle und betrachtete mit unverhohlener Neugierde die beiden unbekannten Besucherinnen.
„Der kleine monello hier heißt Leo“, erzählte Angelita und scheuchte den Stubentiger zurück in den Eingangsbereich. „Vor drei Monaten er war plötzlich da, vor meiner Tür, und wollte nicht mehr weg. Hat ganz laut geweint. Er war magrissimo, ganz dünn. Und verletzt. Hinteres Bein war gebrochen. War vier Tage in der Tierklinik, poverino … Aber schaut ihn euch jetzt an: Sieht er nicht gesund und munter aus?“ Wie zum Beweis schmiegte sich der kleine Kater laut schnurrend um die Beine seiner Retterin. Lara fand das betagte Weiblein mit dem großen Herz für hilfebedürftige Tiere immer sympathischer.
Im Hausinneren war es angenehm kühl, die Klimaanlage summte leise im Hintergrund. Ein köstlicher Geruch durchzog die Räumlichkeiten. Angelita brachte ihre Gäste zur Küche und deutete auf die um einen runden Tisch gruppierten Stühle. „Accomodatevi! Ich hoffe, ihr mögt Lasagne?“
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Als Mutter eines naseweisen Teenagers benötigt man Nerven aus Stahl. Vor allen Dingen ist stets damit zu rechnen, dass sich das vor einer Sekunde noch wohlgefällige Kind innerhalb eines Wimpernschlags in einen feuerspeienden Drachen verwandelt, dem mit vernünftigen Erklärungen nicht mehr beizukommen ist. Das konfliktreiche Zusammenleben mit Lara hatte Estella in der Vergangenheit eines gelehrt: sich nie auf die dieselbe Stufe mit einem provozierenden Teenager ziehen zu lassen. Dabei hat der Erwachsene von Anfang an verloren. Deshalb blieb sie rein äußerlich die Ruhe selbst, als Lara nach dem köstlichen Mittagessen bei Angelita von einem Moment auf den anderen die Krallen ausfuhr.
„Okay, Mama. Irgendwie ist das zu hoch für mich. Ich meine, dieser Ort gehört zu Europa! Also erklär´s mir bitte nochmal: Warum zur Hölle kann ich jetzt nicht duschen? Ich klebe am ganzen Körper!“
Estella, die aus den Fehlern von damals gelernt hatte, zählte lautlos bis zehn und setzte ein freundliches Lächeln auf, während sie sich zu ihrer Tochter umdrehte. Nur in Unterwäsche bekleidet und mit in den Hüften gestemmten Fäusten stand Lara in der offenen Badezimmertür und starrte ihre Mutter mit blitzenden Augen an. Schwierig, sich von dem divenhaften Auftreten der jungen Amazone nicht beeindrucken zu lassen. Ruhig, Estella, ruhig … Immerhin hast du sie praktisch gezwungen, dich nach Cassandria zu begleiten. Lara war von Anfang an nicht scharf darauf, hierher zu fahren. Sie hat nur dir zuliebe nachgegeben. Und wenn du ihr auch bereits zweimal erklärt hast, was es mit der Wasserknappheit auf sich hat, wirst du es eben auch ein drittel Mal tun.
„Wie ich dir bereits gesagt habe, herrscht hier in den Sommermonaten allgemeiner Wassernotstand. Das bedeutet, dass die Gemeinde nur an jedem zweiten oder dritten Tag das Wasser für die Haushalte freigibt. Aus diesem Grund haben hier alle diese sogenannte riserva in der Garage stehen, in denen das Wasser angesammelt wird. Auch in diesem Haus gibt es so einen Wasserspeicher, nur ist er relativ klein mit nur zweitausend Litern Fassungsvermögen. Für eine alleinstehende alte Frau war es vollkommen ausreichend, meine Großmutter hatte mit Sicherheit nie Probleme, ihren Wasserhaushalt zu regeln. Angelita hat sich nach Omas Tod wie zuvor vereinbart um das Haus und natürlich auch um den Garten gekümmert. Du weißt es vielleicht nicht, doch der Garten war Omas ganzer Stolz. Du siehst ja, wie prächtig alles blüht. Nun ja, Angelita hat gestern wie jeden Abend gegossen in der Annahme, dass heute morgen wie erwartet das Wasser freigegeben wird. Nur leider hat die Gemeinde beschlossen, noch einen weiteren Tag damit zu warten, und deshalb ist unser hauseigener Tank praktisch leer. Das letzte bisschen Wasser darin brauchen wir für die Toilettenspülung. Duschen wird eben auf morgen verschoben.“
„Ach so? Wunderbar, einfach großartig!“ Lara hob ihren Arm und schnupperte naserümpfend in Richtung Achsel. „Puh! So gehe ich jedenfalls nicht aus dem Haus. Das Einkaufen musst du schon alleine übernehmen. Dir sind deine Körperausdünstungen vielleicht egal, aber ich lege sehr viel Wert auf meine persönliche Hygiene!“ Lara drängte sich erbost an ihrer Mutter vorbei und warf sich theatralisch auf die Couch. Beim Blick auf das Desktop ihres Handys verdüsterte sich ihr ohnehin schon griesgrämiger Gesichtsausdruck. „Na toll, auch das noch!“ Anklagend hielt sie ihrer Mutter das Mobiltelefon entgegen. „Ich habe kein Netz! Oh Mann, wo zur Hölle bin ich hier nur gelandet!“
Lara hatte ihren Dickkopf am Ende doch noch durchsetzen können. Während sich der aufgebrachte Teenager die Ohrstöpsel einsetzte und mit musikalischer Untermalung in seine eigene Welt abtauchte, fand Lara im Schrank unter der Spüle acht tragbare Wasserkanister, ähnlich jener, mit denen Cassandrias Bürger ihr Trinkwasser bei den öffentlichen Brunnen zu holen pflegten. Schon damals, als Estella ihre alljährlichen Schulferien hier verbrachte, wurden bei staatlichen Kontrollen immer wieder Bakterien im Leitungswasser festgestellt. Angeblich wurden diese zwar beim Kochen vernichtet, doch da dem Wasser aus dem Hahn zudem mitunter ein seltsamer Geruch anhaftete, bevorzugten die Leute das saubere Nass aus den Trinkwasserbrunnen. Mit den Kanistern bewaffnet fuhr Estella zu einem der Brunnen, die ihr noch von früher bekannt waren, und füllte die Behältnisse bis obenhin mit dem erfrischenden Quellwasser. Zuhause angekommen brachte sie diese ins Bad und schnappte sie sich sowohl frische Kleidung als auch ihre Toilettenartikel aus dem Koffer. Rasch entledigte sie sich der verschwitzten Wäsche stellte sich in die Duschkabine. Prompt fühlte sie sich in die glücklichen Ferien ihrer Kindheit zurückversetzt. Dutzende Male hatten sie und ihre Familie sich auf diese Weise erfrischt. Ein versonnenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie den ersten Kanister umgekehrt über ihren Kopf hielt und das eisig kalte Wasser auf ihre erhitzte Haut herunterprasseln ließ. Der Kälteschock ließ sie überrascht aufquieken. Tapfer shampoonierte sie ihr Haar und seifte sich von oben bis unten mit duftendem Duschdas ein.
Nach der etwas unorthodoxen Dusche fühlte Estella sich wie neugeboren. Aus einem Impuls heraus ließ sie das Handtuch fallen und stellte sich nackt wie Gott sie schuf vor den großen Spiegel über den beiden Waschbecken. Für ihre neununddreißig Jahre war sie noch recht gut in Schuss, wie ihr allgemein bestätigt wurde. Sie hielt sich mit Yoga und täglichem Spazierengehen fit und hatte schon vor etlicher Zeit tierische Erzeugnisse aus ihrer Ernährung verbannt. Insgesamt hatten sich deshalb im Laufe der Jahre nur rund sechs Kilo Übergewicht angesammelt, welche sich relativ ausgewogen auf ihre Körpergröße verteilten. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre sogenannten Problemzonen. Die Oberweite zum Beispiel, welche ihrer Meinung nach durchaus üppiger hätte ausfallen können. Die Beine könnten länger, der Hals graziler, der Mund kleiner und die Nase kürzer sein. Jedoch umrahmten ihre glänzenden dunklen Locken ein gut geschnittenes Gesicht mit großen schokoladenbraunen Augen, reiner Haut und sympathischen Grübchen. Im Großen und Ganzen war Estella mit ihrem mediterranen Aussehen im Reinen. Trotzdem … etwas schien ihr zu fehlen, denn ansonsten hätte Manuel sie ja nicht gegen ein neueres Modell eingetauscht.
Bevor die unwillkommenen Gedanken an ihren Exmann ihre gute Stimmung zunichte machen konnten, drängte Estella entschlossen jede Erinnerung an den Schuft zurück, lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu und widmete sich wieder ihrer Körperpflege. Sie cremte sich mit ihrer Lieblings-Bodylotion ein, zog ein luftiges Sommerkleid an und legte abschließend einen Hauch Make up auf. Nach Flieder duftend und mit noch feuchtem Haar marschierte sie durch das Wohnzimmer in den Garten, ohne ihre Tochter weiter zu beachten.
„Hey! Gelten wir dich etwa andere Regeln als für mich oder hat sich unser Wasserproblem von alleine gelöst?“, rief ihr Lara hinterher.
„Weder noch. Doch du weißt ja, wie man sagt - Improvisation ist die Würze des Lebens“, antwortete Estella fröhlich und ließ sich auf einem der Gartenstühle unter der schattenspendenden Markise nieder.
Eine knappe Stunde später erschien Lara auf der Terrasse und riss Estella unsanft aus ihrem Nachmittagsschläfchen.
„Buh!“
Der Teenager sprang prustend zurück, als Estella mit einem spontanen Schreckenslaut hochfuhr und wild um sich blickte. Fehlt nur noch, dass sie sich vor Lachen auf dem Boden herumwälzt, dachte Estella verärgert, als sie das kichernde Mädchen betrachtete.
„Du bist unmöglich, echt! Mich so zu erschrecken!“
„Jetzt komm schon, Mama! Das war doch lustig.“ Lara grinste noch immer über das ganze Gesicht. Kopfschüttelnd ließ sich Estella in eine gemütlichere Sitzposition zurücksinken und schaute müßig auf ihre Armbanduhr. Erst kurz nach vier … Mit einem Seufzen schloss sie die Augen. Gerne würde sie sich noch ein weiteres Stündchen von den Strapazen der Reise ausruhen, doch ihrer Tochter schwebte offenbar eine andere Freizeitbeschäftigung vor.
„Erde an Mama – bitte kommen!“
„Ach Liebes, lass mich noch Weilchen in Ruhe, bitte …“
„Geht leider nicht. Es gibt da nämlich ein kleines Problem. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, doch ich habe mein Ladegerät zu Hause vergessen. Ja, ich weiß“, gab sie schnell zu, als sie den ungläubigen Blick ihrer Mutter auffing. „Du hast mich hundertmal gefragt, ob ich ja an alles gedacht habe. Mea culpa … Jedenfalls ist der Akku meines Handys gleich leer, und der Anschlussstecker deines Ladekabels passt nicht bei meinem Telefon. Also muss ich wohl oder übel ein neues Ladegerät kaufen, und das so schnell wie möglich.“ Sie schaffte es tatsächlich, leidlich zerknirscht drein zu blicken. „Außerdem wollten wir doch sowieso einkaufen, oder?“
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Crotones einziges Einkaufscenter entsprach natürlich ganz und gar nicht Laras Vorstellungen einer Shoppingmeile, die sie aus Deutschland gewohnt war. Während sie sich über die angeblich mangelnde Größe und die wenigen im Inneren angesiedelten Geschäfte mokierte, klinkte Estella sich gedanklich aus dem nervigen Monolog aus und schlenderte gemütlich von einem Schaufenster zum anderen. Sie war immer noch nicht gut auf Lara zu sprechen. Zuerst dieses überflüssige Theater wegen der Dusche, dann der alberne Scherz auf ihre Kosten, als die bald Volljährige sie so rüde aus dem Schlaf gerissen hatte. Das vergessene Ladegerät. Estella hatte das Mädchen vor der Abreise tatsächlich x-mal ermahnt, gerade dieses Accessoires unbedingt einzustecken. Eigentlich dürfte sie sich im Zusammenhang mit Lara über gar nichts mehr wundern, dennoch gelang es dem Mädchen immer noch, ihre Mutter negativ zu überraschen. An dem Zustand des Badezimmers wollte Estella im Moment gar nicht mal denken: leere Kanister, die achtlos in der Duschkabine herumlagen, Wasserpfützen auf dem Boden, verschwitzte Kleidung, die sich aus unerfindlichen Gründen nicht im sondern auf und neben dem Wäschekorb befand. Der Fön, dessen Netzkabel noch mit der Steckdose verbunden war, lag in Gesellschaft langer Haare im Waschbecken und diverse Kosmetikartikel waren auf allen möglichen Ablageflächen verteilt. Typisch Lara eben. Offensichtlich waren sogar die strengen Regeln im Internat spurlos an der hoffnungslos chaotischen Tochter abgeprallt. Die junge Dame war und blieb resistent gegenüber jeglicher Art von Ordnungsliebe. Wie sollte sie jemals auf sich selbst gestellt ihren eigenen Haushalt führen? Ohne fähiges Reinigungspersonal würde Lara schon nach einem Monat in dem von ihr angerichtetem Chaos versinken.
Estella ließ ihren Blick unauffällig auf ihrem widerspenstigen Kind ruhen. Kind ist gut gesagt, dachte sie mit einer Mischung aus Stolz und Nachsicht. Die schöne Unmögliche oder die unmögliche Schöne waren weit treffendere Bezeichnungen. Die hochgewachsene Siebzehnjährige war mit dem hüftlangem, kastanienfarbenen Haar und der schlanken Gestalt ein echter Hingucker. Davon abgesehen machte sie auch durch ihren Kleidungsstil auf sich aufmerksam. Die für Estellas Geschmack viel zu knappe Jeansshorts entblößten lange, gebräunte Beine, und das enganliegende Oberteil mit den Spaghettiträgern zog alleine schon durch seine grelle Warnfarbe sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Estella, die einige Meter hinter Lara ging, registrierte durchaus die anerkennenden Blicke der anwesenden Männer aller Altersklassen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele von diesen Deppen verheiratet sind! Sie beeilte sich, zu ihrer Tochter aufzuschließen. Lara warf nur hin und wieder einen gelangweilten Blick in die Schaufenster und kümmerte sich ansonsten nicht um ihre Umwelt. Das Zicklein zickt. Estella musste über den unerwarteten, aber treffenden Gedanken schmunzeln.
Die Auslage eines Schuhladen konnte überraschenderweise doch noch die Aufmerksamkeit der Halbwüchsigen auf sich ziehen.
„Oh, diese Sandalen sind aber süß!“
Für einen Moment glaubte Estella, sich verhört zu haben. Verzückt deutete Lara auf ein flaches, silberfarbenes Paar Riemchensandalen, welche mit dutzenden bunt funkelnder Glasperlen besetzt waren. Geschmack hat sie, die kleine Kröte, dachte Estella und beeilte sich, hinter ihrer enthusiastischen Tochter den Laden zu betreten. Gebe Gott, dass sie ihre Schuhgröße vorrätig haben!
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Die neuen Sandalen wurden gleich am Abend eingeweiht. Lara zeigte sich unverhältnismäßig gesprächig und gut gelaunt, nachdem sie mit ihren neuen Errungenschaften aus Crotone zurückgekehrt waren. Vor allem, seit ihr Handy wieder aufgeladen war und sie herausfand, dass im Freien durchaus eine gute Internetverbindung bestand.
Obwohl sie sich im Supermarkt einen Lebensmittelvorrat für die kommenden Tage zugelegt hatten, entschieden sie spontan, den ersten Urlaubstag nicht mit Kochen zu beschließen.
Ein lauer Wind vertrieb die stehende Hitze des Tages und machte den Aufenthalt draußen erträglicher. Plaudernd spazierte das Mutter-Tochter-Gespann zur Blauen Stunde durch die Gassen und über den Corso Garibaldi, bevor sie sich, von den köstlichen Gerüchen angelockt, zur Pizzeria Il Corallo begaben und sich an einem Tisch im Freien niederließen. Lara gab sich überrascht angesichts der zahlreichen, hauptsächlich jungen Leute, die sich um die abendliche Uhrzeit auf den Straßen tummelten. Zuerst waren es eher ältere Paare oder Grüppchen von Kindern im Grundschulalter, die über die Gehsteige flanierten, doch je später es wurde, desto älter wurden auch die Anwesenden. Aus den Cafés und Kneipen entlang der Hauptstraße und auf der piazza drangen Latinohits und aktuelle Popsongs, Teenager in Laras Alter und junge Erwachsene tummelten sich lachend und flirtend vor den angesagten Bars. Sehen und gesehen werden, lautete offensichtlich das Motto auf den Straßen. Die jungen Leute waren allesamt gut gekleidet und gepflegt, nicht ein einziger lief mit bunten Haaren, zerrissenen Hosen oder schmutzigen Sportschuhen durch die Gegend. Lara, die sich mit gutem Appetit ihre Pizza einverleibte, zeigte wohlwollendes Interesse an dem lauten Treiben um sie herum.
„Hast recht gehabt, Mama“, meinte sie zwischen zwei Bissen. „Auch wenn der Ort rein äußerlich nicht viel hermacht, scheint doch zumindest nachts der Bär aus seinem Winterschlaf zu erwachen.“
„Aus seinem Winterschlaf zu erwachen? Das ist wohl die Untertreibung des Tages! So eine Aussage kann auch bloß aus dem Mund meiner Tochter kommen. Schau dich doch mal um: Der steppt hier, der Bär!“
Lara rollte die Augen in der ihr eigenen Art, die sie sich patentieren lassen könnte. Im Mikro-Zeitfenster von weniger als einer Sekunde brachte sie eine bunt gewürfelte Mischung der widersprüchlichsten Gefühle zum Ausdruck: ehrliche Belustigung über das soeben Vernommene, garniert mit einem Hauch staunender Ungläubigkeit sowie milder Nachsicht für das naive Weltbild ihrer armen, alten Mutter. Abgerundet wurde er stumme Inhalt der ausdrucksstarken Mimik durch ein sanftes Kopfschütteln und das perfektionierte Lächeln einer weltgewandten Frau, die schon viel gesehen hat und Unwissenheit nicht automatisch mit Dummheit gleichsetzt.
„Okay“, willigte Lara ein und legte mit einem verschmitzten Zwinkern ihr Besteck auf den leeren Teller. „Dann einigen wir uns eben auf einen soeben erwachten zahnlosen Grizzly, der auf seine alten Tage noch schnell ein rasantes Stepptänzchen hinlegt.“
Estella lachte. „Und das ist noch gar nichts! In ein paar Tagen, wenn auch die letzten Nachzügler eingetroffen sind, ist hier um diese Uhrzeit bereits die Hölle los. Dann sperrt die Polizei ab acht Uhr abends den corso für den Verkehr, so dass die gesamte Hauptstraße zu einer Fußgängerzone wird. Und während der Festtage, die dem Schutzpatron des Ortes geweiht sind, gibt es hier so eine Art Volksfest mit vielen Ständen, welche die verschiedensten Dingen feilbieten– Bijous in unbeschreiblicher Vielfalt, Kosmetikartikel, Taschen, Süßigkeiten, CD´s und so weiter. Davon abgesehen bringe ich dich auch mal in die Touristenzone Le Castella, etwa zwanzig Kilometer von hier. Als ich jung war, sind meine Eltern jedes Jahr mindestens einmal mit mir und meinem Bruder hingefahren. Wir Kinder haben es geliebt. Die Restaurants liegen direkt an der Bucht, man sieht während des Essens das Meer und hört das Rauschen der Wellen. Hast du eine Vorstellung davon, wie schön sich der Vollmond im Wasser spiegelt? Und dann der nächtliche Bazar – voll auf Touristen ausgelegt, natürlich. Neben der Anlegestelle für Segelboote reiht sich ein Strand nahtlos an den anderen, die Vielfalt an Krimskrams ist unglaublich. Ich weiß noch, dass ich immer irgendein Souvenir von dort mitgenommen habe, egal, wie kitschig es auch sein mochte. “
Der einfallslose Samsung-Klingelton unterbrach Estellas schwärmerische Jugenderinnerungen. Laras Erzeuger, verriet das Display den ankommenden Anrufer. In einer Rotwein- und tränengeschwängerten Nacht kurz nach der Trennung hatte Estella Manuels Namen in der Rubrik mehrmals umgeändert. Aus dem umgangssprachlichen Ausdruck eines anatomischen Körperausgangs und diversen anderen, wenig schmeichelhaften Schimpfwörtern blieb es schließlich bei der jetzigen Bezeichnung – einfach nur für den Fall, dass Lara mal in der Rubrik von Mamas Handy stöbern würde.
„Was will der denn jetzt?“, murmelte sie verdrossen. Ihr Ex – der Kontrollfreak.
„Oh-oh, diesen Gesichtsausdruck kenne ich! Lass mich raten – es ist Papa, stimmt´s?“
„Hm. Willst du nicht mit ihm reden? Er will sowieso nur wissen, ob ich dich gut hergebracht habe. Immerhin bin ich eine Frau“, fügte sie mit ätzendem Sarkasmus hinzu. „Eine simple Reise in mein Heimatland kann man mir schließlich nicht alleine zutrauen.“
Lara grinste kopfschüttelnd. „Ich habe heute schon mit ihm gesprochen“, winkte sie ab, als Estella ihr das Handy hinüberschob. „Als du im Bad warst. Er ist also schon über meinen heutigen Tagesablauf unterrichtet. Außerdem muss ich mal für kleine Mädchen.“ Sie schenkte ihrer Mutter ein aufmunterndes Lächeln, schnappte sich ihre Tasche und verschwand im Inneren der Pizzeria.
Estella starrte unschlüssig auf das nörgelnde Mobiltelefon. Warum hatte sie das blöde Ding nicht zu Hause gelassen oder wenigstens auf lautlos gestellt? Der Klingelton ging einem ja durch Mark und Bein! Die Gäste an den anderen Tischen drehten sich bereits in kollektiver Erwartung ihrer Reaktion zu ihr herum. Was ist?, hätte sie am liebsten gerufen. Ich habe keine Lust, ranzugehen. Na und? Durch die auf sich ruhenden Augenpaare fühlte sich genötigt, den Anruf entgegenzunehmen, was sie noch wütender werden ließ.
„Ja?“, schnappte sie und ergötzte sich an dem Wissen, dass die neugierig lauschenden Leute um sie herum nichts von der auf deutsch geführten Konversation verstehen würden.
„Estella! Auch dir einen wunderschönen guten Abend!“ Das Schmunzeln in Manuels Stimme kroch über eine Entfernung von tausendsiebenhundert Kilometer durch den Hörer und kitzelte an ihren Trommelfellen. „Was treiben meine beiden Schönheiten so einsam und alleine am Hintern Europas?“
Estella knirschte innerlich mit den Zähnen. Da war er wieder - dieser verhasste Wink, Cassandria sei nichts anderes als ein unansehnlicher, mikroskopisch kleiner Fleck auf der Landkarte und einen Besuch, geschweige denn einen längeren Aufenthalt, nicht wert. Seit ihrer Hochzeit hatte Estella keinen einzigen Sommer mehr in der Heimat ihrer Vorfahren verbracht. Nicht, dass sie nicht in Urlaub gefahren wären - allerdings musste es für Manuel Reuter mindestens ein Fünf-Sterne-Hotel an der Costa Smeralda sein oder eine exklusive Mittelmeerkreuzfahrt. Mit dem beruflichen Erfolg und dem dadurch wachsenden Einkommen beschränkten sich die Urlaube bald nicht mehr nur auf Europa, der IT-Manager bereiste mit seiner Familie die ganze Welt. In einem Jahr führte er Frau und Kind auf die Malediven, die Ferien darauf verbrachten sie an der Küste Australiens, im nächsten Jahr war das Reiseziel Kalifornien und so weiter. Eigentlich kein Grund, sich zu beschweren. Dennoch -
„Estella? Bist du noch dran?“
Anstatt dem übermächtigen Impuls nachzugeben, das Gespräch mit einem einfachen Tastendruck zu beenden, riss sie sich zusammen und antwortete zuckersüß: „Die einzige Schönheit, deren Befinden dich zu interessieren hat, ist in diesem Moment nicht anwesend. Wenn du also wissen möchtest, wie es deiner Tochter geht, würde ich vorschlagen, du rufst sie auf ihrem Handy an und sprichst persönlich mit ihr. Davon abgesehen machen wir zwei Hübschen das, was alle Frauen im Urlaub machen, wenn sie keinen nervigen Mann dabei haben – wir amüsieren uns.“
Am Tisch daneben gluckste eine Frau. Automatisch wandte Estella den Kopf und kreuzte den belustigten Blick einer Dame im besten Alter, an deren Mundwinkel ein breites Grinsen zupfte. Mit erhobenem Daumen bedeutete sie ihre ungefragte Zustimmung. Soviel zum Thema, hier könne sie in Ruhe auf Deutsch ihr Privatleben erörtern.
„Dann ist ja alles Bestens.“ Manuels Stimme forderte wieder ungeteilte Aufmerksamkeit. „Hattet ihr eine angenehme Reise? Ich hoffe, du hast dir beim Autoverleih nicht irgendeinen schrottreifen Mietwagen andrehen lassen. Man weiß ja, wie gerne vor allem weibliche Touristen über den Tisch gezogen werden. “
„Unsere Reise verlief absolut problemlos. Und deine ständigen Anspielungen, ich würde ohne dich nichts auf die Reihe kriegen, sind mittlerweile nur noch langweilig. Abgesehen davon hat mich in meinem ganzen Leben außer einem gewissen Manuel Reuter noch kein Anderer über den Tisch gezogen!“
„Warum habe ich das deutliche Gefühl, wir reden aneinander vorbei? Sei doch nicht immer gleich eingeschnappt. Du weißt doch, wie ich es meine.“
„Das weiß ich tatsächlich.“ Estella schaute seufzend auf ihren Teller. Irgendwie war ihr im Laufe der Unterhaltung der Appetit abhanden gekommen. Sie würde diesem scheinheiligen Ehebrecher jedoch nicht gestatten, ihr den Abend zu ruinieren. „Schau, Manuel, ich würde jetzt gerne meine Pizza fertig essen, wenn du nichts dagegen hast. Jetzt, da du über unser Wohlbefinden auf dem Laufenden bist, solltest auch du dich entspannt zurücklehnen und deinen Feierabend genießen.“
„Wie könnte ich?“
„Was meinst du damit?“
„Nun, Lara scheint mir ja nicht so begeistert zu sein von deiner kleinen Abenteuerreise ins Hinterland. Was hat es zum Beispiel mit diesem seltsamen Wasserproblem auf sich? Du kannst das Mädchen doch nicht an einen Ort bringen, an dem die normalsten sanitären Einrichtungen nicht funktionieren. Da ihr anscheinend auch keine rechte Internetverbindung zustande bekommt, habe ich daraufhin ein wenig recherchiert und eine annehmbare Unterkunft in Lido Steccato gefunden. Der Name sollte dir was sagen, denn besagter Ort liegt nur wenige Kilometer von euch entfernt. Spa Ressort Eucalipto - ein Wellness-Hotel direkt am Strand! Na, wie klingt das? Ich bin sicher, Lara wird begeistert sein! Wenn du einverstanden bist, buche ich sofort eine Suite mit Blick auf´s Meer für euch beide. Na, was sagst du?“
Estella schloss die Augen und zählte langsam bis fünf. Lass dich nicht provozieren, wiederholte sie stumm wie ein Mantra. Er muss erst noch lernen, dass er dich nicht mehr kontrollieren kann.
„Zu deiner Beruhigung: Das Wasserproblem hat sich bereits erledigt. Es gibt also keinerlei Grund mehr, dich in meine Belange einzumischen. Du solltest deinen Interessenschwerpunkt endlich auf Katja und dein ungeborenes Kind verlagern. Ich bin nicht mehr Teil deines Lebens, schon vergessen?“
Manuels Antwort erwischte sie kalt und versetzte ihr trotz der angestauten Wut einen leichten Stich ins Herz. „Du wirst immer ein Teil von mir sein, Sternchen. Vergiss das nicht.“
Estella blinzelte verwirrt. Hatte er soeben wirklich ihrem Kosenamen ausgesprochen? Wie konnte er es wagen! Doch so sehr sie sich gegen ihre tot geglaubten Empfindungen wehrte - die Worte in Verbindung mit seiner dunklen, samtenen Stimme hallten verstörend warm in ihren Ohren nach, obwohl das Gespräch längst beendet war.
•♡•
Weniger der Druck auf ihre Blase als das Verlangen nach einer Zigarette trieben Lara dazu, die Toilette aufzusuchen. Eigentlich hoffte sie, eine Hintertür beziehungsweise den Notausgang des Lokals ausfindig machen zu können, um in Ruhe ihrem Laster zu frönen. Sollte sie nicht fündig werden, musste sie eben das Fenster des Stillen Örtchens herhalten.
Glücklicherweise sah sie auf Anhieb neben den Toiletten eine halb offene Eisentüre, die auf einen rückseitig gelegenen Innenhof hinausführte. Schnell schlüpfte Lara hinaus und kramte ihr Zigarettenpäckchen samt Feuerzeug hervor. Sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Belinda Grimaldi
Bildmaterialien: pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2018
ISBN: 978-3-7438-6435-1
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