Der kleine Hund lag schläfrig auf der Veranda und blinzelte mit halb geschlossenen Augen in die Morgensonne. Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Seine Nasenflügel bebten vor Erregung, als die auffrischende Brise einen verlockenden Geruch in seine Richtung trieb. Der Hund erhob sich und folgte mit immer schnelleren Schritten der unsichtbaren Duftspur, die ihren Ursprung in dem Wäldchen hinter dem Haus zu haben schien. Neugierig begann er an einer bestimmten Stelle zu graben. Wie besessen schaufelten seine weißen Pfoten das durch tagelangen Regen aufgeweichte Erdreich beiseite. Der Geruch wurde immer intensiver – geradezu betörend. Er begann aufgeregt zu fiepen, als die ersten hellen Stellen durch die dunklen Erdbrocken schimmerten. Knurrend vor Anstrengung versuchte er, sie mit den Zähnen zu greifen. Schließlich gelang es ihm, das Objekt seiner Begierde dem schlammigen Boden zu entreißen.
Jemand rief seinen Namen, doch der Terrier beachtete die Stimme nicht. Völlig auf den riesigen Knochen in seiner Schnauze konzentriert, vollführte er einen Balanceakt zwischen Tragen und Zerren und verlor auf dem Nachhauseweg beinahe seine hart erkämpfte Beute.
Montag
„Okay Lukas, los!“
Folgsam setzte sich der kleine Junge in Bewegung und näherte sich zögernd dem Sprossenfenster seines Kinderzimmers. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er konzentriert in die vom Meer aufziehenden Nebelschwaden, die sich in langsam wabernden Bewegungen das ganze Haus einverleibten.
„Da draußen ist etwas!“, zischte er plötzlich aufgeregt. Flüchtig sah er seinen Atem an der Fensterscheibe kondensieren, als er einen raschen Blick über die Schulter warf. „Oh mein Gott! Schau doch, Nikki, da – “
„CUT!“ Die zwölfjährige Nikki warf erbost ihr Handy aufs Bett und pflanzte sich drohend vor ihrem jüngeren Bruder auf. „Mensch Lukas!“, herrschte sie ihn an. „Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Ich heiße ANGELINA! Und du Jared, falls du das auch schon wieder vergessen hast. Oder hast du schon mal gehört, dass Schauspieler in ihren Rollen ihre echten Namen benutzen? Also zum letzten Mal, Dumpfbirne: Wie heiße ich?“
Die blauen Augen des Jüngeren füllten sich mit zornigen Tränen. „Weißt du was, mach doch deinen blöden Film alleine! Ich habe keine Lust mehr, mich ständig anmotzen zu lassen!“, schrie er trotzig und drängte sich grob an ihr vorbei Richtung Tür.
„Blödmann!“ Nikki schloss die Kinderzimmertür mit einem kräftigen Fußtritt und ließ sich seufzend auf ihr Bett fallen. Kleine Brüder! Mit seinen acht Jahren sollte Lukas wirklich ein bisschen aufgeweckter sein. Durch seine unzähligen Gedankenlosigkeiten konnte er das ganze Projekt ruinieren. Dabei war er anfangs von der Idee, während der Ferien einen Gruselfilm zu drehen, total begeistert gewesen. Mit Nikkis Smartphone und der neuen Computersoftware zur Videobearbeitung konnten sie einen wirklich guten Streifen produzieren und Papa damit überraschen. Und wer weiß, vielleicht griff ihr Vater die Grundidee sogar für seinen nächsten Film auf. Sie lächelte versonnen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits ihren Namen im Vorspann auftauchen: based on an idea by Nicole Sommerlath!
Zugegebenermaßen war die Filmhandlung nichts wirklich Neues. Als bekennender Horrorfan wurde ihre Idee von zahlreichen Werken des Genres beeinflusst. Vor allem japanische Schocker hatten es ihr dabei angetan. Aber das machte nichts. Sie konnte auf ein paar ausgefallene Apps zum Filmemachen zurückgreifen und würde dem Ganzen schon ihre eigene Note aufdrücken. Schließlich war sie nicht umsonst die Tochter eines Regisseurs, oder? Bei diesem Gedanken griff sie ihr Handy und sah sich mit kritischem Auge die bisher gedrehten Szenen an. Nicht schlecht bis jetzt, dachte sie später befriedigt. Lukas und sie waren in der vergangenen Woche wirklich fleißig gewesen. Nur einige wenige Szenen mussten sie nachdrehen, weil ihr Bruderherz sich ständig verplapperte. Vielleicht sollte sie seinen Part kürzen und ihren hingegen weiter ausbauen? Egal, laut Drehbuch würde ihren Bruder sowieso bald der Filmtod ereilen. Genauso wie ihre Mutter und den Hund. Und sie selbst.
Blieb das Problem mit dem Titel. In den letzten Wochen hatte sie mehr als ein Dutzend guter Einfälle auf geschrieben, teils auf englisch, teils mit Untertitel. Nach dem Ausschlussverfahren, an dem sie auch Mama und Lukas teilhaben ließ, waren zwei vielversprechende Arbeitstitel übrig geblieben. Die Qual der Wahl lag bei der Regisseurin. Nikki schwankte unentschlossen zwischen „Das Haus am Rande der Bucht“ und „Tödliche Ferien“. Sie tendierte mittlerweile zu letzterem. Kurz und knackig – die gesamte Handlung wurde in zwei Wörter zusammengefasst.
Ein Blick aus dem Fenster mahnte die junge Filmemacherin zur Eile: Sie musste sie sich unbedingt wieder mit Lukas aussöhnen, solange die Nebelsuppe draußen anhielt.
Auf der Suche nach ihrem Bruder wollte Nikki sich einen kleinen Snack aus der Küche stibitzen. Der Weg dorthin führte sie am Wohnzimmer vorbei, wo ihre Mutter erregt auf und ab lief und wütend in ihr Telefon blaffte.
„Was, in drei Tagen erst?! Das soll wohl ein Scherz sein!“ Mit enttäuschter Miene lauschte sie den Erklärungen ihres Gesprächsteilnehmers. Nikki konnte sich vorstellen, um was es ging: Ihr Vater musste aus welchen Gründen auch immer noch einige Tage im Studio dranhängen. Ein ewiges Streitthema zwischen ihren Eltern. „Ja, ich verstehe. Trotzdem Liebling, wir haben das Haus nur für drei Wochen gemietet, von denen eine schon fast vorbei ist. Und anstatt als Familie gemeinsam etwas zu unternehmen, hocke ich mit den Kindern alleine in dieser Einöde! Ich habe es wirklich satt, immer die zweite Geige zu spielen, Jonas. Die Produzenten müssen verstehen, dass du auch Frau und Kinder hast!“
Nikki war die Lust auf einen Müsliriegel vergangen. Stattdessen gesellte sie sich zu ihrer Mutter, die nun rauchend vor dem großen Panoramafenster stand und nachdenklich in den Nebel hinausblickte.
„Alles klar, Mama?“
Simone Sommerlath drehte sich zu ihrer Tochter um und zwang sich zu einem Lächeln. Sie war früher einmal eine gefragte Schauspielerin, doch nach der Geburt ihres zweiten Kindes hatte sie sich aus der Familie zuliebe der Öffentlichkeit zurückgezogen. „Papa kommt erst am Freitag, Liebes“, erklärte sie und ihre ausdrucksstarken, schokoladenbraunen Augen guckten enttäuscht.
Nikki stöhnte theatralisch. „Was ist es denn diesmal? Ist einer der Starletts der Fingernagel abgebrochen?“
„Gott bewahre! Das würde gerade noch fehlen“, antwortete ihre Mutter erheitert. Sie sieht so jung aus, wenn sie lacht, dachte Nikki. „Die Produzenten sind unzufrieden mit einigen Aktionsszenen, und nun müssen sie nachdrehen. Du weißt ja, wie das ist.“
Und ob Nikki das wusste. Sie hatte ihren Vater schon des Öfteren bei der Arbeit besucht und kannte die Abläufe am Filmset drehen auswendig. Nun lag es an ihr, seiner verlängerten Abwesenheit etwas Positives abzugewinnen. Immerhin konnte sie nun ohne Zeitdruck ihren eigenen Film fertigstellen. Wo war Lukas bloß? Sie mussten jetzt unbedingt die Nebelszene nachdrehen.
Genau wie Papa.
Dienstag
Am nächsten Morgen begleitete Nikki freiwillig ihre Mutter ins Dorf, um ihr bei den Einkäufen zu helfen. Sie brauchte noch ein paar Außenaufnahmen, und dieses verschlafene Nest mit seinen seltsam gedrungenen Häusern war hierfür bestens geeignet. Außerdem konnte sie bei der Gelegenheit gleich ein paar Statisten in ihren Film einbringen, indem sie aus dem Auto heraus die Handykamera auf die Fußgänger richtete und vor allen Dingen den beleibten Inhaber des örtlichen Tante-Emma-Ladens bei seiner Arbeit aufnahm. Schließlich sollte ihr Gruselschocker nicht nur aus den drei Protagonisten bestehen. Um die Geschichte mit derart wenigen Darstellern zu tragen, müsste sie sich eine viel komplexere Handlung ausdenken, wozu ihr einfach die Zeit fehlte.
Der Ladenbesitzer setzte eine unfreundliche Miene auf, sobald er das auf ihn gerichtete Telefon bemerkte. Nikki ließ sich jedoch in ihrem Tun nicht beirren, sondern filmte absichtlich sämtliche Ecken, Regale und jeden noch so kleinen Krümel auf dem Fußboden. Der Widerwillen des grobschlächtigen Mannes war fast greifbar, als hätte er eine persönliche Abneigung gegen seine neueste Kundschaft. Nikki setzte die Aufnahmen nur noch aus purem Trotz fort, obwohl sie sich zunehmend unwohler fühlte.
„Also Nicole! Schalte endlich mal das Handy aus und hilf mir lieber“, beschwerte sich Mama, als sie die beiden schweren Tüten im Kofferraum verstaute. „Reicht es denn noch nicht, dass du Herrn Bartelsen mit deiner Filmerei verärgert hast?“
„Ich habe doch gar nichts gemacht“, protestierte Nikki kleinlaut und warf einen scheuen Blick über die Schulter in Richtung Laden. Dessen Besitzer stand stocksteif in der offenen Tür und starrte feindselig aus seinen Schweinsäuglein zu ihnen herüber.
„Komm“, meinte Mama nervös. „Lass uns von hier verschwinden. Der Kerl bereitet mir irgendwie Gänsehaut. Nächstes Mal fahren wir in die Stadt in einen ordentlichen Supermarkt.“
„Mama, warum hat Herr Bartelsen uns so komisch angeschaut?“, fragte Nikki, als sie die Ortsgrenze passierten. Sie war froh, das trutzige Dorf mit seinen vierschrötigen Bewohnern hinter sich zu lassen. „Das war nicht nur wegen dem Handy. Der hat uns richtig angeglotzt, so als ob er überrascht wäre, uns zu sehen. Negativ überrascht meine ich. Und warum hat er auf so merkwürdige Weise gefragt, ob wir uns in dem Haus wohl fühlen?“
„Ich weiß es nicht, Nikki. Vielleicht wollte er nur höflich sein und Konversation machen."
„Der weiß doch nicht mal, wie man das Wort höflich buchstabiert!“
Mama schnaubte belustigt. „Wer weiß – er hat wahrscheinlich eine eigene Interpretation von Höflichkeit.“
Vielleicht, vielleicht auch nicht, überlegte Nikki und setzte ihre Kopfhörer auf. Musik an - Welt aus, lautete ihr Motto. Doch irgendwie konnte sie nicht abschalten. Der falsche Ton in der Frage des Einzelhändlers hallte noch eine Weile in ihrem Kopf nach. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mann einfach nicht mit ihnen gerechnet hatte. Dabei wusste der ganze Ort, dass sie noch weitere zwei Wochen in der großen Villa an der Bucht wohnen würden. Ihre Mutter hatte bereits einige Male in Bartelsens Laden eingekauft und sich mit einigen Dorfbewohnern unterhalten. Der Mann hatte seine eigentliche Frage hinter einer anderen versteckt, überlegte Nikki. Er wollte nicht wissen, wie es ihnen ging, sondern ob mit dem Haus alles in Ordnung war. Dabei gehörte es ihm gar nicht. Nikkis Vater hatte es über eine Agentur im Internet gefunden. Was also ging den Ladenbesitzer ihr Ferienhaus an?
Schließlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf: Die ganzen Horrorfilme ließen sie an allen Ecken und Enden Gespenster sehen! In diesem Moment kam ihr eine tolle Idee. Hoffentlich war Lukas inzwischen wach, betete sie. Dann konnten sie sofort eine neue Szene drehen.
… später
Puh, ist das staubig hier, dachte Lukas angeekelt und robbte näher an die Bettkante heran. Der schwere Überwurf reichte fast bis zum Fußboden. Er konnte von hier aus die Füße seiner Schwester sehen, die ein paar Schritte entfernt an der Wand lehnte und jetzt ein Stück Wurst vor sich auf den Boden legte. Wenigstens war Nikki wieder besserer Laune. Gestern Nachmittag hatten sie noch die Nebelszene nachgedreht, und Nikki schien ausnahmsweise mal mit seiner schauspielerischen Leistung zufrieden zu sein. Heute hatte sie ihm nun einen neuen Part zugedacht. Er hoffte inständig, dass alles zu ihrer Zufriedenheit klappte. Lukas hasste es, wenn seine Schwester ihm grollte.
Das Mehl auf seiner Haut juckte, doch er zwang den Drang zu kratzen nieder. Seine Hände und Arme mussten laut Drehbuch schön weiß bleiben, wie die einer Marmorstatue. Oder eines Gespenstes.
Die Minuten unter dem riesigen Bett im Gästezimmer fühlten sich wie eine Ewigkeit an. Endlich hörte er Nikki mit lieblicher Stimme rufen: „Cäsar… liebes, gutes Hundi ... komm zu Frauchen ..."
Aus dem Flur ließ sich das Geräusch tapsender Pfoten vernehmen.
„Lukas, er kommt! Bist du soweit?“
Kurz darauf erschien der kleine Jack-Russell-Terrier an der Tür. In seinem ungemütlichen Versteck machte Lukas sich bereit, den Familienhund beim Vorbeilaufen blitzschnell unter das Bett zu ziehen. Es durfte dabei nichts schief gehen, denn ein zweites Mal würde sich der Vierbeiner nicht in diese Situation bringen lassen. Er machte bereits jetzt einen misstrauischen Eindruck. Doch dann tat Cäsar ein paar Schritte ins Zimmer und schnüffelte hörbar. Er roch den Wurstzipfel und bewegte sich darauf zu. Seine weißen Pfoten erschienen in Lukas´ Blickfeld.
„Jetzt!“, zischte Nikki.
Lukas streckte bereits die bemehlten Hände unter der berüschten Tagesdecke hervor um den Vierbeiner zu greifen, als es unten an der Haustür läutete. Wie der Blitz schoss Cäsar aus dem Zimmer und rannte kläffend die Treppe hinunter.
„Scheiße!“, schimpfte Nikki lauthals, warf das Mobiltelefon auf die Bettdecke und stampfte wütend aus dem Zimmer.
Lukas blieb alleine unter dem Bett zurück. Den eisigen Hauch, den er auf einmal an seiner Wange spürte, schob er entschlossen einer Luftströmung aufgrund des offenen Fensters zu. Schließlich war er ja alleine hier. Oder?
„Frau Sommerlath, entschuldigen Sie bitte die Störung. Hätten Sie vielleicht eine Minute für mich?“
Nikkis Mutter hob erstaunt die Augenbrauen, als sie den Besitzer des Tante-Emma-Ladens vor ihrer Haustür stehen sah. Ihr Blick wanderte zu dem zerbeulter Lieferwagen, der einige Meter entfernt parkte. Die hässlichen Rostflecken zeugten von der Gleichgültigkeit seines Eigentümers. Von oben erklang plötzlich ein schriller Schrei, und sie rief aus reiner Gewohnheit „Nikki, lass deinen Bruder in Ruhe!“ über die Schulter. Cäsar drängte sich an ihr vorbei, kläffte den unangemeldeten Gast wütend an und stob dann wie ein kleiner pelziger Ball über die Wiesen Richtung Wald. Verdammt, dachte Simone. Musste das jetzt sein! Verärgert trat sie auf die Veranda und zog die Tür hinter sich zu. Mochte Bartelsen ruhig denken, sie sei unhöflich und wenig gastfreundlich, doch irgendetwas in ihr sträubte sich davor, diesen Mann einzulassen.
„Ja, bitte? Was kann ich für Sie tun?“
Bartelsen sah sich kurz um und ließ seinen Blick nervös an der Fassade des Hauses hinaufgleiten. Simone verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Der Kerl hat etwas sehr seltsames an sich, dachte sie unbehaglich.
„Frau Sommerlath, schauen Sie, ich wollte heute Morgen im Laden nichts sagen, da Ihre Tochter dabei war. Diese Sache ... hm, also, was ich Ihnen zu sagen habe, ist nicht für Kinderohren bestimmt. Eigentlich sollte ich mich gar nicht einmischen, aber ich kann nicht so tun, als ob mich das Ganze nichts anginge.“ Er räusperte sich und holte tief Luft. „Sie sollten schleunigst von hier verschwinden.“
Simone riss ungläubig die Augen auf. „Warum das denn? Passen wir nicht ins Stadtbild oder was?“
„Unsinn, was denken Sie denn! Es ist einfach zu Ihrem Besten, glauben Sie mir.“ Bartelsen fuhr nervös mit seinen Wurstfingern über die Knopfleiste seiner jagdgrünen Strickjacke und starrte sie eindringlich an.
„Das hört sich ja fast wie eine Drohung an. Was soll das?“ fragte Simone scharf. „Was haben Sie denn gegen uns?“
„Ich habe doch nichts gegen Sie. Hören Sie mir doch einfach mal zu, um Gottes willen!“ Er trat einen Schritt auf sie zu.
„Ich würde vorschlagen, Sie gehen jetzt besser, Herr Bartelsen“, unterbrach ihn Simone und richtete sich unbewusst zu ihrer vollen Größe auf. „Oder wollen Sie, dass ich die Polizei rufe?“
Der Dicke wirkte erschrocken und hob beschwichtigend die Hände. „Bitte! Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich meine es doch nur gut …“
„Danke, aber wir kommen hier sehr gut ohne Ihre Hilfe klar. Auf Wiedersehen.“ Sie musterte ihn kühl. Dann trat sie über die Schwelle zurück ins Haus und ließ den ungebetenen Besucher einfach stehen. Wenig später hörte sie den Motor aufheulen und lauschte mit klopfendem Herzen auf das in der Ferne verklingende Geräusch.
Mittwoch
Nikki blinzelte in die Dunkelheit und wagte kaum zu atmen. Sie spürte in der Nähe ihres Bettes eine körperliche Präsenz, die dort nicht hingehörte. Vor einigen Minuten war sie aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt und wollte eigentlich auf die Toilette gehen, doch dann war sie sich dem durchdringenden Blick aus unsichtbaren Augen bewusst geworden. Langsam glitt sie tiefer unter die Bettdecke. Ihr war kalt bis in die Knochen.
Nach stundenlangen Minuten kroch ihre zitternde Hand zum Lichtschalter der Nachttischlampe. Warmes Licht flutete das Kinderzimmer bis in den letzten Winkel. Im selben Augenblick schrie Nikki erschrocken auf.
Am Fußende ihres Bettes stand Lukas. Doch eigentlich war es nicht Lukas, sondern etwas, das wie Lukas aussah. Der Körper vor ihr hatte seltsam verschwommene Konturen, die normalerweise schon riesigen himmelblauen Augen waren fast doppelt so groß und blind. Aus milchig trüben Pupillen starrten sie auf Nikki herab. Ihr Blick versprach das pure Böse.
„MAMA!!!“
In diesem Moment brannte die Glühbirne durch.
„Schsch … Nikki, es ist alles in Ordnung. Du hast nur geträumt …“
Mama, Gott sei Dank! Nikki schlang ihre Arme wie eine Ertrinkende um ihre Mutter und vergrub das Gesicht an ihrem Hals. Mama roch so gut nach Gesichtscreme und Schlaf … Nikki wollte sie am liebsten nie mehr loslassen. Ihre Mutter strich ihr sanft über den Rücken und summte beruhigend vor sich hin. Allmählich normalisierte sich Nikkis Herzschlag.
Lukas! Die Realität brach wie ein Schwall kalten Wassers über Nikki herein. Hastig richtete sie sich auf und starrte auf das Bett ihres Bruders. Das Licht der Deckenlampe im Gang konnte die Schatten im Kinderzimmer nicht ganz vertreiben, doch sie genügten, um unter der bunten Steppdecke einen menschenähnlichen Knubbel erkennen zu lassen. Es schien, als ob der Junge von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen hatte und so selig schlief wie ein neugeborenes Baby. Wie konnte er schlafen, wo er doch vor wenigen Minuten drohend vor ihrem Bett gestanden hatte?!
Ein Blick auf die Wanduhr verstörte Nikki noch mehr: es war kurz nach drei Uhr nachts. Irgendwo hatte sie gelesen, dass die meisten paranormalen Phänomene sich nicht um Mitternacht ereignen, sondern in den frühen Morgenstunden, genauer gesagt um drei Uhr morgens. Drei Uhr, die Stunde der Dämonen.
Ihr fiel noch etwas anderes ein. „Mama, ist Cäsar wieder nach Hause gekommen?“
Simone zuckte bei der Frage merklich zusammen. „Noch nicht, Liebes. Aber er ist bestimmt morgen früh wieder da, du wirst sehen.“ Sie saß noch ein Weilchen bei ihrem verängstigten Kind, dann befreite sie sich behutsam aus Nikkis Umklammerung und stand auf. „Schlaf jetzt, meine Kleine. Morgen sehen wir weiter. Ich lasse das Licht im Gang an, ja?“
Nikki stopfte sich ihr Kopfkissen hinter den Rücken und ließ das Bett ihres Bruders nicht aus den Augen. Immer noch jagte die Erinnerung an das Erlebte oder an das, was sie glaubte, erlebt zu haben, eisige Schauer über ihren gesamten Körper. Da an Schlaf ohnehin nicht mehr zu denken war, nahm sie ihr Handy und googelte sie den Begriff Albtraum. Sie klickte einen wissenschaftlichen Artikel an und stieß auf den lateinischen Ausdruck Pavor nocturnus, der auch als Nachtschreck, Schafterror und Alpdruck bezeichnet wird und Kinder zwischen dem vierten und zwölften Lebensjahr betreffen kann. Interessiert studierte sie die beschriebene Symptomatik, welche sich unter anderem in Wimmern, unkontrolliertem Zittern, Keuchen oder einem panischen Schrei äußert. Gefolgt von ausgeprägten Angstgefühlen, Schweißausbrüchen und Gänsehaut. Kommt mir irgendwie bekannt vor, dachte Nikki stirnrunzelnd. Sollte dies wirklich die harmlose Erklärung sein? Stresssituationen zählen neben diversen anderen Einflüssen zu den Auslösern einer nächtliche Panikattacke, las sie weiter. Sie hatte die letzten Tage allerdings nicht
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Texte: Die gekürzten Fassungen der Geschichten lerschienen bereits in diversen Anthologien.
Cover: Bildnachweis Covermotiv: pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4215-1
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In liebevoller Erinnerung an Carmela (1963 - 2017)