„Ein toller Auftritt, Kimberly! Du hast wirklich Talent, mit den Kleinen umzugehen!“
Kimberly spürte, wie sie unter ihrem Clown-Make-up errötete und winkte verlegen ab. „Vielen Dank, Frau Pohl. Ich freue mich sehr, dass die Kinder so viel Spaß hatten. Vor allem Florian, es ist ja schließlich sein Geburtstag“. Sie warf einen Blick auf den aufgeweckten Sechsjährigen, der mit seinen Freunden lautstark durch das Einfamilienhaus der Pohls stürmte. Heute Nachmittag war sie in die Rolle des tolpatschigen Clown-Mädchens Kiki geschlüpft und hatte die staunende Kinderschar im Nu um ihren kleinen Finger gewickelt.
„Darf ich kurz Ihr Bad benutzen und mich umziehen?“, bat sie Florians Mutter.
„Aber sicher doch. Warte einen Moment, ich gebe dir noch dein Geld, und dann kümmere ich mich wohl besser wieder um diese Rasselbande hier, bevor noch irgendetwas zu Bruch geht.“ Frau Pohl reichte Kim einen 20-Euro-Schein. „Hey Laura, bitte nicht mit dem Saft auf das Sofa, sonst verschüttest – zu spät!“ Sie warf Kim ein entschuldigendes Lächeln zu und eilte an den Ort des Malheurs.
Kim ging ins Badezimmer und sperrte mit einem zufriedenen Seufzen den Trubel im Erdgeschoss aus. Fünfzehn wilde Vorschulkinder über eine Stunde lang zu unterhalten grenzte schon fast an Zauberei. Papa wäre heute so richtig in seinem Element gewesen, überlegte Kim und wischte sich mit einem Kosmetiktuch sorgfältig das farbenfrohe Make-up aus dem Gesicht. Ihre Alltagskleidung hatte sie unter dem weiten Clownkostüm angelassen, welches sie nun zusammen mit der bunten Lockenperücke in ihre Umhängetasche stopfte. Ein prüfender Blick in den Spiegel zeigte wieder den normalen, hübschen Teenager von knapp siebzehn Jahren, der sein spärliches Taschengeld ab und zu mit Auftritten bei Kinderfesten aufbesserte. Sie hielt einen Moment inne und betrachtete ruhig ihr Spiegelbild: Die samtbraunen Augen ihres Vaters blickten ihr entgegen. Er hatte sie ihr ebenso vererbt wie das niedliche Kinngrübchen und sein unbestreitbares schauspielerisches Talent. Wie stolz er über ihre ersten Gehversuche als Clownmädchen Kiki gewesen war! Die meisten Tricks hatte er ihr beigebracht. Was würde er wohl sagen, wenn er ihr jetziges Repertoire an Kniffen sehen könnte? Kim fühlte wieder den vertrauten Schmerz in sich aufsteigen. Würde sie wohl jemals über seinen Tod hinweg kommen?
Energisch schüttelte sie die düsteren Gedanken ab, band ihr langes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz und fuhr sich mit dem Pflegestift über die vollen Lippen. Zufrieden steckte sie den soeben verdienten Geldschein in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Wieder ein Stück näher am Ziel. Bald schon würde sie sich ihren Traum erfüllen können.
„Erde an Kimmy, bitte kommen!“
„Hm?“ Kim blickte in das genervte Gesicht ihrer Freundin Jenny, mit der sie sich zum Lernen für eine bevorstehende Prüfung getroffen hatte. „Was ist denn?“
„Ich weiß es nicht. Sag du es mir. Du hörst mir heute überhaupt nicht zu!“
„Sorry, aber ich muss ständig daran denken, dass ich nun fast das Geld für meine Tätowierung zusammen gespart habe. Leider wollen sie im Tattoostudio die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten, weil ich noch minderjährig bin. Und Mama ist unerbittlich. Nicht, bevor du volljährig bist, hat sie mir erst gestern wieder das Wort abgeschnitten, als ich das Thema mit ihr besprechen wollte. Dabei dauert es doch noch so lange bis zu meinem 18. Geburtstag.“
„Das ist wirklich blöd“, stimmte Jenny mitfühlend zu. „Deine Mom ist ziemlich streng.“
„Früher war sie ein bisschen lockerer, aber seit Papas Tod ist sie überfürsorglich geworden“, erwiderte Kim verdrossen. „Am liebsten würde sie mich rund um die Uhr beaufsichtigen. Als würde ich mich in Luft auflösen, wenn ich einen Fuß nach draußen setze.“
Jenny bemerkte ihren traurigen Gesichtsausdruck und klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Komm, zeig mir doch nochmal dein Wunschtattoo. Ich finde das Motiv wirklich total geil.“
Kim schmunzelte und rief die Seite auf Jennys Laptop auf. Nachdem sie mit der Maustaste in wenig nach unten gescrollt war, erschien ihr Traumtattoo auf dem Desktop: zwei entgegengesetzte Theatermasken, eine lachend, die andere weinend. Ein dunkel schraffiertes Sternenband schlängelte sich dekorativ um die Gesichter und den verschnörkelten Schriftzug Smile now, cry later. Sie wollte sich dieses Motiv auf ihren linken Oberarm tätowieren lassen.
„Ein bisschen unheimlich schauen die aber schon aus“, meinte Jenny mit schief gelegtem Kopf.
„Findest du?“ Mit einem Klick vergrößerte Kim das Motiv. „Ich glaube, deine Fantasie galoppiert mal wieder mit dir davon! Ich kann daran beim besten Willen nichts Unheimliches an diesem Kunstwerk erkennen.“
„Na ja, das liegt wahrscheinlich an meiner angeborenen Aversion gegen Clowns. Ich konnte denen noch nie etwas abgewinnen. Anwesende natürlich ausgenommen.“
Kim streckte ihr die Zunge heraus. „So so. Mach nur so weiter!“
„Nee, im Ernst. Puppen, Clowns, Masken … ich habe wahrscheinlich einfach zu viele Horrorfilme gesehen. Aber du musst doch zugeben, dass das lachende Gesicht wirklich einen diabolischen Zug um den Mund hat.“
„Wie gesagt, ich finde das nicht. Abgesehen davon ist das Motiv wie für mich gemacht. Seit Papas Tod fühle ich mich genauso so – nach außen muss ich stets ein fröhliches Gesicht zeigen, doch innerlich bin ich wie versteinert.“ Sie seufzte tief. „Und außerdem hat dieses Motiv auch noch eine andere Bedeutung, nämlich lebe jetzt, bereue später oder so ähnlich. Das ist ab sofort genau mein Motto. Das Leben ist einfach zu kurz, um seine Wünsche ständig aufzuschieben. Wer weiß schon, was in einem oder zwei Jahren ist? Papas Unfall hat mir gezeigt, wie schnell alles vorbei sein kann. Er hatte noch so viel vor, weißt du? Ich will mir später jedenfalls nicht vorwerfen müssen, nicht richtig gelebt zu haben.“
Jenny tätschelte Kims Schulter. „Ich kann dich sehr gut verstehen.“ Auf einmal trat ein spitzbübischer Ausdruck in ihre veilchenblauen Augen. „Weißt du, wenn ich du wäre, würde ich es einfach machen! Das Tattoo, meine ich.“
„Ich sagte dir doch…“
„Ja, ich weiß, deine Mutter. Aber schau, es ist bereits Ende Oktober. Deine Mom wird die Tätowierung vor dem nächsten Frühling gar nicht zu sehen bekommen, weil du bis dahin immer im Wollpullover rumläufst.“
„Das hast du wirklich gut beobachtet“, spottete Kim. „Aber leider interessiert das den Tätowierer wenig. Der besteht auf diese dumme Einwilligung.“
„Eben nicht!“
„Ich kann dir nicht folgen?“
„Du lässt es privat machen, ganz einfach!“
Kim zögerte. „Ich weiß nicht recht, Jenny … nicht, dass ich mir da irgend etwas einfange. Wer sagt denn, dass solche Leute hygienisch arbeiten? Und überhaupt, ich kenne niemanden, der privat tätowiert.“
„Aber ich! Da staunst du, was? Mein Bruder Chris hat sich letzte Woche ein Tribal Motiv stechen lassen. Das sieht super aus. Der Mann, der ihm das Bild gestochen hat, ist Jamaikaner. Ein Meister seines Fachs. Und billig ist er auch. Wenn du willst, können wir jetzt gleich hingehen. Er wohnt nur zwei Straßen weiter.“
„Also, ich weiß nicht…“
„Kim, du enttäuscht mich“, frotzelte Jenny. „Was ist denn nur aus deinem neuen Lebensmotto geworden?“
Kim zuckte die Schultern. Sie fühlte sich total überrumpelt und bat sich Bedenkzeit aus. Doch nachdem sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3901-7
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Widmung:
Für meine Lieben...
Ihr treibt mich oft in den Wahnsinn, doch ohne Euch wäre ich nichts