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6 Uhr morgens. Das penetrante Geräusch des Weckers holt mich aus meinem Tiefschlaf. Langsam schäle ich meinen Körper aus den Decken, stelle meine Füße auf den Boden und erhebe mich. Vorsichtig und zögerlich gehe ich ins Bad. Das grelle Licht lässt mich meine noch müden Augen zusammen kneifen. Ich muss mir endlich andere Glühlampen besorgen. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das Licht, ich schaue ganz vorsichtig in den Spiegel. Da ist nichts, nur ein ganz normaler Spiegel, aus dem mir mein vom Schlaf etwas verquollenes Gesicht entgegen blickt. Im Juni war da alles andere als ein ganz normaler Spiegel …


Es war ein perfekter Tag. Strahlend blauer Himmel. Zwitschernde Vögel. Wie würde mein Kollege jetzt sagen: Ein Tag zum Halbgötter zeugen. Um 6 Uhr sprang ich aus dem Bett, trällerte vor mich hin und rannte ins Bad. Der letzte Ton meines Liedes blieb mir im Hals stecken. Aus dem Spiegel lächelte mich mein Gesicht an. Mit dem kleinen Unterschied, das war nämlich nicht ich, die mich da aus dem Spiegel mit perfekt gestylten Haaren anlächelte. Ich stand einige Sekunden da wie erstarrt. Als die Starre sich löste, rannte ich in mein Zimmer zurück. Atemlos setzte ich mich aufs Bett und wartete. Worauf konnte ich nicht sagen. Es geschah nichts. Wieder im Begriff aufzustehen, hörte ich ein sehr merkwürdiges Geräusch aus dem Badezimmer. Mein Hintern verharrte ungefähr 20 cm über dem Bett, ich lauschte dem glucksenden Geräusch aus dem Bad. Dann ein lautes Plopp und Stille. Gerade, als ich meine angespannten Beinmuskeln lösen wollte, hörte ich klackende Geräusche, die mich an irgendetwas erinnerten. Richtig, so hörten sich High Heels auf Fliesenböden an. Was geschah hier?

Ich nahm meinen restlichen Mut zusammen und bewegte mich langsam in Richtung Badezimmer. Dort angekommen stand ich mir gegenüber, glaubte ich zumindest. Lange, schwarz bestrumpfte Beine in High Heels, schwarzer Minirock, schwarzes enges Top. Über all dem mein Gesicht, aus dem mich meine Augen anstarrten. Nein, falsch. Diese Puppenaugen starrten durch mich hindurch. Ich sah so aus, wie ich immer aussehen wollte. Flacher Bauch, toller Busen, alles perfekt. Was geschah hier? Ich ging an mir vorbei mit kleinen Schritten. Klar, in High Heels geht das nicht anders, und verließ die Wohnung.

Ein Blick in den Spiegel jagte mir einen Kälteschauer über den Körper. Da war nur eine schwarze, leicht pulsierende Fläche. Ich rannte zurück in mein Zimmer, legte mich ins Bett. Decke über den Kopf und gar nichts tun. Einfach nur warten, was geschieht. Über diese Warterei schlief ich ein.

Das schrille Klingeln des Telefons holte mich in die Wirklichkeit zurück. Mein Kollege war dran.

„Wow, was ist los mit Dir? Hast Du Deine Chucks weg geschmissen und die Jeans gleich mit?“

Meine Chucks. Sie heißen Chucks, weil der Basketballspieler Chuck Taylor in den 20er Jahren sein Autogramm auf dem Converse-Stern verewigt hat, fuhr es mir durch den Kopf. Ich schaute in die Ecke, wo meine Chucks normaler Weise standen. Puhh, sie waren noch da. Mit dem Telefonhörer in der Hand wankte ich in die Ecke, hob einen Schuh auf. Da war es. Auf dem Stern stand der Name Chuck Taylor. Das war real. Was mein Kollege mir durch den Telefonhörer ins Ohr plärrte war nicht real. Irgendetwas Unverständliches in den Hörer murmelnd legte ich auf.

Das muss sofort aufhören. Mein Kopf hämmerte, ich brauche Hilfe. Computer anschmeißen, Internet durchsuchen. Nach drei Stunden war ich in einem Esoterik-Forum angemeldet, in welchem es von Hexen und Voodoo-Priestern nur so wimmelte. Wo um alles in der Welt kommen die nur her? Völlig egal, ich muss dieses andere Ich loswerden. Mit welchen Mitteln auch immer.

Nach weiteren zwei Stunden, ich hatte meine Seele in diesem Forum geöffnet, hatte schweren Herzens zugegeben, dass ich immer schon den Wunsch hatte, wie dieses andere Ich auszusehen, bekam ich einen Rat. Dieser Rat war eigentlich ganz einfach. So schien es jedenfalls. Als erstes musste ich ein Foto von mir in dem Forum hochladen. Das war ja noch leicht zu bewältigen. Als nächstes musste ich ein Gebräu herstellen aus 20 Gramm Kümmel, 20 Gramm Kamillenblüten und 10 Gramm Fenchelsamen. Klar doch, mitten in der Nacht hat jeder Kamillenblüten im Haus, Fenchelsamen sowieso. Ich selbstverständlich nicht. Dieses Problem war jedoch schnell zu lösen, drei Straßen weiter gab es eine Apotheke, die hoffentlich Nachtdienst hatte und mir diese Dinge verkaufen konnte. Dachte ich so bei mir. Ich rannte so schnell ich konnte. Das Glück war auf meiner Seite, die Apotheke hatte Nachtdienst und ich bekam meine Zutaten. Schnell wieder zurück.

Im Esoterik-Forum wartete man schon auf mich. Ich bekam die genaue Anleitung, wie ich einen Sud herstellen musste. Erst den Kümmel 40 Minuten kochen. Mit 500 ml Wasser. Dann 250 ml Wasser dazu und den Fenchelsamen. Das Ganze zusammen weitere 20 Minuten kochen. Nun wieder 250 ml Wasser dazu und die Kamillenblüten in den Topf. Weitere 15 Minuten kochen. Ein grauenvoller Gestank zog durch meine Wohnung. 15 Minuten musste diese Gebräu nun abkühlen, dann sollte ich einen halben Liter davon schluckweise innerhalb von einer halben Stunde trinken. Vor dem ersten Schluck würgte ich, so fürchterlich war der Gestank von diesem Gebräu. Um genau 3 Uhr 27 musste ich den letzten Schluck trinken. Der Voodoo-Priester im Forum wollte genau zu diesem Zeitpunkt einige Zaubersprüche über meinem Bild vor sich hin murmeln. Und um
3 Uhr 53 sollte ich den Spiegel, besser die schwarze, wabernde Möchtegern Spiegelfläche, mit dem Rest des Gebräus einschmieren. Und dann warten.

Ich habe alles getan. Das Gebräu getrunken. Möchtegern Spiegel eingeschmiert. Gewartet. Und dann geschah es. Um 4 Uhr 39 ging die Wohnungstür auf. Da stand ich erneut meinem Ich gegenüber. Die blauen Puppenaugen schauten wieder durch mich. Kurz bevor dieses andere Ich den Möchtegern Spiegel erreichte, schauten mich diese Puppenaugen an. Etwas Trauriges war in diesem Blick. Was dann geschah, kann ich heute immer noch sehr schwer glauben. Die schwarze Oberfläche des Spiegels wölbte sich ins Badezimmer. Ich, also das High Heel Ich, wurde mit dem Kopf zuerst in diese Wölbung gezogen. Nach 30 Sekunden waren auch die High Heels verschwunden. Und der Spiegel war wieder ein ganz normaler Spiegel.

Ich rannte in mein Zimmer und berichtete dem Voodoo-Priester im Forum. Das heißt, ich wollte berichten. Mein Bildschirm war schwarz. Schnell die Maus bewegen. Der Bildschirm leuchtete auf. Mich konnte schon nicht mehr erschüttern, dass ich das Forum nicht mehr fand. Auf der ganzen Festplatte keine Spur davon.


Nie wieder wollte ich meinem anderen Ich begegnen. Aus dieser Geschichte habe ich gelernt, dass es auf jeden Fall besser ist sich so anzunehmen, wie man eben ist. Okay, das Eine oder Andere könnte man ja vielleicht ein wenig ändern …

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Tag der Veröffentlichung: 08.09.2009

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