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Ein Tag im Juli

Schon am frühen Morgen konnte man ahnen, dass es ein wunderschöner Tag werden würde. Die Sichel des abnehmenden Mondes war noch am Horizont zu sehen, als die Sonne ihre ersten warmen Strahlen auf die Erde schickte.

Auf der Insel O’ahu zappelten 25 Kinder in heller Aufregung. Mit ihren Eltern befanden sie sich auf dem Weg zum Flughafen von Honolulu. Sie sollten für einen Tag auf „Die große Insel“ fliegen. Alle Kinder waren noch nie geflogen. Im Bus plapperten sie aufgeregt durcheinander.

Endlich waren sie angekommen. Da stand die kleine zweimotorige Maschine. Eine Treppe wurde gerade ans Cockpit gerollt. Als die Treppe an die Flugzeugtür eingeklinkt hatte, sahen die Kinder zwei Stewardessen im Körper des Flugzeugs verschwinden. Kurz darauf kamen auch der Pilot und sein Assistent, die am Fuß der Treppe stehen blieben.

Die Tür vom Flughafengebäude öffnete sich und die Kinder liefen durcheinander auf das Flugfeld zu dem kleinen Flugzeug. Der Pilot und sein Assistent hielten sie an der Treppe auf, um Ordnung in den Kinderhaufen zu bringen, was ihnen auch halbwegs gelang. In Zweiergruppen stiegen die Kinder in das Flugzeug. Pilot und Assistent nahmen ihre Plätze im Cockpit ein und starteten die Motoren. Gerade als der Treppenwagen weg fahren wollte, lief ein kleiner Mann auf das Flugfeld direkt auf das Flugzeug zu. Atemlos lief er die Treppe hoch.

„Ich bin John Doe“ sagte er der Stewardess in perfektem englisch und hielt ihr den Flugschein und die Bordkarte hin. Na gut, dachte diese, wieso soll ein Japaner nicht John Doe heißen. Er hatte kein Gepäck, nur ein dickes Paket. Mit diesem setzte er sich ganz hinten in die Maschine. Er fing sofort an, das Paket zu öffnen. Weißes Papier war drin. Mit fliegenden Fingern begann er an, einzelne Papierbögen zu falten. Dabei murmelte er immer wieder einen Satz vor sich hin.

Die Maschine bekam die Genehmigung zum Start, der Pilot machte seine Durchsage. Der Motorenlärm wurde lauter, die Kinder ganz ruhig. Die Stewardessen überprüften die Gurte. John Doe schaute kurz hoch und faltete weiter seine Papiere.

„Du“ sagte die Stewardess leise zu ihrer Kollegin, „der ist aber merkwürdig. Er brabbelt vor sich hin, ich habe verstanden: Für jedes Kind zwei. Und das, ohne mit seinen Fingern durcheinander zu kommen.“

„Was faltet der denn da?“

„Kleine Papierflieger.“

Die Frauen schauten sich an und lachten.


Die Maschine befand sich seit 15 Minuten in der Luft, direkt über dem spiegelglatten, blauen Meer. Einige Delfine schraubten sich mit ihren spitzen Nasen aus dem Wasser und ließen sich wieder ins Meer fallen. Plötzlich fing der rechte Motor an zu stottern, kurz darauf bewegte sich der Propeller nicht mehr. Hektisch versuchte der Pilot den Motor wieder zu starten, als wie eine Erscheinung John Doe hinter ihm stand.

„Schalten sie den anderen Motor ab und gehen Sie in den Gleitflug.“

Der Pilot schaute den kleinen Mann an. „Wieso sollte ich das tun?“

„Tun Sie, was ich Ihnen sage. Ich war Kampfpilot und Sie sollten auf mich hören.“

Als der Pilot wieder aufschaute, war der Mann verschwunden. Er schüttelte verwundert seinen Kopf. Sein Assistent, mit den Instrumenten beschäftigt, schaute auf. In diesem Augenblick fing der linke Motor an zu stottern. Der Pilot wurde ganz ruhig, ihm fielen die eben gesagten Worte ein. Kurz entschlossen schaltete er den Motor aus. Die Maschine schüttelte, während er versuchte, das Flugzeug ruhig zu halten und einen SOS-Funkspruch zu senden.

John Doe sprach inzwischen beruhigend mit den Kindern. Den Stewardessen befahl er, alle Kinder in den hinteren Bereich des Flugzeugs zu bringen. Und dort sahen sie, dass aus dem ganzen Paket mit Papier Papierflieger auf allen Sitzen lagen. Die Kinder beruhigten sich ein wenig.

Dann ging alles ganz schnell. Das Flugzeug schlug auf dem Meer aus, brach auseinander. Alle Kinder schrien durcheinander. John Doe stand an dem hinteren Teil und schubste die Kinder ins Meer.


Von Pearl Harbor waren bereits Hubschrauber auf dem Weg zur Absturzstelle. Die ersten Boote wurden zur Rettung los geschickt.

Als sich die Hubschrauber der Absturzstelle näherten, bot sich den Piloten ein Bild, das sie nie mehr im Leben vergessen würden. Auf dem Meer waren wie ein Teppich kleine weiße Papierflieger zu sehen. Zwischen diesen kleinen Fliegern stupsten Delfine mit ihren Nasen die Kinder in Richtung Ufer. Und alle Kinder lachten. Sie spielten mit den Delfinen und ließen sich bereitwillig führen.

„Das müssen mindestens 30 Tiere sein. Aber da hinten sind auch Haie, wir müssen uns beeilen.“

Der Hubschrauberpilot hatte seine Sprache wieder gefunden. Sein Co-Pilot, ein Hawaiianer, schaute auf das Meer hinunter. Er beobachtete die Haie. Seine Ahnen hatten die Mythologien über diese Tiere und das Zusammenleben mit ihnen weitergegeben. So war er in der Lage, das Verhalten der Haie, die ruhig am Rande des Geschehens schwammen, genau zu beurteilen. Nach einer Weile wandte er sich an den Piloten.

„Die Haie achten darauf, dass die Kinder gerettet werden. Sie werden nicht angreifen.“

Die Piloten des abgestürzten Flugzeugs und die Stewardessen schwammen hinter den Kindern. Und immer wieder die Delfine, die sich auch um die Erwachsenen kümmerten.

Die ersten Boote erreichten die Absturzstelle. Als die Soldaten die fröhlichen Kinder inmitten der Delfine sahen, traten einigen von ihnen die Tränen in die Augen. Sie holten die Kinder und die Flugzeugbesatzung in die Boote. Die geretteten Besatzungsmitglieder weinten jetzt hemmungslos. Alle Kinder waren gerettet.

Die Delfine schwammen zwischen den kleinen Papierfliegern neben den Booten bis kurz vor den Hafen. Dann drehten sie ab und schwammen ins offene Meer zurück.

„Wo ist der Japaner, wo ist John Doe?“. Eine der Stewardessen hatte sich etwas beruhigt. John Doe war nicht mit an Bord. Niemand hatte ihn gesehen. Er war wohl ertrunken.


Spätere Recherchen ergaben, dass es auf diesem Flug keinen Passgier mit dem Namen John Doe gegeben hatte. Auf Pearl Harbor war kein Kampfpilot japanischer Herkunft mit diesem Namen stationiert. Es gab kein Ticket auf den Namen John Doe und es wurde niemals eine Leiche gefunden.

Alle 29 Menschen, die sich an Bord des Unglücksflugzeugs befunden hatten an diesem 7. Juli 1942, genau ein halbes Jahr nach dem Angriff auf Pearl Harbor, trafen sich noch viele Jahre immer am 7. Juli am Meer und ließen kleine Papierflieger segeln.

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Tag der Veröffentlichung: 10.08.2009

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