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Die alte Standuhr in der Diele schlug 7 Mal. Es war ein Freitag im Mai. Ich war gerade aus dem Geschäft gekommen und hielt den Brief aus der Schweiz, genauer gesagt aus Zug, in der Hand. Der Absender war die Klinik in Zug. Der Brief wog schwer in meiner Hand. Bevor ich ihn öffnete, holte ich mir ein Glas Rotwein und setzte mich in den Alkoven in den alten Ohrensessel, der nach Auskunft meines Vaters von meinen Großeltern stammte. Langsam schob ich den Brieföffner in den Schlitz des Briefes, ebenso langsam öffnete ich ihn.

Sehr geehrter Herr Weinert, wir haben keine guten Nachrichten für Sie …

Meine Hand mit dem Brief sank auf die Lehne des Sessels. Das alte Leder hatte eine beruhigende Wirkung auf mein wie wild schlagendes Herz. Ich schaute in mein Rotweinglas und versank langsam in die Vergangenheit, in das Jahr 2003…

Wir hatten meinen 55. Geburtstag gefeiert. Mein Vater, er stand kurz vor seinem 86. Geburtstag, ging nach zwei Glas Rotwein müde zu Bett. Ich begleitete ihn und küsste ihn auf die Stirn. Er wirkte sehr zerbrechlich, aber diese Zerbrechlichkeit war nur in seiner Gestalt zu sehen. Aus seinem Inneren strahlte Kraft und Entschlossenheit.
Ich trank mit meinen Freunden die Flasche aus und sie verabschiedeten sich.

Am nächsten Morgen erwachte ich von einem Geräusch, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Die alte Standuhr schlug 8 Mal. 8 Uhr morgens, Vater wird schon auf das Frühstück warten. Aber, warum hat er die Standuhr gestellt? Verwirrt stieg ich aus dem Bett und schlurfte verschlafen in das Zimmer meines Vaters. Er lag im Bett und war ganz still. Seine Augen waren geschlossen, um seinen Mund spielte ein leichtes Lächeln. Dieses Lächeln wirkte unendlich entspannt. Ich ging zum Bett meines Vaters, berührte ihn am Arm. Mein Lächeln gefror. Er war eiskalt. Mein Vater war tot, er schlief mit einem friedlichen Lächeln einen ewigen Schlaf.

Eine Woche nach dem Tod meines Vaters raffte ich mich auf, wenigstens Teile seiner Hinterlassenschaft zu sichten. In seinem Schreibtisch fand ich einen versiegelten Briefumschlag. Pawel Weinert stand auf dem Umschlag. Als ich den Namen Pawel las, schien mich ein elektrischer Schlag zu durchzucken. In meinem Pass steht der Name Paul, tief in mir klang diese Anrede sehr vertraut. Ich brach das Siegel. Aus dem Umschlag fielen eine CD und ein kleinerer Umschlag. Diesen öffnete ich und hielt einen Brief meines Vaters in der Hand.

Mein geliebter Sohn Pawel,
wundere Dich nicht, dass ich Dich mit diesem Namen anspreche. Das war der Name, den Deine Mutter Dir gab. Die polnische Variante Deines Namens Paul.
Ich werde diese Welt verlassen haben, wenn Du diesen Brief findest. Aus diesem Grunde habe ich die wichtigen Informationen für Dich auf die beiliegende CD gespeichert. Du wirst alles verstehen, wenn Du die CD gesehen hast.
Hoffentlich kannst Du mir verzeihen, was ich getan habe. Ich tat es aus Liebe.
Und jetzt begib Dich auf die Reise, meine Liebe wird Dich immer begleiten.
Dein Vater.

Verwirrt ließ ich den Brief sinken und starrte die CD an. Was für ein Geheimnis hatte mein Vater? Und wieso kannte er sich mit Computern aus? Zeit seines Lebens war er eher verträumt und zurückhaltend. Nur wenn er sich mit seinen Uhren beschäftigte, blühte er auf. Er liebte den Beruf des Uhrmachers. Wie da ein Computer reinpasste, würde ich später klären.
Ich schob die CD in meinen Laptop. Das Gesicht meines Vaters erfüllte den Monitor. Er lächelte leicht, sein Lächeln erreichte jedoch nicht seine Augen.

Mein Sohn Pawel, da war wieder diese Variante meines Namens, ich werde Dir jetzt nicht alles erzählen, sondern nur so viel, dass Du den Anfang verstehst und Dich dann auf eine Reise begibst.

Mein Vater räusperte sich und fuhr fort. Wie Du weißt, bin ich Jude, Während des Krieges war ich in Sachsenhausen und musste auf den Weitertransport nach Auschwitz warten. Als die Züge dann in Auschwitz ankamen, hatte ich das große Glück, dass Dr. Mengele an diesem Tag nicht an der Rampe stand, um die Angekommenen zu selektieren. Ich war kräftig gebaut, ich war jung, so musste ich nicht in die Duschen. Die mir zugeteilte Arbeit bestand darin, die Räume Dr. Mengeles zu reinigen. Bei dieser Arbeit erschien mir eines Tages ein Engel in der Gestalt einer Frau. Sie hatte volles blondes Haar und einen Mund, rot und süß wie Kirschen. Aber davon erzähle ich Dir später. Du musst jetzt nach München fahren, nimm den Laptop mit. In der Bankfiliale am Leopoldplatz ist ein Schließfach. Frage nach Herrn Müller. Herr Müller ist ein alter Freund von mir. Und einer der ganz wenigen Menschen, denen ich vertraue.

Der Bildschirm wurde schwarz.

Mein Vater hatte mit seiner geheimnisvollen Botschaft meine Neugierde geweckt. Nie zuvor hatte ich von Herrn Müller gehört. Die Freunde meines Vaters waren Goldschmiede und Uhrmacher, wie er. Da war kein Bankangestellter dabei.
Also buchte eine Fahrkarte und fuhr am folgenden Freitag nach München.

In der Bankfiliale fragte ich nach Herrn Müller. Er war ein kleiner rundlicher Mann mit einer randlosen Brille und vollem weißen Haar. Sein Händedruck war kräftig. Ich wies mich mit meinem Pass aus.

"Danke Herr Weinert, dass Sie gekommen sind. Warten Sie einen Augenblick, ich hole den Schlüssel für das Fach Ihres Vaters."

Er verschwand und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Schlüssel in der Hand zurück.

"Ich bringe Sie in die Tresoranlage. Bitte folgen Sie mir."

Ich folgte Herrn Müller in die untere Etage der Bankfiliale.

"Ich habe Ihren Vater kurz nach dem Krieg kennen gelernt, erzählte auf dem Weg zur Tresoranlage. Die CD's für Sie zu erstellen war meine Idee, Ihr Vater konnte nichts mit Computern anfangen. Eine zweite CD hier in München aufzubewahren, entsprang dem Sicherheitsbedürfnis Ihres Vaters."

Im Tresorraum angekommen blieb er vor dem Fach mit der Nummer 1414 stehen.

"Hier ist das Fach Ihres Vaters, jetzt gehört es Ihnen. Mitsamt dem Inhalt. Ich lasse sie allein. Wenn Sie fertig sind, drücken Sie bitte den Klingelknopf, ich lasse Sie dann abholen."

Herr Müller verschwand, ich war allein in dem Tresorraum. Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. In dem Fach lagen Papiere und eine weitere CD. Ich schob diese in den Laptop.

Mein Vater schaute mich ernst aus dem Monitor an.

Danke Pawel. Ich werde Dir jetzt unsere Geschichte weiter erzählen. Dieser Engel von einer Frau in Auschwitz wurde später, nach der Befreiung, meine Frau. Rahel war wegen ihrer Schönheit im Lager für die "besondere Betreuung der Offiziere" tätig. Obwohl sie Jüdin war. Du kannst Dir vielleicht vorstellen, was sie dort tun musste.
Bevor wir heiraten konnten, mussten wir uns erst wieder finden, wir wurden auf der Reise in die Freiheit getrennt. Ich kam nach Berlin. Dort begegnete ich der Familie von Herrn Müller, die mich in ihrem Haus aufnahmen und mir dabei halfen, mich in einem menschlichen Leben wieder zurecht zu finden.
Rahel habe ich mir Hilfe der Familie Müller gefunden Sie war gesundheitlich sehr angeschlagen, aber unsere Liebe und die Familie von Herrn Müller halfen uns.
Unser Glück schien vollkommen, als Deine Mutter mit Dir schwanger wurde. Aber dann, kurz vor Deiner Geburt, riegelten die Russen Westberlin ab, es begann die Berlin-Blockade. Deine Mutter nahm diese Zeit sehr schwer. Wie schwer, erkannte ich im Winter 1948. Deine Mutter versank immer tiefer in eine Depression, aus der sie kein Weg mehr zurückführte. Sie hatte eine unsägliche Angst, dass es wieder Krieg, wieder Lager wie Auschwitz geben könnte. Das erfuhr ich jedoch erst viel später. Kurz vor dem Ende der Blockade im Jahr 1949 war Deine Mutter in einen katatonischen Zustand gefallen. Die Frau, die ich so sehr liebte, war nicht mehr da. Du warst ein Säugling, musstest versorgt werden. Frau Müller half auch hier. Eine Schwester von ihr, Du nanntest sie Tante Mina, wurde meine Haushälterin und Deine Betreuerin.
Ich wurde fast verrückt vor Schmerz und brachte Deine Mutter, meine Frau, nach Zug in eine Nervenheilanstalt. Ich glaubte, dass sie in der Schweiz besser geschützt sei als in Deutschland. Sie lebt dort bis zum heutigen Tag. Meine monatlichen Reisen, Du erinnerst Dich, führten mich immer in die Schweiz zu Rahel.

Ich drückte die Pausentaste. Ganz tief in meinem Inneren löste sich ein Schrei, der in einem Schluchzen endete. Meine Mutter lebt. Die ganzen Jahre dachte ich, sie sei tot. Mein Vater hat mich die ganze Zeit belogen. Auch Tante Mina war eingeweiht und hat die ganzen Jahre geschwiegen. Sie würde ich nicht fragen können in ihrem Heim. Tante Mina ist demenzkrank. sie lebt in ihrer eigenen Welt. Wie betäubt schaute ich mir den Rest der CD an.

Verzeih mir, Pawel, dass ich Dir nie die Wahrheit sagte und Dich in dem Glauben ließ, Deine Mutter sei tot. Sie erkennt niemanden, aber sie ist glücklich in der Schweiz. Schau Dir die Papiere an, Du wirst dort die Diagnose finden.

Mein Vater verstummte.

Die erwähnten Papiere waren die Krankenakten meiner Mutter. Ich verstand nicht viel von dem, was da geschrieben stand. Mein Beruf ist der eines Uhrmachers, wie der meines Vaters, die ärztlichen Fachbegriffe waren mir zum großen Teil nicht geläufig. Ich musste in die Schweiz.

Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg. In Zug angekommen, fand ich schnell die Anstalt, in der meine Mutter so viele Jahre lebte. Der Direktor, von meinem Vater schon seit langer Zeit instruiert, empfing mich freundlich und sagte mir, dass ich sie sehen könne, sie sei im Park. Ich schaute aus dem Fenster. Da sah ich sie, meine Mutter. Die schönen blonden Haare, von denen mein Vater sprach, waren ergraut. Sie war schlank, fast mager und fütterte die Tauben. Das ist also meine Mutter. Die ganze Sehnsucht nach meiner Mutter brach aus mir heraus, ich weinte lange. Der Arzt ließ mich weinen. Er erklärte mir den Zustand meiner Mutter, aber das brauchte er nicht. Was ich sah, sprach mehr als tausend Worte.

Ich fuhr jeden Monat in die Schweiz, um meine Mutter zu sehen. Wie mein Vater das die ganzen Jahre getan hatte.


Das Schrillen des Telefons holte mich in die Wirklichkeit zurück. Am Apparat war der Direktor der Anstalt in Zug.

"Können Sie sofort kommen? Sie werden sicherlich den Brief bekommen haben, Ihrer Mutter geht es sehr schlecht, sie wird sterben."

Ach ja, der Brief. Er lag auf dem Teppich. Ich sage dem Direktor, dass ich den nächsten Flug buchen werde.

Am nächsten Tag war ich schon um 10 Uhr in der Anstalt. Man brachte mich zu meiner Mutter. Ich war ihr das erste Mal ganz nahe. Die Frau, die da im Bett lag, sah aus wie ein Kind, so klein wirkte sie in dem großen Bett.

Sie schlug die Augen auf, lächelte mich an und sprach:

"Pawel, mein Junge, wie schön, dass Du mich besuchst. Und wie groß Du geworden bist. Komm, Deine Mama will Dir einen Kuss geben."

Mit Tränen in den Augen beugte ich mich über sie. Sie lächelte die ganze Zeit, während sie meine Stirn küsste. Sie strich mir über den Kopf, dann fielen ihre Hände herab. Sie atmete ganz tief ein. Ihr Lächeln stand noch in ihren Augen, als ich nach einer lange Zeit bemerkte, dass sie nicht mehr atmete. Sie war tot.
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Ich hatte geregelt, dass der Leichnam meiner Mutter nach Berlin überführt wird, sie soll neben ihrem Mann beerdigt werden Auf dem Rückflug nach Berlin war ich meinem Vater sehr dankbar, dass er mich nach seinem Tod noch zu meiner Mutter gebracht hat.

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Tag der Veröffentlichung: 08.07.2009

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