Gertrud Plischke war das, was die Berliner auf ihre bekannte, schnoddrige Art als „Portjesche“ bezeichnen. Hochdeutsch gesprochen war sie die Hauswartsfrau in der Müllerstraße 25 im Wedding. Und als Hauswartsfrau war sie die wichtigste Person im Haus, ohne sie würde das Haus verkommen, jawohl. Ihre Wohnung im Souterrain war ihr Gefechtsstand, hier hatte sie alles im Blick. Was auf jeden Fall die Beine sämtlicher vorbei Gehender abgelangte. Und sie kannte alle Beine im Haus, wie auch die meisten der Besucher. Gertrud Plischke war bekannt wie der oft beschworene bunte Hund, jeder nannte sie nur „Tante Tutti“.
Nun war Gertrud Plischke nach 45 Dienstjahren in den wohlverdienten Ruhestand getreten. Mit 69 Jahre hatte sie sich den redlich verdient. Die Treppe machen fiel ihr schon seit einiger Zeit recht schwer. Frau Plischke war seit dem Antritt ihres Ruhestandes in keiner sehr guten Verfassung. Die Treppe wurde jetzt von einer Reinigungsfirma gemacht, Haustür auf- und abschließen gabs auch nicht mehr, das Haus hatte einen Türöffner und eine Gegensprechanlage bekommen. Gertrud Plischke fühlte sich überflüssig. Es fehlte ihr einfach alles, was früher ihr geregeltes Leben ausgemacht hatte.
Gertrud Plischke war jedoch nicht die Frau, die sich einfach hinsetzt und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Sie musste was tun. Vielleicht beim türkischen Gemüsehändler ab und an mal mithelfen. Oder auf dem Spielplatz um die Ecke die Gören beobachten und aufpassen. Es treibt sich allerhand Gesindel hier rum in der letzten Zeit.
Und genau zum Zeitpunkt der Überlegungen über ihre weitere Lebensplanung trat ihr Enkel Paule auf den Plan. Paule, natürlich heißt er Paul, für Berliner im Wedding ist Paule Ehrensache. Besagter Paule kam eines Tages, sein Fahrrad schiebend, zur Oma, die auch er nur Tante Tutti nannte. Das nicht fahrende Fahrrad hatte einen Grund. Paule transportierte drei große Kartons.
„Ne Junge, wat machste denn, wo willste mit die Kisten hin“. Tante Tutti hatte ihren Gefechtsstand verlassen und schaute Paule zu, wie er die Kartons vom Fahrrad hob.
„Is allet für Dich, Tante Tutti“. Paule war schon im Gefechtsstand verschwunden, Tante Tutti stand noch auf der Straße mit dem letzten Karton. Sie versuchte ihn anzuheben, schwer war er ja nicht.
Resolut stapfte sie mit dem letzten Karton zurück in ihr Heim. Dort hatte Paule die Kartons geöffnet, Styroporteile waren überall in der guten Stube verteilt. Tante Tutti stand staunend dabei und schaute Paule zu.
„Wo issn die Telefonbuchse?“ Paule hielt ein Kabel in der Hand, ein hübsches giftgrünes.
„Junge, biste det erste Mal hier? Die is immer noch neben die Tür. Wat willste mit mein Telefon?“
Paule schaute sie an und antwortete in perfektem hochdeutsch: „Ich habe Dir einen Computer gekauft. Mit Internetzugang, damit Du was zu tun hast“.
„Wat haste jekooft, ein Computer? Wat soll ick mitm Computer? Wat soll ick mit Internet?“
„Oma“, wenn Paule aufgeregt war, war Tante Tutti schon mal die Oma, „im Internet kannste Leute treffen, kannste quatschen und wat weß ick nich allet. Ick hab die schnellste Verbindung mit 16000+ bei der Telekom besorgt, damit kannste och Fernsehen über det Telefonkabel“.
„Wat denn, Fernsehen übas Telefon“? Tante Tutti verstand die Welt nicht mehr, geschweige Dinge, die gerade im Wedding in Berlin in ihrem Gefechtsstand stattfanden. „Wat soll det sein, 16000+?“
„Nee lass ma stecken Oma, det kapierste eh nich, späta vielleicht ma.“ Paule wuselte durch die gute Stube, Kartons, Styropor, Kabel, alles sehr verwirrend.
Paule verband Kabel, Telefonbuchse und Computer, Splitter und Router. Aus dem letzten Karton holte er einen LCD-Flachbildmonitor und die Tastatur, die er zum Schluss mit dem Computer verkabelte. Dann stand alles auf der blütenweißen Spitzendecke auf Tante Tuttis Beistelltisch neben der Tür. Paule holte zwei Stühle und schob Tante Tutti auf einen Stuhl.
„Ne ne, wat machste nur mit mir“. Tante Tutti ließ sich widerspruchslos auf den Stuhl schieben.
Paule schaltete Monitor und Computer an. Alles war vorinstalliert, Paule prüfte die Internetverbindung und es konnte losgehen.
„Jetzt richten wir Dir erstmal eine E-mail-Adresse ein“. Paule sprach wieder hochdeutsch, jetzt wurde es Ernst. Und ernsten Situationen kann man eben nur in hochdeutsch begegnen.
„Wat? Ne Imeladresse? Wat is det nu wieder?“ Tante Tutti verstand nur noch Bahnhof, Hauptbahnhof, mit ICE, nicht Zoologischer Garten, ohne ICE.
„Ein elektronisches Postfach“. Paule immer noch ernsthaft und hochdeutsch bei der Sache.
„Een Postfach? Elektronisch? Krieg ick meene Briefe nu in det elektronische Postfach? Und wat macht Herr Schulz, meen Briefträja?“ Tante Tutti wirkte nicht sehr erfreut. Sollte sie jetzt nicht mal mehr ihr tägliches Pläuschchen mit Herrn Schulz abhalten können? Wegen einem elektronischen Postfach? Wer braucht denn so was, wenn man Herrn Schulz hat? Aber neugierig war sie doch, was ihr Paule da so alles machte. Und haste nicht gesehen, hatte Tante Tutti ein elektronisches Postfach. Ihre Kennung lautete TuttiP@yahoo.de. Eigentlich ganz einfach. Gertrud Plischke aus Berlin-Wedding hatte nun ein eigenes elektronisches Postfach.
„Mensch Paule, des haste aber jut gemacht. Nu musste mir noch janz jenau zeijen, wie man det macht“. Tante Tutti hatte Blut geleckt. War ja auch nicht wirklich schwer. Nur die Sache mit den Passwörtern. Aber Gertrud Plischke wäre nicht Gertrud Plischke, wenn sie dafür nicht eine ganz pragmatische Lösung parat hätte. Kurzerhand wurde das Haushaltsbuch umgewandelt in ein Passwortmerkbuch.
Paule verabschiedete sich, er hatte noch einen Termin mit seinen Kumpels. Tante Tutti saß nun allein vor diesem Wunderwerk der Technik. Paule hatte ihr noch einiges gezeigt, wie man Google benutzt, Wikipedia und so was alles. Sie fing nun an und besuchte ihre Lieblingszeitung, die Berliner Morgenpost. Einfach toll, was man da so alles hintereinander weg lesen kann, ohne Unmengen von Papier zu haben. Obwohl, Papier hat auch was, zumindest braucht man für das Auffangen von Kartoffelschalen kein weiteres Geld mehr auszugeben.
Tante Tutti saß um 23 Uhr immer noch vor dem Computer und kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Und da geschah es dann. Auf der Seite eines TV-Senders stolperte sie über ein Wort: Blog. Was um Himmels Willen soll das nun wieder bedeuten? Sie googelte Blog. Ein Tagebuch im Internet, alle können lesen, was man so zu sagen hat. Das war ihr jetzt zuviel, darum würde sie sich morgen kümmern. Ach nee, ist ja schon Morgen. Also später kümmern wir uns um dieses Phänomen Blog. Sie schaltete den Computer aus und ging erschöpft zu Bett.
Gertrud Plischke erwachte nach einer unruhigen Nacht. Google geisterte in allen erdenklichen Farben durch ihre Träume. Trotz allem erwachte sie frisch wie früher, als sie noch Hauswartsfrau war. Mit der Tasse Kaffee in der Hand schaltete sie ihrem Computer an. Wie nannte Paule das doch gleich? E-mail checken. Was für Worte. Aber so einfach würde sie Herrn Schulz nicht aufgeben, es gibt noch Leute, die schreiben auf Papier und kleben eine Marke auf den Umschlag. Herr Schulz ist schließlich dafür da, mir diesen Brief zu bringen, sprach sie laut vor sich hin.
Sie musste feststellen, dass keiner ihr geschrieben hatte. Zumindest nicht in ihr elektronisches Postfach. Also doch Herr Schulz. Aber alles nacheinander und dann mit Anlauf. Gertrud Plischkes Blog. Paule muss helfen. Sie rief ihn an.
„Paule, Du muss sofort kommen und mir det mit dem Blog erklären.“
„Ja Oma, ick komme in eener Stunde“.
Paule erschien pünktlich. Er half seiner Oma beim Einrichten eines eigenen Blogs. Bei Google. Die sind relativ einfach zu bedienen, erklärte Paule.
Und richtig, Gertrud Plischke aus Berlin-Wedding schrieb ihren ersten Beitrag in ihrem Blog. Dieser lautete:
Hallo Welt, ick bin Getrud Plischke aus Berlin-Wedding, aber jeder nennt mich Tante Tutti. Und nu koof ick se mir, die janze Welt.
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2009
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