Chronologie eines Todes
Es war Dezember im Jahr 2004. Selbstverständlich war ich in die übliche Hektik verfallen. Einen Grund dafür habe ich nicht, ich leide jedoch schon seit vielen, vielen Jahren darunter.
Elf Tage vor Heiligabend fiel mir dann ein, dass ich ja noch Geschenke brauche. Für meine Eltern, die nicht in Berlin wohnen. Ich habe mich entschlossen, ganz schnell noch einen Mohnstollen und einen Marzipanstollen zu backen. Die sind mir auch wunderbar gelungen. Unmittelbar nach dem Abkühlen habe ich die eingepackt, einen Weihnachtsbrief am Computer gebastelt und das alles zur Post gebracht.
Ungefähr eine Woche vor Weihnachten kam dann der Anruf, der meine Welt auf den Kopf stellen sollte.
Meine Mutter bedankte sich artig für das Päckchen, Sie klang etwas angespannt. Auf meine Frage, wie es ihr denn so geht, bekam ich die Antwort, dass es ihr nicht gut geht, sie habe Durchfall. Weil das ab und an eine völlig normale Angelegenheit ist, tat ich ihre Aussage mit den Worten ab, es könne sich nur um einen Virus handeln, sie solle zum Arzt gehen, wenn es nicht besser wird.
Heiligabend, ich für meine Kinder noch einige Kleinigkeiten gekauft, die Zutaten für das Weihnachtsessen, es sollte Ente geben. Der Tannenbaum stand schon Ente im Ofen, die übliche Hektik. Ich habe bei meinen Eltern angerufen. Meine Mutter klang noch angespannter, sie hat immer noch Durchfall. Abgenommen hat sie auch. Meine Reaktion war, weil ich wütend war, nicht wirklich nett. Sie hat mir versprochen, gleich Anfang Januar 2005 zum Arzt zu gehen.
Es kam der Januar, meine Mutter war beim Arzt. Darmspiegelung, nichts festzustellen. Sie bekam Medikamente gegen den Durchfall. Der hörte nicht auf, sie nahm weiter ab. Es wurde eine erneute Darmspiegelung durchgeführt mit dem Ergebnis, dass sie umgehend ins Krankenhaus muss. Meine Mutter sagte, da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung, sie hofft nur, dass sie keinen künstlichen Ausgang bekommt.
Ich war wie erstarrt und habe nur wie in Trance geantwortet, das wird alles nicht so schlimm sein. Während ich mit ihr sprach, war in meinem Kopf nur dieses grauenvolle Wort: KREBS, DARMKREBS. In Großbuchstaben wirbelten diese beiden Worte durch meinen Kopf. Jetzt hat der KREBS meine Familie erwischt. Das war alles, was ich denken konnte. Eine solche Diagnose für mich als chronische Hypochonderin ist beinahe ein Todesurteil.
Meine Mutter wurde operiert. Es wurden 30 cm Darm entfernt. Die Operation verlief gut, es konnten Metastasen festgestellt werden, die aber restlos entfernt wurden. Hat mit meine Mutter erzählt. Mir fehlte das Geld, noch mehr die Zeit, um hin zu fahren, ich habe fast täglich telefoniert.
Es folgt eine Reha, meine Mutter wurde auf 50 kg hochgepäppelt, damit sie Kraft für die Chemotherapie hat. Es ging ihr etwas besser während der Reha.
Dann kam die Chemo. Mit allen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Haarausfall, Kribbeln und Taubheitsgefühl in den Füßen. Ich dachte so bei mir, wieso eigentlich in den Füßen? Sie hat diese Torturen klaglos hingenommen. War schon merkwürdig. Ich kannte meine Mutter eigentlich nur jammernd, trotz der vielen Pillen, die sie täglich zu sich nahm. Während ihrer Krebserkrankung hat sie niemals gejammert.
Aber auch nach der Chemo ging es ihr nicht wirklich gut. Ca. im Herbst 2005 musste sie wieder ins Krankenhaus. Eventuelle noch eine Operation. Alle Kontrolluntersuchungen waren ohne Befund. Sie rappelte sich wieder etwas auf, war aber zu schwach, es nahte mal wieder Weihnachten, um ihre Lebkuchen zu backen. Diese Aufgabe habe ich übernommen. Ich habe also für die gesamte Familie die in unserer Familie berühmten Mutter-Lebkuchen gebacken. In diesen Lebkuchen steckten viel Herzblut und noch mehr Tränen drin. Aber sie schmeckten. Fast wie die von meiner Mutter. Mit meinem Paket habe ich ihr die notwendigen Gewürze, die ich im Internet bestellen musste, weil es die nicht in Berlin gibt, für das nächste Weihnachtsfest mitgeschickt. Eigentlich ahnte ich, dass es vielleicht für sie kein Weihnachten mehr geben wird. Diesen Gedanken habe ich in die hinterste Ecke meines Gehirns verbannt. Nur nicht zuviel Angst, man kann schließlich auch Unglück herbei denken.
Im Frühjahr 2006 ging es meiner Mutter sehr schlecht, Neue Untersuchungen, aber keine Operation mehr. Wieder etwas in die nächste hinterste Ecke meines Gehirns versteckt. Mir kam es endlich in den Sinn, sie muss jetzt unbedingt eine Misteltherapie machen. Sie sprach mit ihrem Arzt. Der verzog zwar das Gesicht etwas, gab ihr aber die notwendigen Spritzen. Es hat vielleicht nicht viel gebracht, aber es gab Hoffnung. Schmerzen hatte meine Mutter fast gar nicht.
Im Juni 2006 kam dann die Nachricht, dass meine Mutter nach dem letzten Krankenhausaufenthalt keine Nahrung, die faserreich ist, mehr zu sich nehmen darf. Sie musste sich enteral ernähren. Das bedeutet, sie trinkt so etwas Ähnliches wie Astronautennahrung. In den Geschmacksrichtungen Vanille und Schokolade.
Und da habe ich nichts mehr in irgendwelche hintersten Ecken meines Gehirns verstecken können. Ein Freund von mir, er arbeitet bei Homecare in Berlin, hat mir keine Hoffnung mehr gemacht. Es stand groß und unerbittlich im Raum: Meine Mutter wird sterben. Warum meine Mutter? Mütter sterben nicht, wenn sie Kinder haben. Ich bin ihr Kind, ich will nicht, dass sie stirbt. Das kann nicht sein, ich träume. Ein schlimmer Albtraum.
Ende Juni war ich dann soweit, noch mehr Wahrheit zu akzeptieren. Ich fuhr mit meinen Kindern zu meinen Eltern.
Meine Mutter sah nicht so schlecht aus, wie ich das erwartet hatte. Sie trug zwar eine Perücke, das war völlig in Ordnung. Sie war sehr schwach und musste sich häufig hinlegen, aber sie war nach wie vor kämpferisch. Von der Fußball-WM haben wir einige Spiele zusammen gesehen.
Ich habe gekocht. Für sie Kartoffelpürreesuppe, das durfte sie essen. Rinderkraftbrühe durfte sie auch essen, aber die bekam ihr nicht gut. Ich habe erst in dem Moment richtig realisiert, dass meine Mutter diese Krankheit vielleicht nicht überleben wird, als ich in ihrer Küche beim Bouletten machen jede Menge Krümel auf dem Fußboden verteilte. Sie hat nichts gesagt, hat das gar nicht gesehen. Da wusste ich, die Sache ist mehr als ernst. Krümel auf ihrem Küchenfußboden waren immer ein absolutes no go. Und nun war die Küche ein einziges Krümelfeld.
Anfang Juli fuhren wir zurück nach Berlin. Mein Herz war schwer, aber ich hoffte. Es gab ja schließlich immer wieder Berichte über Spontanheilungen. Eine solche kann ja auch meiner Mutter widerfahren. Hoffnung, Angst. Angst, Hoffnung. Eine Gefühlsachterbahn ohne gleichen.
Ungefähr 10 Tage später, wir telefonierten täglich, sagte ich ihr, dass sie loslassen könne. Sie habe genug gelitten, alles war getan.
Wenige Tage später, es war Sonntag, meine Tochter war bei ihr, bekam ich einen Anruf. Sie ist ziemlich apathisch, ihr Bauch ist ganz doll angeschwollen. Und sie erbricht ihre enterale Nahrung. Ich habe von Berlin aus mit Hilfe des Internets und des Telefons veranlasst, dass jemand von der Hospizabteilung der Uniklinik Göttingen mit meiner Familie in Kontakt tritt. Noch am Sonntag fuhr eine Frau aus Braunschweig zu meiner Familie. Diese Frau sprach lange mit meiner Mutter. Überzeugte sie, am Montag ins Krankenhaus zu gehen. Das Wasser in ihrem Bauch müsse raus. Meine Mutter war einverstanden. Am Montag war sie im Krankenhaus. Einen Platz auf der Warteliste für ein Hospiz hatte ich ihr in der Nähe von Göttingen zwischenzeitlich auch besorgt.
Am Abend, nachdem man ihr ca. 4 Liter Wasser aus dem Bauch geholt hat, sprach ich noch mit ihr. Sie hatte ziemliche Schmerzen. Aber, und darüber war sie sehr glücklich, man hatte ihr Tomatensuppe gegeben. Ich sagte ihr, wenn sie aus dem Krankenhaus rauskommt, komme ich und koche jede Menge Tomatensuppe für sie. Das letzte Gespräch mit meiner Mutter, ich wusste das nicht, ging um Tomatensuppe. Wie banal.
Wieder einen Tag später wurde sie verlegt. Sie wurde palliativ versorgt. Wahrscheinlich bekam sie Morphium. Sie konnte nicht mehr sprechen, aber immer, wenn ich anrief, leuchteten ihre Augen, erzählte mir mein Bruder. Mein Vater bekam ein Bett in ihrem Zimmer, wurde dort mit den Mahlzeiten versorgt. Alles war so in Ordnung.
Meine Mutter starb am 1. August 2006. Und in meinem letzten Gespräch mit ihr ging es um Tomatensuppe. Es gibt nie wieder eine Möglichkeit, etwas zu besprechen, etwas gerade zu rücken. Meine Mutter ist tot und ich bin eine Halbwaise.
Einen Tag nach ihrem Tod bekam ich einen Anruf vom Hospiz, dass für meine Mutter ein Platz frei ist.
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2009
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