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Lisa erwachte man diesem Samstagmorgen ausgeruht um 7 Uhr. Dieser Samstag war anders. Sie musste um 15 Uhr 30 am Hauptbahnhof sein. Der Mann ihrer Freundin aus Kinderzeiten kann heute für einen kurzen Besuch aus Niedersachsen nach Berlin. Und er wollte sich mit ihr auf dem Hauptbahnhof treffen. Wie lange war es her, dass sie weder ihre Freundin noch ihren Mann gesehen hatte? Mindestens 20 Jahre. Aber heute sollte ein, wenn auch nur kurzes, Wiedersehen stattfinden.

Lisa bereitete sich ihr Frühstück. Es war Marathon-Wochenende und viele Straßen waren gesperrt. Sie musste also spätestens um 14 Uhr los.

Die Einkäufe waren schnell erledigt. Noch Haare waschen, schminken, anziehen und dann ab zur U-Bahn.

Selbstverständlich war Lisa viel zu früh am Hauptbahnhof. Das war nicht weiter tragisch, sie war noch nie auf diesem neuen Bahnhof gewesen, so konnte sie ihn sich ansehen, dieses Prunkstück eines Bahnhofes.

Na ja, Prunkstück hin, Prunkstück her. Für soviel Geld hätte man die Bahnsteige breiter machen können. Vielleicht hat das Geld dafür nicht mehr gereicht.

Lisa ging zum Ausgang. Dort stellte sie sich vor die Glasfassade und schaute nach oben. Sie war tief in Gedanken versunken, als sie eine Stimme hörte:

„Das hat sich der Architekt etwas anders vorgestellt.“

Sie schaute sich um. Aus einem wartenden Taxi mit offener Tür grinste sie ein Typ an. Schnell erfasste sie diesen Typen und ihr Herz schlug etwas schneller. Der Typ wiederholte seine Worte.

„Ja“ antwortete Lisa „das glaube ich auch.“ Wieso glaube ich das eigentlich, überlegte sie. Dieser Bahnhof hat für mich nur den Zweck, dass der Jochen heute kommt. Aber dieser Typ…

Er war ein Frauenmann. Graumeliertes lockiges Haar, Lesebrille, die Stimme etwas rauchig, rundum höchst attraktiv.

Sie kamen ins Gespräch. Er saß im Taxi, Lisa stand davor. Er konnte gut reden, war ja schließlich sein Beruf als Eigentümer einer Agentur im Musikbusiness.

Nach ungefähr 10 Minuten kam ein sehr junges, blondes Mädchen. Er stellte sie als seine Tochter vor. Gut, dachte Lisa, als nächstes wird er seine Ehefrau präsentieren. Aber er hatte sie auf den Arm genommen, das junge Mädchen war Praktikantin in seiner Firma.

„Ich muss dem DJ, der gleich nach Bielefeld abfährt, noch ein paar Instruktionen geben, dauert nur 5 Minuten Wartest Du auf mich?“

Lisa nickte, Viel reden konnte sie nicht. Die Präsenz dieses Mannes war einfach zu stark. Aber sie wollte wissen, was sich da entwickelt.

Nach 10 Minuten war er wieder da. Er fragte sie, ob sie noch was trinken gehen, er muss dann zurück in seine Agentur. Lisa war erstaunt, dass das alles innerhalb von 30 Minuten geschah. Sie schaute auf die Uhr, Jochen war noch nicht da.

„Gut, ich muss noch etwas warten, gehen wir was Trinken. Aber bitte dahin, wo man rauchen darf“.

Sie tranken ein Bier, er schrieb sich Lisas Telefonnummer auf und ging. Den sehe ich eh nie wieder, Lisa rauchte noch eine Zigarette und ging. Jochen war nicht aufgetaucht. Auf dem Weg zur S-Bahn bekam sie endlich mit, dass dieses Prunkstück von einem Bahnhof zwei Ausgänge hat. Sie hastete zum anderen Ausgang und da stand Jochen.

„Ohje“ sagte Lisa, „ich habe auf der anderen Seite gewartet“.

„Jetzt bist Du ja da, aber wir haben nur noch 30 Minuten“. Jochen nahm sie in die Arme. „Gehen wir doch zum Burger King auf die Schnelle.“


Als der Zug mit Jochen und seinen Schwiegersöhnen abgefahren war, ging Lisa zur S-Bahn und fuhr nach Hause. Den Typen sehe ich nie wieder, anrufen wird er auch nicht. Sie war etwas traurig. Wäre ja auch zu schön gewesen. Nach den langen, immer wieder mal einsamen Jahren, wieder ein Mann. Dann auch noch einer, der nicht verheiratet ist. Das hatte er immerhin schon verraten.

Lisa war um 18 Uhr wieder zu Hause. Der Anrufbeantworter blinkte hektisch. Es war irgendjemand, nichts Wichtiges. Sie war hungrig und inspizierte den Inhalt des Kühlschrankes. Aber sie war nicht richtig bei der Sache. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie innehielt und auf das Telefon starrte. Nein, nicht nur starrte, sondern es regelrecht hypnotisierte, das war der bessere Ausdruck. Und um 19 Uhr klingelte es. Und er war dran.

„Hast Du Lust auf ein Bier?“ Seine Stimme ließ sie erschauern.

„Ja klar. Wo den?“

„Lass Dich überraschen, ich schick Dir um 20 Uhr 30 ein Taxi“.

Umziehen, Wimpern noch einmal tuschen, Lisa war völlig hektisch. Aber sie schaffte es, pünktlich an der Ecke zu stehen.

Das Taxi fuhr nicht weit. Ein Biergarten, mitten in der Stadt. Er saß da und schaute zu, wie sie die Treppe zu ihm hinunter stieg. Auf dem Tisch stand eine Flasche Rotwein, ein Kellner servierte gerade einen Vorspeisenteller. Lisa bestellte ein Bier. Sie sprachen über Gott und die Welt. Er erschien ihr wie ein begnadeter Zuhörer. Lisas Mutter war vor 6 Wochen an Krebs gestorben und die Worte ihrer Trauer quollen geradezu aus ihrem Mund. Sie konnte ihre ganze Traurigkeit rauslassen.

Um ein Uhr schloss der Biergarten. Sie gingen zu Fuß in Richtung Lisas Straße. An der Ecke sagte sie brav danke für den schönen Abend. Er küsste sie auf die Stirn. Lisa ging in ihre Wohnung. Wieso ein Kuss auf die Stirn? Na gut, das war’s dann. Hätte ich ihn nur mitgenommen.


Die Tage vergingen quälend langsam. Lisa bemerkte alle Anzeichen an sich, sie hatte sich verliebt. Er rief am Montag nicht an, er rief am Dienstag nicht an. Er rief am Mittwoch an. Sie verabredeten sich für Freitagabend, 21 Uhr, er wollte sie zu Hause abholen.

Um 20 Uhr war Lisa startklar. Sozusagen gestiefelt und gespornt. Um 21 Uhr 30 war sie völlig mit den Nerven fertig. Mit dem Telefon in der Hand rannte sie durch die Wohnung. Wieder hinsetzen. Sie zappte sich durch das gesamte Fernsehprogramm und wieder zurück. Um 22 Uhr zog sie gerade ihre Schuhe aus, als das Telefon klingelte.

„Sorry, dass ich mich verspäte. Es gab im Studio Probleme mit der Band. Aber jetzt habe ich ein Taxi bestellt, ich bin in 20 Minuten bei Dir.“

Lisa stand um 22 Uhr 18 draußen. Er war schon da, an die Telefonzelle gelehnt und grinste sie an.

„Ich bin völlig zu.“

Aha. Lisa schwieg. Toll dachte sie, beim zweiten Date ist er zu. Womit auch immer. Dieses womit auch immer war offensichtlich nicht weiter dramatisch, sie gingen ein Bier in einem Jugendclub trinken. Dort war es extrem laut, nach einer halben Stunde gingen sie wieder. In Lisas Straße aßen sie noch eine Thaisuppe und tranken Wodka. Lisa spürte den Alkohol, aber es war ein lustiger, spannungsgeladener Abend. Und diese Spannung steigerte sich.

In Lisas Wohnung schauten sie sich an, als Vorgeplänkel gab es dann die übliche wilde Knutscherei. Sie rissen sich die Kleidung vom Körper, als er plötzlich aufhörte.

„Hast Du was dagegen, wenn ich eine Line ziehe?“

Nein, natürlich hatte Lisa nichts dagegen. Lines gehören schließlich zum Musikbusiness wie bemalte Eier zu Ostern. Aber Lisas Bauch hatte offensichtlich so etwas wie eine Vorahnung, die Schmetterlinge flatterten weniger aufgeregt, waren dabei, sich in Flugzeuge zu verwandeln, in Kriegsflugzeuge. Lisa schob das Gefühl weg.

Der Sex mit ihm war sehr aufregend, der Schlaf wenig erholsam, weil Lisas Bett lediglich 90 cm breit war.

Am Samstag gegen Mittag, er schlief noch, kaufte Lisa alles für einen griechischen Hackbraten ein. Während er immer noch schlief, bereitete sie diesen Hackbraten. Als dieser im Ofen schmorte, wachte er auf.

„Machst Du was zu Essen? Ich habe Hunger. Was wird das?“

„Griechischer Hackbraten, ist in einer halben Stunde fertig.“ Lisa rannte in die Küche. Sie wollte ihre Verlegenheit, die sie urplötzlich überfiel, überspielen. Er kam hinterher:

„Riecht sehr lecker.“

Nach dem Essen, er lag im Bett, drehte er sich um und war urplötzlich wieder eingeschlafen. In Lisas Bauch waren die Kriegsflugzeuge wieder da.

Er schlief bis Sonntagmittag. Nach einem ausgiebigen Frühstück duschte er und suchte übers Internet in einem Kino am Potsdamer Platz einen Film aus, den sie am späten Nachmittag anschauen wollten. Vorher musste er noch kurz in sein Büro. Lisa erpresste einen Kuss und er ging.

Kaum war weg, überfiel Lisa eine tiefe Übelkeit, sie bekam starken Durchfall. Trotz der Übelkeit ging sie zum Potsdamer Platz. Dort wartete sie eine Stunde mit dieser immer stärker werdenden Übelkeit. Er kam nicht, ihr Mobiltelefon lag natürlich zu Hause.

Kaum war sie wieder zu Hause, rief er an.

Lisas Durchfall hielt eine Woche an. Er kümmerte sich rührend um sie, als er am Donnerstag wiederkam. Lisa war sehr schwach. Als diese merkwürdige Krankheit vorbei war, bekam sie unmittelbar danach eine Lungenentzündung. Er war während ihrer Darmerkrankung mit Klamotten gekommen und blieb erstmal.

Lisa wurde wieder gesund. Sie hatte 8 kg an Gewicht verloren, aber sie fand, dass das besser zu ihr passte. Jetzt, wo sie mit einem Mann zusammen lebte, der 16 Jahre jünger war als sie. Ihm machte das nichts aus. Mit 41 war er schließlich auch kein Jüngling mehr.

Meistens, wenn Lisa vom Büro nach Hause kam, war er da und kochte. Er kochte gut, aber Lisa konnte nur kleine Häppchen zu sich nehmen. Da war etwas in dieser Beziehung, das sie belastete. Nie gab es Zärtlichkeiten, nie wieder Sex. Dieser Mann, der für Frauen geschaffen war, berührte sie nie wieder.

Nach einem Monat dieses merkwürdigen Zusammenlebens sprach Lisa dieses Thema an. Nach seinen Antworten wusste sie, was die Kriegsflugzeuge in ihrem Bauch zu bedeuten hatten. Ihre ganzen merkwürdigen Gefühle, nicht greifbar, aber da, ihr Erkrankungen. Alles machte plötzlich Sinn.

„Ich bin impotent. Und ich nehme Kokain, damit klappt es dann. Aber dann gehe ich nur in Bordelle. Mit der Frau, die ich liebe, mache ich das nicht mit Kokain. Aber jetzt, da ich Dich kenne, kann ich aufhören. Du bist es wert, dass ich aufhöre. Keine Frau vor Dir war es mir wert.“

Und Lisa schmolz dahin. Er hört für mich auf. Er liebt mich. Sie schwebte auf Wolke sieben.

Und dann kamen die Stimmungsschwankungen bei ihm. Brutale verbale Gewalt. Schlaf- und Fressattacken. Lisa nahm es hin. Sie wollte stark sein. Nicht wissend und nicht glaubend, dass Menschen mit einem Kokainsuchtproblem völlig skrupellos sind.

Im November hatte er seinen Kater aus seiner Wohnung zu ihr geholt. Das Tier war wochenlang allein. Er hatte es ab und zu gefüttert, das war alles. Lisa wollte diesen Kater nicht bei sich haben, nahm es aber hin. Sie mochte Katzen.


Die verbalen Attacken wurden abgelöst von körperlichen Attacken. Immer wieder Beschimpfungen. Lisa hatte ein verstauchtes Handgelenk, er hatte ihren Arm verdreht. Und immer wieder blaue Flecken, wenn er mal wieder zu fest zugepackt hatte.

Lisa wusste, dass sie sich sofort von ihm trennen muss. Sie tat es nicht. Warum nicht? Diese Frage stellte sie sich immer und immer wieder. Sie liebte ihn eben. Ein impotentes Drogenwrack, der nur mit Huren Sex hatte. Was wollte sie mit diesem Wrack? Es war ihr inzwischen klar geworden, dass sie ihm nie helfen konnte, vom Kokain los zu kommen. Diese Droge lässt nicht mehr viel von einem Menschen übrig.

Nach Weihnachten kam er nach 3 Tagen mit einer Überdosis zurück. Blässe, Herzrasen. Sie saß die ganze Nacht neben seinem Bett. Er hat es überlebt.

In Lisas Innerem war jetzt eine Wandlung eingetreten. Sie mochte diesen Menschen nicht mehr. Sie konnte seine provozierende Nacktheit nicht mehr ertragen. Seinen Geruch nicht mehr. Es war aus, vorbei. Und sie schwieg nicht mehr. Er wollte jedoch nicht gehen. Lisa hatte schon vorgesorgt und sich ein neues Schloss besorgt. Freiwillig würde er ihren Wohnungsschlüssel nie zurückgeben.

Ihre Chance bekam sie am 1. Februar. Nach einem heftigen Streit presste er sie zusammen. Lisa bekam keine Luft mehr, hatte starke Schmerzen. Endlich konnte sie was tun, sie rief die Polizei. Als er das registrierte, verschwand er. Lisa bestellte die Polizei wieder ab und baute blitzschnell den neuen Türzylinder ein. Diese Nacht hatte ihr eine Rippenprellung eingebracht, die Erinnerung an diese Nacht hielt 6 Wochen an.

Irgendwann in der Nacht klingelte er. Sie öffnete nicht. Er rief immer wieder an, sie ging nicht ans Telefon. Sie war ihn los.

Lisa brauchte viele Monate, um ihr Selbstwertgefühl wieder aufzubauen. Immer wieder fragte sie sich, wie das nur möglich war. Ein völlig kaputter Typ hat es beinahe geschafft, sie zu zerstören. Es ist viel Zeit vergangen. Die Gedanken an ihn wurden weniger. Der Kater lebt bei ihr. Was kann das Tier für das alles?

Der Architekt hat übrigens einen Prozess gegen die Bahn gewonnen.

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Tag der Veröffentlichung: 06.06.2009

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