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Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei. Dieser krächzende Laut hing noch in der Luft, als sie hellwach war.
Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf. Eigentlich waren es drei Gedanken. Durch die Schnelligkeit, mit der sie in ihr Bewusstsein gelangten, erschienen sie ihr wie einer:

Warum hat der Wecker nicht geklingelt, ich komme zu spät ins Büro?
Warum hat die Katze nicht miaut?
Warum ist es so dunkel?

Stöhnend mit steifen Körperteilen erhob sie sich vom Bett. Sie rümpfte die Nase, es roch etwas ungelüftet. In der Totenstille schüttelte sie verwundert den Kopf. Nächster Gedanke:

Sieht alles aus wie mein Zimmer, aber anders. Wieso ist es so still?

Tatsächlich. Stille wie in einer Gruft. Zumindest stellte sie sich diese Stille so vor, sie war noch nie in einer Gruft gewesen. Kein Vogelgezwitscher. Kein Verkehrslärm. Kein gar nichts.

Als ihre nackten Füße die Schlappen suchten, stieß sie gegen etwas am Boden. Was hat die Katze denn da wieder angeschleppt? Es sah im dämmrigen Licht des Zimmers aus wie ein kleines Holzstückchen. Dumme Katze. Wo holt dieses Tier so etwas immer wieder her?

Beim Gang zur Toilette fielen ihr einige Spinnweben auf, die von der Decke hingen. Wollmäuse wuselten über ihre Füße. Wird wohl mal wieder Zeit zum Staub saugen.

Sie erschrak. Diese Worte hatte sie laut ausgesprochen. In der Stille klangen sie wie Trompeten. Schrill und blechern.

Das Zimmer ihres Sohnes war leer. Wo ist er? Und wo ist die Katze? Wie lange hab ich geschlafen? Wieder ein Gedankentrio.

Als sie die Gardinen beiseite schob, fing sie an zu schreien. Sie schrie und schrie und dachte, sie könne nie wieder aufhören. Aber irgendwann war sie luftleer. Alles grün. Blätter von Bäumen, Laub vom Wein, alles dunkelgrün, hellgrün, einfach grün. Ihr Herz schlug hart und laut und schnell.

Ihr eigener Schrei hatte sie endgültig aus der Benommenheit geholt. Sie zog blitzschnell ihre Jeans an, Pullover, Chucks. Sie musste raus und schauen, was das alles zu bedeuten hatte. Sohn, Katze alle verschwunden. Egal jetzt, erst mal schauen.

Sie rannte aus der Wohnung, die Treppe runter, zur Haustür raus. Und sie stand vor einer grünen Mauer. Flieder blühte direkt am Regenfallrohr. Immerhin, der Flieder roch gut.

Mit den Armen schlug sie Äste beiseite. Eine Spinne schaute sie erstaunt an und wusch, weg war sie. Igitt, eine Spinne. Sie versuchte zu rennen, stolperte über eine Baumwurzel. Eine kleine Haselmaus piepste erschrocken, als sie neben ihr auf dem Boden ankam. Sie schnupperte an ihr und lief davon.

Sie rappelte sich auf und änderte ihr Tempo, Also ab sofort wird nicht mehr gerannt, sondern immer schön ein Schritt nach dem anderen.

Ich geh jetzt zur U-Bahn, dort gibt es bestimmt eine Zeitung und mit Sicherheit Leute. U-Bahnen fahren nicht von allein, da sitzt immer einer drin, dachte sie. Sie sprach es laut aus.

War gar nicht so einfach, durch diesen Dschungel, was besseres fiel ihr nicht ein, die Richtung zu finden. Wo kamen alle diese Bäume und dieses ganze Grünzeugs nur her? Ihre Augen hefteten sich am Boden fest, Sie sah, zwar völlig zugewachsen, den Bürgersteig. Überall waren Löcher, durch die sich eine wilde Vegetation einen Weg gebahnt hatte. So ganz langsam überkam sie eine Faszination angesichts dieser Vielfalt von Pflanzen.

Sie kam nur langsam durch den Dschungel. Der Weg zur U-Bahn dauerte um ein Vielfaches länger. Wurzeln, Zweige, Blätter. Nur nicht die Orientierung verlieren.

Auf dem Weg zur U-Bahn staunte sie immer mehr. Alle Häuser waren wie angezogen von wildem Wein, Efeu. Und Bäumen, Büschen. Es roch gut.

Aber wo waren Menschen? Irgendwelche Menschen? Oder wenigstens ein Hund.

Endlich war sie am Komplex ihres Lieblingskaufhauses angelangt, gegenüber vom U-Bahnhof. Da hörte sie Schreie. Waren das Menschen oder Tiere? Sie suchte Schutz in einem dichten Gebüsch. Wie Schemen huschten drei, vier Menschen an ihr vorbei und brüllten dabei irgend etwas. Nach einigen Minuten war wieder Stille. Sie wagte sich aus ihrem Gebüsch heraus und lief jetzt, immer auf den Boden schauend, zur U-Bahnstation.

Als sie die überwucherten Treppen runter laufen wollte, stolperte sie fast über einen alten Mann, der da saß. Er summte leise vor sich hin und wiegte sich im Takt. Sie blieb neben ihm stehen:

Hallo, kam es krächzend aus ihrer Kehle. Sie räusperte sich und, diesmal lauter: Hallo.

Der alte Mann unterbrach sein Lied, es war ein Song einer Punkband, sie kannte es. Er lächelte sie an: Hallo junge Frau. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Die U-Bahn fährt jetzt noch nicht. Vielleicht fährt sie nie wieder.

Sie setzte sich neben ihn Und setzte sein Lied fort. 8 kleine Jägermeister …….

Abrupt hörte sie auf und schaute ihn an: Was ist hier geschehen? Ich habe geschlafen und als ich aufgewacht bin …. ihre Stimme verklang. Wo sind die Menschen alle hin, schob sie nach.

Der alte Mann schaute zum U-Bahntunnel runter.

Ja, sagte er, das war schon merkwürdig. Ich hatte gerade Feierabend, ich bin U-Bahnfahrer. Das war, warten Sie mal, das war so vor 15 Jahren.

Sie unterbrach ihn: Sie wollen mir sagen, ich habe 15 Jahre geschlafen? Ein Schauder lief ihr den Rücken runter.

Ja, sagte der alte Mann, das wird dann wohl so sein. Ich habe welche getroffen, die haben 10 Jahre geschlafen.

Was ist bei Ihre, Feierabend geschehen, sie fragte mit eine Zitterstimme, die bestimmt nicht ihre war.

Ich kann nur sagen, was ich erlebt habe, der alte Mann sprach weiter. Es war wie immer, ich kam die Treppe hoch und da gab es einen lauten Knall, einen grellen Blitz. Es roch nach Ozon. Und ich bin zurück, die Treppe wieder runter gerannt. Nach einer endlosen halben Stunde bin ich wieder hoch und da war kein Auto mehr da, kein Mensch war mehr da.

Sie fing an zu weinen. Und weinte und weinte.

Der alte Mann nahm ihre Hand: Ich bin doch da. Alles wird gut. Es gibt auch noch Menschen, aber die haben jetzt viel Platz hier.

Sie weinte immer noch. Um die Menschen. Um die Autos. Um alles, was nicht mehr da war. Auch ihr Sohn war nicht mehr da.


Miau miau miau, das vorwurfsvolle Miauen der Katze drang in ihren Schlaf. Gleichzeitig schrillte der Wecker. Sie stellte den Wecker ab, reckte sich.

Katze, wenn Du wüsstest, das ich für einen blöden Traum hatte. Die Katze strich um ihre Beine.

Sie rannte ins Bad. Der Duschvorhang war vorgezogen. Sie zog ihn zurück

Ihr Schrei trieb ihren Sohn aus seinem Zimmer.

Mutter, was ist los? Er rieb sich die Augen.

Sie schrie weiter, zeigte auf die Badewanne. Die Staubschicht in der Wanne war ungefähr 20 cm hoch …..


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Anja und Flori

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