Cover

Cat T. Mad - Der Spielmann

Es war einmal, vor langer langer Zeit …

   

  »Meine Güte, ist der hässlich.«

  König Lothar rammte seinem Sohn den Ellenbogen in die Rippen.

  »Autsch! Na, ist doch aber wahr, Vater.«

  »Reiß dich zusammen, Florian. All diese Könige, Prinzen, Grafen und Recken sind hier erschienen, weil sie Interesse daran haben, dein Mann zu werden.«

  Florian schnaufte abwertend. »Ich habe aber keines.« Er hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust.

  König Lothar seufzte hilflos. Seine zwei ältesten Söhne hatten keinerlei Schwierigkeiten gemacht, nur Florian, das Nesthäkchen, schlug quer. Dass der Junge nur Gefallen am eigenen Geschlecht fand, war das geringste Problem, aber dass ihm keiner gut genug war … Lothar nahm die schwere Krone ab und kratzte sich den Kopf.

  »Ohhhh Himmel, Vater. Guck nur der da. Der ist so fett, dass er kaum aus der Kutsche herauskommt.«

  Lothar spähte ebenso wie sein Sohn aus dem Fenster. »Graf Wermut, ein sehr angesehener, reicher Nachbar.«

  »Ein fetter vor allem.«

  König Lothar knurrte ungehalten. »Du wirst dich heute Abend beim Ball benehmen, haben wir uns verstanden?«

  Florian erwiderte nichts, sondern starrte stattdessen weiterhin aus dem Fenster, um den ankommenden Gästen beim Aussteigen zuzusehen.

 

  Florian spitzte die Lippen und zog die Augenbrauen hoch, während er in den Spiegel schaute. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge von einem lauten Seufzen begleitet. Er hasste diesen Abend jetzt schon, obwohl er noch nicht einmal richtig begonnen hatte. Fünfunddreißig Gäste waren geladen und ohne sie überhaupt zu kennen, lehnte er sie ab. War es so verkehrt, an die große Liebe zu glauben? An den Einen, der sein Herz im Sturm eroberte? Doch begegnet war ihm noch niemand, der auch nur annähernd etwas in ihm weckte. Stattdessen waren fette alte Säcke angereist, die ihn zum Ehemann haben wollten. Ein Schauer des Ekels kroch seine Wirbelsäule empor. Sein Vater musste schließlich ein Einsehen haben, dass all diese Männer nichts für ihn waren.

  Florian verschränkte die Arme vor der Brust. Vielleicht sollte er sich so abscheulich benehmen, dass ihn keiner mehr haben wollte? Das würde ihm zumindest für eine Weile Zeit verschaffen, Zeit, bis der einzig Wahre für ihn auftauchte.

  Ein Klopfen riss ihn aus den Gedanken. Einer seiner Diener trat ein. »Ihr werdet erwartet, Prinz Florian.«

  Florian atmete tief durch, straffte die Schultern und verließ hoch erhobenen Hauptes seine Gemächer.

  Kurz darauf stand er neben seinem Vater im großen Thronsaal und musste die eingeladenen Gäste persönlich begrüßen.

  »König Luitpold«, verkündete König Lothars Sprecher.

  Ein älterer, kräftig gebauter Mann begrüßte erst König Lothar, dann nickte er Florian zu.

  Dieser war jedoch absolut nicht auf Höflichkeit bedacht. »Was für ein Weinfass«, murmelte er, dabei war sein Blick auf König Luitpolds Bauch gerichtet.

  Jener schnappte nach Luft und wurde feuerrot. »Was für eine Unverschämtheit!« Ohne weitere Worte zu verlieren, machte der Mann kehrt und rauschte aus dem Saal.

  »Florian«, knurrte König Lothar drohend. »Ich habe dir befohlen, dich zu benehmen! Nicht, dass wegen dir noch ein Krieg vom Zaun bricht!«

  Florian biss die Zähne zusammen und verkniff sich für die drei nachfolgenden Gäste jeglichen Spott. Doch als eine hagere, sehr große Gestalt vor ihm auftauchte, die zuvor als König Siebenwind vorgestellt wurde, konnte er seine Zunge nicht im Zaum halten. »Eine königliche Bohnenstange?«

  Auch Siebenwind verließ mit einem zornigen Wortschwall auf den Lippen den Saal und schimpfte zu guter Letzt, dass er König Lothars Palast nie wieder betreten würde.

  »Du bringst Schande über uns!«, fluchte Lothar. »Ich warne dich, Florian! Wage es noch einmal, unsere Gäste zu verunglimpfen, und du kannst die nächsten Wochen in deinen Räumen verbringen.«

  Florian schaute seinen Vater zerknirscht an, jubilierte allerdings innerlich. Es war ihm allemal lieber, Arrest zu bekommen, statt diese Männer hier anschauen zu müssen. Erneut riss er sich für einige Begrüßungen zusammen, dann stand auf einmal ein ausgesprochen düster wirkender Mann vor seinem Vater.

  »König Darin«, rief der Sprecher.

  Die Kleidung des eingetroffenen Königs war schlicht, aber von teurer Qualität, das erkannte Florian sofort. Er musterte ihn von den Schuhen bis hinauf zum Kopf. Doch er war damit nicht allein, denn auch der Blick aus den stahlblauen Augen taxierte ihn abschätzend.

  Florian wurde flau im Bauch. Darins Haut war faltenfrei, die Nase schmal und nicht zu lang, die Lippen überraschend voll. Dann landete Florian mit seiner Bestandsaufnahme beim Kinn. Es stand etwas vor, nicht so schlimm, wie er im ersten Moment dachte, doch die Ausstrahlung des Königs verleitete ihn dazu zu sagen: »Ein Kinn wie der Schnabel einer Drossel. König Drosselbart, nehme ich an?«

  Er hörte seinen Vater entsetzt keuchen und bereute seine Frechheit ein wenig. Dass der König mit dem Drosselschnabelkinn nur eine Augenbraue hob und ihn mit eisigem Blick anschaute, trug sein Übriges zur Reue bei. Bei den anderen Männern, die er beleidigt hatte, war das Gefühl danach nicht so miserabel gewesen.

  »In deine Räume, jetzt sofort!«, fuhr ihn Lothar an.

  Sein Vater gab ihm tatsächlich einen Schubs in die entsprechende Richtung. »Nach deinem Arrest werde ich dich mit dem nächsten Mann verheiraten, der sich noch in unsere Nähe traut!«

  Florian schluckte und machte auf dem Absatz kehrt. Er rannte aus dem Saal, als wäre der Teufel hinter ihm her

Tina Filsak - Red trifft Wolf

 Es war einmal …

 
  … ein kleines verschlafenes Städtchen, irgendwo am Rande der Zivilisation. Der Name tut nichts zur Sache, den kannten ohnehin nur die Bewohner. Das Leben in dem Städtchen war beschaulich und ruhig. Jeder kannte jeden und man wusste in der Regel genau darüber Bescheid, was der Nachbar zu Abend gegessen hatte.

  Dusty war hier geboren und aufgewachsen. Inzwischen befürchtete er ernsthaft, dass er hier auch einmal einen frühen Tod finden würde. Einen langsamen, qualvollen Tod, hervorgerufen durch pure Langeweile.

  Gerade eben näherte sich der einzige Lichtblick in seinem Leben. Hunter! Der geheimnisvolle Mann war erst vor wenigen Monaten in diese von Gott verlassene Ecke des Universums geflüchtet und lebte etwas außerhalb, im Wald ganz allein in einer Hütte. Der Bürgermeister des Städtchens hatte ihn für den Posten des Försters angestellt. Dusty ging hinter dem Regal, das er seit einiger Zeit mit neuen Konservendosen bestückte, in Deckung.

  Hunter! Der Name hätte kaum passender sein können. Das Objekt seiner Begierde war von großer Gestalt mit einem muskulösen Körper, von Hemd und Hose verborgen. Er musste den Mann nicht nackt sehen, um zu registrieren, wie sich die Muskeln unter seiner Kleidung bei jeder Bewegung an den Stoff schmiegten. Und auch das, was sich da gegen seine Hose presste, war mit Sicherheit prächtig. Hunter bewegte sich mit der gefährlichen Geschmeidigkeit eines Raubtiers auf Pirsch.

  Dusty verkniff sich mühsam, schmachtend zu seufzen oder weiter derart unverfroren hinzustarren. Rasch wandte er sich wieder den Dosensuppen zu und sortierte sie in das oberste Regal. War gar nicht so einfach, diese simple Arbeit auszuführen, wenn der eigene Ständer dabei jedes Mal gegen die Regale rumste. Ja ja, das war wohl seine Strafe für sein unsittliches Begehren diesem Mann gegenüber.

  Niemand in dem kleinen, beschaulichen Städtchen wusste von Dustys … nun ja, ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben. Schließlich war er ein junger, gesunder Siebzehnjähriger, der in der Blüte seiner Manneskraft stand. Dusty hatte die Schulpflicht mit sechzehn erfolgreich beendet und obwohl er durchaus intelligent war, nahm er direkt danach diesen Job in Sannys Warenhaus an. Gerne hätte er eine höhere Schule besucht oder gar einen Universitätsabschluss angestrebt, doch seine Mutter kämpfte damit, ihn und seine Geschwister allein durchzubringen. Sie hatte, seit sein Vater sich verdrückt und die Frau mit drei Kindern alleingelassen hatte, hart gearbeitet, um sie alle gut groß zu bekommen. Ein Studium, für das Dusty viele Kilometer bis zur nächsten großen Stadt hätte fahren müsste, war finanziell einfach nicht drin. Aber er mochte diesen Job.

  Sein Boss behandelte ihn fair und die Bezahlung reichte aus, seine Mutter zu unterstützen und sich sogar ein wenig zur Seite zu legen, um sich seinen größten Wunsch zu erfüllen. Dusty träumte von einem Mofa. Einem roten Mofa. Dieselbe Farbe wie sein leuchtend rotes Haar. Doch wenn er nicht von seinem Mofa träumte, dann kreisten seine Fantasien um Hunter.

  Die Kasse an der Ladentheke läutete, aber Sanny war gerade nicht im Laden, sondern stand draußen auf dem Hof, um zu rauchen. Es half nichts, Dusty musste selbst hingehen und sich dem einzigen Kunden stellen. Mit hochrotem Kopf schlich er hinter die Theke, nervös darauf bedacht, seine peinliche Latte vor dem Mann zu verbergen, der geduldig wartete, um seinen Einkauf zu bezahlen.

  Dusty wusste schon seit der Schulzeit, dass er anders war als die meisten Jungs. Es hatte ihn nie gereizt, den Mädchen unter den Rock oder auf die Titten zu glotzen. Während seine Freunde im Freibad versuchten, in den Mädchengarderoben einen Blick auf deren heranwachsende Körper zu erhaschen, hatte Dusty davon geträumt, ins Footballteam der Schule aufgenommen zu werden. Nicht weil er Football spielen wollte, sondern weil er damit die Chance bekommen hätte, mit Cooper Goodman zusammen zu duschen. Der Captain des Footballteams war schon in seiner Jugend sein heimlicher Schwarm und Auslöser von so manchem feuchten Traum gewesen. Leider war Dusty zu schwächlich für Football und zudem hatte Cooper ohnehin nur Augen für die Cheerleaderinnen.

  Das Wort gay hatte Dusty erst sehr viel später zum ersten Mal gehört und dabei auch gleich mitbekommen, was seine Freunde von derlei Bruch mit den Traditionen hielten. Jungs heirateten Mädchen und gründeten Familien. So stand es geschrieben. Seither schwieg er lieber und träumte im Geheimen von seinem Prinzen auf einem weißen Pferd. Jungs, die sich dazu bekannten, dass sie auf Jungs standen, hatten in diesem Städtchen sonst ganz schnell ein gar nicht mehr so beschauliches Leben zu erwarten.

  „Ah, da ist er ja wieder, der kleine Rotschopf! Ich würde gerne zahlen, Red.“

  Hunter sah ihn freundlich an und für einem Moment hatte Dusty vergessen, wie man sprach oder atmete. Die Glückshormone durchfluteten seinen Körper vor Freude. Doch dann schüttelte er verärgert über sich selbst den Kopf. Er tippte die Artikel in die Kasse und packte alles in eine Tüte. Möglichst unauffällig betrachtete er das Gesicht seines Traummannes von der Seite.

  Hunter war so umwerfend schön, so männlich, so …!

  ‚Reiß dich zusammen, Dusty‘, schalt er sich im Stillen. Der Mann war kein Adonis. Genau genommen war er eher so was wie ein Waldschrat, ein kauziger Einzelgänger. Ja, er hatte einen Körper, für den so mancher wohl töten würde, und ein maskulines, markantes Gesicht. Sofern er das unter der stacheligen Matratze, die er im Gesicht trug, erkennen konnte. Doch in seinen strahlend blauen Augen wollte Dusty gerne ertrinken.

  Dusty nannte ihm den zu zahlenden Betrag und der Mann legte ihm das Geld abgezählt auf den Tresen.

  „Bis demnächst, Red!“, rief er ihm über die Schulter zu und verließ den Laden.

  Nun war die passende Gelegenheit zu seufzen, denn Hunter würde wohl wieder für einige Wochen zurück in die Einsamkeit der Wälder abtauchen. Hätte er ihm den Geldschein nicht wenigstens in die Hand geben können. Aber immerhin, sein Traummann kannte seinen Spitznamen. Bislang war Dusty der Meinung gewesen, dass Hunter nicht einmal um seine Existenz wusste. Normalerweise bediente ja Sanny an der Kasse und Dusty hatte sich stets in den Hintergrund verzogen, um Hunter aus der Ferne anzuschmachten.


  Sanny kam zurück aus seiner Pause und sah sich suchend um. „Habe ich nicht gerade die Ladenglocke gehört?“, fragte er irritiert, weil er keinen Kunden erspähte.

  Dusty deutete auf die Kasse. „Der Förster war mal wieder da, seinen Monatseinkauf machen. Ich hab abkassiert und alles in die Kasse gepackt“, erklärte er und machte sich auf, um weiter Dosen einzuräumen. Die Erregung war glücklicherweise abgeflaut und so konnte er es wagen, an seinem Boss vorbeizugehen, doch Sanny hielt ihn am Arm fest.

  „Mach für diesmal Schluss, Junge. Deine Mutter hat mich gebeten, dich heute etwas früher heimzuschicken. Aber ich hab vergessen, weshalb. Also sieh zu, dass du direkt heimgehst.“ Er kratze sich nachdenklich am Hinterkopf und schien vor sich hin zu grübeln.

  Erstaunt nickte Dusty und nuschelte leise: „Danke, Boss.“ Er schnappte sich seine Jacke und wollte gerade zur Türe raus, als Sanny ihn noch mal zurückrief.

  „Ahh! Jetzt fällt‘s mir wieder ein. Du wirst heute ja 17. Alles Gute zum Geburtstag, Junge!“

  Er winkte zum Dank und flitzte aus dem Laden.

 

Moritz Hohenberg- Der Prinz

Es war einmal

… ein reicher Gutsherr. Gemeinsam mit seiner jungen und ebenso hübschen Frau lebte er auf seinen Ländereien. Anfangs meinte es das Leben gut mit den beiden. Es segnete sie mit Wohlstand und schenkte ihnen nach ihrer Vermählung einen kräftigen Stammhalter. Thorben nannten sie den Knaben und die stolzen Eltern wollten ihm die Welt zu Füßen legen.

  Doch schon bald verließ die junge Familie das Glück und ein unbarmherziger Schicksalsschlag ereilte sie. Ein besonders kalter Winter zog übers Land, peitschte Schnee und Eis vor sich her und ließ die Mutter des kleinen Thorben erkranken. Von überall rief der verzweifelte Vater Ärzte herbei, doch keiner wusste Rat. Nicht einer der studierten Herren vermochte ihr Leben zu retten und so starb sie wenig später.

 

  Die Jahre zogen ins Land, Thorben wuchs zu einem Jungen heran. Jeder auf dem Gut mochte den stets gut gelaunten und freundlichen Knaben, man schätzte ihn. Allen voran Berta, die alte Köchin, die es liebte, ihren schlaksigen Schützling zu bekochen und ihn gelegentlich an sich zu drücken. Nur zu gerne erzählte sie ihm Geschichten von seiner lieben Mutter, um ihm so ein Andenken an diese zu bewahren. Sein Vater lehrte ihn den Umgang mit der Armbrust und brachte ihm auch das Reiten bei. Erst kürzlich, zu seinem 14. Geburtstag, belohnte er seinen Stammhalter mit einem prachtvollen Apfelschimmel. Odin hieß das edle Tier, das Thorben sofort als seinen neuen Herrn und besten Freund akzeptierte. Gemeinsam jagten die beiden fortan nahezu täglich über die Felder und vergnügten sich in der Natur.

  Nach all der Zeit ohne Frau war der Vater des Alleinseins überdrüssig. Der Zufall machte ihn mit der Witwe Dora bekannt. Sie war passabel aussehend und mittleren Alters, so wie er selbst. Ihr Mann war vor über zwei Jahren am Fieber gestorben und hatte sie mit den zwei Söhnen allein gelassen. Der Gedanke, seinem Sprössling nicht nur eine Mutter, sondern auch noch zwei Brüder zu schenken, bereitete ihm Freude.

 

  Kaum ein Monat verging, als man auch schon Hochzeit feierte. Es war ein großes Fest, mit Gästen aus nah und fern. Hier war es auch, wo Thorben zum ersten Mal die Stiefmutter und seine zukünftigen Geschwister traf. Sören und Gunnar hießen ihre beiden Söhne und allesamt zogen sie noch am selben Tag auf dem Gutshof ein.

  Natürlich freute sich der gutgläubige Thorben über den Familienzuwachs. Schon seit jeher hatte er sich eine vollständige Familie gewünscht. Endlich ging sein Wunsch in Erfüllung, mit einem Schlag bekam er gleich zwei Brüder. Wenn ihn da mal seine Naivität nur nicht täuschte.

  Sören, der ein Jahr älter war als er selbst, blieb von Anfang an auf Distanz ihm gegenüber. Gerade zu Beginn war die Situation sehr eigenartig für Thorben. Er mochte den blonden, groß gewachsenen und muskulös wirkenden Stiefbruder. Angezogen von ihm wie eine Motte vom Licht versuchte er ihn mit seinem Wissen über Pferde und die Jagd zu beeindrucken. Doch damit blitzte er ab und wurde kaum von ihm beachtet. Ausgenommen der Vater war zugegen, dann gab sich Sören ein wenig Mühe und schenkte Thorben etwas mehr Aufmerksamkeit. Hätte er den neuen Stiefbruder und auch dessen Mutter genauer beobachtet, dann wären ihm ihre abfälligen Blicke aufgefallen, mit denen sie ihn regelmäßig bedachten.

  Mit dem jüngeren der beiden Brüder verhielt es sich anders. Gunnar, so hieß er und war nahezu gleich alt wie Thorben. Er sah seinem älteren Bruder ähnlich. Auch er war mehr der blonde, hellhäutige Typ, aber im Gegensatz zu Sören schmächtig und schlank. Seine Statur glich eher der von Thorben, dem er auch ständig hinterherlief und dessen Gesellschaft er regelrecht suchte.

  Gunnar mochte Thorben und zeigte großes Interesse daran, wenn er ihn an seinen Weisheiten über das Landleben oder die Jagd und deren Geheimnisse teilhaben ließ. Die neue Frau des Vaters, Thorbens Stiefmutter, gab sich jedenfalls nett und bemühte sich teilweise sehr um ihn. Sie bestand darauf, dass dieser sie fortan Mutter nannte, und versuchte einen um ihn besorgten Eindruck zu erwecken.

  Doch das war alles nur Fassade, dahinter verbarg sie ihr wahres boshaftes Gesicht, das weder der Vater noch Thorben kannte.

 

  Der Herbst kam und wurde vom Winter abgelöst. Die kalte Jahreszeit hielt Einzug und der Vater wurde krank. Man rief den Arzt, der eine gewöhnliche Erkältung diagnostizierte. „Kräutertee, Hühnerbrühe und heiße Wickel, dann ist die Sache bald ausgestanden!“, lautete sein Rat und der alte Quacksalber empfahl sich.

  Doch entgegen seiner Prophezeiung erholte sich der Patient nicht. Im Gegenteil, der Zustand des Vaters verschlechterte sich rapide. Er verfiel immer mehr und starb bereits wenige Tage später.

  Gerade einmal 16 Jahre alt hatte Thorben beide Elternteile verloren. Was für ein Glück, dass der Vater noch geheiratet hatte, sonst stünde er nun ganz allein da. So blieben ihm wenigstens die Stiefmutter, Sören und Gunnar.

 

  Doch mit dieser Hoffnung lag er falsch. Noch am Tage der Beerdigung zeigte sie ihm ihr wahres Gesicht. Zurück im Haus wies sie ihn an, sofort seine Sachen zu packen und in eine Kammer für Bedienstete über dem Stall zu ziehen. „Mit diesem Erbe will ich nichts zu tun haben!“, keifte sie den armen Jungen schnippisch an. Oh ja, sie meinte ihn damit. Haus, Grund und Geld gedachte sie sehr wohl zu behalten. Keinen Gulden würde sie ihrem Stiefsohn davon geben, der sie wiederum völlig entgeistert anstarrte.

  Regungslos, wie ein Häufchen Elend stand er nur da und konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging.

  Das Biest, das nun seine Maske fallen ließ, zeigte ihm seine Fratze und half ihm rasch auf die Sprünge. „Damit du es nur weißt, die Zeiten sind vorbei, als dein Vater mit dir durch die Wälder geritten ist, dich mit der Armbrust schießen ließ und dich all diese Dummheiten gelehrt hat! Jetzt bin ich hier die Herrin und du bist ein Knecht und nichts anderes wirst du jemals sein!“

  Thorben wurde die Ernsthaftigkeit ihrer Worte bewusst, ihm blieb keine Wahl, er musste sich ihrem Willen beugen. Wer weiß, was sie sonst mit ihm täte. Sören stand die ganze Zeit über neben ihr. Ihm war anzusehen, dass er es sehr genoss, wie seine Mutter den armen Jungen demütigte. Er sonnte sich in dessen Leid und grinste hochmütig. Einzig Gunnar schien Mitleid mit seinem Stiefbruder zu haben.

  „Aber Mutter …“, begann er und wollte Thorben zu Hilfe eilen.

  Doch sie unterbrach ihn mit einem wutschnaubenden „Sei still!“ und er hielt sofort den Mund.

  „Geh, pack deine Sachen und sei dankbar, dass du als Knecht hierbleiben darfst und wir dich nicht vom Hof jagen!“, schnauzte Sören überheblich.

  Thorben fügte sich. Was sollte er auch anderes tun, außer sich dem zu ergeben, was ihm das Schicksal offensichtlich zugedacht hatte. Sich gegen die Stiefmutter und Sören zu wehren, erschien ihm nicht klug. Wie ein geprügelter Hund packte er also seine wenigen Habseligkeiten und zog damit in die kleine Kammer über dem Stall.
 

B. Corsten - Böser Wolf und heiße Geißlein

Seamus Conor Wolf war das, was sein Name bereits versprach … ein ganzer irischer Kerl und er war sich dessen bewusst. Breite Schultern, schmale Hüften, die V-Form seines Rückens, verbunden mit einem anbetungswürdigen Knackarsch, hatten ihm schon so manche heiße Nacht garantiert. Egal ob Top oder Bottom, Seamus nahm alles, was ihm vor die Flinte lief.

  Dennoch saß er im „Gay Heaven“ und jammerte herum, bis es selbst dem Wirt hinter der Theke zu viel wurde.

  „Verdammt, Seamus! Was´n los, min Jung?“ Die Frage kam im breitesten Hamburger Dialekt. Seamus war ein gestrandeter Seemann und wartete auf seine nächste Heuer. Doch irgendwie wollte er gar nicht weg von Hamburg und seinem lockenden, lockeren Nachtleben. Außerdem … gab es da ja noch … Seamus stöhnte leise und dieser Laut kam vom Grunde seines Herzens.

  Doch er äußerte sich nicht zu der gestellten Frage, sondern seufzte nur wieder in sein Bierglas.

  „Seamus, entweder erzählst du mir, was los ist, oder ich schick dich für heute nach Hause. Dein Miesepetergesicht vertreibt mir ja die Gäste!“

  „Das würdest du sowieso nicht verstehen!“, unterstellte Seamus und fasste den Wirt ins Auge. Niemand würde ihn verstehen, wie denn auch – er verstand sich ja selbst nicht.

  „Das käme auf einen Versuch an. Ich bin einiges gewohnt!“, antwortete der Wirt.

  „Also gut! Ich bin verliebt!“, antwortete Seamus mit einem erneuten seelentiefen Stoßseufzer. Eigentlich fehlte nur noch eine einsame Träne, die in das Bierglas rollte.

  „Min Jung, das ist nun wirklich nicht misszuverstehen! Wer ist denn der Glückliche?“

  „Samuel Sascha Sandro Saul Schorch Sebastien Severin Geiß!“, ratterte Seamus ohne Punkt und Komma los. Allein der Klang dieser Worte erhöhte seinen Pulsschlag. Wenn er doch nur … nur einmal!

  „Was für ein langer Name. Adelig, oder was?“, fragte Paul, der Wirt, nach.

  „Nö, nur Brüder!“

  Nun sah Paul Seamus an, als würde dieser vom Mond kommen: „Wie? Brüder?“ Er verstand nur Bahnhof. Hatte er den Iren falsch verstanden?

  „Echt! Samuel ist der Älteste, hach, was für ein Kerl. Und Severin ist der Jüngste! Ein Schnuckelchen … einer hübscher als der andere, aber leider alle hetero! Was würde ich dafür geben, wenn ich wenigstens mal einen von denen probieren könnte …! Nur schmecken, ob sie so lecker sind, wie sie aussehen!“

  Dabei griff er sich aufreizend in den Schritt und rieb über die Beule, die sich allein bei dem Kopfkino gebildet hatte. Sieben hübsche, stramme Jungs, einer aufreizender als der Andere. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen und das Blut in die unteren Körperregionen. 

Shannon O'Neall - Jeder will Rapunzeln...

„Du hast dich verritten, Rosi.“

 

Rosinante schüttelte schnaubend den Kopf und trabte stur geradeaus.

 

„Doch, ich bin ganz sicher. Der Weg ist schon vor einer ganzen Weile zwischen den Bäumen verschwunden und diese vom Blitz gespaltene Eiche da drüben ist auch schon dreimal an uns vorbeigekommen. Du hast dich auf jeden Fall verritten.“

 

Wieder schüttelte der Schimmel entschieden den Kopf und setzte unbeirrt seinen Weg fort.

 

Luca seufzte und ließ ihn gewähren. Im Moment war er selbst unsicher, wie sie von hier wieder nach Hause kamen. Außerdem war seine Mission noch nicht beendet, beide Satteltaschen zu leeren. Eine mühsame und zudem wenig einträgliche Aufgabe. Aber wenn in seinem Hauptberuf kein Engagement zu bekommen war, musste eben sein Zweitjob genug einbringen. Half ja alles nichts, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Im tiefsten Wald war die Mission allerdings kaum zu schaffen.

 

Rosinante machte plötzlich einen Schlenker nach links und schritt mit stoischer Ruhe mitten zwischen ein paar dichten Dornenbüschen hindurch. Dem Pferd reichte die Lücke, doch Luca sah sich gezwungen die Beine aus den Steigbügeln zu reißen und einen akrobatischen Akt zu vollführen, der ihn fast aus dem Sattel fallen ließ.

 

„Herrje, Rosi, willst du etwa Blut sehen? Das machst du doch nur, weil du sauer auf mich bist!“

 

Das Pferd ignorierte ihn und ging einfach immer weiter.

 

Luca schnaubte unzufrieden. „‚Du brauchst ein Pferd’, hat Onkel Karl gesagt. ‚Du musst dir deines Standes bewusst sein’, hat er gesagt. ‚Ich schenke dir mein bestes Streitross, ein ganz besonderes Tier, es wird dir Glück bringen!’, hat er gesagt! Dass er Streit-Ross wörtlich meinte, hat er dabei leider vergessen zu erwähnen!“

 

Rosinante blieb unvermittelt stehen und einen Moment fürchtete Luca, der Schimmel könnte den Kopf nach hinten wenden und versuchen ihn zu beißen. Doch dann fiel ihm auf, dass sie sich auf einer sonnenüberfluteten Waldlichtung befanden und Rosi die Gelegenheit nutzte, sich saftiges Gras abzurupfen.

 

Halb erleichtert, halb genervt, seufzte Luca nochmals, fischte nach den Steigbügeln und setzte sich wieder zurecht. Dann ließ er den Blick schweifen. Hier gab es keinen Weg, keine Hinweise auf Tiere, die größer waren als die Grillen, die jetzt wieder, eine nach der anderen, zu zirpen begannen. Höflich gesprochen war hier das Popöchen des Reiches, und ausgerechnet hier sollte er …

 

War das etwa ein Turm, da drüben über den Baumwipfeln? Luca erinnerte sich nicht, schon mal von Wehranlagen oder einem Wachturm in dieser Gegend gehört zu haben. Andererseits hatte er über diese Gegend überhaupt wenig gehört, der nächste Ort musste mehr als eine Wegstunde entfernt liegen. Und genau dieser Umstand machte den Turm zu seinem einzig möglichen Ziel.

 

„Rosi, kann ich dich irgendwie überreden, mich dort rüber zu tragen?“ Luca stupste seine Fersen in die Flanken des Schimmels.

 

Rosinante hob kauend den Kopf und schien kurz zu überlegen. Auf der anderen Seite der Lichtung sah das Gras viel grüner aus. Also schlenderte sie hinüber, immer mal von einem Maul voll Wiese unterbrochen. Aber immerhin kam wieder Bewegung in die Sache und es gelang Luca, sie auch zum Weitergehen zu ermuntern, als sie den Sonnenschein erneut gegen die Schatten des Waldes eintauschten.

 

Kurze Zeit später stießen sie auf eine fensterlose Mauer, die hoch über ihnen aufragte. Ihre Krone war schon teilweise zerfallen, aber das Fundament stand fest und die Quader waren eng verfugt und glatt. Luca ritt daran entlang, auf der Suche nach einem Tor oder einer Öffnung. Doch keins von beiden tauchte auf in dieser menschengemachten Felswand mitten im Wald.

 

Wann war diese Festung errichtet, wann aufgegeben worden? Wer hatte darin gelebt, wen hatte sie beschützt? War sie vielleicht noch bewohnt? Luca richtete seinen Blick immer wieder nach oben, in der Hoffnung, dass irgendjemand über die verfallene Mauerkante auf ihn herunterschauen würde. Und niemand eventuell einen Nachttopf über ihm ausleerte … Man konnte ja nie wissen. Aber es war nichts zu sehen. Vermutlich war der hölzerne Wehrgang längst zusammengefallen und die Mauer von innen ebenso wenig zu erklimmen wie hier von außen.

 

Aber dann entdeckte Luca doch etwas. Der Rauch eines Feuers stieg über dem Turm auf, der langsam in Sicht kam. Es war offenbar ein Eckturm. Obwohl man von einer Ecke nicht reden konnte, war doch alles, woran er bisher vorbeigekommen war, abgerundet. Der Turm ebenfalls. Und natürlich hatte er keine Tür und im unteren Bereich keine Fensteröffnungen. Weiter oben fanden sich ein paar Schießscharten. Aber in halsbrecherischer Höhe, fast unter dem Spitzdach, war etwas, das wie ein hölzerner Balkon aussah. Darüber war eine Seilwinde angebracht. Wo ein Seil war und ein Feuer, da mussten auch Menschen leben.

 

„Heda? Hallo!“

 

Rosinante zuckte zusammen und schnaubte erschrocken. Mit Lucas Rufen hatte der Schimmel nicht gerechnet. Zum Glück blieb er still stehen wie ein Reiterstandbild, riss aber verstört die Augen auf und ließ die Ohren vor und zurück zucken.

 

„Entschuldige bitte, Rosi, ich hab das wirklich nicht böse gemeint.“ Vorsichtshalber stieg Luca behutsam vom Rücken des Pferds und trat ein wenig beiseite, wo er hoffte außer Hufreichweite zu sein. Vorübergehend wenigstens, denn Rosi beäugte ihn und schien darüber nachzudenken, ob es Sinn machte ihm nachzukommen. Der Schimmel entschied sich jedoch zugunsten seines ständig knurrenden Magens dagegen und begann lieber zu grasen. Erleichtert atmete Luca auf.

 

Als er dann wieder zum Turm hinaufschaute, wäre auch er fast erschreckt zusammengezuckt. Auf dem Balkon stand eine alte Frau mit runzligem Gesicht, die zu ihm herunterstarrte. Vom Alter her konnte sie die Großmutter von Lucas verstorbener Großmutter sein und wenn sie jemals eine schöne Frau gewesen war, so war das höchstens hundert Jahre her. Luca bemühte sich, sie freundlich anzulächeln.

 

„Hallo Mütterchen! Sei gegrüßt“, rief er hinauf, „wie geht es dir?“

 

„Ich gebe dir gleich Mütterchen!“, erscholl es zurück. „Wie soll es einer alten Frau schon gehen, wenn sie von einem Rabauken aus dem wohlverdienten Mittagsschlaf gerissen wird! Was willst du?“

Nele Betra- Die Apfelstory mal anders

Es war einmal ...

einem fernen Land …

  … dort gab es nur zufriedene Untertanen. Sie waren so glücklich wie das Königspaar, Karl und Annabell, welches dort lebte und regierte.

  Als junger Prinz fand Karl in der Tochter eines ansässigen Bauern seine große Liebe, Annabell, und nahm sie wider aller Konventionen zu seiner Geliebten. Der seit seiner Geburt vereinbarten Vermählung mit der Tochter eines befreundeten Königshauses widersetzte er sich, drohte sogar seinen Eltern, mit Annabell für immer das Land zu verlassen, sollten sie ihn zu dieser Ehe zwingen wollen. Sein Vater war ein harter, aber gerechter König und doch konnte er Karl diesen einen Herzenswunsch nicht verweigern. Aus Liebe zu seinem Sohn löste er die Verlobung und entschied zu Gunsten Karls und Annabells.

  Nach dem Tod seines Vaters bestieg Karl den Thron und Annabell wurde nicht nur seine Königin. Nein, sie wurde auch seine Vertraute und führte mit ihm Seite an Seite sein Reich in eine neue, glorreiche Ära. Er wusste, ohne Annabell würde er nicht mehr weiterleben wollen. Karl war überzeugt, sie wären Seelenverwandte. Was ein besonderes Geschenk des Schicksals sein musste.

  Es fehlte nur noch eines zu ihrem vollkommenen Glück: Ein Kind. So dachte Annabell.

  Ein Jahr verging, das nächste folgte und so verflog die Zeit. Von Sommerfest zu Sommerfest wirkte Annabell immer bedrückter und verzweifelter. Sie hatte nie vergessen, dass Karl sie ärmlichen Verhältnissen entrissen und in sein Schloss, angefüllt mit purem Luxus, geholt hatte. Er unterstützte selbst ihren Vater großzügig, der sich vehement dagegen wehrte, seine kleine Schweinefarm aufzugeben, um seiner Tochter zu folgen. Annabell war ihrem Gatten zutiefst dankbar, wusste gleichwohl, dass sie ihm dies nie vergelten könnte, außer sie würde ihm ein Kind schenken. Sie betete jeden Morgen und Abend um den Kindersegen, der jedoch ausblieb.

  Mit den Jahren wurde Annabell immer kränklicher und war stets in sich gekehrt. Sie verlor sich in ihrem Wunsch, Karls Kind unter ihrem Herzen zu tragen. Annabell glaubte, sie wäre seiner nie wirklich würdig gewesen und ihr unerfüllter Kinderwunsch sei die Strafe des Schicksals. Voller Gram und schweren Herzens verließ sie kaum noch ihre Gemächer. Annabell schämte sich für ihr Versagen.

  Es begab sich, dass ein Wanderzirkus an den Hof kam. Sieben Tage lang wurde ein rauschendes Fest gefeiert. Karl hoffte Annabell so aus ihrer Schwermut holen und Freude schenken zu können. Er wollte seine geliebte Frau wie früher strahlend an seiner Seite wissen. Leider war dem nicht so. Annabell verkroch sich umso mehr, wollte nicht einmal mit ihm höfische Festlichkeiten begehen.

  Am letzten Tag, das fahrende Volk hatte bereits seine Zelte abgebrochen und wartete nur auf einige Nachzügler, sah Annabell eine Zigeunerin mit einem Baby im Arm auf einem Planwagen sitzen. Ihre Neugier war groß und sie hoffte von diesen wunderlichen Menschen einen Rat zu bekommen.

  Durch Annabells Kopf spukte bereits seit langer Zeit die Idee, Hilfe bei einer Heilerin oder Magierin zu suchen. Was sie natürlich Karl erzählte. Dieser versuchte es ihr auszureden. Karl sagte ihr stets, er würde sie von Herzen lieben, ganz genau so, wie sie war. Und das nichts, aber auch rein gar nichts in der Welt je etwas daran ändern könne. Selbst wenn sie den Rest ihres Lebens kinderlos blieben, wäre nur wichtig, dass sie zusammen sind.

  Trotz Annabells Versprechen, sich nicht mit zwielichtigen Geschöpfen einzulassen, kannte er seine geliebte Frau doch besser und wusste um ihre Dickköpfigkeit. Er ahnte, sie würde sich seinem Wunsch widersetzen, und behielt sie stets im Auge. Nur hatte er die List seiner geliebten Annabell unterschätzt. Sie verkleidete sich kurzerhand als Magd. Unerkannt schlich sie sich aus ihren Gemächern, ging zu der Zigeunerin, fragte sie nach Rat und bekam ihn.

  Die Frau fragte Annabell mit einem merkwürdig eindringlichen Blick: „Liebst du deinen Mann?“

  „Aber natürlich!“, erwiderte Annabell, erstaunt darüber, wie jemand nur daran zweifeln könnte.

  „Es gibt eine Möglichkeit. Aber sei dir gewiss, alles hat seinen Preis. Schenkst du Leben, wo keines sein soll, musst du deines hergeben.“

  Annabell erschrak, wollte dann aber doch alles wissen. „Erzähle, Frau!“

  „Nun gut. Dir bleibt noch genug Zeit, es zu überdenken und dir der Tragweite deiner Entscheidung bewusst zu werden. Wenn du es dann tun willst, warte bis der erste Schnee fällt. Wünsche dir, was du am meisten ersehnst. Wenn dir deine Bitte erfüllt wird, wirst du umgehend deinen Preis zahlen müssen. Hast du mich verstanden?“ Die Frau fixierte Annabell mit durchdringendem Blick.

  Annabell lief ein eisiger Schauer über den Rücken, nickte jedoch. Sie straffte ihre Schultern. „Natürlich habe ich deine Worte vernommen. Ich danke dir.“ Die Königin gab der Frau ein Goldstück und ging mit weichen Knien in ihre Gemächer zurück.

  Sollte sie es wirklich wagen? Annabell stand am Fenster und betrachtete das lebhafte Treiben im Schlosshof. Natürlich würde sie sich dafür entscheiden. Sie hat nicht nur die Pflicht gegenüber ihrem Gemahl, ihm ein Kind zu schenken. Was würde aus dem Königreich werden, sollte es keinen Erben geben? Insgeheim beschloss sie ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen und die Tage, welche ihr noch mit Karl blieben, in vollen Zügen zu genießen.

  Der Winter hielt in diesem Jahr sehr früh Einzug. Am Morgen, Karl war bereits auf dem Weg zum großen Empfangssaal, um Gäste zu begrüßen und mit ihnen ein morgendliches Mahl einzunehmen, wuselte ihre Kammerzofe Mary im Schlafgemach am Kamin herum, um frische Scheite hineinzulegen, damit das Feuer nicht ausging. Die dicken Mauern waren Annabells Heim, sie liebte es. Aber wenn der Frost kam, wurde es einstweilen heftig zugig und kalt. Annabell schnappte sich ihren warmen Morgenrock und schaute neugierig in den Innenhof, um die Entourage ihres Besuches zu beobachten.

  Ihr leises Kichern schreckte Mary auf, die sich ihr abrupt zuwandte. „Mylady, Sie sollten bei dieser herben Kälte nicht so leicht bekleidet herumlaufen! Warten Sie, ich helfe Ihnen bei Ihrer Morgentoilette. Wünschen Sie ein besonderes Kleid?“ Mary eilte zur Kleiderkammer und kam mit einem prachtvollen Gewand zurück. „Was halten Mylady von diesem hier? Es würde dem König bestimmt gefallen, Sie darin zu sehen."

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /