Ich bin ein friedlicher Mensch. Ich mag laue Sommerabende, Wein, Spaghetti Carbonara und guten Sex. Ich stehe nicht auf handgreifliche Konflikte und halte Gewalt eigentlich für die denkbar schlechteste Art und Weise, ein Problem zu lösen.
Trotzdem bin ich gerade drauf und dran, jemanden umzubringen. Denn dieser jemand hat ihm wehgetan.
Ihm, der zufällig der süßeste und verdammt nochmal unschuldigste Mensch ist, den ich kenne. Er hat ihn verletzt. Seelisch und körperlich. Immer und immer wieder. Er hat ihn benutzt wie eine Kuh, die man melken kann und als die Kuh keine goldene Milch mehr geben wollte, hat er begonnen, sie zu schlachten.
Ich werde nicht zulassen, dass er sein Werk zu Ende führt. Dass er einen kostbaren Menschen zu einem Häufchen Elend prügelt, das ihm gehorcht. Ich bin kein Freund von Gewalt. Aber keine Macht auf dieser Welt wird mich davon abhalten, zu tun, was ich tun muss.
Es ist früher Abend. Die Muni, wie wir in San Francisco unsere Stadtbahn nennen, ist vollgestopft mit Menschen, die von der Arbeit nach Hause fahren wollen. Ich bin mittendrin und kralle meine Hände um die Haltestange, bis meine Knöchel weiß hervortreten. Niemand von all diesen Menschen mit ihren Aktenkoffern, Handtaschen und McDonald’s-Tüten ahnt etwas von dem kalten Zorn, der in mir lodert. Sie sind zu beschäftigt mit sich selbst, starren auf ihre Smartphones und Tablets, haben In-Ear-Kopfhörer in den Ohren und blenden ihre Umwelt aus. Sind nur auf sich fixiert, haben keinen Blick für andere.
Jeder denkt nur noch an sich. Aber ich denke nur noch an dich, mein Süßer.
Eine Hand stupst mich an der Schulter an. Erschrocken drehe ich mich um und schaue in das freundlich lächelnde Gesicht eines bärigen Hünen.
»Grayson Steele?«, fragt er.
Ich nicke. Normalerweise stört es mich nicht, wenn ich erkannt werde, aber jetzt ist irgendwie nicht der passende Zeitpunkt. Gerade noch habe ich mich innerlich über die Menschen aufgeregt, die nur noch sich selbst wahrnehmen, aber nun ärgere ich mich, dass einer doch ein wenig aufmerksamer ist als all die anderen.
»Oh, wie toll! Ich habe dich gleich erkannt, trotz ...« Sein Blick wandert an mir auf und ab, als wolle er sagen: Trotz, dass du etwas anhast.
Ich schenke ihm ein gequältes Grinsen und antworte nichts.
»Darf ich ein Foto mit dir machen?«, fragt er eifrig. »Ein Selfie? Für Twitter und Facebook?«
»Klar.«
Wir ernten ein paar kurze, desinteressierte Blicke, als der Bär sich neben mir positioniert, sein Smartphone in die Höhe hält und ein Foto von uns schießt. »Schade, dass wir in der Muni sind«, bemerkt er mit einem zerknirschten Lächeln.
Ich ziehe eine Braue in die Höhe. Was glaubt er, was ich außerhalb der Muni mit ihm gemacht hätte? Mal eben meinen Schwanz ausgepackt und ihm eine Gratisnummer gegönnt? Was denken diese Leute eigentlich von Menschen wie mir?
Menschen wie ich. Das sind Pornodarsteller und Escorts. Wir verdienen unser Geld mit Sex. Ich zahle meine Miete von dem Geld, das ich dafür bekomme, dass ich andere Männer ficke. Es ist mein Job. Vielleicht kein normaler Job wie jeder andere auch, aber eben die Art und Weise, mit der ich mein Konto fülle. Und es füllt sich gut. Vor allem, weil ich kaum Zeit habe, das ganze Geld auszugeben.
Natürlich sollen die Leute nicht daran denken, dass es nur ein Job ist, wenn sie meine Filme anschauen und sich dazu einen runterholen. Das würde ja die ganze Stimmung kaputtmachen. Aber manchmal wünschte ich, sie würden daran denken, wenn sie mich im realen Leben treffen. Denn erschreckend viele glauben anscheinend, ich bin wirklich dauergeil und rammle mit großer Freude und ganz umsonst jeden durch, der freundlich fragt. Aber Grayson Steele existiert nur am Filmset. Ich bin Jordan Fletcher. Und für Jordan gibt es nur noch den Einen.
Die Muni hält. »Ich muss hier raus«, erkläre ich dem Bären und dränge mich durch die verschwitzten Feierabendkörper.
»War nett, dich kennenzulernen!«, ruft er mir hinterher.
»Ganz meinerseits!«, rufe ich über die Schulter zurück. Es ist nicht so ganz die Wahrheit.
Ich sprinte an fluchenden und drängelnden Menschen vorbei. Noch ist es hell und warm, wie es sich für einen spätsommerlichen Abend gehört. Einige Passanten rufen mir Verwünschungen nach, weil ich sie fast umrenne. Aber ich habe es eilig, verdammt nochmal eilig. Jede Sekunde, die ich nicht bei ihm bin, ist eine zu viel.
Sein Wohnblock scheint Äonen entfernt. Ich würde gerade meine Seele für ein Fahrrad verkaufen. Hätte ich doch lieber mein Auto nehmen sollen? Nein, damit würde ich jetzt immer noch im Feierabendverkehr feststecken, so viel ist sicher. Mit der Muni war ich schneller. Mein Herz pocht und mein Atem rasselt rau in meiner Kehle. Egal. Ich treibe mich weiter an, lasse nicht zu, dass mein Tempo sich reduziert. Ich will zu ihm, ich will ihn halten und ihm sagen, dass alles aufhört, dass alles gut wird. Aber zuvor werde ich den Anderen in Stücke hacken.
Der Block kommt in Sicht. Er unterscheidet sich nicht wirklich von den anderen, die ihn umgeben, und ich war bislang auch nur wenige Male hier, aber ich weiß, dass ich hier richtig bin. Ich folge der Fährte meines Geliebten wie ein Wolf.
Eine ältere Dame, schwer bepackt mit Einkaufstüten, erklimmt gerade die Treppe zur Eingangstür. Ich schließe zu ihr auf.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, frage ich freundlich. Die Oma ist die Gelegenheit, ohne Hindernis in das Haus zu kommen.
»Oh!« Sie dreht sich zu mir um und wirft mir ein strahlendes Lächeln zu. »Sehr gern, junger Mann!« Sie errötet ein wenig. Ich grinse. Ich hoffe, sie ist nicht immer so vertrauensselig, ich könnte schließlich auch jemand sein, der ihr die Bude ausräumen will.
Ich nehme der alten Dame die schweren Beutel ab und frage mich, ob sie wohl Zementblöcke eingekauft hat. Artig bringe ich ihr die Einkäufe bis zu ihrem Apartment, dann verabschiede ich mich. »Ich besuche noch jemanden in der 24.«
»Oh, die beiden hübschen Herren?«, erkundigt sie sich. »Sind Sie mit ihnen befreundet?«
Ich nicke, auch wenn ich eigentlich nur mit einem der beiden befreundet bin.
»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich danke Ihnen sehr, man trifft so hilfsbereite junge Menschen ja immer seltener.«
»Keine Ursache, Ma’am. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Und danke, dass Sie mich ins Haus gelassen haben.
Ich wende mich ab und erklimme die Treppe ins 2. Stockwerk. Nur noch ein Stück den Gang hinunter, dann lacht mir die Wohnungstür mit der Nummer 24 entgegen. Hier bin ich richtig. Ich klingle und warte.
Bitte sei zu Hause, mein Süßer, bitte. Mach auf und alles wird gut.
Ich höre Geräusche aus dem Inneren des Apartments. Schritte. Zitternd atme ich durch. Bitte, lieber Gott, mach, dass er mir nicht die Tür vor der Nase zuschlägt.
Angespannt lausche ich dem Klacken der Türklinke. Die Tür öffnet sich einen Spalt. Das Gesicht, nach dem ich mich so verzweifelt gesehnt habe, schaut hervor. Für einen Moment muss ich die Augen schließen, weil ich den Anblick nicht ertrage.
Was hat er mit dir gemacht, mein süßes Herz, was hat er dir angetan?
Die schönen Gesichtszüge sind grotesk entstellt. Die weichen, zum Küssen gemachten Lippen sind aufgeplatzt, an der hübschen Nase klebt getrocknetes Blut. Ein Auge ist dunkelblau verquollen. Das andere blickt mich weit aufgerissen an. Ich sehe Angst darin. Namenlosen Schrecken.
»Jordan«, murmelt er wie in Trance.
»Noah«, flüstere ich zurück.
Die rissigen Lippen formen stumme Worte, während er seine Hände um das Türblatt verkrampft: Geh. Schnell. Geh!
»Noah«, sage ich noch einmal und komme einen Schritt näher. »Bitte lass mich rein. Ich werde dir helfen.«
Er steht starr wie eine Statue. Nur das Zittern seiner Kiefermuskeln verrät, dass er ein echter Mensch ist. Hinter ihm taucht ein Schatten auf. Eine wohlbekannte, verhasste Silhouette. Der Grund, warum ich hier bin, schießt mir wieder durch den Kopf: Diesen Kerl in Stücke reißen. Meine Fäuste ballen sich an meinen Seiten, bis alles Blut daraus weicht.
Ich sehe sein kaltes Lächeln aufblitzen, während er seinen Arm besitzergreifend um Noahs Brust schlingt.
»Grayson Steele«, erklingt die hohntriefende Stimme. »War meine Botschaft nicht deutlich genug? Nun denn. Komm herein. Ich gebe dir gern eine anschauliche Demonstration, live und in Farbe. Danach sollte dir ein für alle mal klar sein, dass man sich nicht an fremdem Besitz vergreift.«
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2016
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