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Septemberhimmel - Leseprobe

Es war einer dieser Spätsommermorgen, an die man sich im Winter sehnsuchtsvoll zurückerinnerte. Einer mit lauer Luft und einem blauen, wolkenlosen Himmel, der das Herz zum Singen brachte. Alles fiel leichter an einem solchen Morgen: das Aufstehen, das Anziehen, seinen Pflichten nachgehen.

Seit den frühen Morgenstunden lag Roy Grinner wach und genoss die warmen Strahlen der aufgehenden Sonne, die zum Fenster seines Schlafzimmers hineinschienen. Sein Bauch kribbelte. Es war einer dieser Tage, von denen man sicher war, dass sie irgendwie besonders werden mussten. Ein solcher Himmel strahlte nicht über der Welt, nur um dann in Bedeutungslosigkeit unterzugehen.

Nachdem er noch einmal herzhaft gegähnt und sich ausgiebig gereckt und gestreckt hatte, erhob sich Roy aus seinem Bett. Ja, alles fällt leichter an solchen Tagen, dachte er, während er geradezu leichtfüßig unter die Dusche tänzelte. Die flirrende Luft schien ihn förmlich zu tragen. Sie passte zu den Gefühlen, die seinen Magen in Aufruhr brachten, diese angenehme Art der Aufregung, dieses unwiderstehliche Kribbeln, wann immer er diesen einen Namen dachte: Richard Porter.

Er dachte an ihn, während das kühle Wasser der Dusche seine Lebensgeister weckte. Während er sich einseifte, abspülte und eine Weile einfach nur dastand, um das herrliche Gefühl des Duschstrahls auf seiner Haut zu genießen. Braunes Haar, blaue Augen. Markante Nase, samtige Stimme. Richard Porter. Der Mann mit dem köstlichsten Rasierwasserduft, den Roy je gerochen hatte. Richard verriet ihm nicht, welches Aftershave er benutzte, als sei dies das wohlgehütete Geheimnis seiner Anziehungskraft. Aber in Wahrheit war es nur ein Teil davon. Vermutlich würde das gleiche Rasierwasser an ihm, Roy, völlig profan riechen, weil er einfach nicht dieser Mann war.

Seit knappen zwei Monaten arbeitete Richard im gleichen Ingenieursbüro wie er, gleiche Abteilung, nur zwei Schreibtische weiter. Roy hatte zuerst seinen Duft wahrgenommen, als er das erste Mal das Büro betreten hatte. Ein wohliges Ziehen war durch seine Magengegend gegangen und als er aufgeblickt und festgestellt hatte, zu wem dieser Duft gehörte, hatte es ihn eiskalt erwischt. Seit diesem Tag im Juli konnte Roy an nichts anderes mehr denken als an Richard Porter. Das Bild seines Gesichts war das erste, was ihm morgens nach dem Aufwachen in den Sinn kam und das letzte, woran er dachte, bevor er abends einschlief. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Aber Richard ahnte davon nichts.

Durch beiläufige Fragen hatte Roy in den vergangenen Wochen herausfinden können, wie es um Richards Beziehungsstatus bestellt war. Er war Single. Nicht ungewöhnlich für einen ambitionierten Mann Ende dreißig. Das musste längst nicht das bedeuten, was Roy sich heimlich erhoffte.

»Mein Gay-Radar schlägt bei ihm durch die Decke«, hatte Mackenzie ungerührt geäußert, eine seiner Kolleginnen, mit der er sich freundschaftlich verbunden fühlte und die wusste, wie es in jeder Hinsicht um ihn bestellt war. »Frag ihn doch einfach mal nach einem Date.«

Roy war sich hingegen alles andere als sicher, ob Mackenzie mit ihrer Einschätzung recht hatte, denn sein eigener Radar blieb stumm und wollte weder in die eine, noch in die andere Richtung ausschlagen. Richard blieb ein Rätsel. Aber das machte ihn wohl nur noch interessanter.

In Gedanken versunken zog Roy sich an, Businesskleidung, Nadelstreifenhemd und dunkle Hose, das Übliche. Auf dem Küchentresen stand eine Schüssel Cornflakes, die gerade in der Milch einweichten. Er ließ sich auf dem Hocker vor dem Tresen nieder und aß ein paar Löffel seiner Cerealien. Sie schmeckten wie Pappe und er schob die Schüssel mit einem Seufzen von sich. Seit Richard in sein Leben getreten war, brachte er vor Verliebtheit kaum noch einen Bissen hinunter und hatte in den vergangenen Wochen schon beinahe vier Kilogramm abgenommen. Wenn das so weiterging, würde er sich neu einkleiden müssen und wäre bald nur noch ein Strich in der Landschaft.

Das Telefon klingelte und Roy schreckte aus seinen Gedanken. Sein Herz beschleunigte für ein paar Schläge, als er zum Telefon lief und abhob. »Hallo?«

»Schatz? Ich bin’s.«

»Mom!«, rief Roy überrascht. »Was ist los?« Es war ungewöhnlich, dass seine Mutter um die Zeit anrief, zumal es zu Hause in Houston noch eine Stunde früher war als hier in New York. War etwas passiert?

»Ich konnte nicht schlafen und habe den Fernseher angeschaltet«, berichtete sie. »Im Wetterbericht haben sie gesagt, dass sich vor der Ostküste ein Hurricane in Richtung Land bewegt, der New York treffen könnte. Sei vorsichtig, mein Schatz, ja?«

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach er und blickte lächelnd in den blauen Spätsommerhimmel. »Aber ich glaube, du musst dir keine Sorgen machen. Hier ist das schönste Wetter, keine Wolke ist in Sicht, geschweige denn ein Hurricane.«

»Sei trotzdem vorsichtig. Du weißt, wie schnell sich das alles ändern kann.«

»Natürlich, Mom. Ich muss jetzt los zur Arbeit. Danke für deinen Anruf.«

»Schatz? Ich wollte dir schon längst etwas sagen: Dad und ich sind wahnsinnig stolz auf dich. Wie du deinen Weg gemacht hast, trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten, und was für einen tollen Job du jetzt hast. Um dein Plätzchen in diesem Büro beneiden dich viele Leute, glaube mir.«

Er lächelte und wurde von einer Welle der Zuneigung für seine Familie in Texas überrollt. Sie waren einfache, gute Leute, die vieles gegeben hatten, um ihm den Weg in ein erfolgreiches Leben zu ebnen. »Ohne euch hätte ich das nicht geschafft«, entgegnete er. »Wenn ihr mich nächsten Monat besuchen kommt, dann führe ich euch mal durch das Büro. Von dort aus kann man kilometerweit über ganz New York City sehen. Das muss ich euch unbedingt zeigen.«

»Wir freuen uns schon«, erklärte seine Mutter.

»Schön. Also, ich muss. Ich liebe dich, Mom. Und Dad auch, grüße ihn doch bitte von mir.«

»Das mache ich. Wir lieben dich auch, Schatz. Bis bald.«

»Bis bald.« Er legte auf und lächelte immer noch. Musste das nicht ein schöner, besonderer Tag werden, wenn er am frühen Morgen schon gesagt bekam, dass er geliebt wurde?

Vielleicht ist auch heute der richtige Tag, um endlich Mut zu fassen und Richard meine Gefühle zu gestehen, dachte er, während er aus der Eingangstür seines Wohnhauses trat und in die Sonne blinzelte. Vielleicht leuchtet der Himmel heute so besonders blau, weil dies der Tag ist, an dem sich alles ändert. Das Sonnenlicht war am Ende des Sommers nicht mehr so gleißend, sondern schwer und golden. Jede Farbe schien leuchtender, jedes Gefühl intensiver. Roy spürte jeden Herzschlag in seiner Brust, im Einklang mit seinen Schritten, als er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Auf den Fußgängerwegen herrschte bereits geschäftiges Treiben, alle schienen es eilig zu haben, an ihr Ziel zu kommen. Roy jedoch ließ sich davon heute nicht beeindrucken. Er war früh dran, er hatte Zeit, um all die Eindrücke der morgendlichen Großstadt auf sich wirken zu lassen, während er darüber nachdachte, wie er sich Richard offenbaren konnte. Und was er tun sollte, wenn dieser sich vielleicht angeekelt abwandte. Das wird nicht passieren, machte er sich selbst im Stillen Mut. Dieser Tag hat viel zu schön begonnen, um so schlecht zu enden.

Es war ein herrlicher Dienstagmorgen. Der Kalender schrieb den 11. September 2001.

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Tag der Veröffentlichung: 29.09.2016

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