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Wie alles begann

Lind saß im Flur seiner Dreizimmerwohnung im vierten Stock auf dem Voltaire-Sessel. Vor ihm standen die beiden, mit Weinflaschen vollgestopften Plastiktüten. Er wartete darauf, dass das Stakkato der harten Absätze im Hausflur verstummte. Es war eine Tür zugeschlagen worden. Die pensionierte Lehrerin, die unter ihm wohnte, stieg die sechs Halbtreppen hinunter. Endlich fiel die Haustür ins Schloss;. Er wollte ihr und dem spöttischen Blick nicht begegnen, wenn es mit den klirrenden Flaschen zum Glascontainer ging. Lind wartete noch drei Minuten, um sicher zu sein, dass sie nicht nur zum Abfallcontainer ging und ihm dann auf der Treppe begegnete. Es blieb ruhig und er raffte sich auf, ging zum Auto und verstaute die Sachen im Kofferraum.

Einmal hatte er die Weinflaschen vor den Beifahrersitz gelegt und war prompt in eine Verkehrskontrolle geraten. Der Polizist hatte sich auffällig in den Wagen gebeugt und den penetranten Alkoholgeruch wahrgenommen. Lind hatte ins Röhrchen blasen müssen, wenn auch ohne Erfolg, aus Sicht der Polizei. Er nahm den Weg zu einem weiter entfernten Glascontainer, wo er sicher war, nicht anderen Hausbewohnern zu begegnen. Der nächste Weg war zum Supermarkt, mit dem festen Vorsatz, nur eine Kiste Mineralwasser und ein paar Tüten mit Fruchtsaft zu kaufen. Außerdem wollte er sich ein paar Dosen mit Ravioli in Tomatensauce als Reserve anlegen. Als er nun so in der Warteschlange der Kasse stand, neben sich das Weinregal, dachte er daran, dass wohl kaum ein Italiener Ravioli essen würde, ohne einen Schluck Wein zu trinken. Also kamen noch vier Weinflaschen der billigeren Sorte in seinen Einkaufswagen und er gelobte sich, damit vier Tage auszukommen. Aber gleichzeitig wusste er, dass er damit nicht einmal zwei Tage reichen würde. Zuhause angekommen, schloss er den Briefkasten auf, hatte dabei aber ein unangenehmes Gefühl. Er fürchtete, die Zahlungsaufforderungen seiner Auto-, Hausrat-oder auch der Rechtsschutzversicherung vorzufinden. Stattdessen war da ein Brief aus Süddeutschland. Er erinnerte sich daran, vor langen Jahren einmal durch B. gefahren zu sein, aber nur weil der Ort auf seinem Weg lag. Was mochten die wollen? Als er den Brief gelesen hatte, war er in Hochstimmung. Er schraubte eine der Weinflaschen auf und genehmigte sich ein Gläschen.
Die Stadt B. - Wo lag noch mal B.?!?!?! - bot ihm die Stelle eines Stadtschreibers, auf ein Jahr befristet, an. Wie kann das sein??? Er erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, dass es seit zwanzig Jahren Mode geworden war, bekannten und nicht so bekannten Schriftstellern einen solchen Job anzubieten. Natürlich brauchte ein solcher Stadtschreiber nicht mehr im Rathaus zu sitzen und Erlasse und Bekanntmachungen der Stadtverwaltung aufzuschreiben. Heutzutage bekam ein solcher Schriftsteller als Stadtschreiber ein kleines Gehalt und konnte mietfrei wohnen. Dafür sollte dann 'möglichst lokal bezogen', schriftstellerisch tätig sein. Kleine Städte in der Provinz wollten damit ihr kulturelles Interesse zeigen und sich ein wenig schmücken. Für Lind in seiner Lage kam das Angebot wie gerufen. Das Gehalt war zwar kümmerlich, so kümmerlich wie auch die Stadtschreiber im Mittelalter entlohnt wurden. Aber Lind fiel sofort ein, dass er in dieser Zeit seine Wohnung für gutes Geld vermieten konnte. Vielleicht an ein Studentenehepaar kurz vor Abschlussexamen. Zusammen mit der dieser Mieteinnahme würde er zurechtkommen. Eine Veränderung der Lebensumstände würde es ihm wahrscheinlich leichter machen, seinen Alkoholkonsum zu drosseln und wieder regelmäßig zu arbeiten. Er ging in die Küche, um sich sein Ravioli-Mittagessen zuzubereiten. Danach hatte er bereits die erste Flasche Wein geleert.

Am Abend war er wieder nüchtern, setzte sich an die Schreibmaschine und schrieb den Antwortbrief nach B. Darin bedankte sich artig für die Ehre und nahm an. Als er den Brief zur Post brachte, grübelte er darüber nach, wie sie wohl auf ihn gekommen waren. Das Angebot kam wie gerufen. Woher konnte jemand in B. wissen, dass er gerade jetzt diesen Job gebrauchen konnte. Aus dem Brief war nichts weiter zu ersehen. Unterschrieben hatte der Stadtdirektor, bedauerlicherweise unleserlich. Die Zeit seiner mäßigen Erfolge lag Jahre zurück. In den letzten beiden Jahren hatte er nur vom früher Verdienten gelebt, große Pläne gemacht und vor allem viel getrunken, aber nichts rechtes zu Papier gebracht. Die Verfilmung eines seiner Krimis fürs Fernsehen lag auch schon fünf Jahre zurück. Egal. Er nahm sich vor, die Chance zu nutzen und in diesem Jahr einen neuen Anfang zu versuchen.

Eine Woche später kam wieder ein Brief aus B. Man zeigte sich dort hoch erfreut, dass er das Angebot angenommen hatte. Er möchte sich doch am soundsovielten um halb elf zu einem ganz kleinen - inoffiziellen - Empfang im Rathaus einfinden. Lind hatte zu seiner Überraschung sofort Mieter für seine Wohnung gefunden. Die wollten sie auch für ein Jahr übernehmen. Es waren ein Doktorrand und seine Freundin, die sich auf ihr Abschlussexamen vorbereiteten. Lind nahm nur das nötigste mit, vor allem seine elektrische und für alle Fälle die gute alte mechanische Schreibmaschine. Da er am Vormittag in B. erwartet wurde, beschloss er nachts loszufahren. In der Hoffnung auf wenig Verkehr während der Fahrt, ging früh zu Bett.

Lind wird Stadtschreiber

Die nächtliche Fahrt nach B. verlief ruhig, denn von nächtlichen Staus war noch nichts im Radio durchgegeben worden. Um acht Uhr am nächsten Morgen stockte trotzdem der Verkehr leicht. Was vor und hinter ihm stand, waren zweifellos Touristen, vor allem aus Norddeutschland.

Endlich um neun Uhr umrundete er das Rathaus, natürlich ohne einen Parkplatz zu finden. Die gesamte Innenstadt war zur Fußgängerzone erklärt worden. Also stellte er sein Auto in einem Parkhaus mit Tiefgarage ab. Parkraum war knapp in B., das war offensichtlich. Der Ort war malerisch von Bergen umgeben. Am Südhang waren es Weinberge, die übrigen waren mit einem dunklen Tannenwald bewachsen. Lind nutzte die Zeit bis zu seinem Termin, um durch die Stadt zu schlendern. Die hübschen alten Fachwerkhäuser mit den schwäbischen Sinnsprüchen waren lehrbuchmäßig herausgeputzt. Die Touristen mussten viel Geld in die Stadt bringen. Bei dem schönen Wetter hatten Bistros und Cafés die Stühle auf die Straße gestellt. Lind sah verschiedene Leute genüsslich frühstücken. Das machte ihm Appetit und er tat es ihnen gleich. Unter einem Sonnenschirm aß er Spiegeleier, Schwarzwälder Schinken und Semmeln. Er überlegte, wo man ihn wohl einquartieren würde. Es wäre ihm recht gewesen, in einem dieser hübschen Fachwerkhäuser zu wohnen. Am liebsten gleich in dieser Gasse. Hier gab es außer zwei Bistros und einem Café, eine Pizzeria und ein Hamburgerlokal. Er ließ seinen Blick schweifen und stellte fest, dass ihm gegenüber ein hübsches Gebäude mit einem Andenkenladen stand. Über dem Geschäft las er das Reklameschild: Andenken und Souvenirs aus dem Hexenhaus. Nun musste er aber los. Lind trank noch sein Gläschen Kirschwasser aus, dann machte er sich auf den Weg zum Rathaus.

Das Gemäuer zwischen dem Fachwerk war mit venezianischer Effektmalerei verziert. Es wurde nachts von Scheinwerfern angestrahlt, die auf gusseisernen Laternenpfählen montiert waren. Auf dem mächtigen Eichenbalken über dem Haupteingang prangte in goldenen Ziffern das Baujahr 15.. und der wahre Spruch auf alemannisch “Wenn man vom Rathaus kommt , ist man klüger”. Lind meldete sich beim Pförtner an und erfuhr, dass man schon auf ihn wartete. Erwartungsvoll lief er durch holzgetäfelte Gänge zum Büro des Stadtdirektors. Lind öffnete die schwere Eichentür und nachdem eine melodische Glocke ertönte, näherte er sich dem ausladenden Schreibtisch des Stadtdirektors.
"Na, endlich“, sagte dieser, “fünf Minuten über der Zeit“ und erhob sich grinsend hinter seinem Schreibtisch. „Ja” sagte Lind und stutze, "das ist doch Harry, der gute alte Harry."
"Wer sonst, sagte dieser. Immer noch derselbe.” Harry war ein Nachbarsjunge gewesen, der mit ihm gemeinsam die selbe Schule besucht hatte. Er war ihm zwei Klassen voraus, aber hatte gemeinsam mit ihm in der Schulmannschaft Fußball gespielt. So etwas verbindet und bleibt unvergesslich. Ein Jahr vor dem Abitur war dann Harrys Vater nach Süddeutschland versetzt worden. Richtig, Harry hatte ihm einmal eine Karte aus Tübingen geschickt, wo er stolz berichtete, dass er in Tübingen Jura studieren würde. Seitdem hatte Lind, und das war nun fünfzehn Jahre her, nichts mehr von ihm gehört.

Sie setzten sich in mächtige Sessel, die in einer Ecke standen . "Jetzt wird mir einiges klar," sagte Lind. “Ich konnte mir einfach nicht erklären, wie ich ausgerechnet hier in B. zu diesen Ehren kommen konnte.“ Eine Sekretärin steckte ihren hübschen Kopf herein und brachte dann Kaffee. "Das ist der Rathaus-Effekt. Du weißt ja: Wenn man vom Rathaus kommt … Aber sag einmal, wie geht es dir eigentlich. Verrate mir bitte die Wahrheit unter alten Freunden.“ Lind hatte den dunklen Verdacht, dass Harry irgendetwas über seine eher miserable Lage in Erfahrung gebracht und ihm deshalb diesen Job verschafft hatte. Es hatte deshalb wohl wenig Zweck, etwas zu verheimlichen. "Eher schlecht. Ich habe in letzter Zeit etwas zu viel getrunken und deshalb nichts mehr zustande gebracht.“ Harry nickte verständnisvoll. "Und deshalb habe ich dafür gesorgt, dass du hier mal Ferien machen kannst. Für ein Jahr.“ sagte er augenzwinkernd. „Aber im ernst, du solltest schon irgendetwas schreiben. Das erwarten die Leute hier oder genauer gesagt die Opposition im Rathaus. Das sind hier nämlich die Grünen. Was glaubst du wohl, woher ich etwas über deine Probleme erfahren habe?“

Lind schüttelte nichts ahnend den Kopf. Hing es vielleicht damit zusammen, dass vor einigen Monaten urplötzlich ein anderer Schulfreund bei ihm aufgekreuzt war? Es war ein echter Nostalgie-Besuch. Als er die Tür damals geöffnet hatte, war er schon nicht mehr ganz nüchtern, obwohl es erst früher Nachmittag gewesen war. Dann hatten sie beide noch ein paar Weinflaschen geköpft und in Erinnerungen an die alte Schulzeit und Tanzstundenlieben geschwelgt. Hatte Lind einen bemitleidenswerten Eindruck gemacht? Wie jemand der Hilfe braucht. Vielleicht?

"Hardy?“ fragte Lind unsicher. "Genau, der hat mich ein paar Wochen später hier mal besucht. Mit seiner Frau und den Kindern. Wir haben über die Jahre noch Kontakt gehabt. Dabei fiel dein Name. Wir stellten fest, dass dir mal jemand ein wenig unter die Arme greifen müsste. Aber wer haben wir uns gefragt? Da hatte ich die Idee mit dem Stadtschreiber! Darüber können wir heute Abend noch reden. Ich lade dich zum Abendessen ein. Meine Frau ist eine Tochter des Landes und eine exzellente Köchin. Komm so um acht Uhr vorbei.” Lind nickte zustimmend.“Und wir wollen uns hier im Amt mal lieber nicht duzen, sonst wittert die Opposition noch etwas. Jetzt rufe ich meine Sekretärin und überreiche dir offiziell die Bestallungsurkunde als Stadtschreiber. Ach so. Den Mietvertrag musst du hier noch unterschreiben." Er sah mich vieldeutig von der Seite an. "Du wohnst im alten "Hexenhaus", vielleicht gibt dir das die ersten Inspirationen. Gleich kommt noch ein anderer selbst ernannter Stadtschreiber, nämlich der von unserem Käseblättchen. Er wird ein Foto von dir machen. Rede ein bisschen nett mit ihm. Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Wenn das überstanden ist, möchte ich dich bitten, kurz beim Büro des Bürgermeisters vorbei zu gehen. Stell dich einfach nur vor und drück ihm die Hand."

Eine halbe Stunde später verließ Lind das Rathaus und war um einiges klüger geworden. Er holte sein Auto und fuhr bis vor seine neue Wohnung. ‘Be- und entladen erlaubt’ stand auf dem Schild am Eingang der Fußgängerzone, wenn ihn auch missbilligende Blicke der Fußgänger trafen. Die Unterkunft war eine nette Mansardenwohnung unter dem Dach, in dem ihm schon bekannten Haus. Lind schleppte schnell seine Koffer und die beiden Schreibmaschinen nach oben. Danach brachte er sein Auto wieder auf das Parkdeck. Zurück in der Wohnung, kam ihm ein Gedanke. Als er vorhin sein Gepäck ins Haus brachte, hatte er einen kurzen Blick auf die hübsche Verkäuferin im Erdgeschoss werfen können. Da aber einige Kunden in Laden waren, konnte er sie nur von hinten mit ihren blonden Lockenkopf und das Profil von der Seite sehen. Sie hatte die typische Herzlinie aller schönen Frauen mit hohen Wangenknochen, üppige blonde Locken fielen ihr in den Nacken. Ein Vorwand für die Kontaktaufnahme mit der 'schöne Adelheid‘ bzw. 'schönen Hexe', wie er die Verkäuferin des Ladens im Erdgeschoss betitelt hatte, war schnell gefunden. Er suchte nämlich einen Stadtplan, um heute Abend die Adresse seines Freundes, des Stadtdirektors zu finden.

Erste Bekanntschaften

Im Hauseingang, an dessen linker Seite sich die Tür zu ihrem Souvenirladen befand, kamen ihm zwei dickbäuchige Rentner entgegen. Einer schwäbelte: "De schenste Pflaume sin emmer madisch. Da isch moi olde libber. Bei der han isch wänigschtens moi Ruh.“ Lind sah sich im Laden um, der bis unter die niedrige Decke mit Kitsch und Kunsthandwerk vollgestopft war. In einem Regal fielen ihm ein paar überdimensionale Weingläser auf. Als er näher trat, sah er, dass der vermeintliche Goldrand nur ein aufgeklebter Folienstreifen war. In einem drehbaren Ständer fand er dann den Stadtplan. Die Kundin, mit der sie eben leicht mit schwäbischen Akzent geschwätzt hatte, verließ den Laden, sodass sie jetzt alleine waren. Wenn sie wirklich so schön war, war sie es wahrscheinlich gewohnt, von den Leuten angestarrt zu werden. Lind nahm sich vor, nur einen kurzen Blick auf sie zu werfen. Er glaubte zu wissen, wie man Schönheit zu beurteilen hat. Dann legte er den Plan auf den Ladentisch und sie tippte den Preis in die Kasse, nannte einen Betrag, der offenbar auf die immer gut gefüllten Börsen der Touristen abgestimmt war. Wie es schien, wollten die Leute geneppt werden, weil sie das Bedürfnis hatten, sich ein wenig zu ärgern. Während er so wartete, fiel sein Blick auf ein Regal, vollgestopft mit Hexenfiguren aller Art, die meist auf Besen ritten und spitze Hüte trugen. Die hölzernen waren meist hässlich. Es gab aber auch schöne Hexen aus bemaltem Porzellan. Die hatten reizende Puppengesichter. Unter ihren spitzen Hüten quollen blonde Locken hervor und der flatternde Mantel entblößte ein zierliches Bein und mindestens eine Brust.

Diese Sexhexen standen auf dem obersten Regalbrett, wohin Kinderhände nicht reichen konnten. Mehrere Kunsthandwerker mussten daran gut verdienen. Lind kramte in seinem Portemonnaie und als er ihr das Geld reichte, begegneten sich kurz ihre Blicke. Sie lächelte ihn an, wie sie es wohl bei allen Kunden tat, dabei strahlten ihre schimmernden weißen Zähne. Ihre Schönheit traf ihn wie ein leichter Schlag an den Kopf, der betäubend war. Die dichten, goldblonden Locken türmten sich auf ihrem Haupt und fielen seitlich über ihre hohen Wangenknochen hinab. Unter langen dunklen Wimpern wirkten ihre blauen Augen fast schwarz. Die ganze Haarpracht bildete aber irgendwie einen Bubikopf. Unter ihren Stirnlocken konnte man nichts anderes, als eine wunderschöne Stirn erwarten. Lind hatte sich eigentlich nur als ihr neuer Hausgenosse vorstellen wollen, nun lächelte er einfältig wie ein Depp und brachte nur ein “Grüß Gott” heraus, als er ihren Laden verließ.

Während er die Treppen hinaufstieg, kehrte aber schon seine Gelassenheit zurück. Er sagte sich, dass es einen objektiven Maßstab für Schönheit nicht gab. Schönheit war nicht messbar und existierte nur im Kopf, in der Vorstellungswelt des Beobachtenden. Als er seine Wohnungstür aufschloss, erinnerte er sich, was der Philosoph über die Schönheit gesagt hatte: Schönheit wird als Objekt des allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt.- Deshalb hatte er sie ja die "schöne Adelheid" genannt. Andere empfanden sicher ähnlich. Ob sie wohl hier im Haus ihre Wohnung hatte, fragte er sich insgeheim. Wenn ja, dann unter ihm im ersten Stock. Es würde sich zeigen.

In seiner Wohnung war es stickig und heiß. Lind sperrte das Dachfenster auf, auch das kleine Küchenfenster zum Garten. Dann kramte er seine Sachen aus dem Koffern, vor allem seine Pfeife und die Tabaksdose mit englischem Tabak. Genüsslich rauchend blickte er aus dem Fenster. Über dem Dach des Nebenhauses erblickte er die Weinberge, die sich bis unter den Rand des Talkessels emporstreckten. Auf der Kuppe selbst standen dunkle Tannen und schützten so die empfindlichen Reben vor kaltem Wind. Er bemerkte auch das graue Gemäuer eines Klostergutes. Hinter dem Haus, vielleicht fünfzig Meter entfernt, reckte sich das graue Schieferdach eines Kirchturms in den blauen Himmel. Lind vergleicht seine Uhrzeit mit der Kirchturmuhr. Beide zeigten genau die gleiche Minute an. Die Uhr, oder besser der Elektromotor der die Zeiger bewegte, wurde wahrscheinlich von der Frequenz des Stromnetzes gesteuert, sagte er sich als technisch versierter Mensch. Ihm fiel ein, dass er eigentlich müde sein müsste nach der nächtlichen Fahrt und den vielen Erlebnissen.

Gähnend ging er in die Küche und nahm die Pfeife aus dem Mund, um sie auszuklopfen. Dabei bemerkte er, dass er seinen Aschenbecher und Pfeifenständer zu Hause vergessen hatte. Schmunzelnd stellte er fest, wieder einen Grund zu haben den Andenkenladen aufzusuchen. Dann würde er bei der "schönen Adelheid" einen herrlich kitschigen Ascher aus dickem Pressglas kaufen. Er klopfte die Pfeife notgedrungen in der Spüle aus und stellte seinen Reisewecker auf halb sieben, um rechtzeitig zum Abendessen bei Harry zu erscheinen. Er schätzte den Weg auf eine dreiviertel Stunde Fußmarsch ein. Zufrieden und müde legte er sich auf das Schlafsofa unter dem Dachfenster. Eine einzelne, weiße Schönwetterwolke betrachtend schlief er ein.

Abendessen beim Stadtdirektor

Um sieben verließ Lind das Haus und bemerkte, dass der Souvenirladen schon geschlossen war. Die Straßencafés hingegen waren voll besetzt. Über allem lag schon eine gewisse Weinseligkeit, das Lachen von Frauenstimmen war zu erkennen. Spät am Abend würde das Lachen schriller werden. Ab und zu einen Blick in den Stadtplan werfend, schlenderte Lind durch die Stadt. Er erstand noch einen bunten Blumenstrauß für die Hausherrin.
Das Haus des Stadtdirektors lag am Nordosthang, wo die Wohlhabenden ihre Villen in den Wald gesetzt hatten. Lind verließ die Stadt durch ein Fußgängerpförtchen in der noch intakten Stadtmauer. Über zum Teil steile Sträßchen führte ihn der Weg. Hinter hohen Hecken, riesigen Kastanienbäumen und Platanen lagen die Villen der reichen Bürger der Stadt. Kurz vor acht stand Lind vor dem Haus seines ehemaligen Schulkameraden.

Er schellte und die schmiedeeiserne Pforte wurde elektrisch geöffnet, nachdem er sich über die Sprechanlage angemeldet hatte. Das Haus war architektonisch reizvoll in den Hang gebaut. Über die ganze talwärts gelegenen Seite des Hauses erstreckte sich eine Terrasse. Auf dem Rasen spielten und tollten die Kinder mit einem Terrier, der jetzt herangestürzt kam und kriegerisch bellte. Auf der Terrasse stand Harry und rief den Hund zur Räson. Die alarmierte Hausherrin kam aus dem Haus und ihr Mann stellte sie als sein "Schwarzwaldmädel" vor. Lind überreichte der hübschen Brünette sein Sträußchen. Sie eilte mit einem kleinen Ausruf des Entzückens ins Haus und kam gleich mit dem Strauß in einer Vase zurück, die sie zwischen die Gedecke auf den Tisch stellte. Dann klatschte sie in die Hände und schickte den Hund und die maulenden Kinder ins Bett. "Ich bin gleich soweit,“ versicherte sie, "probiert schon mal den Wein."

“Herrlich habt ihr‘s hier," bemerkte Lind und ließ seinen Blick über die Stadt und die gegenüberliegenden Hänge schweifen. Im Tal machte sich schon die Dämmerung breit, nur die Blutbuchen um das Klostergut oben am Südhang leuchteten im Abendschein. "Schön sicher, aber es gibt hier auch die anderen Tage, im Herbst mit Nebel und Schnürlregen. Aber wozu von schlechten in guten Zeiten reden. Heute und überhaupt in den letzten Wochen vom feinsten. Wetter de Lux. Prost übrigens." Sie probierten den Wein. Lind nickte anerkennend, was er allerdings auch getan hätte , wenn es Essig gewesen wäre. "Ich glaube”, sagte Harry,“dass wir hier den besten Wein haben, zumindest in guten Jahren. Nichts in der Welt geht über unseren Eiswein. Du siehst dort oben die Beeren. Sie werden nur dort oben in einem schmalen Streifen unter dem Waldrand geerntet. Na, möchtest du noch ein Gläschen? Wenn wir besondere Gäste im Rathaus haben, wird davon schon mal eine Flasche geopfert.“ Er gab Lind einen vielsagenden Klaps auf die Schulter.

Das "Schwarzwaldmädel" rollte den Servierwagen mit dem Essen heran. Es gab Spätzle und Rinderbraten in Rotweinsauce mit diversen Gemüsesorten. Als sie beim Nachtisch angelangt waren, wurden die Kerzen entzündet. "Dies ist das Land der Vierteleschlotzer,“ bemerkte Harry. “Weißt du überhaupt was schlotzen heißt??. Verstehst du als Norddeutscher überhaupt etwas?"
"Der Name deutet es schon an. Schlotzen klingt lautmalerisch, es wird soviel heißen wie genießen, schlürfen.“

"Genau, bestätigte Harry anerkennend.“ Wenn man nicht zum Trinker werden will, muss man den Wein genießen, schlotzen. Ein viertele am Tag, mehr nicht. Das wirst du noch lernen, das Schlotsen. Aber dazu braucht man guten Wein, ist dann aber auch nicht billig.“ Lind nickte und fragte: "Wer betreibt eigentlich das Klostergut da oben?“

“Das wird seit Jahrhunderten von Zisterziensermönchen betrieben. Auch heute noch. Es gibt dort oben fünf Mönche und einer ist einer gelernter Winzer.“

"Und wie wird die Weinlese durchgeführt? Die riesige Ernte kann unmöglich von fünf Leuten eingebracht werden. Das sind doch glatt dreißig Hektar.“

“Gut geschätzt“, bestätigte Harry. "Du wirst es nicht glauben aber es ist so. Es gibt hier einen harten Kern von Touristen und Weinliebhabern, die kommen jeden Herbst und helfen zu ihrer eigenen Gaudi bei der Ernte. Dafür kriegen sie natürlich manche Flasche Wein umsonst. Außerdem werden sie im Refektorium des Klosters verpflegt.“

"Daran werde ich mich auch beteiligen," versprach ich.

“Sehr verdienstvoll," stimmte Harry zu. "Im übrigen, lass uns doch mal ins Auge fassen, dass du jeden ersten Freitag in Monat zu uns zum Essen kommst. Du erzählst mir nebenbei, wie du mit deiner schriftstellerischen Arbeit vorankommst. Auf diese Weise kann ich das als Arbeitsessen bezeichnen und der Stadtkasse aufbürden, zumindest den Wein, den wir trinken.“

“Mach ich gern“, sicherte Lind zu und an die Hausfrau gewandt: „Das Essen war superb, oder wie man heute sagt "echt super".“

Harry leerte sein Glas und sagte: “Als Stadtdirektor hat man es nicht leicht. Heute war es mal wieder anstrengend.“ Lind verstand den Wink und verabschiedete sich umgehend.

Der Unfall

Um zehn war Lind wieder in der Stadt. Die Bistros und Straßencafés waren immer noch gut besucht. Die Stimmung war gestiegen Über allem lag eine gewisse Weinseligkeit. Lind ließ sich an einen Bistrotisch, kaum zwanzig Schritt vom Hexenhaus entfernt, nieder, um noch ein Viertele zu schlotzen. Der Abstand der seitlichen Hauswände zwischen den ersten Haus in der Gasse und dem Hexenhaus betrug kaum zwei Meter. Die Straße war seitlich durch ein hohes Eichentor geschlossen. Gerade als er überlegte, ob sich wohl ein Kleinwagen dadurch quetschen könnte, wurde das Tor von innen geöffnet und arretiert. Dann schob sich ein französischer Kleinwagen langsam heraus. Die schöne Adelheid stieg aus, verschloss das Torgitter und fuhr vorsichtig im Schritttempo bis zum Ende der Fußgängerzone und verschwand auf der Straße, die um das Rathaus führte.

Während er noch überlegte, wohin sie wohl wollte, ertönte aus der Richtung, in der sie verschwunden war, ein dumpfer Knall, ein dumpfes krachen. Seitdem Lind einmal in einem Stau stehend, eine Serie von Auffahrunfällen erlebt hatte, wusste er, was das zu bedeuteten hatte. Er sprang auf und rannte die paar Meter bis zur Straßenecke. Der rote Flitzer der "schönen Adelheid" war vor dem Springbrunnen des Rathausplatzes auf das Heck einer anderen Limousine geprallt. Als Lind den Ort des Unfalls erreicht hatte, waren schon zwei Dutzend Zuschauer zugegen. Der Fahrer der Limousine war ausgestiegen und schimpfte hemmungslos. Er hatte den geringsten Schaden, die Stoßstange seines Wagens war handbreit eingedrückt. Die am Schloss verbeulte Heckklappe war aufgesprungen. Am Auto der "schönen Adelheid" war der Kühlergrill eingedrückt und die Motorhaube stand eine Handbreit offen. Weißer Qualm stieg unter der Motorhaube hervor. Die schöne Adelheid saß reglos in ihrem hinter dem Steuer und und starrte gebannt in den Rauch.

Lind trat heran und öffnete die Tür. "Stellen Sie doch den Motor ab“, sagte er "und steigen Sie aus!" Es kam keine Reaktion. Offenbar hatte sie seine Worte gar nicht wahrgenommen. Lind wiederholte seine Worte und jetzt flüsterte sie tonlos: “Ich kann nicht, ich kann nicht..“ und immer wieder "Ich kann nicht.“

"Sind sie denn verletzt?“ fragte Lind. “Lösen sie den Gurt und steigen sie aus! Schalten Sie doch bitte endlich den Motor aus!" Jetzt flüsterte sie wieder mit schwacher, kaum hörbarer Stimme. “Ich muss sterben, ich muss sterben...“ Lind beugte sich ins Auto, klinkte den Gurt aus und hob sie vorsichtig heraus. Mit dem rechten Arm unter der Schulter haltend, stellte er sie auf den Boden, aber sie drohte in die Knie zu sacken. Er hob sie wieder an. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Der andere Autofahrer hatte sein Geschimpfe eingestellt. Endlich schüttelte sie ihren Kopf und blickte sich um. Sie nickte und sagte: "Es geht schon wieder.“ Lind ließ vorsichtig los und sie blieb leicht schwankend stehen. "Hat jemand die Polizei benachrichtigt?“ rief Lind. "Schon geschehen,“ erwiderte ein Autofahrer, der hinter ihnen angehalten hatte.

In diesem Augenblick kam ein Gespann aus einem älteren und einem jungen Mann aus einem Haus gerannt, in der Hand jeweils einen Feuerlöscher und bekämpften fachmännisch den Schwelbrand. “Ich bin bei der Feuerwehr", sagte der ältere Mann zur Erklärung. Nach fünf weiteren Minuten erschien ein Streifenwagen mit Geheul, nach nochmals fünf Minuten dann ein Rettungswagen und auch noch die Feuerwehr, die aber nichts mehr zu tun hatte. Autopapiere wurden notiert und nach Alkohol am Steuer gefragt. Der Fahrer des anderen Wagens war jetzt ganz still geworden. Seine meterlange Fahne, die undeutliche Aussprache und das gerötete Gesicht waren eindeutig. Er musste ins Alkoholteströhrchen blasen und wurde, wie nicht anders zu erwarten, zum Bluttest gebeten. Lind schätzte ihn auf anderthalb bis zwei Promille. Das Auto der "schönen Adelheid" wurde zu ihrer Werkstatt geschleppt, wo der Schaden festgestellt werden sollte. Die Limousine hat ein Polizist weggefahren. "Sind sie wirklich nicht verletzt," fragte ein Weißkittel aus dem Rettungswagen. “Fühlen sie doch mal an ihren Knien und an der Brust, da wo der Gurt gelegen hat“. “Nein wirklich nicht“, sagte die "schöne Adelheid". “Darf Sie dich nach Hause bringen?“ fragt Lind eilfertig. “Wir sind nämlich Hausgenossen. Ich wohne seit heute oben unterm Dach, in der Mansardenwohnung.“

"Ach richtig, jetzt erkenne ich sie wieder. Sie haben doch in meinem Laden was gekauft.“

"Genau" sagte Lind beim Gehen und blickte an ihren schlanken Beinen in den Samthosen hinunter. "Haben Sie wirklich nichts abgekriegt?“

"Nein wirklich nicht. Jetzt müsste ich es ja merken."

“Das merkt man erst eine Stunde später. Vielleicht stehen Sie noch unter Schock."

"Dann müssten sie der neue Stadtschreiber sein. Die Wohnung habe ich vor einiger Zeit an die Stadt vermietet. Das Haus ist seit langem in Familienbesitz, Ich habe es von meiner Mutter geerbt." Die ganze Zeit hatte sich Lind gefragt, ob sie wohl allein lebte. Vor ihrer Wohnungstür im ersten Stock angekommen, blieben sie einen Augenblick stehen, wobei Lind ihr noch den Ratschlag gab, einen Cognac zu trinken. "Ein Kirschwasser hat wohl dieselbe wohltätige Wirkung",meinte sie und verharrte immer noch, als warte sie auf etwas. Daher fragte Lind vorsichtig, "darf ich Ihnen noch einen Augenblick Gesellschaft leisten?"

"Ja gern“ antwortete sie und schloss die Türe auf. Ihr Wohnzimmer lag zur Straße hin und nahm die ganze Breite des Hauses ein. Sie zog die Vorhänge zu und suchte in der Küche nach dem Kirschwasser. Sie kam mit zwei Gläsern zurück und füllte diese mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Lind prostete: "Auf den glücklichen Ausgang ihres kleinen Unfalls." Als sie das Glas zum Mund führen wollte, zitterte ihre Hand so stark, dass sie die Hälfte verschüttete. “Das ist ganz normal" bemerkte Lind," eine Folge des Schocks, der sich jetzt zu lösen beginnt. Ein Arzt würde ihnen eine Beruhigungsspritze geben. Aber ein zweites Kirschwässerchen tut es auch." Tatsächlich gelang es ihr jetzt, dass zweite Glas mit nur noch leicht zitternder Hand zu leeren. Danach verschwand auch die Blässe aus ihrem Gesicht. Fürsorglich stopfte er ein buntes Kissen hinter ihren Rücken und lehnte sie dann dagegen. “Haben sie bemerkt, dass der andere Autofahrer angetrunken war?" fragte Lind. “Die Blutprobe wird wahrscheinlich mindestens anderthalb Promille ergeben. Ihn wird eine Mitschuld treffen. Ihre Kaskoversicherung wird ihn in Regress nehmen. Ich kann mir vorstellen, dass er völlig unmotiviert eine Vollbremsung gemacht hat."

"Ja, genau so war es", pflichtete sie ihm bei. “Woher wussten sie das? Haben Sie den Unfall beobachtet?“ "Das nicht, es war mehr ein Vorschlag“ sagte Lind listig. "Das brauche ich nicht zu erfinden," meinte sie. “Es war wirklich so."

"Sehen sie, dann werden sie wahrscheinlich nicht mal wegen des zu geringen Abstands herangezogen. Sie können den Unfall vergessen. Morgen wird Ihnen die Werkstatt mitteilen, wie hoch der Schaden an ihrem Auto ist. Vielleicht kriegen sie sogar ein neues. Lassen Sie uns von etwas anderem reden.“ Sie ging sofort darauf ein und meinte: "Sie sind also heute Vormittag eingezogen. Ich habe gar nichts davon gemerkt."

"Ich habe auch nur meine beiden Koffer und die Schreibmaschinen geschleppt. Ein Umzug mit wenig Umstand." "Die Wohnung ist von mir an die Stadt vermietet. Hier werden manchmal Angestellte der Stadtverwaltung während ihrer Probezeit einquartiert, bis sie eine eigene Wohnung gefunden haben.“

“Nein, bei der Stadtverwaltung bin ich nicht. Ich bin der neue Stadtschreiber." "Sie widersprechen sich aber ", meinte sie.

"Überhaupt nicht, Stadtschreiber ist nur eine historisierende Bezeichnung. Fast ein Scherz. Ich bin Schriftsteller und verbringe einfach mal ein Jahr in dieser Stadt.”

“Schriftsteller, sollte ich Sie kennen?“

"Vielleicht.“ Lind nannte zwei seiner Buchtitel und blickte sie fragend an. Es kam nur ein Kopfschütteln.

 

Die Sage

“Auch gut,“ sagte Lind, "dann haben sie wenigstens keine Vorurteile gegen mich. Als ich heute im Rathaus war und den Mietvertrag unterschrieben habe, sagte man mir, dass ich im Hexenhaus wohnen würde. Was hat es eigentlich damit auf sich?“

"Ach, das ist eine alte Redensart. Hier soll mal eine Hexe gewohnt haben. Mehr ist darüber nicht bekannt.“ "Das interessiert mich aber“, antwortete Lind. “Daraus ließe sich vielleicht etwas machen. Ich meine schriftstellerisch und so. Man erwartet von mir nämlich, dass ich irgendetwas schreibe, möglichst etwas, das mit dieser Stadt und der Gegend zu tun hat.“ Sie sah ihn nachdenklich an und schenkte ihm dann einen langen prüfenden Blick.

“Diese Sage ist eher ein Schauermärchen, dass man sich früher in den Spinnstuben erzählt hat. Es verkauft sich gut an Touristen. Ich meine das Büchlein, zusammen mit anderen Geschichten. Fast so gut wie Hexenwein,“ bemerkte sie schnippisch.

“Hexenwein?“ fragte Lind. "Nach dem Etikett ist es nichts weiter als der gute Riesling des Klostergutes. In Viertelliter-Fläschchen, dreimal so teuer wie normal aber mit einem schönen Etikett: Eine hübsche blonde Hexe jagt auf ihrem Besen über die Stadt und schwenkt dabei noch eine Weinflasche. Die Touristen mögen so etwas.“ Sie stand, immer noch lachend, auf und verschwand in Küche und kam mit zwei Dreiviertelliter-Flaschen mit Schraubverschluss zurück. Das Etikett zeigte das vorher beschriebene Motiv.

"Das bin ich Ihnen mindestens schuldig, weil sie sich so nett um mich gekümmert haben. Probieren sie ihn ruhig. Es ist nichts weiter als der gute Riesling aus dem Klostergut oben am Berg. Allerdings dreimal so teuer, weil in kleinen Fläschchen und mit Schraubverschluss, damit die Leute ihn auch gleich trinken und noch eine kaufen. Ein Verkaufstrick zur Erhöhung des Umsatzes. Und dies hier ist," sagte sie von ihrem kleinen Bücherregal her, "und dies hier ist die Schauergeschichte.“ Dabei zog sie ein Taschenbuch hervor. “Ich schenke ihnen das Büchlein. Vielleicht finden Sie etwas darin, was sie anregt und sie schreiben einen Roman darüber.“ Das Titelbild zeigte scherenschnittartig den gehörnten Teufel, wie er eine Hexe mit spitzem Hut im Mondschein auf der Spitze eines Kirchturms küsste. Sagen und Märchen aus B. und Umgebung stand darunter. Lind blätterte ein wenig und betrachtete die uralten Holzschnitte. Im Innern war ein Bild zu sehen, auf dem man die Hexe in ihrem brennenden Hemd auf dem Scheiterhaufen sah, während gleichzeitig die ganze Stadt in Flammen stand.

"Die Hexe wurde verbrannt", sagte Lind, “aber ist denn dabei auch die ganze Stadt mit abgebrannt?“

"In der Geschichte wird es so erzählt. Es hätte hier eine Feuersbrunst gegeben. Nur das Hexenhaus ist dabei stehengeblieben, heißt es. Außerdem wurde die Hexe noch im letzte Moment vom Teufel gerettet.“

"Na, wenn das kein Stoff für einen Roman ist, was dann? Jetzt weiß ich, was ich in den nächsten zwölf Monaten tun werde“, sagte Lind enthusiastisch. “Das ist wie ein Geschenk des Himmels.“ Er klappte das Buch zu. "Ich werde einen Roman über diese Geschichte schreiben. Wenn das kein Thema ist.“ Und nach einer kleinen Weile fragte er zögerlich,“ zwischendurch werde Ich ihnen immer mal von den Fortschritten erzählen, wenn es Sie interessiert? Sagen wir morgen oder übermorgen.“ Sie blickte ihn mit einem feinen Lächeln an. Es sagte ihm, dass sie an die Vorwände dachte, mit der sich Männer immer an eine schöne Frau, wie sie, heranzumachen versuchten. Offenbar schätzte sie seine Aufdringlichkeit ab. "Morgen Abend geht es nicht, aber vielleicht Übermorgen."

"Sie werden meine erste Leserin sein. Übermorgen kann ich Ihnen etwas über das Konzept erzählen." Dann verabschiedete er sich und stieg die Treppe hinauf. Er dachte bei sich, dass sie morgen Abend wohl den Besuch nachholen würde, den der Unfall verhindert hatte. Aber wen wollte sie besuchen? Immerhin lebte sie allein. Das ergab Chancen für ihn.

Erste Buchkonzepte

Als er in seiner Wohnung angekommen war, ging er sofort zu Bett. Am nächsten Morgen setzte er sich an den kleinen Schreibtisch seines Zimmers und las die Geschichte der Hexe von B. Als er geendet hatte, klappte er das Buch zu und stopfte seine Pfeife. Wie von alleine kamen ihm Gedanken über das Gelesene.

Zu der Zeit als der Hexenwahn in Deutschland regierte und die Scheiterhaufen loderten, mochte es durchaus eine solche Hinrichtung in B. gegeben haben. Ebenso eine Feuerbrunst. Mittelalterliche Städte waren innerhalb der Stadtmauern dicht gedrängt. War erst einmal ein Feuer ausgebrochen und hatte eine bestimmte Größe erreicht, war mit einer Eimerkette nichts mehr zu retten. Dann brannte eine ganze Stadt nach dem Hochofenprinzip ab. Die überhitzte Luft jagte nach oben und von den Seiten strömte frische Luft wie ein Orkan heran, um das Feuer zu nähren, bis nichts mehr brennbares da war. Dies hatte sich auch in Hamburg bei dem verheerenden Bombenangriff im zweiten Weltkrieg zugetragen. Aber hatten die beiden Ereignisse, die Hexenverbrennung und die Feuersbrunst überhaupt etwas miteinander zu tun? Oder hatte der Erzähler bloß die beiden Ereignisse zusammengeworfen, um die Dramatik zu steigern? Vielleicht gab es noch das Verhandlungsprotokoll des Hexenprozesses? Oder war es auch verbrannt. Die Prozessakten der Jungfrau von Orleans gab es ja auch noch.

Das Kloster oben am Berg musste vom Feuer verschont geblieben sein. Ob sich dort noch Akten finden ließen? Oder lagerten sie in Verliesen des Vatikans? Was war mit der angeblichen Errettung der Hexe durch den Teufel? Eine vernünftige Erklärung für das Verschwinden der Hexe vom Scheiterhaufen wäre doch eher folgende: Aus dem Holz war eine dichte Rauchwolke aufgestiegen und hatte die Gestalt des Hexe verhüllt. Gerade in diesem Augenblick waren vielleicht die Fesseln durchgebrannt und die Gestalt am Pfahl zusammengesunken. Lies dann ein Windstoß die Wolke wegblasen, war die Hexe nicht mehr zu sehen. Sie war scheinbar verschwunden. Ihre kümmerlichen Überreste lagen dann am Fuß des Pfahles. Wenn jetzt noch die Feuersbrunst entstand, hatte sich bestimmt keiner mehr die Mühe gemacht, nach den traurigen Überresten der Hexe zu suchen. Unter den Anwesenden musste eine Panik ausgebrochen sein. Hunderte waren zu Tode getrampelt oder unter brennenden Trümmern begraben worden. Aber was hatte gerade die Feuersbrunst in diesem Minuten ausgelöst? Wurde das Feuer absichtlich gelegt worden? Oder durch Unachtsamkeit entstanden? Das war natürlich nicht mehr zu klären. Ob ein Wirbelwind – ein seltenes aber nicht unmögliches Phänomen in dieser Gegend – die Glut des Scheiterhaufens auseinander gewirbelt und die Dachstühle abgedeckt hatte?

In der Sage war von einer schwarzen Wolke aus Raben die Rede. Das war natürlich absurd. Raben würden sich niemals in ein Feuer stürzen. Aber der Rauch eines Wirbelwindes wäre durch Staub und Trümmer schwarz gewesen. Das war noch die naheliegendste Erklärung. Ob Heimatforscher, die es sicherlich auch hier gab, etwas in Erfahrung gebracht hatten? Auf jeden Fall würde er zum Klostergut hinauffahren. Unter Umständen wusste einer der Mönche etwas darüber zu erzählen. Lind legte sich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Die Lösung

"Und wie kommen sie mit dem Roman voran", fragte die "schöne Adelheid" am übernächsten Tag. Sie hatte auf der langen Seite ihrer Eck-Couch Platz genommen und eine Akte neben sich gelegt. Zwischen ihnen auf dem Tischchen standen die Weingläser, die Lind soeben mit dem Riesling aus dem Klostergut gefüllt hatte.

"Nicht so recht," antwortete Lind etwas kleinlaut und ließ sich in seinem Sessel zurückfallen. “Kern der Sache ist doch eigentlich, dass eine Hexe vom brennenden Scheiterhaufen gerettet wird und zwar vom Teufel. Das entspricht dem Verständnis jener Zeit vor vierhundert Jahren. Aber so etwas kann man doch heute nicht mehr schreiben. Wer glaubt denn noch an den Teufel in Person?"

"Dann will ich Ihnen etwas unter die Arme greifen" sagte sie mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck.

"Ich mache viele Ausflüge in die Umgebung. Vor langer Zeit führt mich der Weg zu dem hiesigen Kloster. Dabei lernte ich einen Mönch kennen, der dort wohnt. Wir kamen ins Gespräch und dabei erwähnte ich, dass mir das Hexenhaus in B. gehört. Als er das hörte, wurde er besonders aufmerksam. Er sagte, dass in der Dokumentenkammer des Klosters zahlreiche Schriftstücke zu dem Ort B. gelagert seien. Unter anderem auch die Akte zu dem Hexenprozess, in dessen Verlauf die ganze Stadt abgebrannt, das Hexenhaus aber vom Feuer verschont geblieben war.

Wenn ich Interesse hätte, könnte er mir eine Kopie von den Unterlagen zusammenstellen.

Meine Begeisterung darüber kannte keine Grenzen und so trafen wir uns am darauffolgenden Tag wieder. Er überreichte mir die Papiere, die hier in der Akte stecken."

Mit diesen Worten holte sie die Schriftstücke heraus und überreichte sie ihm.

Lind war sprachlos über diesen glücklichen Umstand, der ihm viel Zeit und Mühe ersparte.

"Da ich leider des Lateinischen nicht mächtig bin, hat der Ordensbruder mir den Text übersetzt und zusammengefasst."

Dr. Johannes Pistorius ordnet an, dass geschworene Hebammen und Frauen feststellen sollen, ob Agatha ihre Jungfrauschaft verloren und defloriert sey. Gerichtsverwendbar sollte das Ergebnis sein. Drei Tage später bekommt Pistorius bestätigt: Agatha ist in jeder Beziehung unschuldig. Der Beweis ist erbracht, womit ihr Geständnis unter der Folter gegenstandslos geworden war. Das Ratsprotokoll vom 30. Dezember bestätigt, dass Pistorius in Konstanz für das Kind sogar eine Pflegefamilie gefunden hat.

-Agatha N. Ursula Gatterin, der hingerichteten hexen unehelich döchterlin, ist begnadigt, der strenge rechtens überhebt und mit rath der rechtsgelerten und geistlichen sonderlichen Herrn Dr. J o h a n n P i s t o r y , des eltern (älteren), einer frawen gehen Constantz in zucht und cost verdingt, und beyneben den jesuitern ir uff sehen uff das zuehaben zuegeschrieben. So allhie hinweggezogen, Montag den 12. Januariy anno 1604."-

Da dem Volk das Schauspiel eine Hexenverbrennung nicht vorenthalten werden sollte, wurde die Frau durch eine Strohpuppe ersetzt. Um das Spektakulum zu erhöhen, wurde sie mit Pech und Schwefel gefüllt.

Als der Tag der "Hinrichtung" erreicht war und die Sonne aufging, war der Scheiterhaufen geschichtet. Mit einem Karren wurde die Puppe, für das Volk unsichtbar, weil liegend, zum Hinrichtungsplatz vor der Stadt gebracht. Nachdem sie an den Pfahl gebunden ward, ist das Feuer entzündet worden. Die Flammen leckten an dem Gewand der Puppe. Die Füllung ging in Flammen auf, es entstand eine gewaltige Qualmwolke, die gen Himmel zog. Der Wind stand ungünstig in Richtung der Stadt. Der Rauch riss große Mengen der Funken mit sich, die nun über den Dächern verteilt wurden. Das Unglück der Feuersbrunst nahm seinen Lauf.

Das Hexenhaus hatte eine exponierte Lage. Da niemand etwas mit diesen Bewohnern zu tun haben wollte, war nicht nur der Abstand zu den Nachbarn größer, sondern es waren auch Steinmauern zur Abwehr von bösen Blicken errichte worden. Dies hat sich bei dem nun entstehenden Feuer als günstig erwiesen, sodass das Hexenhaus als einziges das Flammenmeer überstand.

Für Lind war nun alles klar. Dadurch, dass die Hexe als Puppe sich buchstäblich in Rauch aufgelöst hatte, ist sie nicht mehr gefunden worden. Auch das nicht Abbrennen des Hauses war nur erklärt. Die Augen des Schriftstellers leuchteten.

Er sprang auf und klatsche in die Hände. "Das ist die Lösung", rief er aus. In seinem Überschwang drückte er der "schönen Adelheid" einen dicken Kuss auf die Backe.

Zu seinem Erstaunen wurde diese Geste erwidert. Jetzt konnte er Hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, weil alles Gut zu werden schien.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.08.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dies Buch ist in Gedanken an Wolfgang Klees geschrieben, der sich die Geschichte ausgedacht hat.

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