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Ich sehe dich!

 

Meine Mutter hatte schon immer sehr schlecht gesehen, auf einem Auge ist sie seit der Geburt blind, angeblich ist der Sehnerv nicht richtig ausgebildet, wie ihr einmal ein Augenarzt vor Jahren erklärte. Anders als mit einer dicken Brille kannte ich sie gar nicht.

Im Alter gesellte sich neben allerlei Altersbeschwerden, (Diabetes, Durchblutungsstörungen), noch der grüne Star hinzu, den sie mittels Augentropfen einigermaßen im Griff hat. Bei dieser Augenkrankheit kann das Kammerwasser nicht mehr oder ganz schlecht aus dem Auge abrinnen, der Augeninnendruck steigt, das Gesichtsfeld wird immer kleiner, der Sehnerv wird geschädigt und das führt bis zur Erblindung. Es gibt noch andere Formen des Glaukoms, aber auf das werde ich nicht weiter eingehen, da es meine Mutter nicht betrifft.

Schleichend, vorerst unbemerkt, kam auch noch der graue Star dazu, am Anfang kaum merkbar, denn beide Augenkrankheiten schmerzen nicht, man fühlt nicht, dass sich das Augenlicht zu verabschieden beginnt. Die Sonne blendet etwas mehr, aber naja, man wird älter und auch die Augen vielleicht deshalb empfindlicher.

 

Der Augenarzt sagte meiner Mutter zwar, dass sie den grauen Star nun auch hätte, aber von einer Operation riet er ihr vorerst ab. So verschlechterte sich das Sehen meiner Mutter mit der Zeit immer mehr, gerade das Lesen, was sie trotz ihres schlechten Sehens so liebte, wurde immer schwieriger, sie half sich mit immer stärkeren Lupen aus, aber es ermüdete sie.

Trotz allem versorgte sie mit weit über achtzig noch immer ihren Haushalt selbst und nicht nur das, sie war und ist auch die beste Kuchenbäckerin, die es gibt.

Bei Besuchen bei ihr bemerkten wir vorerst gar nicht, wie schlecht sie sah, denn sie bewegte sich absolut sicher in ihrer Wohnung, nur wenn sie fremd wo war, dann suchten ihre Hände sogar die große Kaffeetasse vor ihr auf dem Tisch.

 

Es war Sommer und der 90gste Geburtstag meiner Mutter stand im Herbst an, als sie zugab, bald nicht mehr selbst einkaufen gehen zu können, denn sie würde die Autos nicht mehr sehen, wenn sie über die Straße wolle. Und auch wenn sie bei Fußgängerampeln wartete, nützte es nichts, denn sie konnte ja das Licht der Ampel nicht sehen. Bei den Straßenbahnen würde sie nicht nur die Nummern nicht lesen können, sondern die ganze Straßenbahn nicht sehen, Dazu muss man wissen, dass diese in Wien in weiß und leuchtend rot gehalten sind und dadurch eigentlich nicht zu übersehen sind. Meine Mutter vertraute zwar auf ihr Gehör, aber die modernen Züge gleiten so leise dahin, dass sie im Straßenverkehr kaum zu hören sind. Sie machte sich auch große Sorgen, was sie machen wird, wenn die Elektroautos lautlos daherkommen werden.

Es musste etwas geschehen und zwar dringend!

Sie sagte zu ihrem Augenarzt, dass sie unbedingt eine Staroperation wolle, aber dieser winkte zu unserer Überraschung ab.

Er meinte, meine Mutter hätte nur dieses eine Auge und wenn die Operation schiefgehen würde, würde sie gar nichts mehr sehen.

Welches Sehen??

Außerdem wäre das Auge aufgrund ihres Alters so verkalkt, dass die Operation gar nicht helfen würde.

Meine Mutter nahm es zur Kenntnis, vertraute auf ihren langjährigen Arzt, aber die Lebensfreude, mit der sie ihre ganze Familie immer wieder überrascht hatte, verabschiedete sich langsam.

Einer der regelmäßigen Besuche beim Augenarzt zwecks Kontrolle des Augendrucks, brachte eine Überraschung. Ich war mit ihr diesmal mit, denn auch ich benötige wegen des grünen Stars die regelmäßige Kontrolle, eine Familienkrankheit, die meiner Mutter unnötigerweise ein schlechtes Gewissen macht, denn sie glaubt, ihre schlechten Augen uns weiter vererbt zu haben.

 

Diesmal empfing uns eine fremde Ärztin, da der ansässige Augenarzt krank war. Die Ärztin untersuchte meine Mutter.

„Warum sind Sie noch nicht am Star operiert?“ fragte sie erstaunt.

Meine Mutter wiederholte die Einwände, die ihr Augenarzt vorgebracht hatte.

„Er meinte, Sie könnten vielleicht blind werden, wenn etwas schiefgeht?“ fassungslos sah die Augenärztin meine Mutter an, „aber Sie sind doch schon blind, ich kann mit den Instrumenten keinen Hintergrund mehr sehen, ihr Auge ist absolut dicht.“

Ihr Blick flog zwischen uns hin und her.

„Ich kann Ihnen nur raten, aber ich an Ihrer Stelle würde die Operation so schnell wie möglich machen lassen“, sagte sie.

Meine Mutter überlegte nur ganz kurz.

„Sie haben recht, ich sehe ohnehin kaum mehr Licht und Schatten, noch schlimmer kann es kaum noch werden“, gab sie der Ärztin recht.

„Gut“, nickte diese, sie fragte meine Mutter, in welches Krankenhaus sie gehen wolle und schrieb dann eine Überweisung. Sie legte diese meiner Mutter in die Hand, wandte sich aber an mich.

„Gehen Sie so schnell wie möglich in die Ambulanz der Klinik, ich habe ‚Dringend‘ auf die Überweisung geschrieben“, sagte sie mit Nachdruck.

Schon am nächsten Tag, es war ein Donnerstag, fuhr ich mit meiner Mutter in die Augenambulanz. Natürlich mussten wir dort ziemlich lange warten, aber ich hätte Tage gewartet, wenn es um meine Mutter geht.

Sie wurde untersucht und auch die dortige Ärztin meinte, dass überhaupt kein Licht mehr zur Augenlinse vordringen würde. Danach gab es noch eine Besprechung, wo sie uns genau beschrieb, wie die Operation ablaufen würde, auch über die Risiken sprach sie.

„Mehr als blind kann ich nicht werden“, meinte meine Mutter daraufhin lächelnd.

Die Ärztin nickte und sah in ihrem Terminkalender nach einem Termin für die Operation.

„Gut, dann kommen Sie am nächsten Dienstag um 8Uhr morgens“, sagte sie, uns anblickend.

„Meine Sie den kommenden Dienstag? Den in 5 Tagen?“ verdattert sah ich sie an, wir hatten mit etlichen Wochen gerechnet!

„Auf der Überweisung steht ‚Dringend‘ und daran halten wir uns“, antwortete die Ärztin lächelnd.

 

Einigermaßen perplex verließen wir die Klinik, um am kommenden Dienstag etwas vor 8Uhr wieder zur Stelle zu sein. Meine Mutter war die Ruhe in Person und als ich sie fragte, ob sie nicht nervös sei, verneinte sie.

„Nein, warum sollte ich? Es kommt, wie es kommt und nicht anders.“

Die Gelassenheit meiner Mutter hätte ich auch gerne!

 

Meine Mutter wurde aufgerufen und für mich hieß es nun warten, ich ging in die Kantine, um zu frühstücken, ich hatte auch etwas zum Lesen mit, aber ich war viel zu nervös dazu, denn auch wenn die Operation glücken sollte, hieß das ja noch lange nicht, dass meine Mutter wirklich etwas sehen konnte. Was war, wenn ihr Auge wirklich schon zu sehr verkalkt war?

Auch ein langes Telefongespräch mit meiner Schwester half nicht wirklich, denn sie war genauso nervös wie ich.

Die Krankenschwester hatte zwar versprochen, mir eine SMS zu schicken, wenn meine Mutter fertig sein würde, aber mich hielt es nicht in der Kantine und so tigerte ich kurze Zeit später auf dem Gang vor der Augenabteilung auf und ab.

 

Nach gefühlten hundert Stunden, in Wirklichkeit waren es drei, erschien meine Mutter am Arm einer Schwester auf dem Gang, sie hatte eine Plastikschale zum Schutz vor dem Auge und war noch etliche Meter von mir entfernt, als sie stehenblieb.

„Ich sehe dich“, sagte sie und ein Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen.

Ja und ich? Ich stand da und sah nichts mehr, denn Tränen vor Glück liefen mir übers Gesicht!

„Mama“, mehr konnte ich nicht sagen, ich ging zu ihr und nahm ihre Hand.

„Wissen Sie“, sagte meine Mutter zur Krankenschwester, „dass ich das Gesicht meiner Tochter seit fast 15 Jahren nicht mehr erkennen konnte? Ich freue mich so, endlich meine Kinder, Enkelkinder und Urenkeln zu sehen zu können.“

Selbst die Krankenschwester hatte Tränen in den Augen.

 

Nach den üblichen Formalitäten und einem Anruf bei einem Taxidienst gingen wir ins Freie, um auf das Taxi zu warten. Vor dem Eingang fristeten ein paar Blumen in Betonkübeln ein karges Leben.

„Sieh nur die Farben, wie rot die Blumen leuchten und wie gelb sie sind“, konnte sich meine Mutter trotz der Plastikschale vor dem operierten Auge gar nicht sattsehen, es war ganz einfach eine Freude, sie so zu sehen.

Im Taxi rief ich meine Schwester an und gab das Handy meiner Mutter, sie sprachen miteinander und ich hörte, dass auch meine Schwester mit den Tränen kämpfte.

„Weißt du, deine Schwester ist richtig alt geworden“, sagte meine Mutter mit einem lächelnden Seitenblick auf mich.

Meine vier Jahre ältere Schwester lachte auf: „Warte erst, wenn du mich siehst!“

„Und ich fürchte mich schon, wenn ich mich im Spiegel sehe“, gab meine Mutter zurück.

Endlich war meine Mutter, so wie wir sie kannten wieder da! Schlagfertig und immer für einen Scherz gut!

Ich rief nach und nach die ganze Familie an, und jeder musste Tränen der Freude runterschlucken.

 

In ihrer Wohnung, die sie seit mehr als vierzig Jahre bewohnt, blieb sie stehen.

„Hier ist es ja richtig hell!“ sagte sie erstaunt, sie strich andächtig über den Polsterstoff der Couch im Wohnzimmer.

„Der Stoff hat ja ein Blumenmuster“, sagte sie, „und ich dachte, der wäre nur grau.“

Mir kamen wieder die Tränen, die Couch stand schon gut 30 Jahre in diesem Zimmer und mir wurde bewusst, wie lange meine Mutter schon nichts mehr sehen konnte! Und wir hatten das gar nicht mitbekommen, nie war eine Klage über ihre Lippen gekommen.

Sie ging zum Fenster, sah sich die Vorhänge an.

„Die sind ja ganz grau, die gehören dringend gewaschen“, meinte sie entsetzt.

„Ja Mama, wir werden sie waschen, aber nicht jetzt oder morgen, du darfst nichts Anstrengendes machen!“ warnte ich sie, denn ich kannte meine Mutter nur zu gut.

Ich hatte eigentlich vor, diese Nacht bei ihr zu bleiben, sollte sie Hilfe brauchen, aber das schlug sie aus.

„Ich habe alles gemacht, als ich nichts gesehen habe und jetzt, wo ich sehe, soll ich es nicht mehr? Nichts da, du hast schon den ganzen Tag mit mir vertrödelt!“

So blieb mir nichts anderes, als zu gehen, aber nur mit dem Versprechen, dass sie sich sofort melden würde, wenn es etwas wäre.

 

Am Wochenende darauf platzte die Wohnung meiner Mutter aus allen Nähten, denn jeder der Familie wollte sehen, wie sie nun sehen konnte und es gab noch viele Glückstränen. Für uns alle war es ganz einfach ein Wunder, eine Zauberei, dass meine Mutter sehen konnte und wir mussten uns erst daran gewöhnen, sie ohne Brille zu sehen.

Inzwischen ist meine Mutter fast 93 und sie genießt ihr Sehen noch immer, sie kann ihrem liebsten Hobby, dem Lesen, wieder nachgehen, was sie ausgiebig macht und auch ihre geliebten Natursendungen im Fernsehen sind keine Hörspiele mehr für sie.

Sogar ihre Körperhaltung, ihr Gesichtsausdruck haben sich verändert, sie geht aufrechter und ihr Gesicht strahlt, obwohl die Alterbeschwerden nicht weniger geworden sind, ungebrochene Lebensfreude aus.

 

Irgendein „netter“ Mensch hat kurz nach der Operation mir gegenüber erwähnt, dass sich die Operation doch gar nicht ausgezahlt hätte, zu kurz sei ihre Lebenserwartung.

Nein, und wenn es nur ein paar Monate, Wochen, oder Tage gewesen wären, dieses Wunder zu erleben hat kein Zeitlimit!

 

Ende

 

 

Impressum

Texte: Margo Wolf
Cover: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2019

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