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Dienstag, 13. Oktober 2020

 

Gleich gehe ich endlich zur neuen Praxis. Nein, neu ist die Praxis nicht, nur für mich. Ich muss den Arzt wechseln, mal wieder. Das nennt man Pech. Mit meiner komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung, neckisch auch kPTBS genannt, ist es mir nur schlecht, manchmal gar nicht möglich, mich von Kerlen untersuchen zu lassen. Als ich das endlich erkannte, verließ ich die Praxis von Herrn Ich-treff-beim-Händeschütteln-vor-Hetze-Ihre-Hand-nicht und kam in die Praxis von Herrn und Frau Dr. totaaal-nett-und-kompetent. Ein älteres Ehepaar, und bei ihr fühlte ich mich sehr gut aufgehoben.

Das Doofe bei älteren Leuten ist, dass sie in Rente gehen. Es folgte Dr. Jung-Dynamisch-kompetent-aber-etwas-unbeherrscht. Der versprach allerdings, dass bald eine neue Ärztin bei ihm arbeiten würde. Und so kam es, und Frau Dr. Iiich-habbö-öastliches-Charme-uuund-Herz-groooß war ein Glücksfall. Sie stellte genau die richtigen Fragen und beförderte mich mehr oder weniger direkt ins Krankenhaus, was gut war. Aber dann wurde sie krank. Sterbenskrank! Und so war wieder Dr. Jung-Dynamisch-unbeherrscht für mich zuständig. Nach kurzer Zeit bekam er sich mit meinem Mann in die Haare, und jetzt stehe ich hier. Ich benötige zwei Überweisungen und 4 Medikamente, habe aber erst einmal mit der neuen Praxis telefoniert. Also, mit der Sprechstundenhilfe/ Vorzimmerdame. Die schien recht nett. Aber was sie so von Frau Doktor Kenn-ich-noch-nicht sagte ... Ich solle sie erst einmal kennenlernen, ob die Chemie auch stimmt. Na, mal sehen.

Mir ist jedenfalls gerade nicht gut. Ich habe gestern und heute noch nichts gegessen. Nicht vor Aufregung, ich muss entschlacken! Ich wiege mehr als 150 kg. Wie viel mehr genau, das weiß ich nicht, meine Waage gab bei 147,5 kg den Geist auf. Und wenn ich es nicht bald schaffe, mein Leben zu ändern, dann ... Ich denke, dann überlebe ich das nicht, meine Kinder werden dann noch mehr leiden und mein Mann ... Ich weiß nicht, was das mit ihm machen würde. Ich will es auch nicht herausfinden! Und wenn das Übergewicht doch dann auch alles wäre ... Meine Diagnosen sind vielfältig und bedingen einander zum großen Teil. Da ist der Diabetes. Die Unterfunktion der Schilddrüse. Die Blutanämie. Die Hautirritationen. Die Schädigungen der Nerven. Der Ischias. Die kPTBS. Die Blasenschwäche. Die grottigen Zähne. Und natürlich der schäbige Verdauungstrakt. Ich habe meinen "Tempel" behandelt wie ein Bahnhofsklo, das habe ich jetzt davon!

In 20 Minuten fährt mein Mann mich hin zur neuen Praxis. Ich mach dann meine Korona-App an. Ich werde schon mal den Herrn Doktor kennenlernen.

Männer sind nicht eigentlich das Problem. Ich lebe mit dreien, also, mit meinem Mann und meinen erwachsenen Söhnen. Es geht nur darum, sich vor Männern nicht gut entblößen zu können. Der Typ darf mir in den Hals gucken und mir auch verschreiben, was er denn mag; aber meinen fetten Bauch mit der riesigen Narbe vom Venushügel bis unter die Brust, das muss nicht sein. Selbst einige Frauen mag ich das nicht sehen lassen, kommt auf die Chemie an, wie Frau Sprechstundenhilfe ja bereits äußerte.

Flau ist mir. Ich habe diesen Termin etwa 6 Wochen vor mir hergeschoben. Wieder alles erzählen und gespannt sein auf Reaktionen. Oh ja! Reaktionen!

Viele reagieren angefasst, bestürzt, untröstlich. Das ist okay für mich, na ja, ein bisschen verlegen macht es mich schon. Andere bleiben sachlich. Die sind mir nicht am sympathischsten, offen gestanden. Sie zeigen nichts von sich, während ich mich seelisch vor ihnen nackich mache. Wie soll ich jemandem vertrauen, der sich nicht zeigt? Wieder andere reagieren, indem sie mich für eine Simulantin halten. Das ist sehr, sehr schmerzhaft für mich. Da wird mein ganzes Leben in Frage gestellt. Ich stehe dann da, als wäre ich nicht nur die größte Versagerin der Welt - nein, auch noch asozial! Das schmerzt sehr. Und es macht mich auch aggressiv, es triggert mich.

Für alle, die sich da nicht so auskennen: Ein Trigger ist ein Auslöser. Kommt eigentlich aus dem amerikanischen "trigger", aus der Waffentechnik. Man hat PTBS zum ersten Mal an amerikanischen Soldaten festgestellt, die aus Vietnam kamen. Sie flippten aus, weil Regen auf dem Dach für sie so klang wie die Gewehrsalven der Feinde in Vietnam. Der Regen war also der Auslöser für ihr Ausflippen. Der Regen hat sie getriggert.

Mich triggert es, wenn Menschen andere nur allzu schnell verurteilen. Ja, ich sehe aus wie eine alte Schabracke, die sich vernachlässigt - bin ich auch. Aber nein, deswegen bin ich nicht asozial! Und auch keine Simulantin! Wer, um Gottes Willen, würde das simulieren, wenn es so viele scheiß Nachteile mit sich bringt???

 

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So, bin wieder zurück. Der Herr Doktor ist durchaus sympathisch, erinnert mich ein bisschen an den 13. Doktor Who, den Capaldi-Doktor, womit er auf jeden Fall bereits gepunktet hat. Die Praxis und ihre BetreuerInnen sind gut durchorganisiert und sehr penibel. Und ich habe alle Überweisungen und Rezepte bekommen. Erstes Fazit: sehr schön!

Die Waage der Praxis zeigte übrigens 146,3 kg an. Ha! Meine Diät wirkt!

 

Ich habe in letzter Zeit hässliche Hautausschläge auf der rechten Hand, dem Arm und dem Rücken. Verstehe ich nicht. Also reduziere ich nach ein paar Tagen Fasten unter penibler Kontrolle des Blutzuckers mein Essen auf Reis mit Salz. Das drei bis vier Tage lang.

Ich rauche ja nun schon lange nicht mehr. Das wird also sehr hart. Ich esse in fast allen Fällen, um mich zu beruhigen. Schon immer. Und ich liebe es zu essen, zu kochen, zu schlemmen. Ja, das wird sehr hart. Also, das schätze ich so ein. Meine Therapeutin, Frau Wundervolle-Frau-und-geniale-Psychologin, hat mir mal ein Päckchen kleiner roter Kärtchen vermacht. Auf jedem Kärtchen stand:

"Du darfst nicht alles glauben, was Du denkst!"

 

Es war meine Hausaufgabe, diese Kärtchen in meinem Umfeld zu verteilen, um so oft wie möglich auf sie zu stoßen. Ja, wer weiß? Vielleicht wird es ja doch nicht hart? Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen und es geht mir ziemlich gut. Der Zucker gurkt auf etwa 160 herum, das ist nicht optimal, aber im Vergleich zu den letzte Woche gemessenen 400 - sagen wir, eine Verbesserung.

 

Danach baue ich meine Ernährung auf. Mal sehen, was es mit dem Ausschlag so macht. Ob der verschwindet oder nicht. Am besten würde es sicher sein, so lange wie möglich nichts zu essen ... mein Rekord liegt bei 10 Tagen vor und nach der Entfernung meines Sigmas. Das Sigma ist aufgerollter Darm am Ende der Leitung, dort wird unter Hochdruck Wasser herausgezogen, bis nur noch das übliche braune Zeugs übrig ist. Die Ärzte im Lebensretter-Krankenhaus meinten damals, das war 2018, meine üblen Schmerzen rührten daher, dass sich Divertikel, kleine Ausstülpungen, dort im Sigma entzündet hätten. Sie rieten, mit einer geplanten OP das Sigma einfach zu entfernen. Das würde nichts machen, aber dann wäre Schluss mit den Schmerzen!

Die OP verlief gut, jedoch entwickelte ich als kreativer Mensch ein paar Tage drauf einen ansehnlichen Abszess, Er musste aufgestochen werden. Anschließend bekam ich eine Pumpe. Ganz schön kompliziert, sich sauber zu halten mit einer Pumpe rechts und dem Katheter links. Zudem hat der Herr (oder die Dame, wer weiß das schon) mich mit reichlich kurzen Armen gesegnet. Und von Stund an musste jeden Tag der Schwamm in der Pumpe gewechselt werden, fünf Tage lang jeden Tag in einer Mini-OP mit Narkose. Ich schwöre, seitdem bin ich tüddeliger als zuvor. Im Bericht stand, dass das Sigma nur leicht entzündet war. Leicht entzündet? Ich hatte Koliken, die ich nicht in Worte fassen kann. Ich lag bis zu drei Stunden jammernd, schwitzend und schreiend dort, wohin ich es gerade noch geschafft hatte: auf dem Boden, auf dem Klo, auf der Couch. Ich konnte nur noch schreien und mich gar nicht mehr richtig artikulieren. Ich meine, okay, ich habe zwei Kinder auf die Welt gebracht - aber das war nicht so schlimm wie diese Koliken!

Als ich dann endlich wieder daheim war, musste noch wochenlang die Wunde versorgt werden. Und alles nur dafür, damit 14 Tage nach der Entlassung die nächste Kolik kam, und sie warf mich richtig von den Füßen! Ich verlor an diesem Punkt irgendwie meinen Mut. Niemand fand etwas, vielleicht, ich meine, ich bin ja so eine Psychotante?

1 B

 Es war Frühling draußen und in der Nacht. Ich hatte bereits etwa 150 Mililiter Neuraminsulfon intus und lag jammernd auf der Couch. In Gedanken redete ich mit Gott, sagte ihm, dass ich nicht weiter wisse. Zuletzt

Impressum

Texte: Helene Elis
Bildmaterialien: Helene Elis
Cover: Helene Elis
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2020

Alle Rechte vorbehalten

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