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1. Advent

Ludger Reinhardt war zu seinen Lebzeiten das, was wohl von allen, die solche Begriffe noch verwendeten, ein stattlicher Mann genannt wurde. Große Männer gab es überall und jederzeit - daran lag es gewiss nicht. Lange hatte Sarah sich den Kopf zerbrochen, was es eigentlich ausmachte: War es etwa die gepflegte Erscheinung in Kleidung und Schuhwerk, das schwarzgraue Haar mit den tiefen Geheimratsecken, die tadellose Maniküre?

 

Sie hatte dasselbe Urteil gefällt über diesen Mann und kam dabei doch zu dem Schluss, dass es dies alles nicht allein sein konnte. Vielmehr war es der Blick, den dieser schlanke, ja drahtige Mann jedem zukommen ließ. War es Spott in seinem Auge? Nicht wirklich. An der Art, wie er nie den Kopf nach unten neigte, sondern stattdessen die Lider senkte, erkannte jeder, dass der Ernst, der dort ins Gesicht gemeißelt schien, gespielt war. Seine Schritte waren weit ausholend, doch hinkte er ein wenig. Das gab ihm eine ungeheuerliche Wirkung von Volksnähe, ja von Solidarität mit all jenen, die schon einiges mitgemacht hatten im Leben. Kein Wunder, dass sie von weither gekommen waren seinerzeit, um ihn bei Hoesch zum Betriebsrat zu wählen.

 

Sarah war eher klein und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, obwohl er den Jungen trug. Es war sein Junge, und der Kleine liebte seinen Opa derart, dass Sarah, die den leeren Buggy vor sich her schob, sich nicht selten bei intensiven Anflügen von brennender Eifersucht erwischte. Und sie war zudem verwirrt, da sie manchmal gar nicht einordnen konnte, auf wen von den beiden sie eigentlich eifersüchtiger war: auf den, der eine bedingungslose Liebe ihres Sohnes genoss - oder auf das Kind, das eine standhafte und niemals einbrechende Liebe von seinem Großvater bekam.

 

Sarah hatte eine recht komplizierte und selten liebevolle Kindheit unter einem Alkoholiker und einer ketten-rauchenden Neurotikerin durchlebt; es versetzte ihr immer brennende Stiche, wenn sie nun beobachtete, was sie zuvor selbst nie hatte kennenlernen dürfen.

 

Und obschon dies alles nicht heiter war, ja diese ernsten Themen bei den Schwiegereltern so gut wie nie auf den Tisch kamen, wusste Ludger, wie es um Sarah stand. Dass sie bereits in jungen Jahren sich hatte das Leben nehmen wollen, dass sie manchmal scheinbar grundlos traurig schien. So wie jetzt! Und so nahm er den Dreijährigen, bereits schweren Jungen von seinen Schultern und "flüsterte" ihm ins Ohr - gerade so, dass Sarah neben ihm es hören konnte; dann hielt er das Kind Sarah entgegen, und der Junge spitzte artig die Lippen, um seine Mama zu küssen.

 

Sarahs Mann und ihre Schwiegermutter liefen abseits und schienen zu plaudern. Das Gespräch zwischen den beiden war immer ohne Freude. Hier aber liefen drei, denen der Schalk, oft zum Leidwesen der älteren Frau, nur allzu lose im Nacken saß. Das Herz der grau-blonden Frau tat einen großen Sprung, als sie sah, wie der Kleine mit seiner Mutter schmuste, und sie deutete zu dem Geschehen und sagte zu ihrem Sohn:

"Ach Gott, guck nur, der Junge!"

 

Sarah schielte dankbar an ihrem Sohn vorbei zu ihrem Schwiegervater, der das Kind noch immer an den Hüften festhielt, damit die junge Mutter nichts heben musste. Sie war solcherlei Aufmerksamkeit, wortlos sogar und daher von noch größerer Bedeutung, nicht gewohnt. Sie lächelte, und der alte Mann erfreute sich daran still. Allein ein halbes Lächeln, das mit nur einem Mundwinkel sich begnügen musste, deutete auf seine Gefühle hin.

 

Weiter ging es entlang des verregneten Weges voller Laub und am Rande stehender kahler Bäume. Der Westfalenpark trotzte dem Spätherbst und beeindruckte mit seiner Allee und den zauberischen Holzbrücken noch immer mit Schönheit. Doch es dämmerte, und die Gesellschaft lockte es zum Ende des Spazierganges, wie immer, in die Wohnung der Reinhardts. Dort warteten frisch gebackene Waffeln mit Rosinen - oder wahlweise mit Anis, weil Sarah keine Rosinen mochte.

 

"Sag, wirst du es nie müde, ihn zu tragen?", himmelte Sarah ihren Schwiegervater an.

Der aber schüttelte nur den Kopf. Sarah sah, dass er schwer ging, dass seine Arme ermüdeten. Doch eher hätte er sie sich abreißen lassen, als den Jungen aus ihnen zu entlassen!

Sie kamen beim Auto an. Hier fanden nun wieder alle zusammen.

"Los, gib mir den Buggy", kommandierte Hans, Sarahs Ehemann.

Sarah wurde aus dem warm-wolligen Gefühl des Umhegtseins gerissen. Es schmerzte sie, und sie konnte den Mund nicht halten:

"Wie redest du mit mir!"

"Kinder! Hört auf zu streiten!"

Diese Worte von Klara, Hans' Mutter, waren die in der Familie wahrscheinlich am meisten gehörten.

"Ja, das war etwas unhöflich", sprang Ludger Sarah zur Seite.

"Wieso? Was hat er denn gemacht? Er will doch nur den Wagen! Was soll das denn? Halt dich doch einfach da raus", zischte Klara.

 

Sofort tat es Sarah leid. Ja, warum hatte sie nicht einfach den Mund gehalten! Aber wie hätte sie anders gekonnt? Seit Jahren stritt sie täglich und mit jedem Tag verzweifelter mit diesem Mann, der sie nicht halb so schätzte, wie ihre Schwiegereltern es taten. Manchmal wünschte ich, ich könnte nur die beiden haben - ohne ihn!, dachte Sarah.

 

Nun schwieg sie und schnallte ihren Sohn im Kindersitz an.

Mutter Reinhardt aber hatte nun den Kampf auf ihre Fahne geschrieben:

"Immer muss es Streit geben! Das arme Kind! Können wir nicht einen einzigen Tag mal verbringen, ohne dass es kracht?"

Sie begann zu weinen.

"Klara, nun lass gut sein", sagte Ludger.

 

Er wurde nie laut, so kannte ihn Sarah nicht. Aber seine Worte waren in Ernst gefasst wie ein Edelstein in die Einfassung eines Ringes oder Amulettes.

Nun schwiegen alle. Still weinte Klara aus Augen, die nicht allein von diesem Moment her so gerötet sein konnten.

 

 

***

 

Oma Lottchen kaute auf der dritten Waffel, und während

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Helene Elis
Bildmaterialien: Cover by Lupo / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2014
ISBN: 978-3-7368-3695-2

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