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1. Kapitel

Ich öffne meine Augen und sehe die kahlen, weißen Wände jenes Raumes, in dem ich jeden Tag erwache. Auf der digitalen Anzeige meines Kalenders blinkt hell in roter Schrift: 27.02.211.

77 015 Tage nach dem Jahr 0.

Ein großer dunkelhäutiger Mann kommt in mein Zimmer und öffnet die weißen Vorhänge.

„ Haben Sie gut geschlafen, Miss Clambert?“. Seine hellblauen Augen blicken mich freundlich an. „ Ja, habe ich. Dankeschön.“ Ich kenne seinen Namen nicht. Er nickt und geht wieder hinaus, wobei er die Tür hinter sich vorsichtig zuschließt. Vor etwa 200 Jahren wäre diese Haut- und Augenfarben-Kombination ungewöhnlich gewesen, doch jetzt, in unserer Zeit, ist dieses Aussehen dank fortschrittlicher Gentechnik etwas ganz normales. Die Menschen sind nicht mehr das, was sie einst waren.

Ich gehe langsam zum Fenster. Das Haus, wo ich seit sechzehn Jahren lebe, befindet sich auf einem Hügel außerhalb der Stadt. Man kann die Hochhäuser von hier sehen. Bei Tage durch die Reflektion des Sonnenlichtes glitzernd, bei Nacht leuchtend wie die Sterne. Seit Jahren sehe ich diese Stadt, in der ich noch nie war. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil es mir verboten ist.

 

Nachdem ich im Bad war, mache ich vor dem Frühstück einen kurzen Umweg in die Galerie, sowie der Doc es nennt. Mein Lieblingsort in meinen silbernen Käfig. Das Zimmer ist kleiner als meins, aber in meinen Augen tausendmal schöner. Statt kalten hellen Wänden hängen hier überall Porträts von einstmals berühmten Frauen, die die Menschen auf der ganzen Welt geliebt haben. In der Mitte des Raumes steht ein großes goldenes Bücherregal mit einem roten Sessel. Von der Decke des Raumes hängt ein gigantischer Kronleuchter, den man jedoch nie braucht, da durch die riesigen Fenster genug Licht durchkommt. Die Bücher, die sich in dem Regal befinden, sind alles Biografien dieser Frauen. Ich habe schon jede einzelne gelesen, doch meine absolute Favoritin ist Audrey Hepburn. Ich bewundere ihre Eleganz und würde nur allzu gerne einen ihrer Filme sehen. Leider besitzt der Doc kein Exemplar. Er meint, sie wären sehr kostbar, weil sie noch vor der Jahr 0 seien und daher sogar viel mehr wert als unser ganzes Anwesen hier.

Vorsichtig streiche ich mit den Fingern über ihre dunklen Haare. Sie war eine Schönheitsikone zu ihrer Zeit und ist vom Aussehen her genau das Gegenteil von mir.

Der Doc sagt, dass ich die Schönheitsideale vor dem Jahr 0 habe. Dunkelblonde, gewellte Haare, die in sanften Wellen über meinen Rücken fallen und große blaue Augen. Ich betrachte mein schmales Gesicht, das sich am Fenster spiegelt und wünsche mir, dass dich wie Audrey Hepburn aussehen würde.

Erschrocken stelle ich fest, dass ich zu spät dran bin. Der Doc wird bestimmt sauer sein. Er hasst es, wenn Leute unpünktlich sind. Genauso wie Unordentlichkeit und Lügen. Schnell mache ich mich auf dem Weg zur Küche, wo der Doc bereits am Essenstisch sitzt und seine heiß geliebte Tasse Kaffee trinkt. In der Hand hält er UTab, was die Menschen früher auch als Tablet bezeichneten, womit er die heutigen Nachrichten liest.

„Morgen.“ Ich setze mich an dem Platz gegenüber von ihm und nehme mir ein Brötchen aus dem Korb. Es ist noch warm. Sofort kommt der Koch und fragt mich, ob ich Eier möchte. Ich verneine und bitte um eine Tasse warmen Kakao.

Der Doc sieht genauso alt wie ich aus, obwohl er schon 35 ist. Durch die hoch entwickelte Gentechnik altern Menschen ab 20 nicht mehr. Sie bleiben für immer jung.

Die dunkelbraunen Locken umrahmen sein Gesicht und die blauen müden Augen sagen aus, dass er wieder eine Nacht durchgearbeitet hat. Wahrscheinlich um neue Gynoide zu entwickeln, die noch menschlicher aussehen sollen. Seit ich denken kann, kümmert er sich schon um mich, obwohl wir nicht verwandt sind.

Als er mein karges Frühstück sieht runzelt er seine Stirn. „ Reicht das dir wirklich?“. Er deutet auf mein halb angebissenes Brötchen und schüttelt den Kopf. „ Iss bitte mehr, du bist kein Roboter. Vergiss das nicht.“

Ich habe keine Nummer wie alle „weiblichen“ Wesen, die der Doc herstellt. Ich habe einen Namen, weil ich ein echtes Mädchen bin. Das einzige menschliche Mädchen auf dieser Welt.

Vor 250 Jahren brach ein Virus auf der Erde aus, weil unvorsichtige Biologen vergaßen, sich zu desinfizieren. Es war ein ganz neuer Virus, an denen nur die Frauen erkrankten. Die Männer überraschenderweise waren immun dagegen. In den nächsten Jahren dezimierte sich die weibliche Bevölkerung drastisch, sodass Millionen von Männern sich ansehen mussten, wie ihre Frauen und Töchter starben. Forscher aus aller Welt versuchten ein Gegenmittel zu erfinden, was sich als eine unmögliche Sache herausstellte. Als sie nach Jahrzehnten endlich eine Technik entwickelten, Menschen künstlich zu entwickeln und somit das Aussterben der Menschheit verhindern konnte, starb die letzte Frau auf der Erde. Das Problem war, das mit dieser Gentechnik nur durch die Entnahme von Blut einer Frau auch Frauen entstehen können. Da es keine mehr gab, konnte man nur Männer entwickeln. In den nächsten Jahren wuchs die Erdbevölkerung wieder stetig an, man versuchte alles, um auch Frauen im Labor erschaffen zu können, doch man schaffte es nicht.

Die Männer gaben auf. Sie schlossen mit der Vergangenheit ab und ernannten das Jahr 2041 zum Jahr 0. Eine neue Zukunft ohne Frauen.

Statt der Liebe widmeten sich die Männer nun der Forschung und Technik. Sie erfanden die neuesten Sachen und flogen zum Mars. Ohne Frauen konnten sich Männer ganz auf die Arbeit konzentrieren. Viele hielten es auch nicht aus und brachten sich um.

Aber es gab auch eine Familie, Neversons, die die nicht versuchten Frauen im Labor zu erschaffen, sondern technisch herzustellen. Weibliche Androide, auch genannt Gynoide. Ihnen gelang es, Roboter zu kreieren, die von echten Frauen fast nicht zu unterscheiden waren. Die Neversons programmierten jeden Gynoid einen anderen Charakter ein und typische weibliche Eigenschaften. Das erwies sich als Erfolg. Fast jeder Mann legte sich einen Gynoid zu, sie wurden in die Gesellschaft integriert und wie normale Menschen behandelt. Harvey Neverson, der Erfinder dieser Roboter, ließ auch viele von ihnen als freie „Menschen“ in die Welt. Man kann mit ihnen auf Dates gehen, spielen und sogar Sex haben, das was die meisten Männern interessiert. Sie haben ihren eigenen Willen, können wie Menschen „Nein“ und „Ja“ sagen, was lieben und was hassen. Das Einzige, was sie von uns unterscheidet, ist dass sie nichts essen und trinken müssen.

Der Familienbetrieb wurde in all den Jahrzehnten fortgeführt, jedes Jahr erhielten die alten Gynoids Updates im Aussehen und Eigenschaften, sodass sie gleichwertig waren wie die, die neu auf dem Markt kommen. Der einzige von den Neversons, der momentan noch lebt, sitzt gegenüber von mir. Doctor Dawn Neverson, auch genannt Doc.

 

„ Wie kann ich dir glauben, dass ich echt bin?“. Ich reiße mein Brötchen in kleine Stücke und tunke sie in die heiße Tasse Kakao, die auf dem Tisch steht. „ Es ist unmöglich, eine Frau im Labor herzustellen, eine Frau, die aus Fleisch und Knochen besteht.“ Ich schaue ihn ernst an. „ Vielleicht bin ich auch nur ein Gynoid. Aber eine höhere Version, die auch essen und trinken kann. Und rote Flüssigkeit in sich besitzt.“ Es stimmt. Der Doc hat mir nie erklärt, wie ich wirklich entstanden bin, wer mein biologischer Vater ist, von dem man das Blut entnommen hat. Er hält alles vor mir geheim. Wie kann ich ihn da trauen?

„ Bitte rede nicht wieder darüber, Bay.“, er stellt seine Tasse ab und schaut mir tief in die Augen,

„ Du bist ein echter Mensch wie wir. Zumindest in dieser Zeit, wenn man das was wir sind, echt nennen kann. Es gibt allerdings Sachen, die man nicht wissen braucht und will.“ Damit ist das Thema für ihn beendet. Ich schiebe die trockene Brötchen von mir, weil mir der Appetit vergangen ist. „ Darf ich wenigstens in die Stadt?“, platzt es aus Frust aus meinem Mund. Shit! Ich beiße mir auf die Lippe und wünsche mir, dass ich das nie gesagt hätte.

„Nein.“, entgegnet der Doc wie ich erwartet habe, ohne mit der Wimper zu zucken. „ Weißt du was Männer machen, wenn sie wüssten, dass es noch eine echte Frau auf dieser Erde gibt? Egal ob Kind oder nicht?“. In seinen Augen kann ich eine Spur von Abscheu sehen, ein Gesichtsausdruck, der mir völlig neu ist. „ Ich verbiete es dir, aus diesem Haus nur einen Schritt zu setzen! Du weißt gar nicht, wie widerwärtig und grausam die Welt da draußen ist!“. Ich schlucke. „O-Okay.“, ist das einzige, was ich herausbringe. Schnell stehe ich auf und gehe in mein Zimmer. Als ich mich kurz umdrehte, saß der Doc wie versteinert da und blickte mit leeren Augen auf sein UPad. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen.

In dem Moment, wo ich mein Zimmer betrete, weiß ich sofort, dass hier nicht bleiben kann, da ich sonst verrückt werde. Diese ekligen weißen Wände, die mich schon seit meinem Lebensanfang begleiten, ich könnte schreien! Ich schnappe mir den schwarzen Mantel, der ordentlich wie alle anderen Sachen in meinem viel zu großen Schrank hängt und laufe durch die große Eingangstür hinaus in den Garten. Die kalte Luft brennt auf meinen Wangen, die noch von der Wärme des Hauses gewöhnt sind. Wenigstens das darf ich. In unseren Garten gehen. Um nicht zu erfrieren gehe ich in einem zügigen Tempo um den riesigen Springbrunnen, der inmitten des Gartens steht. Auch er ist weiß. Wie mein Zimmer. Wie mein Leben. Wütend kicke ich einen Stein, der vor meinen Füßen liegt, in den Springbrunnen. Ich seufze. Warum konnten sie die Frauen früher nicht retten? Nicht mal eine? Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Genauso wie: Warum bin ich das einzige Mädchen, das in einem Labor entwickelt werden konnte?

Ich komme mir einsam vor. Außer Doc und den paar Bediensteten im Haus habe ich niemand. Ich beneide die Frauen aus der Galerie, die alle Mütter hatten, auch wenn sie nicht immer die Besten waren. Mich trennen nur ein paar Schritte zum Unbekannten, das nicht mehr zu Docs Grundstück gehört. Und ein 5m großes weißes Tor, wo Sicherheitsleute stehen.

„ Hey, Bay!“, ertönt plötzlich eine Stimme. Einer der Sicherheitsleute winkt mir aufgeregt zu.

„ Hallo Tex.“, grüße ich zurück und bemühe mich um ein Lächeln. Tex ist auch seit er klein ist hier und zwei Jahre älter als ich.

Seine roten Haare stehen von dem Wind wild durcheinander und er strahlt über beide Ohren, als er mich sieht. „ Lange nicht mehr gesehen, Bay.“

„ Du meinst mit lange seit gestern?“, ich stecke meine Hände in meinen Manteltaschen, bevor sie abfallen. Nervös lächelt Tex und fährt sich durch die Haare. „ Haha, da hast du Recht.“, stellt er fest, „ Ich bin echt vergesslich.“ Er ist einer der wenigen Menschen, die wissen, dass es mich gibt.

Plötzlich ertönt die Glocke, die jedes Mal läutet, wenn der Doc mit allen seinen Bediensteten sprechen möchte. „ Oh Entschuldigung Bay, ich glaub ich muss dich alleine lassen.“ Tex klopft mir zum Abschied auf die Schulter. „ Viel Spaß noch.“ Autsch. Spaß? Das hatte ich schon lange nicht mehr. Ich weiß aber, dass er es nicht so böse oder sarkastisch meint, weshalb ich es einfach schnell vergesse. Meine Zähne fangen an zu klappern, sodass ich beschließe wieder reinzugehen.

Doch dann fällt mir etwas ein. Ich drehe mich um und sehe die unbewachte Tür, die mich davon abhält rauszugehen, in die Stadt. Natürlich ist mir bewusst, dass ich in null Komma nichts geschnappt werde, aber ein Versuch ist es doch wert oder? Die Laune des Docs ist mir momentan relativ egal. Hausarrest kann er mir nicht geben, das habe ich schon mein gesamtes Leben.

Langsam gehe ich zum Tor. Hier sind fünf Überwachungskameras, aber da die Besprechung stets im Foyer stattfindet, würde keiner mich entdecken. Vorsichtig schließe ich das Tor auf und betrete zum ersten Mal in meinen 16 Lebensjahren die Außenwelt.

 

2. Kapitel

 

Ich spüre die kalte Luft auf meiner Haut, die nach Freiheit riecht, nach der ich mich schon seit Jahren sehne. Jedoch überkommt mich auch eine leichte Angst, die meine Gefühle der Freude überdeckt. War das wirklich die richtige Entscheidung? Was, wenn der Doc Recht hat?

Ich schüttele meinen Kopf und versuche mich zusammenzureißen.

„ Du bleibst doch nur hier in der Nähe.“, beruhige ich mich selbst und hole tief Luft, „ Dann gehst du wieder nach Hause, ohne dass jemand bemerkt, dass du weg warst.“ Nervös lache ich und setze meine Kapuze auf, sodass meine langen Haare bedeckt wären. Solange ich nicht blute, können mich die Männer wahrscheinlich nicht mal von den Gynoiden vom Doc unterscheiden. Unsicher drehe ich mich in Richtung Stadt um und überlege, ob ich nicht doch einen kleinen Blick wagen soll.

Zu dieser Zeit sind – glaube ich – die meisten bei der Arbeit, sodass sie bis auf einige Leute leer sein müsste. Perfekte Voraussetzungen. Wenn ich gehen will, sollte ich mich auf jeden Fall jetzt entscheiden, bevor Tex und die anderen Sicherheitsleute mich fangen wollen.

„ Was machst du vor dem Anwesen der Neversons?“. Erschrocken schaue ich zu Boden, um mein Gesicht zu verbergen. Die Schritte der Person kommen näher und ich sehe ihren Schatten vor mir.

„ Geh lieber weg, bevor dich die Sicherheitsleute sehen.“, warnt sie mich, „ Die sind nicht besonders freundlich.“

Die Stimme weckt meine Neugier, sodass ich ein wenig aufschaue, um das Gesicht der Person zu erkennen. Ein großer Junge mit einer hellblonden Haaren, die ihn ins Gesicht hängen und dunkelbraunen Augen mustert mich interessiert. Er sieht wie alle anderen hier gut aus, aber nicht auf diese zu perfekte Weise. Sondern eher wie diese „Teeniestars“ vor dem Jahr 0. Ein leichtes Grinsen umspielt seine Lippen. Unglücklicherweise kommt eine Windböe, die meine Kapuze vom Kopf reißt und meine Haare wild durcheinander fliegen lässt. Hastig verstecke ich sie mir unter die Kapuze und will wegrennen, als eine Hand mich zum Stehen zwingt.

„Warte mal kurz.“, sagt der Junge mit seiner hellen Stimme und sieht mich skeptisch an. Zum ersten Mal in meinem Leben fange ich an zu schwitzen. Hoffentlich hat er das nicht bemerkt! Ich bin bereit dazu, ihn niederzuschlagen und in meinen Käfig renne. Ich schwöre es bei Gott – wenn es ihn wirklich geben sollte – dass wenn er mich diesmal am Leben lässt, ich nie wieder von Zuhause abhauen werde! Bis an mein Lebensende nicht!

Bevor ich mich befreien wollte, fragte er mich jedoch völlig überraschend: „ Bist du eine neue Version von Neversons Gynoiden?“. Der Junge strahlt mich an. Seine Augen leuchten vor Erregung. Ich atme auf. Er weiß es zum Glück nicht! Zur Antwort nicke ich ihn. Endlich lässt er meinen Arm los und sprudelt vor Begeisterung nur so los: „ Ich bin ein Riesenfan von Doctor Neverson! Seine Erfindungen sind einfach nur genial! Und du bist ein Meisterwerk!“, er kneift mir in die Wangen bis es höllisch wehtut, „ Du bist der hübscheste Gynoid, den ich je gesehen habe! Selbst deine Haut ist so weich wie die eines echten Menschen!“.

Wie ein kleines Kind, das etwas Unbekanntes sieht, geht er um mich herum und begutachtet ich mich von allen Seiten. Mir gefällt das nicht, dass er mich wie ein Gegenstand anglotzt, sodass ich verlegen zu Boden blicke. „ Kannst du bitte damit aufhören?“

„ Oh sorry, das tut mir so leid.“, er kratzt sich am Nacken und lächelt entschuldigend, „ Ich wollte dich nicht so anstarren, aber es ist nur – ich möchte den Doc so gerne ein paar von meinen Erfindungen zeigen, aber die Sicherheitsleute lassen mich nie durch! Andauern komme ich mit einem blauen Auge davon!“. Oh Mann, der Doc hat echt verrückte Freaks als Fans. Sogar einen Stalker wie ihm hier. Langsam kann ich verstehen, wieso der Doc die Außenwelt für so gefährlich hält. Zumindest für ihn. Innerlich muss ich ein wenig schmunzeln.

„Wie alt ich bist du?“, frage ich den Jungen und schätze ihn nicht viel älter als ich ein. Vielleicht sogar jünger.

„ Siebzehn.“ Also nur ein Jahr. „ Ich bin Noah und wie heißt du?“ Noah reicht mir seine Hand, die ziemlich groß sind.

„ Ich heiße-“, bevor ich es ihm sagen konnte, unterbricht er mich auch schon wieder.

„ Ah warte, deine Nummer meine ich. Du bist ja noch neu.“

„ Bay Clambert.“ Ich schüttele ihm die Hand.

„ Ist das dein Name? Bay?“

Ich nicke.

„ Bay wie Baby, Bagel…Bay. Ungewöhnlich, aber schön. Die meisten Gynoide, die ich kenne, heißen Mary oder Sophie. Ganz gewöhnliche Namen.“ Anders als die meisten Menschen hier trägt er keine schwarzen oder weißen Sachen, sondern eine abgewetzte grüne Lederjacke mit einem blauen Shirt drunter und einer langen beigen Hose. Noah ähnelt tatsächlich den Jungs vor dem Jahr 0.

„ Was ist ein Bagel?“ Ich überlege, was das sein könnte. Etwas zum Anziehen? Oder zum Essen?

„ Etwas wie ein Donut, nur dass es wie Brot ist von der Struktur her. Mit Frischkäse ganz lecker.“, erklärt er mir. Ich bin so fasziniert davon eine Person kennenzulernen, die außerhalb des Anwesens lebt, sodass ich die Zeit ganz vergesse. Was schlecht ist.

Ich höre das Aufreißen des Tores und sehe einen Tex mit hochroten Kopf dastehen. Er scheint ziemlich aufgewühlt und wütend zu sein.

„ Geh sofort wieder rein, Bay!“, schreit er mich an und ich schrecke zusammen.

„ Und du! Dir habe ich doch schon oft eine Lektion erteilt!“, Tex wendet sich an Noah, der ein wenig verängstigt aussieht, „ Heute hast du es eindeutig zu weit getrieben!“. Schützend stellt er sich vor mich und breitet seinen muskulösen Arm aus.

„ Was passiert jetzt mit ihm?“ Ich werfe Noah einen Blick zu, der ‚Lauf weg!‘ sagen soll, doch dieser scheint von Tex ganz eingeschüchtert zu sein und rührt sich nicht einen Meter vom Fleck.

Tex beruhigt sich wieder ein wenig und antwortet.

„ Er hat dich gesehen. Wir dürfen ihn nicht am Leben lassen. Befehl vom Doc!“, er greift zur Pistole, die an seinem Gürtel hängt. Nein! Das darf er nicht tun!

Ohne zu überlegen greife ich nach Noahs Hand und ziehe ihn hinter mir her. „ RENN!“, brülle ich so laut ich kann, um ihn aus seinem Trancezustand zu wecken. Es funktioniert wirklich. Noah blinzelt ein paar Mal verwirrt und läuft mit einer so unglaublichen Geschwindigkeit, dass ich bald diejenige bin, die hinter ihm herrennt.

„ Ich wusste gar nicht, dass Doctor Neverson sowas tut, um seine neueste Erfindung geheim zu halten!“, stellt er fest während er gut fünf Meter Vorsprung vor mir hat. Ich bekomme Seitenstechen und Atemnot. Klar für jemanden, der noch nie in seinem Leben gerannt ist. Ich hatte ja auch noch nie einen Grund dazu gehabt!

Japsend nach Luft bleibe ich stehen und stütze mich auf meine Knie. Mit einem kurzen Blick nach hinten bemerke ich, dass uns gut alle Sicherheitsleute des Anwesens verfolgen. Tex ganz vorne.

Noah stoppt und kommt zur mir zurück. „ Alles in Ordnung?“, fragt er mich besorgt. Seine Wangen glühen rot und auch er schnappt nach Luft wie ich. „ Keine Sorge, Bay. Nur noch ein paar Meter bis zu meinem Windforce.“

„Wind- was?“ Ich spüre Noahs warme Hand, die meine sicher umklammert und folge ihm. Warum? Ich muss doch nicht weglaufen. Hinter mir sind die ganzen Leute, die sich um meine Sicherheit sorgen, das Beste für mich wollen! Erneut bleibe ich stehen und befreie mich aus seinem Griff. Noah schaut mich verwundert an.

„ Du solltest lieber verschwinden, Noah. Schließlich wollen sie dich töten, nicht mich. Sie wollen nur meine Sicherheit.“ Der erste Mensch, den ich außerhalb meines Käfigs getroffen habe, sollte nicht sterben! Nicht wegen meiner Dummheit!

„ Aber-“

„Nein, mir geht es da gut und jetzt geh!“. Ich höre bereits Tex und die Andern, die vielleicht nur noch 20m von uns entfernt sind.

„ Versprich mir, dass die dich nicht auseinanderbauen oder so!“ Ohne ihm eine Antwort zu geben, drehe ich mich um und gehe zurück.

„ Da ist der Mistkerl!“, brüllt Tex und richtet seine Pistole auf Noah. Bevor ich weiß, was ich eigentlich mache, höre ich einen Schuss und bemerke den Schmerz in meiner rechten Schulter. Alles um mich herum wird schwarz.

 

3. Kapitel

 

„ Ist sie schon wach?“. Docs vertraute Stimme klingt in meinen Ohren. Meine Augenlider sind schwer, weshalb ich sie einfach geschlossen halte und so tue, als ob ich schlafe. Eine Welle von Angst überkommt mich, ich möchte nicht Docs enttäuschtes Gesicht sehen. Er wird bestimmt sehr wütend auf mich sein. Dieses Mal bin ich eindeutig zu weit gegangen!

„ Die Kugel hat sie nur gestreift. Eine kleine Wunde.“ Irgendjemand reibt mir etwas Kühles auf die schmerzende Stelle und verbindet sie anschließend. Ein wohliges SEufzen entweicht meiner trockenen Kehle. „Es war wohl nur der Schock.“

Ich spüre Docs große Hand, die meine Haare aus dem Gesicht streicht. „ Was für ein Glück.“

Seine Stimme klingt überhaupt nicht zornig, wenn ich mich nicht irre sogar ein wenig erleichtert, was mich unheimlich beruhigt.

„ Was machen wir mit dem Jungen?“ Sofort werde ich innerlich wach.

Der Doc schweigt eine Weile. „ Er hat sie gesehen. Aber das Schlimmste war, dass er sie bluten gesehen hat. Ich habe wohl keine andere Wahl als ihn-“

„ NEIN!“, unterbreche ich ihn und richte mich so schnell auf, dass alles vor meinen Augen verschwimmt. Ich stütze meinen Kopf auf meine Hand.

„ Leg dich wieder hin.“, sagt der Doc bestimmt. „ Du solltest noch nicht aufstehen.“

„ Du darfst ihn nicht töten!“, verzweifelt ziehe ich an seinen Ärmel und schaue ihn flehend an,

„ Du darfst keinen Menschen töten wegen mir!“ Er hockt sich langsam hin, sodass er mir direkt in die Augen sehen kann. Zum ersten Mal bemerke ich, wie blau seine Augen sind. So blau wie der Himmel, den ich heute gesehen habe. Wunderschön.

„ Was soll ich dann tun?“, fragt er mich leise und dreht einer meiner Haarsträhnen um seinen Finger, „ Wie kann ich dich beschützen, wenn er es den Andern weitererzählt?“. Mein Herzschlag erhöht sich, ein unbekanntes Gefühl, das ich zuvor noch nie gespürt habe.

„ Ich weiß es nicht.“, flüstere ich, nicht im Stande, mich von seinen Augen loszureißen. Verwirrt schließe ich meine Augen, um mich zu beruhigen.

„ Wo ist er?“ Ich versuche, ruhig zu klingen, obwohl ich innerlich immer noch aufgewühlt bin.

Der Doc steht wieder auf und geht zum Fenster. Der andere Mann aus dem Raum ist bereits gegangen.

„ In meinem Büro mit Tex.“, erwidert er ohne mich anzugucken. „ Mit Tex?“ Meine Stimme ist nur noch ein leises Hauchen. „ Er hat mich nicht mit Absicht angeschossen!“, versuche ich zu erklären. Meine Finger krallen sich in die Bettdecke.

„ Ich weiß doch“, eine leichte Falte bildet sich zwischen Docs Augenbrauen. Er hat einen Ausdruck im Gesicht als hätte er Kopfschmerzen. „ Ich möchte ihn nur nach den Vorfall genauer befragen.“

Erleichtert atme ich auf. Zumindest ist Tex erstmal in Sicherheit. Fehlt nur noch Noah, der jetzt wahrscheinlich total verängstigt und eingeschüchtert von Text im Büro des Docs hockt.

Entschlossen nehme ich all meinen Mut zusammen, um den Doc zu fragen.

„ Kann ich ihn sehen? Den Jungen?“ Der Doc dreht sich wieder zu mir um. Seine Augen sind leer, blau wie ein trüber Ozean an einem grauen Tag. Er sagt nichts, aber nickt. Ich wundere mich, dass er nichts dagegen einzuwenden hat. Dann kommt er an mein Bett, um mir beim Aufstehen hoch zu helfen. Meine Schulter schmerzt ein wenig als ich den ersten Schritt mache.

„ Tut es noch weh?“ Ich weiß heute wirklich nicht, was mit mir los ist, aber ich kann ihn einfach nicht in die Augen sehen ohne dass mein Herz wie verrückt klopft. Statt einer Antwort schüttele ich einfach meinen Kopf und folge ihn schweigend hinterher. Nach gefühlten zehn Stunden voller Stille erreichen wir schließlich das Büro des Docs. Ich war bis jetzt nur einmal da drin, als ich noch ganz klein war. Ich erinnere mich noch daran, wie er mit einem Jungen sprach, vielleicht vier Jahre älter als ich. Der Doc schickte mich sofort raus, als er mich entdeckte und verbat mir, nie wieder hinein zu gehen. Seitdem versuche ich ständig, das Gesicht des Jungen in mein Gedächtnis zu rufen, doch es gelingt mir nicht. Warum war der Doc damals nur so sauer?

Mit einer eleganten Bewegung öffnet der Doc die Tür. Noah und Tex sitzen zusammen auf einer kleinen schwarzen Couch mit einem silbernen Gestell. Das Büro sieht völlig anders aus als in meinen Erinnerungen. Statt Gold und Rot ist hier nun alles in schwarz und weiß. Riesige Regale voller Bücher stehen an den Wänden und ich frage mich, ob der Doc sie schon alle gesehen hat.

„ Bay!“, rufen Tex und Noah gleichzeitig aus einem Mund. Tex stürmt nach vorne und kniet sich vor mir hin. „ Lass das, steh auf!“, bitte ich ihn verzweifelt an, weil es mir zu peinlich ist. Er geht jedoch nicht darauf ein und bleibt stur vor mir knien.

„ Nein, nicht bis du mir vergeben hast! Es tut mir so leid! Ich sollte dafür entlassen werden, getötet werden oder noch schlimmer! Statt dich zu beschützen habe ich dich sogar verletzt!“

Mir kommen Tränen in die Augen. Ist es wirklich wert, dass so viele Menschen sich für mich einsetzen und sich auf solcher Weise demütigen? Tex war immer mein Freund, einer dem ich vertrauen kann und nun macht er sich wegen einen Unfall so verrückt!

„ Hör zu Tex, es ist alles in Ordnung. Ich war nie sauer auf dich. Steh bitte auf und mach die keine Vorwürfe!“ Endlich richtet er sich auf. Seine Augen sind rot und geschwollen, als ob er stundenlang geweint hätte. Was er bestimmt auch getan hat.

„ Kannst du bitte mit dem Doc rausgehen? Ich mich möchte mit Noah alleine unterhalten.“ Ich schaue zum Doc hinüber, um in seinem Gesichtsausdruck ablesen zu können, ob es in Ordnung ist.

Er sieht mich skeptisch an, nickt aber anschließend. Beide gehen raus und lassen mich mit Noah alleine.

 

Noah sitzt steif da und beobachtet jede meiner einzelnen Bewegungen. Er erscheint mir kühl und distanziert, auch wenn die Angst in seinen Augen erkennbar ist. Nichts ist mehr da von dem freundlichen und lockeren Jungen, den ich am Morgen begegnet bin. Ich setze mich in den Sessel gegenüber von ihm hin und räuspere mich.

„ Hör zu, es tut mir leid.“ Ich weiß nicht, was ich in dieser Situation sagen sollte.

„ Bist du wirklich ein Mädchen? Ein echtes Mädchen?“

„ Ich-“ Seine braunen, dunklen Augen beunruhigen mich. Ich kann mein eigenes Spiegelbild darin sehen. „Ja.“

Ein kaltes Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. „ Ich weiß echt nicht, was ich dazu sagen soll.“

„ Bitte erzähle niemanden etwas davon!“, flehe ich ihn an.

Noah verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich nachdenklich.

„ Kann ich nicht, auch wenn ich es wollen würde. Heute Abend werde ich nicht einmal in Stande sein zu atmen. Ich genieße gerade meine letzten Stunden“, das Grinsen verschwindet aus seinem Gesicht, „ bevor mich Doctor Neverson kalt macht.“. Seine letzten Worte bleiben in der Luft hängen. Ein Kloß steckt mir im Hals und ich bringe kein Wort heraus.

„ I – ich sorge dafür, dass er dich fr – freilässt.“, stammele ich hervor, „ Wenn du niemanden von mir erzählst. Das verspreche ich dir.“ Erneut schweigen wir beide eine Weile.

„ Beantwortest du mir wenigstens ein paar Fragen, egal ob ich sterbe oder nicht?“ Ich schaue in sein Gesicht, das nicht mehr so kühl erscheint. Seine Augen senden wieder die Wärme aus, die ich am Morgen gesehen habe.

„ Natürlich. Was möchtest du wissen?“ Als er meine positive Antwort hört, lächelt er und beugt sich leicht nach vorne.

„ Gibt es noch andere echte Mädchen oder Frauen außer dir?“

„ Nein, soweit ich weiß, bin ich jetzt die einzige.“

„ Kann die Menschheit wieder gerettet werden?“

„ Das weiß ich nicht.“

„ Wer ist dein genetischer Vater?“

„ Das weiß ich nicht.“

„ Hat dich Doctor Neverson erschaffen?“

„ Das weiß ich nicht.“

Noah hört auf zu fragen, wahrscheinlich weil ich keine hilfreichen Antworten geben kann. Er blickt auf das überdimensionale Bücherregal. Falls er wirklich heute Abend sterben sollte, werde ich es sicher bereuen.

„ Okay, eine letzte Frage. Ich hoffe, dass du auf die eine Antwort hast.“ Noah holt tief Luft bevor er fortfährt. „ Warum hast du mich beschützt? Warum Bay?“

Ich möchte nicht wieder sagen, dass ich es nicht weiß, obwohl es dieses Mal hundertprozentig zutrifft. „ Du hättest mich einfach sterben lassen sollen. Dann wäre deine Existenz nie in Gefahr gewesen.“ Ich überlege, was ich sagen soll. Ein unangenehmes Gefühl beginnt sich in meiner Brust auszubreiten. Irgendwie kann ich es mir selbst nicht erklären, wieso ich ihn nicht einfach sterben gelassen hatte. Auf einmal erschien mir es vollkommen sinnlos, dass ich mich für ihn geopfert habe. „ Hast du dich..in mich verliebt?“. Mein Herz bleibt stehen und ich schaue ihn geschockt an. Was hat er gerade eben gesagt? Verliebt?

„ Bilde dir jetzt bloß nichts ein…“, beginne ich, „ ehrlich gesagt, weiß ich es auch diesmal nicht. Vielleicht lag es daran, dass du der erste Mensch aus der Außenwelt bis, dem ich begegnet bin. Vielleicht weil du so nett und naiv warst. Aber vielleicht hätte ich dich wirklich lieber sterben lassen sollen.“ Ich stehe auf, weil ich das erdrückende Gefühl in meiner Brust nicht mehr aushalte. Wie kann er nur so gelassen sein, wenn er möglicherweise bald stirbt? Und wieso kann ich ihm seine letzte Frage nicht beantworten? War es etwa nur Dummheit für eine Sekunde? Ich ärgere mich darüber, dass ich mir solche Sorgen um ihn gemacht habe. Unnötig, denn ich kenne ihn doch kaum. Besser wenn er stirbt, so bin ich nicht mehr in Gefahr. Bevor ich die schwarze Tür erreiche, höre ich seine klare Stimme hinter mir.

„ Ich bin froh, dass ich der erste Mensch von außerhalb bin, dem du begegnet bist.“

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Tag der Veröffentlichung: 12.09.2015

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