Ein Schweißtropfen lief mir die Stirn hinab. Das Gewicht des Wasserkruges auf meinem Kopf war kaum auszuhalten, denn es war so heiß, dass ich mir am liebsten das ganze Wasser über den Kopf geschüttet hätte. Doch das wäre wohl keine gute Idee gewesen, schließlich musste es für einen ganzen Tag reichen. „Lali!“, hörte ich die Stimme meines Bruders Murali hinter mir, „warte auf mich!“ Ich blieb stehen. Auch er hatte einen Wasserkrug auf dem Kopf und trottete hinter mir her. Auch wenn der Krug nur halb so groß war, wie meiner, konnte ich ihm ansehen, dass er ziemlich fertig war. „Wir haben es bald geschafft!“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Nach einer Zeit sah ich schon das Ortsschild: “Tekur“ Das war mein Zuhause, ein kleines Dorf im Norden von Indien.
Ich stellte den Krug mit Wasser in die Küche und zog Murali die Sandalen aus, die er vor einigen Wochen zum vierten Geburtstag bekommen hatte. Eigentlich könnte man von einem Jungen von vier Jahren erwarten, dass er schon in der Lage ist, sich die Schuhe selbst auszuziehen, doch nach unserem Wag zur Wasserstelle, war er meist so erschöpft, dass er fast im Stehen einschlief. Aber nicht nur er, sondern auch ich war so müde, dass wir uns beide in mein Bett legten, um noch ein wenig zu schlafen.
Jeden Morgen müssen wir um sechs Uhr aufstehen, um Wasser für die Familie zu holen; der Teil des Tages, den wir am meisten hassen. Als ich wach wurde, lag Murali immer noch in meinem Bett und schnarchte. Ich beobachtete ihn, denn im Schlaf fand ich ihn besonders niedlich. Seine schwarzen Haare waren nass geschwitzt und eine fette Fliege landete auf seiner Stupsnase. Nachdem ich sie verscheucht hatte, stand ich auf, schlüpfte in mein verschmutztes Kleid und schlich in unser kleines Bad. Unser Haus besteht aus vier kleinen Zimmern. Das Schlafzimmer meiner Eltern, ein winziges Bad, mein Zimmer mit Bett und Kleiderschrank, und gleich nebenan, die Küche, in der Murali eigentlich immer auf einer dünnen Matratze am Boden schläft. Manchmal tappst er mitten in der Nacht zu mir und kuschelt sich unter meine Bettdecke. „Kommst du bitte, Lali!“, rief meine Mutter Xandra aus der Küche. Ich legte den Kamm beiseite, mit dem ich mir eben mein langes, dunkles Haar gekämmt hatte und lief zu ihr. Xandra stand in der Küche mit mehligen Fingern und backte wie jede Woche Fladenbrot. „Guten Morgen, mein Liebling!“, sagte sie und putze ihre dreckigen Finger am Rock ab, „heute Nachmittag kommen deine Großeltern, sie bleiben bis morgen, um dir zu gratulieren.“ Verdutzt schaute ich sie an. „um mir zu gratulieren?!“, fragte ich, „ach ja morgen hab ich meinen sechzehnten Geburtstag, das hätte ich fast vergessen.“. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, auch wenn ich meine Großeltern liebe, bedeutet ihr Besuch immer Stress pur. Das ganze Haus muss auf Hochglanz gereinigt werden und mein Opa Deven durchlöchert mich mit Fragen. Wann wirst du denn endlich heiraten? Hilfst du deiner Mutter auch brav im Haushalt? Kümmerst du dich auch immer um Murali? Im Gegensatz zu ihm ist meine Oma Chandra immer voller Sorge um mich, denn seitdem ich vor einem Jahr mit der Dorfschule fertig geworden bin, muss ich sehr viel für meine Familie arbeiten. Demnach kann man nicht behaupten, dass wir sehr viel Geld haben. Im Gegenteil wir sind ziemlich arm und da meine Mama noch ein Kind erwartet, kann ich mich auf noch anstrengendere Zeiten gefasst machen. Eins steht fest, so gern ich Deven und Chandra hab, ich bin froh, wenn sie wieder weg sind. Das einzige gute an meinem Geburtstag ist, dass mein Papa Salim, der jeden Tag auf einer Kaffeeplantage arbeitet, ein wenig früher nach Hause kommt.
Ich knallte die Tür hinter mir zu und lief auf den Dorfweg. Endlich war ich fertig mit Putzen und hatte ein wenig Zeit für mich. Also schlenderte ich den Weg entlang, grüßte links und rechts die Nachbarn und setze mich schließlich in den Schatten unter einen Baum. Mit meinen schmutzigen Fingern nahm ich einen Stock und schrieb undefinierbare Zeichen in den Kiesweg. Das war der angenehmste Moment des Tages, einfach nichts tun und rumsitzen. Als ich so verträumt da saß und über Gott und die Welt nachdachte, hörte ich plötzlich ein Geräusch hinter mir. Hastig drehte ich mich um und da stand er. Ein kleiner fiepender Hund mit Schlappohren, der mich mit treuen Augen ansah. Langsam bückte ich mich und schnalzte leise mit der Zunge. Der Hund tastete sich langsam vor und ich konnte erkennen, dass es ihm nicht ganz Geheuer war. Nachdem er nach langem Zögern endlich bei mir saß und sich streicheln ließ, wünschte ich mir nichts sehnlicher als, dass ich dieses süße Ding für immer behalten durfte. Ich kraulte den Hund noch eine ganze Weile, doch ehe ich nach Hause gehen konnte, fing es fürchterlich an zu regnen. Diesen Regen nennt man in Indien Monsum, er dauert ungefähr von Juni bis September und bringt ergiebige Niederschläge. Ohne großem Nachdenken klemmte ich mir den Hund unter den Arm und rannte so schnell wie möglich nach Hause. Als ich klitschnass in der Haustür stand, war meine Mutter natürlich nicht sehr begeistert und als sie dann auch noch den kleinen Hund vor mir her in die Küche hecheln sah, war sie völlig genervt. „Was wir das jetzt?“, schimpfte sie. Doch ehe sie fortfahren konnte, klopfte es an die Tür. Xandra öffnete sie und ich konnte nur die gequälten Gesichter meiner Großeltern sehen, die ebenfalls nass waren. Schmunzelnd eilte ich mit dem Hund in mein Zimmer legte ihn ins Bett und verriegelte die Tür. Ein Glück, dass Oma und Opa nichts bemerkt hatte, sonst gäbe es schon in den ersten paar Minuten Ärger. Wieder in der Küche angekommen, drückte ich Chandra und Deven ein Küsschen auf die Wange und grüßte sie ganz herzlich. Doch beide schwiegen und starrten in der Gegend herum. „Alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt. Daraufhin stammelte Oma: „Der Hund! Der arme Hund!“ Meine Mutter warf mir einen verärgerten Blick zu. Hatten sie etwa doch was bemerkt? Nach einiger Zeit fand auch Opa die Worte wieder: „Es tut uns leid, Lila, dein Geburtstagsgeschenk ist spurlos verschwunden!“ Nach reichlicher Überlegung, ging auch mir ein Licht auf: „Hund?! Geschenk?!“ Schnell flitzte ich zu meinem Zimmer und ließ den Hund, der wahrscheinlich ein Labradorwelpe war, heraus. „Meint ihr den kleinen Ausreißer?“, fragte ich Chandra und Deven stolz. Der Welpe tapste in die Küche und als sie ihn sahen, fingen sie an zu strahlen. „Hallo Rahul, jetzt hast du dein Frauchen ganz allein gefunden!“, erklärte Oma überglücklich. „Das Gratulieren verschieben wir dann auf morgen, sonst bringt es Unglück!“, erwiderte Opa. Typisch Deven, denn er ist sehr abergläubisch. Ich freute mich riesig über den kleinen Rahul, aber nicht nur ich sondern auch Murali hat große Freude an ihm. Nachdem ich mich bei den Großeltern bedankt hatte, fing ich an indischen Tee für alle zu kochen.
Am Abend meines Geburtstages machte ich einen Spaziergang mit Rahul. Wie in den letzten Jahren war ich froh diesen besonderen Tag so gut überstanden zu haben und wie ich es bereits geahnt hatte, musste ich die ziemlich unangenehmen Fragen meines Opas beantworten. Obwohl es immer noch heiß war, was in Indien nichts Ungewöhnliches ist, benötigte ich noch ein wenig Freizeit und Rahul seinen Auslauf. Deshalb lief ich weit hinaus in Richtung Dorfende, zu weit, würde meine Mutter sagen, denn sie mochte es nicht, wenn ich zu den Gebieten der Reichen kam. Sie behauptet immer, Reiche wären geizig, arrogant und egoistisch. Doch ich konnte das nie richtig glauben. Hier, am Rande von Tekur standen riesige Villen mit Pools und traumhaften Gärten. Auf dem Weg zum Wasserholen komme ich immer hier vorbei. Ich muss mir die Füße für wenige Liter Wasser wund laufen und diese Menschen müssen nicht einmal zehn Meter gehen, um ihren Durst zu stillen. „Die Welt ist ungerecht!“, murrte ich. Neugierig betrachtete ich eine Villa nach der anderen und da sah ich ihn.
Ein halbes Jahr wohnten wir nun schon in unserer Villa am Rande von Tekur. Doch der Reichtum, den mein Vater Balu als Rechtsanwalt in all den Jahren angesammelt hatte, spielte für mich keine Rolle. Meistens war ich allein, denn Balu musste fast jeden Tag arbeiten und meine Mama, war vor vielen Jahren an Krebs gestorben. Seit diesem Zeitpunkt ist mein Vater noch viel strenger geworden, und obwohl ich immerhin schon 17 Jahre bin, zeigt er keinerlei Respekt. Ich habe das Gefühl er lebt nur noch für seine Karriere und ich bin in seinen Augen einfach nur ein Kind, das auf ihn hören muss und die Schule mit einem perfekten Abschluss beenden soll. Ich durfte nicht mit den ärmeren Menschen reden, und er hatte mir jeglichen Umgang mit ihnen verboten. In Indien gibt es einen starken Kontrast zwischen arm und reich. Die Reichen verachteten die armen Menschen, weil sie ihnen überlegen sind. Und die Armen schämen sich gegenüber den reichen Menschen, aufgrund ihrer niedrigen Lebensbedingungen. Ich wollte schon immer ganz normal und friedlich mit diesen Menschen leben, doch dazu müssten erst mal all diese feindlichen Gemüter aus der Welt geschafft werden und das, war alles andere als leicht. Wieder einmal saß ich gelangweilt mit meinem Geographiebuch in der Hand auf den Stufen vor dem Gartentor und glotze in die Zeilen. Ich hatte nicht wirklich gelernt, aber nur so blieben mir die dummen Kommentare meines Vaters erspart. Er stand mit einer Fernbedienung in der Einfahrt und zeigte auf das Geragentor, das sich langsam und mit leichtem quietschen hob. Er hatte gestyltes Haar, trug einen Smoking, Lackschuhe, eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern und ich roch sein Aftershave, trotz des großen Abstands sehr deutlich. Nachdem er in den weißen Porsche gestiegen war und ruckartig aus der Garage gefahren war, ließ er das Fenster runter und rief mir zu: „Vergiss ja nicht das Tor zu ölen!“ Das war das einzige was er noch sagte und daraufhin düste er mit voller Geschwindigkeit davon. Er war auf dem Weg nach Neu-Delih und von dort musste er auf eine Geschäftsreise in die USA fliegen. „Was für eine nette Verabschiedung!“, dachte ich und legte das Schulbuch beiseite. Ein Glück, dass ich Ferien hatte und deshalb auch keine Prüfung anstand. Genervt blickte ich in Richtung Dorfstraße und dort fiel mir ein Mädchen auf, ungefähr so alt wie ich, das mit einem Hund in mitten des Weges stand.
Sie war wunderschön. Sie hatte ihre schwarzen, langen Haare zu einem Zopf geflochten, sie trug ein rotes, kurzes Kleid und als sie mich sah, färbten sich ihre Wangen zartrosa. Ihr Anblick verzauberte mich, ich wollte und musste mehr über sie erfahren. Am liebsten wäre ich sofort zu ihr gerannt, doch was würde mein Vater dazu sagen? Ich war mir sicher, dass er mir eine gewaltige Ohrfeige verpassen würde, denn mir war klar das Mädchen stammt aus einer armen, indischen Familie und deshalb blieb ich stumm auf den Stufen sitzen und versuchte mich wieder auf Geographie zu konzentrieren. Sie lächelte. Und auch ich lächelte zurück. Ich beobachtete sie noch eine Weile und als es langsam anfing zu regen, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Doch bevor sie wegging, lächelte sie mir noch einmal zu. Ich ging ins Haus.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, war ich in Gendanken bei dem Mädchen vom Vortag, obwohl ich es gar nicht kannte. Gemütlich schlenderte ich in den Garten. Und ich traute meinen Augen kaum, sie lief an meinem Gartentor vorbei. Ein leerer Krug baumelte auf ihrem Kopf und hinter ihr lief ein kleiner Junge. Leise schlich ich aus dem Garten auf die Straße und versteckte mich hinter dem nächsten Baum. Als der Abstand zwischen ihnen und mir wieder größer war, rannte ich ihnen nach. Ich konnte mir vorstellen, wie anstrengend es sein musste bei dieser Hitze auch noch Wasserschleppen zu müssen. Nachdem ich den langen Weg unbemerkt hinter ihnen gegangen war, kamen wir endlich an der Wasserstelle an. Es war ein Fluss und ich bedauerte all die Menschen, die dieses Wasser trinken mussten. Heimlich legte ich mich ins hohe Gras, so dass ich sie gut im Blick hatte. „Murali! Komm und bring mir deinen Krug, bitte!“, rief sie dem kleinen Jungen zu. Ich glaube, dass das ihr Bruder war. Ihre Stimme hörte sich wunderbar an und auch heute sah sie wieder sehr toll aus. Mit einem flauem Gefühl legte ich meinen Kopf ins Gras und lauschte dem Klang ihrer Stimme. Doch plötzlich wurde ich aus meinen Träumen gerissen, denn das Mädchen schrie. Sie schrie um Hilfe. Ich sah noch wie der kleine Junge weinend davonlief und dann begann ich zu rennen, so schnell ich konnte. Als ich endlich am Fluss ankam, sah ich es. Das Mädchen war in den Fluss gefallen und schrie und paddelte, wie wild geworden. Sie versuchte mir ihre Hand zu reichen. Doch zu spät, unsere Arme waren zu kurz und so ging sie unter. Ohne zu zögern sprang ich hinter her, tauchte unter und suchte sie. Doch das Wasser war zu unklar ich konnte sie nicht sehen. Die Zeit wurde knapp und ich befürchtete das Schlimmste. Ich versuchte mich am Grund des Flusses entlang zu tasten. Ich spürte Wasserpflanzen, Dosen, Scherben und alles möglich, aber keinen menschlichen Körper! Nichts! Sie war weg! Da ich Atemnot hatte, schwamm ich an die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, und wenn ich sie nicht in den nächsten zehn Minuten finden würde, wäre sie bestimmt nicht mehr am Leben. Eine fürchterliche Vorstellung. Also tauchte ich wieder unter, doch mit jeder Sekunde, die verging wurde meine Hoffnung, die ich noch hatte kleiner! Wo war sie bloß? Ich wollte gerade aufgeben, da spürte ich ihren Körper, er war eiskalt und bewegte sich nicht. Schnell zog ich sie hoch und versuchte an Land zu schwimmen, doch durch das Gewicht wurden wir immer wieder nach unten gezogen. All meine Kraft nahm ich zusammen und dann die Rettung, eine Wurzel die vom Land ins Wasser ragte, ich packte nach ihr und zog uns an Land. Erschöpft stand ich auf, zog mein Hemd aus und legte es dem Mädchen unter den Kopf. „Bitte wach auf!“, flüsterte ich und strich ihr sanft über die Stirn. Sie war bewusstlos. Immer wieder streichelte ich ihr mit der Hand übers Gesicht und lauschte nach ihrem Herz. Immerhin es pochte. Ich legte sie so hin, dass ihr Kopf in meinem Schoß lag. „Bitte nicht sterben!“, rief ich. Und dann schlug sie endlich die Augen auf.
Als ich ihn sah, bekam ich weiche Knie. Er hatte mich gerettet. Seine schwarzen Augen, schauten mich besorgt an. Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Sind das die Schmetterlinge im Bauch, von denen in Büchern immer die Rede ist? „Bist du ok?“, fragte er mich voller Sorge. Im Flüsterton sagte ich: „Ja, dank dir!“ „Keine Ursache!“, antwortete er. Ich lag in seinem Armen, er hielt mich ganz fest, um mich zu wärmen und er streichelte meine Stirn. Wie ein verliebtes Paar lagen wir da, obwohl wir uns gar nicht kannten. Trotzdem fühlte es sich extrem gut an. „Wie heißt denn mein Retter?“, wollte ich wissen. „Mani. Und du?“, erkundigte er sich. „Lali!“, erklärte ich ihm. „Schöner Name!“, sagte er und strich mir sanft mit einem Finger über die Nasenspitze. Er sah unglaublich gut aus mit seinen schwarzen Augen, den dichten Haaren und den vollen Lippen, außerdem hatte er einen durchtrainierten Körper. Eine ganze Weile lagen wir noch so da und redeten über unser Leben in Indien. Er ist ein Reicher, doch das ist mir ganz egal. Immer wieder lächelten wir uns an. „Lali! Lali! Wo bist du?“ Es war die Stimme meines Vaters. „Mani, du musst dich verstecken, sonst sieht er dich!“, flüsterte ich ihm zu. Schnell stand er auf, nahm sein Hemd, und lief davon. Wie versteinert blieb ich liegen, es hatte sich alles so wunderschön angefühlt. „Da bist du ja, mein Kind! Bist du verletzt?“, rief mein Vater und rannte auf mich zu, „was ist denn passiert?“ „Ich bin in den Fluss gefallen, aber ich konnte mich an einer Wurzel wieder rausziehen.“, so erzählte ich es ihm. Es war natürlich eine Lüge, denn Mani war mein Retter. Mein Vater war von meiner Mutter alarmiert worden, nachdem Murali ihr von meinem Unfall erzählt hatte. Stützend brachte Salim mich nach Hause.
Dauernd musste ich an ihn denken. Inzwischen war es Abend geworden, ich lag sehr erschöpft im Bett und starrte an die Decke. Ob er wohl an mich denkt? Ich hatte gespürt, dass er anders war, als alle andern Reichen, er war so hilfsbereit, so freundlich… Bei ihm füllte ich mich geborgen. Ich nahm mein Kissen und drückte es fest an mich. Der Wind pfiff durch mein Fenster, so dass es immer wieder auf und zu schlug. Plötzlich bekam ich einen Schreck, denn ich spürte etwas Kühles am Rücken. Erschrocken drehte ich mich um. Rahul hatte seine kalte Nase an mich gepresst und schaute mich mit dem süßesten Hundeblick an, den man sich vorstellen kann. Mit Anlauf sprang er auf mein Bett und ließ sich neben mir ins Kissen plumpsen. „Hast du mich jetzt erschreckt!“, sagte ich zu ihm und kraulte ihm den Nacken. Es dauerte lange bis ich endlich eingeschlafen war und Rahul blieb die ganze Nacht bei mir.
Der nächste Morgen, war anders als alle andern. Meine Mutter musste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus, denn unser Geschwisterchen war unterwegs. Mein Vater war total aufgeregt, stopfte sich ein Stück Fladenbort in den Mund und brachte Xandra in unser altes, klappriges Auto vor der Tür. Wir fuhren nur selten weg, deshalb hatten sie Glück, dass es überhaupt Benzin hatte. „Bitte passt gut auf euch auf!“, schrie er, aber man konnte ihn aufgrund des lauten Motors kaum verstehen. Murali war etwas verwirrt und starrte mich mit traurigem Blick an. „Kommen die bald wieder?“ „Ja, in ein paar Tagen sind sie wieder hier und solange bin ich deine Mama!“, versuchte ich ihn aufzuheitern. Dann nahm ich ihn an der Hand und führte ihn ins Haus. Der Monsum hatte uns in den letzten Tagen ausreichend Wasser gebracht, und so mussten wir nicht zur Wasserstelle laufen. Unsere Wasserkrüge standen gefüllt vor der Haustür. „Ist das nicht toll?“, fragte ich Murali und zeigte auf die randvollen Krüge. Ein fettes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Den ganzen Tag war ich im Haushalt beschäftigt und spielte mit Murali und Rahul.
Nachdem ich Murali ins Bett gebracht hatte, klopfte es an die Tür. „Wer ist denn das? Um diese Zeit?!“, dachte ich und öffnete sie. Da stand er. Mani. Und ich fing an zu stottern. „Was machst du hier?“ „Ich hab euch vorher nachgeschaut, wo du wohnst und wollte mal schauen, wie es dir geht!“, behauptete er. „Gut!“, entgegnete ich schüchtern, zog die Haustür zu und fragte ihn: „Gehen wir noch ein bisschen Spazieren?“ „Gerne!“, antwortete er und wir gingen los. Als ich ihm das ganze Dorf gezeigt hatte und ihm erzählt hatte, wo meine Eltern sind, fing auch er an zu reden. Er erzählte von seiner verstorbenen Mutter, seinem strengem Vater und dem Verbot, sich mit armen Menschen zu treffen. Das er mit diesem Treffen gebrochen hatte. Aber auch ich hatte meine Bedenken, da meine Familie auch nicht besonders gut auf reiche Menschen zu sprechen war. Auf einmal bekam ich Gänsehaut, denn Mani hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt. Wir verbrachten noch den ganzen Abend zusammen und hatten eine Menge Spaß. Als es jedoch schon dunkel wurde, machten wir uns auf den Rückweg. Da ich ihn noch begleiten wollte, brachte ich ihn bis kurz vor die silberne Haustür seiner Villa. Er nahm die Hand von meiner Schulter und schaute mir in die Augen, sodass ich wieder ein kribbeln im Magen spürte. „Es war ein toller Abend!“, sagte er und ohne, dass ich darüber nachdenken konnte, passierte es. Sein Kopf kam immer näher auf mich zu und seine Hände berührten meine Taille. Mir war klar, gleich würde es geschehen. Unsere Lippen würden sich berühren und ich wäre das glücklichste Mädchen auf der Welt. Mein erster Kuss. Mein erster Kuss. Mein Herz pochte immer schneller. Auch ich nahm all meinen Mut zusammen und berührte seinen Rücken. Doch kurz bevor er mich küsste, geschah alles anders. Ein weißer Porsche raste uns entgegen. „Mein Vater! Verschwinde, Lali! Bevor es zu spät ist, er wird dich schlagen!“, rief Mani. Ich riss mich von ihm los und rannte so schnell ich konnte davon.
Ich bekam eine Ohrfeige nach der andern. Meine Wangen schmerzten und färbten sich langsam rot. Ich fing an zu schreien: „Hör auf damit! Du tust mir weh!“ Doch ich hatte keine Chance, er schlug immer öfter und fester auf mich ein. „Hast du nicht gehört, was ich dir gesagt habe? Sobald ich dich mit einem armen Menschen sehe, wirst du vor Schmerzen schreien!“, brüllte er mich an und gab mir eine letzten Schlag. Danach zerrte er mich in mein Zimmer und sperrte es ab. „Bis morgen früh, bleibst du da jetzt drin! Hast du mich verstanden!“, befahl er mir und knallte seinen Fuß mit solcher Wucht gegen die Tür, dass ich Angst hatte, sie würde kaputt gehen. Wie kann man nur solch einen Vater haben? Ich ging ans Fenster und schaute ins Dorf. Ob Lali gut zu Hause angekommen ist? Es war so ein schöner Tag, doch nun hatte alles ein schlimmes Ende genommen. Ich ließ meine Wangen vom frischen Monsumwind kühlen und legte mich anschließend in mein Bett.
Am nächsten Tag hatte sich Balu wieder etwas beruhigt und mich aus dem Zimmer gelassen, doch ich hatte wenig Lust es überhaupt zu verlassen. „Ich fahr jetzt wieder zu meinen Mandanten! Und du lässt die Finger von diesem hässlichen Mädchen! Ich sperr das Haus ab, damit du mir ja nicht auskommst! Übermorgen komm ich wieder.“, erklärte mir mein Vater. Er bleibt immer einige Tage bei der Arbeit, weil der Weg so weit ist. Nachdem sein Porsche langsam hinter den Hügeln verschwand, atmete ich auf: „Was für ein Glück!“ Meine Backen waren in der Nacht so angeschwollen, dass ich aussah wie ein Goldhamster. Endlich kam mir die rettende Idee, ich lief zum Kühlschrank, nahm mir ein paar Eiswürfel und hielt sie mir an die Backe. Das tat gut. Plötzlich hörte ich ein Pfeifen. „Mani, Mani! Bist du da drin?“ Die Stimme kam vom Fenster. Das konnte doch nur Lali sein! Aber was tut sie hier, wenn mein Vater sie sieht, ist alles aus. Ich lief ans Fenster und da stand sie auch. Sie hatte ein wunderschönes, gelbes Kleid an und sie war zum ersten Mal, seit ich sie kannte, ein wenig geschminkt. „Geh lieber wieder, das ist viel zu gefährlich hier! Wenn mein Vater davon erfährt! Geh einfach, ich will nicht das dir was passiert!“ „Was ist denn mit deinem Gesicht passiert? Komm lass mich rein, ich werd dich ein wenig pflegen.“, sagte sie und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf meine Wangen. „Geh einfach!“, schrie ich und ich wusste, dass ich nur so wütend war, weil ich Angst um sie hatte. Lali senkte ihren Kopf und schaute zu Boden. Ihr Lächeln hatte sich in Luft aufgelöst und ich sah, wie sehr sie meine Ansage zu Herzen genommen hatte! Sie drehte sich um und ging. Möglicherweise hab ich mir jetzt alles versaut! Ich Idiot. Aufgeregt lief ich im Wohnzimmer auf und ab, aber dann konnte ich es nicht mehr ertragen. Kurentschlossen lehnte ich mich aus dem Fenster und brüllte: „Bleib hier! Geh nicht! Es tut mir so leid!“ Lali zeigte keine Reaktion. Mit gesenktem Kopf ging sie zurück ins Dorf. Ich schrie noch lauter, in der Hoffnung sie würde mich noch hören. Verzweifelt schloss ich meine Augen. Doch gerade als ich zurück in Haus gehen wollte sah ich es, sie hatte sich umgedreht und nun rannte sie. Aber nicht ins Dorf, sie lief zu mir.
„Wie soll ich denn zu dir hoch kommen?“, fragte sie mich, da mein Zimmer im ersten Stock ist. „Kennst du das Märchen Rapunzel? Genauso machen wir es!“, erklärte ich ihr mit einem Lächeln. „Wie soll denn das gehen?“, wollte sie wissen, „mit deinen kurzen Haaren!“ Wir fingen beide an zu lachen. „Ganz einfach!“, meinte ich und verschwand ins Haus. Ich nahm alle Bettlaken, die ich finden konnte, knotete sie aneinander und ließ sie aus dem Fenster baumeln. Lali stand mit offenem Mund da und fragte: „Da soll ich hoch klettern? Mein Prinz, sie sind verrückt geworden.“ Nach langem Überlegen hatte sie sich endlich entschlossen, sie klammerte sich an die Laken und ich zog sie mit all meinen Kräften nach oben. „Lass mich ja nicht fallen!“, kreischte sie. „Niemals!“, erklärte ich ihr. Nachdem sie oben angekommen war, waren wir beide fix und fertig. „Wo hast du eigentlich deinen Bruder gelassen?“, wollte ich von ihr wissen, während sie mir mit Eiswürfeln an den Wangen rummachte. „Der ist bei meinen Großeltern! Ich hab ihnen gesagt, dass ich krank bin und dann haben sie ihn für ein paar Tage mitgenommen.“
Sein Haus war einfach gigantisch. Ich fühlte mich wie in einer andern Welt. Die Hälfte der Dinge, die ich sah, hielt ich für sinnlos. Aber trotzdem hatte ich eine Menge Spaß. Ein Gerät hatte mich besonders fasziniert. Es war viereckig und auf der Rückseite war ein grauer Apfel zu sehen. „Du musst dir die Stöpsel ins Ohr stecken!“, erklärte mir Mani schmunzelnd. Ich stopfte mir die beiden undefinierbaren Teile in den Gehörgang und drückte auf irgendeine Taste. Und dann hörte ich es. Es war Musik, wenn man bei diesem Lied überhaupt von Musik sprechen kann. Auf jeden Fall traf es nicht ganz meinen Geschmack. Aber wie sagt man so schön: Gegensätze ziehen sich an.
Nachdem er mir das ganze Haus gezeigt hatte, konnten wir zufällig durch den Keller nach draußen. Denn Manis Vater hatte vergessen den Hinterausgang abzusperren. Mani hielt mir die Augen zu. Was hatte er jetzt vor? Als ich die Augen öffnen durfte, stand da eine rote Vespa. „Lust auf einen Kurzurlaub?“, fragte er mich und zog mich an sich. „Klar doch!“, freute ich mich. Er schob den Roller aus der Garage und half mir hinten drauf. Vorher hatte er mir noch einen Helm gegeben, der mir viel zu groß war und deshalb sah ich aus wie ein Weltraumfahrer. „Festhalten! Wir fahren los!“
Wir fuhren noch lange und es fing langsam an zu dämmern. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, ganz nah bei ihm zu sein und einfach alles um mich herum zu vergessen. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Als es dunkel wurde, stellten wir den Roller mitten in der Wildnis ab. Mani hatte an alles gedacht: Geld, Decken, Essen und Trinken. Uns fehlte nichts. Nachdem er die Decken auf einem Feld ausgebreitet hatte, machten wir es uns bequem. Wir lagen ganz eng aneinander und ich war so müde, dass mir meine Augen immer wieder zufielen. „Wenn mein Vater mich so sehen würde?!“, seufzte Mani. „Ich werde dich beschützen!“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Nach kurzer Zeit war ich eingeschlafen.
Am nächsten Morgen wurde ich sehr früh wach. Mani schlief noch immer. Sein Arm lag auf meinem Bauch und ich hörte ein leises Schnarchen. Fast hätten wir uns schon mal geküsst! Zu schön, um wahr zu sein! Ich starrte in den Himmel und genoss die Freiheit.
Nach dem Frühstück fuhren wir weiter. Wir waren auf dem Weg zum Taj Mahal. Ein sehr großes Mausoleum in Agra, einer Stadt in Indien. Auch wenn der Ort von Touristen überfüllt ist, ist er sehr romantisch und wird auch Ort der Liebe und Leidenschaft genannt. Wir fuhren am Fluss Yamuna entlang und konnten die Kuppeln schon von weiten sehen. Nach einiger Zeit waren wir angekommen. „ Da wären wir!“, freute sich Mani, nahm mir meinen Helm ab und wir gingen zum Eingangsgebäude des Taj Mahals. Es dauerte lange bis wir endlich ins Areal des Gebäudes konnten. Denn es gibt strenge Sicherheitsvorschriften, aufgrund der vielen Bombendrohungen. Außerdem wird das Taj Mahal, das auch Kronenpalast
genannt wird, ständig von Soldaten bewacht. Nur durch Sicherheitsschleusen konnten wir hinein gelangen. Ich hatte schon so viel von diesem Ort gehört, doch wir konnten uns einen Besuch nie leisten. Es war noch wunderbarer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ein riesiger Garten mit einem langen Wasserbecken erstreckte sich vor dem Palast. Der Anblick überwältigte mich und deshalb musste ich mich erst mal hinsetzten. Diese wunderschöne Außenverkleidung mit all den Ornamenten und Edelsteinen verzauberte mich. Ich war so fasziniert, dass ich all die Touristen ignorierte. Aufgeregte Japaner fotografierten das große Gebäude. Indische Liebespaare standen unter den Bäumen im Garten und küssten sich. Gläubige Moslime standen vorm Eingang und beteten. Und kleine Kinder versuchten mit den Händen im Wasser zu planschen. Nachdem wir auch das Innere des Taj Mahals besichtigt hatten, nahm mich Mani an der Hand und wir setzten uns in den Garten. Von dort aus schauten wir uns den Sonnenuntergang an. Durch die Abendsonne sah der Palast leicht gelblich aus und wirkte dadurch noch prunkvoller. Wir saßen auf einer Steinbank und die meisten Touristen hatten das Gelände bereits verlassen. Mani drehte sich zu mir und schaute mir tief in die Augen. Dann strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und er kam immer näher. Ich fing an zu zittern. Würde mein Traum jetzt wahr werden? Doch weiter konnte ich gar nicht denken, denn dann passierte es. Er küsste mich. Unsere Lippen berührten sich und ich erwiderte seinen Kuss. Seine Arme hatten mich umschlungen und das goldene Licht der Sonne schien mir ins Gesicht. Es war der glücklichste Moment meines Lebens.
Als sich unsere Lippen gelöst hatten, grinsten wir beide. Und er sagte zu mir: „Lali! Ich muss dir was sagen! Auch wenn ich eigentlich nicht darf! Ich liebe dich
.“ Daraufhin sagte ich: „Ich dich auch
.“ Und so erlebte ich auch den zweiten Kuss meines Lebens. Mein Körper glühte und ich spürte, dass ich knallrot war. Irgendwie hatte sich mein Leben in diesem Moment verändert.
Wir verließen das Taj Mahal Hand in Hand. „Diesen Ort werde ich nie vergessen!“, dachte ich und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Schweigend und glücklich verliebt, stiegen wir auf den Roller und machten uns auf den Rückweg. Die ganze Nacht fuhren wir, denn wir wollten auf keinen Fall nach Manis Vater zu Hause ankommen. Er parkte seinen Roller in der Garage, kam zu mir und sagte dann: „Es war ein wunderbarer Tag, den ich nie vergessen werde! Mein Vater ist zum Glück noch nicht da und kommt wahrscheinlich erst morgen früh! Also komm rein! Wir machen es uns noch ein wenig gemütlich!“ „Meinst du wirklich?“, fragte ich ihn, „na gut so machen wir es!“
In seinem Zimmer angekommen, brachte er mir ein Glas Orangensaft, den es bei uns zu Hause nur sehr selten gab und dann setzen wir uns auf sein Bett. Er hatte einen Fernseher in seinem Zimmer. Ich hatte schon viel davon gehört, aber noch nie einen gesehen, außer in Zeitungen. Als Mani das Gerät angemacht hatte, erschien ein Bild. Und als wären wir mitten im Film, kam seine Hand an meine Wange und er küsste mich. Auch wenn der Liebesfilm (mein erster Film) nicht besonders schön war, genoss ich die Zeit bei Mani.
Als ich meine Augen aufschlug, streckte ich mich und gähnte. Der Fernseher lief. Das war eigentlich nicht besonders, denn ich war schon oft beim Schauen eingeschlafen. Doch eine Sache war anders, ich war nicht allein, denn neben mir lag Lali und schlief tief und fest. Ich strich ihr sanft über die Schulter und sagte dann: „Aufstehen! Du musst schnell gehen, bevor mein Vater kommt. Wir haben verschlafen!“ Doch dann war es schon zu spät. Ein Klirren aus der Küche und ich wusste, er war da. Lali flüsterte noch etwas verschlafen: „Und was machen wir jetzt?“ Mir wurde schon ganz schlecht, bei dem Gedanken, dass mein Vater mich noch einmal mit ihr erwischt. Würde er mich einsperren? Prügeln?... Ich wusste es nicht. „Ich versuch ihn abzulenken und du musst dich raus schleichen. Aber das ist ziemlich schwierig.“, erklärte ich ihr. Jetzt sah auch Lali nicht mehr ganz so glücklich aus, wie vor einigen Stunden. Sie gab mir eine Kuss und sagte dann: „ Das ist unsere einzige Möglichkeit. Versuchen wir es!“ Und dann verschwand ich auch schon aus meinem Zimmer und ließ die Tür einen Spalt auf. „Hi Dad!“, sagte ich und versuchte so normal wie möglich zu klingen. „Hallo!“, rief er, „so ich hoffe du hast aus der ganze Sache gelernt, dass der Umgang mit Armen verboten ist?! Ab heute darfst du wieder raus. Aber lass die Finger von diesen Menschen! Verstanden?“ „Verstanden!“, antworte ich. Balu stand in der Küche mit einem kaputten Weinglas in der Hand. „Kann ich dir was helfen?“, fragte ich freundlich. „Komm her und hilf mir die Weingläser zu polieren.“ Inzwischen war Lali hinter das Sofa, das mitten im Wohnzimmer stand geschlichen. Immer wieder schielte ich zu ihr. Sie war nervös, denn sie war bleich im Gesicht und zitterte. Mein Zimmer grenzt direkt an das Wohnzimmer und von dort aus sieht man in die Küche. Aufgeregt nahm ich ein Weinglas und putze es mit einem Seidentuch ab. „Hoffentlich geht das gut!“, dachte ich. Als mein Vater sich wieder voll auf seine Weingläser konzentriert hatte, war Lali bis zur Treppe gekrochen. Nur noch diese eine Treppe nach unten, dann hätten wir es geschafft. Plötzlich gab es einen Schlag. „ Um Himmelswillen! Was war das? Einbrecher?“, rief mein Vater erschrocken, „ ich glaube, da versucht jemand die Haustür einzuschlagen. Ich werde sofort nach unten gehen und nachsehen!“ „Ich mach das schon!“, rief ich, stellte das Weinglas ab und rannte durch das Wohnzimmer zur Treppe. „Bleib hier! Rufen wir besser gleich die Polizei!“, schrie Balu hinter mir her. Es war etwas Schreckliches passiert, doch trotzdem durfte ich nicht den Mut verlieren. „Keine Sorge, Vater! Es ist nur der Blumentopf mit den Orchideen von den Stufen gefallen.“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Das war natürlich gelogen, denn die Orchidee, stand unversehrt auf der Treppe. Aufgeregt lief ich die Treppe runter. „Ich räum das schon auf, Dad! Du brauchst mir nicht helfen.“ Doch mein Vater antwortete nicht. Lali lag auf der letzten Stufe der Treppe. Eine riesige Platzwunde an ihrem Kopf, hatte Blutspuren auf allen Stufen hinterlassen. Sie war bewusstlos und war wahrscheinlich vor lauter Angst die Treppe runter gefallen. Besorgt hob ich sie hoch und trug sie zur Tür. Schnell lief ich nach draußen und legte sie in ein Kornfeld, direkt neben unserem Haus. Ohne mich weiter um sie zu kümmern, eilte ich zurück, denn Balu durfte auf keinen Fall etwas merken. Mit einem Taschentuch, das ich zufällig in der Hosentasche hatte, putze ich die Blutspuren weg. Dann streute ich ein wenig Erde auf die Stufen, um meine Lüge glaubwürdiger zu machen. Ich brachte die Pflanze nach draußen, zerschlug den Topf und ging wieder zu meinem Vater in die Küche. „Alles wieder in Ordnung!“, murmelte ich.
Nach einer halben Stunde (ich hatte gewartet, damit Balu keinen Verdacht schöpft.) eilte ich zum Kornfeld. Sie lag immer noch genauso da. Mit einem nassen Tuch wischte ich ihr über die Stirn. Als sie zu sich kam, war sie ziemlich verwirrt. Ich erklärte ihr was passiert und richtete sie auf. „Du musst sofort nach Hause! Deine Wunde muss versorgt werden.“ Stützend brachte ich sie nach Hause und ich hoffte, dass mein Vater nichts bemerkt hatte. An der Haustür angekommen, sahen wir, dass das Auto von Lalis Eltern bereits wieder zu Hause waren. „Ich bin ok! Meine Eltern sind wieder hier. Geh lieber wieder nach Hause.“, meinte Lali. „Kommt nicht in Frage! Ich lass dich doch jetzt nicht allein.“, entgegnete ich. Da hatte ich eine Idee, ich zerriss meine Hose. „Jetzt gehör ich zu den Armen!“, lachte ich. Und auch Lali musste schmunzeln. Dann klopften wir an die Tür. „Oh mein Gott, Lali! Was ist denn passiert?“, fragte Xandra voller Sorge, als sie an die Tür kam.
Ich erzählte meiner Mutter was passiert war und stellte ihr Mani vor. (Natürlich hab ich ihr nicht die Wahrheit gesagt. Angeblich ein ehemaliger Schulkamarad, der mir nach meinem Sturz über einen Stein geholfen hatte.) Voller lauter Sorge hatte meine Mutter gar nicht bemerkt, dass Mani ein Reicher war. Aber man konnte es eigentlich auch nicht sehen, da wir die Hose zerrissen hatten. Das Blut war mein Gesicht runter gelaufen und deshalb sah ich wirklich Angst einflößend aus. „Du musst zu einem Arzt!“, rief sie, zog mich am Arm auf die Dorfstraße und rief Mani ein „Danke!“ zu, der immer noch vor meiner Haustür stand. „Kein Ursache!“, antwortete er, zwinkerte mir zu und drehte sich um.
„Und das Baby? Ich will das Baby sehen!“, protestierte ich. „Es ist ein Mädchen, es heißt Jalina und ist gesund! Natürlich darfst du sie sehen, aber zuerst musst du versorgt werden!“, entgegnete Xandra, während sie mich durch die Wege zog. Das Blut tropfte mir die Stirn hinunter, doch das war mir eigentlich egal. Ich hatte eine kleine Schwester bekommen und einen Jungen, der mich liebt, und deshalb war ich so glücklich. In Indien gibt es sehr wenige Ärzte und die meisten arbeiten in den großen Städten, wegen der besseren Arbeitsbedingungen. Es war also großes Glück, dass es in Tekur einen Landarzt gab. Er arbeitet in einem kleinen Lehmhäuschen mitten im Dorf. Als wir dort angekommen waren, gingen wir ohne zu Zögern hinein. Der Arzt, ein alter Mann, saß auf einem Holzstuhl und las ein Buch. Neben ihm stand eine verstaubte Liege, über ihm flogen Fliegen und er hatte ein weißes Schild auf seinem Hemd, auf dem in krakliger Schrift stand: Dr. Narayan
Mit einem undefinierbaren Mittel besprühte er mir die Stirn und tupfte mit einem Tuch die Wunde sauber. Es brannte so sehr, so dass ich ein leichtes Stöhnen von mir gab. Danach beklebte er mir die Stirn mit einem Pflaster und verabschiedete sich von mir: „Alles halb so wild, morgen bist du wieder fit! Schönen Tag noch!“ „ Auf Wiedersehen!“, sagte ich, während er mir energisch die Hand schüttelte. Als wir nach Hause gingen, fasste ich mir immer wieder an die Stirn, denn der Schmerz wurde erst jetzt richtig bemerkbar. „Kennst du diesen Jungen aus der Schule eigentlich gut?“, fragte mich meine Mutter neugierig. Sollte ich sie schon wieder anlügen? „Ja, er ist ein guter Freund von mir, aber mehr nicht. Und seitdem ich mit der Schule fertig bin, hab ich immer weniger Kontakt zu ihm.“, erzählte ich ihr mit schlechtem Gewissen, weil ich sie wieder angelogen hatte.
Als wir zu Hause angekommen waren, durfte ich endlich meine kleine Schwester sehen. Sie lag, eingewickelt in Tüchern, in einem kleinen Bett aus Holz und schlief. Vorsichtig strich ich mit meinem Fingern über ihre süßen, kleinen Hände. „Hallo Jalina, ich bin Lali deine Schwester!“ Während ich sie noch länger anschaute, wurde mir so schwindelig, dass sich alles um mich drehte. Ich hielt mich an der Bettkante fest, doch ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, wurde mir schwarz vor Augen und ich sackte zu Boden.
Langsam schlug ich die Augen auf. Ich lag in meinem Bett und um mich rum standen viele Menschen. Mein Kopf glühte und eine Schweißperle lief mir die Stirn hinab. Hatte ich etwa Fieber? Ich hatte starke Schmerzen und ich schwitze und fror gleichzeitig. Die Menschen um mich rum waren aufgeregt, denn sie redeten wild durcheinander und ich konnte nur schwer verstehen, was sie sagten. „ Vielleicht hat die Wunde einen gefährlichen Infekt ausgelöst. Und deshalb ist sie plötzlich so schwach!“, erklärte ein Mann und ich erkannte, dass es Dr. Narayan war. „Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte meine Mutter schluchzend. „ich werde ihr eine Spritze geben, damit sie sich erholt!“, antwortete der alte Doktor. Mehr bekam ich nicht mit, denn mir ging es so schlecht, dass ich nur noch schlafen wollte.
Mein Vater hatte Mittagessen bestellt und ich saß mit ihm am Tisch. Wir schwiegen beide und ich stocherte in meinem Reis herum. Im Hintergrund lief leise indische Musik. Danach verkroch ich mich in mein Zimmer. Es war komisch, aber doch so schön. Ich hatte eine feste Freundin gefunden, die ich liebe, obwohl ich sie noch gar nicht so lange kenne. Auf jeden Fall wusste ich jetzt, dass es Liebe auf den ersten Blick gibt. Seit mehr als drei Tagen hatte ich nichts mehr von ihr gehört und ich machte mir schreckliche Sorgen. Verträumt schaltete ich den Fernseher ein. Ein Krimi. Ein Polizist lief hinter einem kreischendem Mädchen her und rief: „ Halt! Stopp! Stehenbleiben! Polizei!“ Doch nicht einmal das konnte mich ablenken. Verträumt lief ich ans Fenster und starrte in das Dorf. In Gedanken stellte ich mir Lali vor, wie sie krank und einsam in ihrem Bett lag. Plötzlich kam es über mich. Ich musste einfach zu ihr! Hastig setzte ich dem Krimi ein Ende und stürmte aus meinem Zimmer. „Mani! Wo willst du hin?“ , schrie mein Vater, während er in der Küche stand und die Spülmaschine starten ließ. „Ich geh ein bisschen an die frische Luft, aber keine Sorge, ich halte Abstand vom Dorf!“, rief ich ihm entgegen, während ich schon die Treppen runter ging. „Dein Wort in Gottes Ohr!“, murmelte er und ich verschwand schnell nach Draußen.
Damit mein Vater nichts merkte, musste ich einen großen Umweg in Kauf nehmen. Aber ehrlich gesagt, war ich froh ein bisschen Abstand von ihm zu kriegen und deshalb lief ich einmal um das ganze Dorf herum. Nervös eilte ich an Plantagen vorbei, an denen schwitzende Männer auf und ab liefen. Nach einiger Zeit kam ich bei Lali an. Ich beschmutze meine Hose ein wenig und klopfte an die Tür. Schritte näherten sich der Tür und dann wurde sie geöffnet. „Hallo! Bist du nicht Mani?“, fragte mich Lalis Mutter schluchzend. „Ja, das bin ich. Ist alles in Ordnung mit ihnen?“, antwortete ich besorgt. In diesem Moment wusste ich aber schon, dass etwas nicht in Ordnung war. Lali! Es war mein erster Gedanke. Ohne zu Zögern drängte ich mich an der weinenden Mutter vorbei und lief durch die Küche in Lalis Zimmer. Ich ignorierte alle Menschen, die in Lalis Zimmer standen und wollte einfach nur zu ihr. Sie lag im Bett und ich hatte schon vorhin gespürt, dass sie in einem schlimmen Zustand war. Ihre Lippen waren blau angelaufen und sie war bleich im Gesicht. Die andern Personen starrten mich verwundert an. „Wer bist du? Und was willst du hier?“, wollten sie wissen. „ Ich bin Mani. Ein Freund von Lali, ich wollte sehen wie es ihr geht.“, erklärte ich ihnen. Der eine Mann war ein Arzt, dass konnte ich an dem weißen Arztkittel und dem Schild erkennen. Der andere war ihr Vater und Murali, ihr Bruder stand auch am Bett. „Verschwinde! Sie ist hat einen gefährlichen Virus und braucht Ruhe!“, rief der Mann, vor dem ich damals am Fluss wegelaufen bin. Ich wandte Lali einen letzten Blick zu und dann wollte ich vorsichtshalber gehen. Doch kurz bevor ich den Raum verlassen hatte, rief der Arzt: „Bleib hier! Lali kann einen guten Freund an ihrer Seite brauchen und der Virus ist auch nicht ansteckend. Das müssen sie auch verstehen Salim.“ Salim nickte. Und so ging ich zurück ins Zimmer und setzte mich an Lalis Bett. Die andern Drei verließen es. Vorsichtig nahm ich ihre Hand, streichelte sie und flüsterte dann: „Mein Mädchen! Was machst du denn für Sachen?“ Lali zuckte, aber mehr auch nicht. Sie schlief tief und fest. Der ganze Raum war so leise, dass ich nur unseren Atem hören konnte und das sanfte Ticken der Uhr. Nur aus der Küche hörte man ein leises Quengeln eines Babys und die aufgeregte Stimme von Lalis Mutter: „Wird sie es schaffen?“ „Das liegt leider nicht in meiner Hand!“, antwortete Dr. Narayan. Als ich diesen Satz gehört hatte, erschrak ich. „Nein! Lali, du wirst es einfach schaffen!“, murmelte ich und legte meinen Kopf auf ihren Bauch.
Von diesem Tag an, besuchte ich Lali jeden Nachmittag. Ihre Familie empfing mich immer freundlich, denn sie hatten bemerkt, dass ich Lali gut tat. Hin und wieder tuschelten sie über mich, das bekam ich mit. Aber ich wusste genau, dass sie mich für einen anständigen Jungen hielten und deshalb ließen sie mich auch jeden Tag zu Lali. Zum Glück hatten sie noch nicht mitbekommen, dass Lali und ich Zärtlichkeiten austauschen. Und wenn sie wüssten, dass ich einer von den Reichen bin, dann hätten sie mich bestimmt nie ins Haus gelassen. Mein Vater war glücklicher Weise für drei Wochen auf einer Geschäftsreise, denn sonst wäre das gar nicht möglich. Der Zustand im Hause Advani
, das ist der Familienname von Lali, war schrecklich. Lali lag immer noch fiebernd im Bett, das Baby schrie, Rahul lief aufgeregt auf und ab und Xandra war völlig überfordert. Nur Murali saß ganz brav in der Küche am Boden, starrte Löcher in die Wand und sagte gar nichts mehr. Als ich gerade wieder gehen wollte, passierte etwas, das meine Laune wieder hob. Lali öffnete die Augen und schaute starr an die Decke. Schnell lief ich zurück ans Bett und stotterte: „Oh Lali! Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wie geht es dir?“ Doch mehr als ein klägliches „Mani!“ und ein leichtes Grinsen, brachte sie nicht fertig.
Von diesem Tag an verbesserte sich Lalis Zustand. Jeden Tag pflegte ich sie. Ich kochte ihr indischen Kräutertee, machte ihr Wadenwickel und ich brachte sie sogar stützend zur Toilette, was sicher nur wenige verstehen können. Immer wenn ich kam lächelte sie und erzählte mir von was alles geträumt hatte. So ging es die ganze Woche bis sie irgendwann fröhlich meinte: „ Ich glaub, ich bin wieder gesund!“
(Fortsetzung folgt...)
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2012
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