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Definitiv ein Chihuahua

Ich hätte eigentlich erwarten müssen, dass das alles nicht gut gehen würde. Ein neues Familienmitglied zu bekommen, kannte ich bis dato als etwas Schönes – bei Emma und Tim hatte ich es kaum erwarten können – aber das waren auch die Kinder meiner Schwester und keine launischen, zickigen, arroganten, blondierten Großstadtgören wie der Kerl da auf meinem Bett.

‚Gewöhnungsbedürftig‘ hatte Mama es genannt. ‚Ein neues Abenteuer‘ hatte mein Vater es genannt.

‚Absoluter Schwachsinn‘ hatte ich es genannt.

Ich war immerhin 19 Jahre alt – kein Alter, um einen Zimmergenossen zu bekommen, außer er war aufblasbar. Zumindest hatte Konrad das betont, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass mein Stiefcousin zu uns ziehen würde.

Bis vor zwei Wochen hatte ich nicht einmal gewusst, dass ich sowas wie einen Stiefcousin überhaupt besaß. Er war der Sohn des neuen Mannes meiner Tante. Klang bescheuert, ich weiß. 19 Jahre alt, ein paar Monate jünger als ich, ungefähr einen Kopf kleiner, aufmüpfig und trug gern enge Klamotten. Mehr hatte ich bis jetzt nicht mitbekommen. Die meisten hielten es ja auch nicht für wichtig, mich genauer aufzuklären. Irgendwie war meine Tante auf die Idee gekommen, ihn zu uns zu schicken, als wären wir ein Heim für schwererziehbare Kids. Praktisch als Notbremse, weil sie ihn sonst, wie sie gesagt hatte, erwürgt hätte. Anscheinend war der Kerl in einer schwierigen Phase, oder wie Eltern das eben nannten, wenn sie mit ihren Kindern nicht mehr klarkamen.

Natürlich hatte meine Mutter das als gute Lösung befunden, mein Vater hatte ohnehin kein Mitspracherecht, von mir ganz zu schweigen, und kurz darauf stand das Monsterchen auch schon vor der Haustür.

Ich hatte mich von meiner besten Seite gezeigt, das Gepäck reingetragen, mich höflich vorgestellt und was hatte ich als Antwort bekommen? Ein „Versuch’s gar nicht erst, Arschloch“.

Wirklich. Er hatte mich einfach so stehen lassen und war nach oben marschiert. Und ich Vollidiot trug dem auch noch sein dämliches Gepäck hinterher. Mein Vater hatte beim Anblick dieses Schauspiels eine vielsagende Grimasse gezogen und Mama tat das Verhalten unseres neuen Familienmitglieds als Aufregung ab.

„Er ist bestimmt bloß schüchtern“, meinte sie zuversichtlich.

Schüchtern, genau. Und Elton John ist hetero.

 

Tja, und da saß das sympathische Kerlchen. Auf meinem Bett. Die geblichenen Haare fielen ihm fransig in die Stirn, das weiße Shirt zerknittert und ein Bein angewinkelt. Seine Augen wanderten durch mein Zimmer und analysierten jedes Bild, Möbelstück und Buch. Dann richtete er die graublauen Iriden direkt auf mich und bedachte mich mit einem so abschätzigen Blick, dass meine Nackenhaare sich sträubten. Er sah mich an, als wäre ich der schäbigste Dreck unter den Fingernägeln eines Penners.

Das konnte ja lustig werden.

„Da schlaf ich“, teilte ich wenig begeistert meinem neuen Mitbewohner mit. „Du schläfst auf der Schlafcouch.“

Blaise lupfte eine Augenbraue und schnaubte. „Auf der Couch? Die hat ihre besten Jahre hinter sich. Da schlaf ich nicht. Was weiß ich, was du da drauf schon getrieben hast.“ Ja hallo, freut mich auch, dich kennenzulernen, Cousin.

„Du hast nur leider keine Wahl“, murrte ich und warf seine Reisetasche und den Koffer, der wog, als hätte Blondie da Backsteine reingetan – was ich ihm durchaus zutraute – unliebsam auf den Teppich vor der Couch. Blaise sah noch immer nicht sehr kooperativ drein. „Das ist doch nur bis Mittwoch so“, versuchte ich die Situation zu entschärfen. Was zu wirken schien. Der Kerl schnaubte unwillig, rappelte sich auf und schmiss sich demonstrativ auf das Sofa, das daraufhin einen knarrenden, dumpfen Laut von sich gab.

Über seinen leidenden Gesichtsausdruck konnte ich schon wieder grinsen.

 

„Und?“, fragte Mutti gespannt, als ich fünf Minuten später die Treppe runter kam. „Wie findet er’s? Gut? Er ist gar nicht so schlimm, oder?“ „Schlimmer“, brummte ich und lief an ihr vorbei, in die Küche. „Er hat sich vor zwei Minuten kommentarlos im Bad eingeschlossen. Ich glaube, er telefoniert.“ „Bestimmt ruft er zu Hause an“, erklärte Mama sehr aufschlussreich, „Es ist ja auch nicht so einfach für ihn. Er kommt aus einem komplett anderen Umfeld.“ „Und ist eine Zicke“, fügte ich hinzu, worauf ich einen strafenden Blick meiner Mutter kassierte. Abwehrend hob ich die Hände, nahm mir eine Coladose aus dem Kühlschrank und verzog mich ins Wohnzimmer. Nach oben wollte ich nicht, solange da noch irgendwo Cinderellas böse Stiefmutter rumgeisterte. Lustig, wie jemand innerhalb von zehn Sekunden den ersten Eindruck so komplett versauen konnte.

Mein Dad saß auf dem Sofa und schaute sich irgendeine Dokumentation über alte Autos an. Ich gesellte mich wortlos dazu und nippte an meiner Cola, bis plötzlich Schritte auf der Treppe zu hören waren. Wir drehten gleichzeitig unsere Köpfe in Richtung Flur, wo kurz ein blonder Haarschopf vorbeihuschte, bis die Stimme meiner Mutter ertönte.

„Blaise! Na, wie findest du es? Ich weiß, ist jetzt nicht die beste Lösung, aber bis Mittwoch haben wir aus dem alten Büro ein schönes Zimmer für dich gemacht. Solange kommen Phil und du bestimmt miteinander klar.“ Ich schnaubte und mein Vater grinste neben mir.

„Ich…“ Mama ließ Blaise keine Chance zum Reden. „Klasse. Es freut uns, dass du da bist! Möchtest du was essen? Ich habe noch ein bisschen Auflauf im Kühlschrank. Oder soll ich dir was machen? Ich weiß gar nicht, was du so magst. Fleisch isst du doch?“

Selbst Mr. Kotzbrocken schien von meiner Mutter überwältigt zu sein. Gegen den Redeschwall kam man auch schwer an.

„Äh, was?“

Ich stieß ein Lachen aus und schwang mich über die Sofalehne, um meine Mutter ein wenig zu zügeln. Manchmal übertrieb sie es. Dann war sie wie ein aufgedrehter Welpe, der am liebsten unter sich weg machen würde vor Aufregung.

Sie standen in der Küche, Mama am Kühlschrank und drückte Blaise ein Teil nach dem anderen in die Hände. Auf seinen Armen stapelten sich Teller von Auflauf, Schnitzel und Obst.

„Soll ich dir einen Obstsalat machen?“

„N-Nein, danke…“ Oho, wer hätte das gedacht? Der beherrschte ja doch normale Umgangsformen.

„Mama“, unterbrach ich den graumelierten Wirbelwind und nahm dem überforderten Blaise eine Schicht nach der anderen ab. „Fahr mal ein paar Gänge runter“, riet ich ihr freundlich und schloss direkt den Kühlschrank vor ihrer Nase. „Aber er hat doch bestimmt Hunger!“ „‘Er‘ kann auch für sich alleine sprechen“, erklärte Blaise nun genervt. Er beachtete mich gar nicht. „Ich habe keinen Hunger und wollte nur fragen, wo ich mein Badzeug hintun kann.“

Mutti wurde rot, weil sie wohl feststellte, dass sie sich peinlich benahm und ergriff die Gelegenheit, um abzulenken. „Oh, klar, ich zeig’s dir. Ich hab dir eine Hälfte des Schranks leer geräumt. Wir haben leider nur ein großes Bad, ich hoffe, das stört dich nicht.“ „Kein Problem“, erwiderte Blaise ungewohnt umgänglich und Mutti strahlte zufrieden. Das gemurmelte „Ich werd‘ eh nicht lange bleiben“ schien nur ich gehört zu haben…

„Das wird bestimmt noch lustig“, seufzte Pa, der wie aus dem Nichts neben mir stand und den beiden hinterher sah. Er wusste genauso gut wie ich, dass das wieder eine dieser Schnapsideen meiner Mutter gewesen ist und die gingen nie gut aus. Wie damals, als sie das Haus eingerichtet hatte wie einen Tempel. Der Gestank der Räucherstäbchen ging eine ganze Woche nicht aus den Klamotten raus.

Na ja, wir würden das schon überstehen…

 

Obwohl ich daran zweifelte, als ich in mein Zimmer trat. Blaise lag mit Kopfhörern auf dem Sofa – immerhin ein Fortschritt – und sein Koffer lag geöffnet auf dem Boden. Die Reisetasche hatte er noch nicht angerührt, aber der Koffer versprach bereits viel. Eine Hälfte war komplett gefüllt mit Chucks und Turnschuhen aller Art, die andere ausschließlich mit Hosen, alles feinsäuberlich nach Farben sortiert. So viele Klamotten hatte nicht mal meine Schwester in ihren besten Zeiten gehabt.

Erst als ich im Raum stand, bemerkte ich, dass zwischen den ganzen Hosen – Gott, eine davon glitzerte sogar – ein pinkfarbener Bär hervorblitzte. Grinsend und ohne groß darüber nachzudenken, griff ich danach und zog ihn zwischen den fein zusammengelegten Jeans hervor. Er sah alt aus, aber schien gut erhalten. Ein Stückchen vom Ohr fehlte und auf seiner weißen Brust stand „Liebesbär“. Bei dem seltsamen Anblick konnte ich mir ein Auflachen nicht verkneifen. Ich meine, Liebesbär?! Und das in Blaises Koffer? Das war, als hätte man in Hitlers Haus ganz viele Bilder von Katzenbabys gefunden.

„Hey, Finger weg, Mann!“ Grob wurde mir der Liebesbär entrissen. Blaise funkelte mich zornig an und warf das Kuscheltier zurück in seinen Koffer. „Hast du nicht gelernt, dass man nicht an fremde Sachen geht?!“

„Sorry“, erwiderte ich beschwichtigend und kramte meine Schlafsachen aus dem Schrank. Der stechende Blick in meinem Nacken entging mir dabei nicht. „Aber ehrlich, Liebesbär? Von wem hast du den, von deiner ersten Freundin?“ Blaise lachte sarkastisch. „Du bist ja ein richtiger Witzbold.“ „Und du gehst zum Lachen in den Keller, was?“

„Wenn ich dann solchen bescheuerten Unterhaltungen entgehen kann, sicher.“

Ich seufzte und drehte mich ihm zu. Er saß auf der Kante der bereits ausgezogenen Couch und strahlte pure Abneigung aus. Dabei fragte ich mich, was ich getan hatte, um das verdient zu haben. Selbst wenn er nicht freiwillig hier war – wovon ich ausging – hieß das noch lange nicht, dass er sich hier benehmen musste wie der letzte Troll.

„Hör mal, ich weiß, dass du lieber in deiner Großstadt wärst und wir uns gar nicht kennen, aber es würde hier alles um einiges entspannter ablaufen, wenn du nicht so feindselig drauf wärst. Nur bis Mittwoch, bis du dein eigenes Zimmer hast.“

Blaise hob die Augenbrauen und musterte mich skeptisch. Dabei hingen ihm die blonden Strähnen so tief in der Stirn, dass sie teilweise seine Augen verdeckten. „Okay, ich erklär’s dir am besten gleich: Es ist mir scheißegal, was du denkst oder willst. Es lohnt sich nicht, dich bei mir einzuschleimen, Sunnyboy, denn ich bin hier schneller wieder weg, als du dir die Eier kraulen kannst. Ich will nicht mit dir befreundet sein. Kannst dir den Atem also sparen, Philipp.“

Das war `ne Ansage. Sowas passierte, wenn man mal freundlich war. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wieso er mich Sunnyboy nannte. Oder wie er auf die Idee kam, dass mein Name Philipp war.

„Philipp?“, hakte ich verständnislos nach und musste grinsen. Dieses Missverständnis passierte ja nicht selten – außerdem ließ ich mir doch nicht von dem Bellen des kleinen Chihuahuas hier die Laune verderben. Sollte er doch auf Hexe machen, an mir biss er sich da die Zähne aus. Das war doch lediglich die verspätete Pubertät, die ihn da packte.

„Dein Name, du Hohlkopf“, kam es pampig zurück, als würde er an meinem Verstand zweifeln. Ich lachte und wuschelte dem überrascht guckenden Blaise durch die blonde Haarpracht. Weich, dafür, dass sie gefärbt waren. „Ich heiße nicht Philipp, aber du kannst mich Phil nennen, wenn du magst.“ Damit verabschiedete ich mich ins Bad und hinterließ einen verwirrten Blaise, der nicht so recht wusste, wie er reagieren sollte. Ich hatte schon die Dusche angestellt, als ich hörte, wie er demonstrativ durch die Badezimmertür „Ich mag aber nicht!“ rief.

Ich grinste. Definitiv ein Chihuahua.

 

Nach dem Duschen gesellte ich mich noch kurz zu meinen Eltern. Mein Vater saß immer noch vor der Glotze und meine Mutter spülte in der Küche Geschirr. Ich lehnte mich an den Kühlschrank und sah ihr dabei zu – helfen konnte ich sowieso nicht, sie würde eher die Hunde an ihr Geschirr lassen als mich. Sie nannte mich immer liebevoll ‚ihren Riesentölpel‘. Sehr schmeichelnd, ich weiß.

„Willst du mir eigentlich mal verraten, wieso Blaise hier ist?“, fragte ich nach einer Weile in die Stille hinein.

„Weil Martha und Lars dachten, er bräuchte mal einen Tapetenwechsel.“ Mutti zuckte mit den Schultern. „Und ich hab ihnen angeboten, dem Jungen zu helfen.“ „Helfen? Du bist keine Therapeutin, Mutti. Der Typ ist einfach `ne Diva. Du könntest ihm höchstens helfen, indem du dich mit `nem Knüppel von hinten an ihn ran schleichst.“

Mama schaute mich missbilligend an. „Jetzt tu nicht so, als wäre er der Teufel in Person. Er hat sich zu Hause einfach nicht wohlgefühlt. Jeder braucht Hilfe, wenn er Probleme hat.“

Ich verdrehte die Augen. „Zu Hause nicht wohlgefühlt? Dafür will er aber so schnell weg von hier wie möglich.“ Meine Mutter seufzte tief und ließ mich hellhörig werden. „Glaub mir, wenn ich dir sage, dass es besser ist, wenn er hier ist.“ Ich runzelte die Stirn. „Hat er was verbrochen? Drogen? Diebstahl? Nekrophilie?“

Mutti schnaubte amüsiert, wurde dann aber wieder ernst. „Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, weil Martha gemeint hat, dass er empfindlich reagiert, wenn man ihn darauf anspricht und du manchmal wirklich ein indiskreter Grobian sein kannst.“ Ich lächelte ertappt. „Aber vielleicht hilft es dir ja. Blaise hatte ziemliche Schwierigkeiten in der Schule. Er wurde plötzlich gemobbt, hat immer schlechtere Noten bekommen und vor ein paar Wochen hat er sich noch schlimm mit Lars gestritten. Martha wollte mir nicht sagen, wieso er gemobbt wurde, aber sie war ganz zuversichtlich, dass es ihm helfen würde, wenn er von da wegkommt. Neues Haus, neue Schule…“

„Neue Familie“, fügte ich hinzu. Keine Ahnung wieso, aber ich hatte das Gefühl, dass Martha den Großkotz oben in meinem Zimmer nur hatte loswerden wollen. Wie eine ungewollte Straßenkatze…

Na ja, so wie ich ihn jetzt kannte, konnte ich mir vorstellen, warum er gemobbt wurde – aber wahrscheinlich war er nicht immer und überall so. Bei dem Gedanken an Mobbing kam mir die Galle hoch. Ich hasste Ungerechtigkeiten sowieso schon, aber sowas war einfach widerlich. Scheiße, da bekam ich glatt noch Mitleid mit dem Draco Malfoy da oben in meinem Zimmer.

„Ja, so ungefähr.“ Mama lächelte und wischte mir Zahnpasta von der Wange. Ich hasste es, wenn sie mir im Gesicht rumfummelte. Mütter hatten irgendwie den Drang dazu. „Sei einfach nett zu ihm, ja? Du bist doch sonst so ein lieber Junge.“

„Ich geb‘ mein Bestes.“

Aber Blaise machte einem das nicht so leicht.

 

Als ich oben am Bad vorbeilief, hatte ich eine perfekte Aussicht auf einen nackten Blaise, der eins von Mamas rosafarbenen Handtüchern um die Hüfte gewickelt hatte, sich im Gesicht rasierte, auf dem Waschbecken ein komplettes Arsenal von Parfums, Aftershaves und auch diversen Cremes ausgebreitet hatte, während das Radio laut „I Kissed A Girl“ schmetterte. Das Beste war jedoch, dass er mitsang. Ich konnte nicht anders als stehen bleiben und ihn beobachten. Er war nicht trainiert, sein Körper war einfach … dünn. Und seine Beine lang. Sehr lang. Das war ein ziemlich skurriler Anblick für den ersten Abend als Mitbewohner.

Erst nach ein paar Sekunden merkte er, dass er beobachtet wurde. Seine Augen weiteten sich erschrocken und sein Gesicht lief so glühend rot an, dass ich befürchtete, er würde vor Scham ohnmächtig werden. Der Schock war jedoch schnell überwunden, innerhalb von wenigen Augenblicken hatte er die Tür zugeworfen und mich einen „scheiß Spanner“ genannt. Ich grinste in mich hinein, als ich ihn leise im Bad fluchen hörte. So leicht war der Kotzbrocken also aus der Fassung zu bringen.

 

Als er fertig war und ins Zimmer kam, hatte ich bereits die Lichter ausgemacht und lag im Bett. So leise wie er hineintapste und sich zur bezogenen Couch verkrümelte, schien er zu hoffen, ich würde schlafen. Kein Wunder also, dass er erschrocken wie ein kleines Wiesel zusammenzuckte, als ich ihn ansprach. „Ich habe den Wecker auf sechs gestellt. Ich fahr uns morgen zur Schule, da brauchen wir nicht lang.“

„Schön“, fauchte er grummelig zurück. Aha, anscheinend nahm er mir das eben wirklich übel. Dann hätte er eben nicht die dämliche Badezimmertür offen lassen sollen. Das war ja quasi eine Einladung, dass ihn jemand bewundern sollte.

„Der Drei-Tage-Bart stand dir übrigens gut.“

Es dauerte keine Sekunde, als mir ein Kissen direkt ins Gesicht flog.

„Arschloch.“

„Freut mich auch, dass du hier bist, Blaise. Gute Nacht.“ „Schnauze.“

Dann eben nicht.

Die Katze fährt die Krallen aus

 

Ich atmete tief ein und aus. Okay, wie sollte ich das jetzt am besten bewerkstelligen? Sanftes Wachrütteln? Bestimmt nicht. Das hatte die Zicke gar nicht verdient.

Ein freundliches Rufen? Das hatte eben schon nicht geklappt.

Ein nasser Lappen? Ich wollte ihn wecken und nicht, dass er mich komplett verabscheute.

Damit konnte ich die Option ‚Eimer mit kaltem Wasser‘ auch ausschließen. Meine Schwester Penny hatte nach der Aktion damals ganze zwei Tage lang nicht mehr mit mir geredet.

Wachküssen? Ups, falsche Rolle. Das war nicht Schneewittchen vor mir, sondern eher die böse Königin. Und selbst wenn ich den Frosch küsste, würde kein Prinz draus werden, sondern eher eine personifizierte Krankheit, wie Tripper oder Schampilz.

Ich seufzte. Mir blieb also keine andere Möglichkeit.

„Hektor, walte deines Amtes.“ Ich ließ den Rüden am Halsband los und scheuchte ihn direkt auf die Schlafcouch. Es folgten diverse lustige Geräusche – ein aufgeregtes Hecheln des Hundes, ein verpeiltes „Was?“, ein schmatzender Laut, als Hektor anfing, Blaise abzulecken wie einen Lolli und ein panisches Gequietschte von dem Blonden, der jetzt verzweifelt versuchte, den Weimaraner von sich runter zu bekommen.

Schwierig, bei so einem großen Hund. Aber durchaus lustig anzusehen.

„Scheiße! Nimm den dämlichen Hund von mir runter! Urg, ist das ekelig, geh weg! Runter, du Flohschleuder! Das ist ja … ew … er hat mich vollgesabbert.“ Hektor jaulte, als Blaise es schließlich schaffte, den Rüden von sich runter zu schieben und sich aufzurichten. Er wischte sich über das abgeschlabberte Gesicht und warf mir einen Todesblick zu, der beinahe das Blut in meinen Adern gefrieren ließ.

„Guten Mo…“ „Hast du deinen dämlichen Hund nicht unter Kontrolle? Das Vieh wiegt an die hundert Kilo.“

…rgen. Ich verdrehte die Augen und schickte Hektor nach draußen, der sofort artig meinem Befehl gehorchte.

„Übertreib mal nicht. Ich wollte dich nur wecken, Prinzessin. Du hast den Wecker ja erfolgreich ignoriert. In einer dreiviertel Stunde müssen wir los, also solltest du dich beeilen, wenn du noch in Ruhe frühstücken willst.“

Blaise murrte etwas, das verdächtig nach einer Beleidigung klang und ich ging runter zum Frühstückstisch. Mein Vater war längst zur Arbeit gefahren und meine Mutter war gerade dabei sich Schuhe und Jacke anzuziehen. Sie unterrichtete an der Grundschule drei Straßen weiter und war bekannt dafür, die Kinder zu verhätscheln. Wahrscheinlich der perfekte Job für sie.

„Ist Blaise schon auf?“, fragte sie sofort, als sie mich bemerkte, während sie ihren Mantel zuknöpfte.

„Hab ihn eben geweckt.“ Ich setzte mich und nahm mir müde ein Brötchen. Keine Ahnung, ob er danach wirklich aufgestanden war, aber ich vermutete es stark.

„Gut. Du wirst ihn doch ein bisschen an die Hand nehmen, nicht? Er kennt sich hier ja überhaupt nicht aus.“

„Du meinst das nicht wortwörtlich, oder? Ich glaube, der würde mir bei der ersten Gelegenheit die Hand abbeißen.“ Ich schmunzelte und schmierte mir dick Marmelade auf eine Brötchenhälfte.

Mama warf mir ihren ‚Jetzt-Sei-Doch-Ein-Mal-Ernst-Blick‘ zu und griff sich ihre Schlüssel von der Kommode im Flur. „Du weißt genau, wie ich das meine!“

„Ja ja“, seufzte ich einsichtig. „Schon klar. Ich werd‘ ihn nicht im Wald aussetzen, falls du das meinst.“ „Versprochen?“ „Ja, versprochen. Musst du nicht mal langsam kleine Kinder quälen gehen?“

Sofort warf sie hektisch einen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie was von Brotbüchsen im Kühlschrank brabbelte und die Haustür hinter sich zu zog.

Alles klar.

Eine halbe Stunde später hatte ich den Tisch abgeräumt, die Hunde gefüttert und wartete darauf, dass Dornröschen sich endlich herunter bequemte. Weitere zwei Minuten später war er schließlich endlich fertig. In aller Ruhe kam er die Treppe herunter, seine Schultasche geschultert, in zerschlissenen, hellblauen Jeans, weißem Shirt und einer Jeansweste. Eins musste man ihm lassen, kleiden konnte der Kerl sich.

Leider schien er dafür sein Zeitgefühl eingebüßt zu haben.

„Das Frühstück hast du verpasst“, klärte ich spöttisch auf, als Blaise völlig gelassen zu mir trat. „Schade“, kam es sarkastisch zurück. Ich verdrehte die Augen. Hey, ich konnte mir auch schöneres vorstellen, als mit so einer Stimmungskanone zu frühstücken.

„Mutti hat dir Sandwiches geschmiert, die sind in der Brotbüchse im Kühlschrank. Ich setz mich schon mal ins Auto.“ Sonst würde ich ihm nämlich diesen arroganten Gesichtsausdruck wegprügeln…

Na gut, eine leere Drohung. Jeder, der mich kannte, wusste, dass ich kein gewalttätiger Mensch war. Oder aggressiv. Der Kerl hier brachte ganz neue Seiten an mir zum Vorschein.

Keine guten.

 

Er folgte mir kurz darauf und stieg kommentarlos auf der Beifahrerseite ein. Hätte mich auch gewundert, wenn er auf Smalltalk bestanden hätte.

Die zehn Minuten Fahrt verbrachten wir tatsächlich schweigend. Eine angenehme Abwechslung. Ich wusste jetzt schon, welchen Blaise ich mehr mochte, als den Morgenmuffel-Blaise. Den stillen.

Ich stellte das Auto eine Straße neben unserer Schule ab, weil wir auf dem Hof dämlicherweise nicht parken durften. Erst, als wir das Gebäude betreten hatten, fing er wieder an zu reden.

„Lass mich raten, ich muss noch ins Sekretariat?“, fragte er wenig begeistert. Wir blieben im Hauptflur stehen, während all die Schüler lustlos an uns vorbei schlenderten. Es war Montagmorgen, die Motivation hier war greifbar. Nicht.

„Na ja, du brauchst noch deinen Stundenplan. Du bist ja sicher nicht in komplett den gleichen Kursen wie ich. Ich komm auch mit.“ Das freundliche Angebot, das ich ihm damit gemacht hatte, bereute ich keine Sekunde später, als ich in seine abweisenden, irgendwie zornigen Augen sah. „Du kannst mich da absetzen. Dann muss ich mir dein ekliges, nettes Getue nicht mehr reinziehen“, knurrte er mir entgegen. Wow, wofür hatte ich denn diese Dankbarkeit verdient?

„Hör mal, ich tue nicht nett, ich bin nett. Ich mache das nicht, damit du…“

„Hey!“ Konrad unterbrach mich, schlug mir von hinten gegen die Schulter und strahlte mich an. Er war einer dieser seltsamen Leute, die es schafften, jeden Morgen so gut drauf zu sein wie auf Ritalin. Er schaute durch seine Brille hindurch zu mir auf und brachte mich zum Grinsen. Der Pullover, den er trug, wurde von einigen Pizzaflecken verschönert, die Hose war an den Knien aufgerissen und seine schwarzen Locken waren so verstrubbelt, dass er so aussah, als wäre er gerade frisch aus dem Bett gestiegen. Was durchaus stimmen konnte, immerhin wohnte er fast direkt gegenüber der Schule.

„Morgen, Konrad“, begrüßte ich ihn erleichtert und nahm seinen Handschlag entgegen. Endlich mal wieder ein normaler Mensch in meinem Umfeld. Obwohl Konrad auch nicht unbedingt als normal zu bezeichnen war. Er spielte seit zehn Jahren Klavier, saß die meiste Zeit zu Hause vor seinem Rechner und war das geborene Mathe-Ass. Gleichzeitig schaffte er es natürlich noch, das schärfste Mädchen der Schule abzusahnen. So ein ekeliger Gewinnertyp halt, aber leider mein bester Freund seit der Grundschule. „Moin.“ Konrad warf Blaise einen neugierigen Blick zu und grinste vielsagend. „Lass mich raten: du bist Phils Cousin?“ „Blaise“, stellte sich der Blonde doch tatsächlich viel zu freundlich vor und lächelte auch noch. Die sonst so kalten, graublauen Augen wirkten auf einmal warm. Es stand ihm. Das war im ersten Moment ein so seltsamer, neuer Anblick, dass ich ihn bloß anstarren konnte.

Blaise schien das zu bemerken, denn der sympathische Gesichtsausdruck wich dem Ekel, den ich bereits kannte. „Ist was?“ Ich schüttelte geistesgegenwärtig den Kopf, konnte aber nicht verhindern, dass sich das Bild eines lächelnden Blaise in mein Gedächtnis brannte. „Ich wusste nur nicht, dass du lächeln kannst.“

Blondie verdrehte darauf die Augen und schnaubte abwertend. Das war schon eher das, was ich kannte.

„Ich bin jedenfalls Konrad“, unterbrach mein bester Freund gnädigerweise unsere merkwürdige Unterhaltung, „Sozusagen Phils bessere Hälfte. Derjenige, der ihm die Haare hält, wenn er mal wieder zu viel Tequila hatte.“

Blaise grinste und ich prustete. „Ich? Du bist der, der immer zuerst kotzt.“

Konrad tat so, als würde ich nicht existieren und legte einen Arm um Blaise Hals. Der Blonde war überrascht, riss sich aber nicht los. Mich hätte er dafür wohl die Treppen runtergeschubst. „Also, so von Mann zu Mann. Ich weiß, dass unser Bärchen hier ein bisschen einschüchternd wirken kann, aber eigentlich ist er nur ein riesiger Schmusekater. Er ist total pflegeleicht, braucht nur ab und zu ein Gläschen Milch und seine Streicheleinheiten, dann beißt er auch nicht.“ Konrad klopfte Blaise zum Abschluss aufmunternd auf die Schulter und ich bedachte ihn mit einem fragenden Blick. Streicheleinheiten? Gläschen Milch? Der hatte ja nicht mehr alle Waffeln in der Pfanne.

„Aha“, machte ich und zog verständnislos eine Augenbraue hoch. „Schmusekater also?“

„Natürlich“, ereiferte er sich auch gleich weiter, wobei ich nicht umhin kam, über das große Fragezeichen in Blaises Gesicht zu grinsen. Der fragte sich sicher gerade, warum er so dämlich zugelabert wurde. Glücklicherweise hielt Theresa ihn davon ab, noch weiteren Unsinn von sich zu geben. Die Blondine kam genau rechtzeitig um die Ecke und hakte sich bei Konrad unter, der sie anstrahlte, als wäre sie seine Sonne. Bah, ekelig. Paare.

„Na, was macht ihr hier?“ Sie lächelte nett in die Runde und blieb bei Blaise hängen. Das war eben das Schicksal jedes neuen Schülers. Man zog einfach die Aufmerksamkeit auf sich.

„Ich wollte Blaise“, ich deutete mit dem Daumen auf den Griesgram, „nur schnell ins Sekretariat bringen. Ihr könnt ihn später weiter nerven. Wir sehen uns dann!“ Ich hob kurz die Hand zum Abschied und drängte dann Blondie weiter in Richtung Treppe. So schnell weg wie möglich, bevor Konny ihm noch weismachte, ich würde Fellbälle hochwürgen. Er schwieg wieder auf dem Weg zum Sekretariat, was es irgendwie unangenehm für mich machte. „Also, Konrad ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber echt ein netter Kerl“, erzählte ich, bevor ich mich hätte bremsen können. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis gehabt, Konrad zu erklären.

„Er wirkte nett“, antwortete er kurzgebunden. Aus seiner Stimme heraus war keine Emotion zu erkennen. Trotzdem kam ich nicht umhin, angefressen die Stirn zu runzeln und ihn von der Seite her zu betrachten.

„Ihn findest du nett, aber mich schnauzt du an, ab dem Moment, in dem ich ‚Hallo‘ gesagt habe.“

Verwirrt blieb Blaise stehen und sah zu mir auf. Er schien überrascht wegen dieser Beschwerde, ehe er gewohnt arrogant eine dunkle Augenbraue lupfte. „Weil ich weiß, dass du nur nett bist, damit euer toller Haussegen nicht schief hängt. Du machst das, damit deine Mama zufrieden mit dir ist und nicht, weil du mich irgendwie sympathisch findest. Und so ein Getue kotzt mich an. Wir kennen uns nicht, mein Vater war lediglich froh, mich irgendwo abschieben zu können. Also hör auf, mir weismachen zu wollen, du seist bloß nett.“

Ich fuhr mir übers Gesicht und atmete tief ein und aus. Es lief was gewaltig schief mit dem Kerl – aber ich hatte nicht die Nerven, seine Probleme zu lösen. Sollte er mich doch scheiße finden, das konnte mir redlich egal sein. Woher auch immer diese abneigende Haltung kam. Bloß, weil ich sein Stiefcousin war? Weil sein Dad ihn abgeschoben hatte, wie er sagte? Oder lag es wirklich daran, dass ich nett war? Konrad fand er ja auch nett und zu dem war er nicht so ekelhaft. Es lag also nur an mir. Prima.

Ich entgegnete nichts und deutete mit einer lustlosen Handbewegung auf eine Tür zwei Meter vor uns. „Da ist das Sekretariat. Und ich hab’s verstanden: Ich bin scheiße. Botschaft angekommen, Kotzbrocken. Ich lass dich ab jetzt in Ruhe.“ Ich hob abwehrend die Hände, lächelte übertrieben und machte auf dem Absatz kehrt. Wer war ich denn, dass ich mir diesen Stress antun musste?!

Ach ja, sein Stiefcousin.

Pff, mich hatte auch niemand gefragt, ob ich mit dem ganzen Scheiß hier einverstanden war, aber ich versuchte immerhin das Beste daraus zu machen. Und nicht jedem ans Bein zu pissen, der einem helfen wollte. War ich wirklich nur nett zu ihm, weil Mama es verlangte? Klar, das war ein ausschlaggebender Faktor, damit ich Blaise nicht in kompakte Teile hackte und im Wald vergrub, aber trotzdem …

Ich hatte es ihm bereits erklärt. Ich war nett zu ihm, weil ich ein netter Mensch war. Weil ich gerne Leuten half, Konversation betrieb und diesen kompletten, sozialen Quatsch. Sowas lag mir.

Blaise anscheinend nicht.

 

Als ich im Unterrichtsraum ankam, erwarteten mich bereits Rebecca und Konrad mit neugierigem Blick und wackelnden Augenbrauen.

Rebecca war Konrads weiblicher Gegenpart, ungefähr mit einer ähnlich großen Klappe, aber Anstand und Moral, was mein bester Freund beides nicht besaß. Sie hatte langes, schwarzes Haar, ging mir ungefähr bis zur Schulter und ihre grünen Augen waren zum Niederknien. Uns verband seit der siebten Klasse eine enge Freundschaft, die selbst unsere zweijährige Beziehung überlebt hatte. Da waren wir 15 Jahre alt und präpubertär gewesen, also eigentlich nichts ernstzunehmendes. Eben das, was alle so in dem Alter erlebten: Die erste Schwärmerei, das erste Date, der erste Kuss … so einen Quatsch halt. Nach zwei Jahren war die Luft raus gewesen und die halbe Schule hatte sich das Maul darüber zerrissen, dass das ‚Traumpaar‘ sich getrennt hatte. Irgendwann legte sich so ein Kinderkram aber wieder.

„Na, wo ist dein Blondschopf?“ Konrad setzte sich auf meinen Tisch und lehnte sich grinsend zu mir, als ich mich auf meinen Platz setzte. Ich schnaubte und ließ meinen Rucksack vor meine Füße fallen. „Er ist nicht mein Blondschopf. Er ist mein Cousin, Konrad.“

„Ach, quatsch nicht. Der ist angeheiratet. Und wenn du mich fragst, genau dein…“ Eine grinsende Rebecca unterbrach den Dunkelhaarigen abrupt. „Hey, ist er das? Süß.“ Blaise kam gerade hereinmarschiert und wurde direkt von Herr Horne, unserem Biologielehrer, in Beschlag genommen. Blondie machte ein genervtes Gesicht. „Er hat was. Das ist nicht seine Naturhaarfarbe, oder? Steht ihm aber.“ „Nein, ich denke nicht. Aber gewöhnlich fange ich ja immer so Unterhaltungen an: ‚Hey, die Haare sind doch gefärbt, oder? Ich bin Phil!‘“, erwiderte ich sarkastisch und kassierte einen groben Kniff in den Oberarm. Autsch. Becca zog ein beleidigtes Gesicht. „Musst mir nicht gleich sarkastisch kommen. Was ist’n los mit dir? Wirkst irgendwie so negativ heute.“

„Das liegt an der Zicke da vorne“, ich nickte unauffällig in seine Richtung, „Der ist eine Mischung aus einer wütender Bärenmutter und einem menstruierenden Drachen.“

„Ihr könnt euch nicht leiden?“, fragte Rebecca verwundert. „Wer kann dich denn nicht leiden? Du bist doch unser sanfter Kuschelbär.“

Ich zuckte ratlos mit den Schultern. „Der hat irgendwelche Probleme. Konnte mich ab der ersten Sekunde schon nicht ausstehen. Seit er gestern Abend angekommen ist, beschimpft er mich in einer Tour.“

Rebecca machte ein langes, mitleidiges „Ouh“ – das war Sarkasmus, da war ich mir sicher – und Konrad grinste so diebisch, dass ich befürchtete, seine Wangen würden jeden Moment platzen. „Du magst ihn, oder?“ Ich blinzelte verwirrt. „Den Kotzbrocken? Na ja, ich hasse ihn nicht, wenn du das meinst. Ist ja nicht mein Ding, wenn er meint, mich so inbrünstig verabscheuen zu müssen.“

„Eigentlich meinte ich was anderes.“ Konrad wackelte mit den Augenbrauen und ich ahnte schreckliches. „Mein Gayradar ist angesprungen.“

Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn und Rebecca prustete amüsiert. „Du und ein Gayradar? Du hast doch gedacht, Justin Bieber wäre eine Frau. Da würde eher Phil vor dir bemerken, dass der am anderen Ufer fischt und der hat bis letztes Jahr selber nicht gewusst, wo er seine Angel positionieren soll.“

Ich verbarg mein Gesicht hinter meinen Händen und versuchte dem starken Drang, meinen Kopf kräftig gegen die Tischplatte zu schlagen, zu widerstehen. Warum mussten Freunde eigentlich sowas grundsätzlich ausschlachten? Abgesehen davon, dass ich nicht gleich behaupten würde, dass Blaise schwul war, bloß, weil er gut gekleidet war, rieb Rebecca – wahrscheinlich ihre Rolle als Exfreundin – mir nonstop unter die Nase, dass ich mich letztes Jahr vor ihnen geoutet hatte.

Schock! Tatsache, der riesige, sportliche, tugendhafte Phil war schwul. Der lebende Gegenbeweis für alle dämlichen Klischees da draußen. Obwohl ich mich nicht ausschließlich als schwul bezeichnen würde, immerhin hatte ich für Becca damals auch Gefühle gehabt. Ich bevorzugte einfach das männliche Geschlecht gegenüber dem weiblichen. Ja, so konnte man das ausdrücken. Bevorzugen.

Jedenfalls konnte ich mich noch genau daran erinnern, wie geschockt Konrad und Rebecca gewesen waren, als ich es ihnen gebeichtet hatte. Becca hatte auch etliche Male gefragt, ob wir deswegen damals auseinander gegangen waren, aber das stimmte natürlich nicht. Konrad war erst komisch und ausweichend gewesen, doch nach einiger Zeit hatte er die Situation aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet: Ich würde ihm keine – oder eher selten – potentielle Beute wegschnappen und im Prinzip würde sich ja nichts bei uns verändern. Er hatte mich zwar einige Zeit lang behandelt, als wäre ich aus Porzellan, aber das hatte sich glücklicherweise wieder gelegt.

Theresa hatte ich es auch erzählt, nachdem sie sich in unserem Freundeskreis eingegliedert hatte. Sie war keine oberflächliche Person, hatte darüber gelächelt und gefragt, ob ich ihr bei den Englischhausaufgaben helfen könnte.

So gesagt, hatte ich ziemliches Glück, solche toleranten Freunde zu haben. Ebenso wie ich mit meiner Familie Glück hatte. Ich hatte mich zuerst vor Penny geoutet, die mich lediglich gedrückt und gelächelt hatte. Dann war da meine Ma, die nach einer langen – viel zu langen – Diskussion über Safersex, Geschlechtskrankheiten und Intoleranz erklärte, dass es ihr egal war, welche Vorlieben ich hatte, solange ich nicht mit Lederkluft, Peitsche und Maske durchs Haus marschierte. Ich hatte Tränen gelacht, bevor ich ihr versicherte, dass das sicher nicht geschehen würde.

Mein Vater war da ein bisschen anders. Erst hatte er es nicht verstanden, gemeint, es wäre bloß eine Phase oder irgendein neuer Jugendtrend. Wir hatten uns einige Male ziemlich gestritten und nur dank Mutti wieder vertragen. Ganz dahinter stieg er, glaube ich, immer noch nicht, aber er akzeptierte es – und mehr verlangte ich gar nicht.

Mehr Leute wussten auch nicht Bescheid. Zu Recht, wie ich fand. Immerhin musste ich meine Sexualität nicht in der Schule ans schwarze Brett nageln oder bei jeder Begrüßung direkt brüllen, dass ich auch auf Kerle stand. Das fand ich eher bescheuert. Ich verleugnete mich nicht, aber da ich der Typ Mann war, dem man das als letztes ansehen würde, blieb es sowas wie ein offenes Geheimnis.

Mein Problem war bloß, dass ich sowohl zögerlich als auch total verpeilt war. Ich erkannte ziemlich selten, ob jemand in mein Beuteschema passte und selbst wenn, traute ich mich nicht, die Person anzusprechen, solange ich nicht hundertprozentig sicher war, ob der Typ auch wirklich schwul oder bi war.

Tja, also, das erklärte dann, warum ich Single war.

 

Das erklärte aber nicht, warum Konrad und Rebecca sich gerade darüber unterhielten, ob Blaise schwul war oder nicht und wenn ja, ob er auf mich stehen würde.

„…und Phil ist nicht gerade der Typ für komplizierte Dinge“, beendete Becca gerade ihre Kontraargumente altklug und ich nahm gereizt den Kopf von der Tischplatte.

„Mädels!“, fuhr ich beide zischend an. „Das Thema ist total schwachsinnig. Mir ist scheißegal, ob Blondie schwul ist. Der Kerl ist eine Pestbeule. Den würde ich nicht mal anfassen, wenn er am ganzen Körper mit Barbecuesoße eingeschmiert wäre.“

Ich sah, wie Rebecca es sich bildlich vorstellte und anfing seltsam zu grinsen. Bevor Konrad wieder Schwachsinn von sich geben konnte, fuhr ich fort. „Und wenn wir das mal bei Seite lassen, geht die Abneigung ja von Anfang an von ihm aus. Also hört auf mit euren Fantasien.“

„Lass uns doch“, griente Konny und stand von meinem Tisch auf. „Wir wollen dich doch bloß ärgern, Mann.“ Er drückte meinen Kopf am Nacken etwas nach unten und setzte sich auf seinen Platz rechts von mir. Wir saßen leider – oder doch eher glücklicherweise? – nicht direkt nebeneinander, zwischen uns befand sich noch eine Meter breite Lücke. Was dazu führte, dass ich dem Unterricht gut folgen konnte und er mir trotzdem jederzeit einen unverhofften Schlag von der Seite verpassen konnte. Konrad halt.

Becca neben mir beobachtete neugierig Blaise, der sich gerade von Herr Horne halbherzig bedankte, während ich meine Schulsachen aus dem Rucksack pflückte. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Konrad nicht gerade dezent auf sich aufmerksam machte, damit Blaise sich auf den freien Platz neben ihn setzte. So viel zu „Ich muss alleine sitzen, ich will meine Ruhe“. Das machte Konrad doch nur, weil er wusste, dass wir uns nicht leiden konnten. Wenn man solche Freunde besaß, dann brauchte man wirklich keine Feinde mehr…

 

Der Montag lief eigentlich wie erwartet. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Montag der schlimmste Tag in der Woche sein musste. Damit man zumindest annähernd das Gefühl hatte, dass es danach bergauf ging.

Ich war nicht gut in Biologie, aber weil ich darin immer noch besser war, als in Chemie oder Physik, hatte ich es als Leistungskurs gewählt. Schwerer Fehler. Sowas wie Fotosynthese, Mendelsche Gesetze oder DNA-Bestandteile bekam ich nicht in meinen Schädel rein. Das einzige, was ich beherrschte, waren Dinge wie Nahrungsketten, Räuber-Beute-Beziehungen oder Nachhaltigkeit. Leider hatten wir das Thema gerade hinter uns und vor mir lagen endlose Stunden mit Genetik. Schlechte Punktzahlen waren vorprogrammiert.

In Mathe stellte ich schließlich fest, dass Blaise und ich im selben Stammkurs waren, was mir sogleich einen weiteren Tiefschlag versetzte. Das hieß, dass ich beinahe jedes Fach mit ihm zusammen hatte.

Den Abschluss machten zwei langweilige Stunden Deutsch, in denen wir Faust durchnahmen. Deutsch war eines meiner Lieblingsfächer, aber unsere verwesende Lehrerin war so altersschwach in der Birne, dass wir so gut wie jeden Satz einzeln interpretierten und das zehrte gewaltig an meinen Nerven. Am Ende wollte ich einfach nur noch nach Hause.

In den Pausen hatte ich Blaise nicht nochmal belästigt, einfach, weil ich wusste, dass das uns beide nur Nerven gekostet hätte.

Trotz dessen ging ich davon aus, dass Blaise und ich auch zusammen nach Hause fahren würden. Wie auch nicht, Blondie kannte sich überhaupt nicht in unserer Kleinstadt aus und von der Hinfahrt allein traute ich ihm nicht zu, den Weg nach Hause zu finden. Also lehnte ich an dem alten BMW und wartete nach der sechsten Stunde. Und wartete. Konrad, Theresa und Becca hatten sich längst verabschiedet, wobei es sich mein bester Freund natürlich nicht entgehen ließ, mir unter die Nase zu reiben, wie prima er sich doch mit der Fake-Blondine verstand. Schön für ihn.

Scheiße, jeder mochte mich. Und Blaise kannte mich nicht mal. War ich tatsächlich so selbstverliebt, dass es mich störte, wenn irgendein arrogantes Großstadtkind mich nicht leiden konnte? Oder lag es einfach an seiner Art? An dieser selbstgefälligen Art, wie er die Augenbrauen hob, an diesen bohrenden, graublauen Augen, die einen aufspießen wollten oder an das nervtötende Geräusch, wenn er abfällig schnaubte…

Wer hätte gedacht, dass ich mit 19 Jahren noch meinen bösen Gegenspieler finden würde.

 

Nach zehn Minuten Warten platzte mir der Kragen. Es war schon eine Frechheit, wie wenig Dankbarkeit er zeigte, obwohl wir – vor allem ich! – ihn aufgenommen hatten und ich mich um ihn kümmerte und er mir trotzdem verbal ins Gesicht spuckte, aber mich warten zu lassen, war das schlimmste. Ich hasste Warten. Ich war die ungeduldigste Person weit und breit und Blaise war nicht in der Position, sich das bei mir zu erlauben.

Ich atmete tief ein und aus, ehe ich ins Auto stieg und suchte Blaise Nummer, die Mama mir gestern gegeben hatte. Ohne großes Tamtam drückte ich auf wählen und wartete – da, schon wieder dieses verhasste Wort – bis die Prinzessin sich dazu herabließ, abzuheben.

Was zum Glück bereits nach einigen Sekunden geschah. „Hallo?“

„Wo bist du?“, fauchte ich ins Handy.

Es war kurz still, wahrscheinlich, weil er etwas brauchte, um meine Stimme zuzuordnen. „Phil?“ „Nein, dein scheiß Steuerberater. Wo bist du?!“

„Ich bin schon los“, erklärte er nonchalant, ohne irgendwelche Bedenken. Ich atmete hörbar aus.

„Ich habe hier gewartet.“

„Das ist nicht mein Problem.“

Ich knurrte brummig und legte kommentarlos auf. Nicht sein Problem, das wäre ja gelacht. Das ließ ich diesem blondierten Balg nicht durchgehen. Er mochte den netten Phil nicht? Bitte, dann lernte er eben den wütenden Phil kennen!

Innerhalb von fünf Minuten hatte ich ihn gefunden. Er lief tatsächlich den Weg zurück, den wir hingefahren waren. Ich fuhr langsam neben ihm her, bis ich schließlich anhielt und das Fenster runterfahren ließ.

„Wieso hast du nicht auf mich gewartet?“, versuchte ich das Gespräch ruhig anzufangen. Denkste. Der Typ erdreistete es sich, mich zu ignorieren und einfach stur geradeaus weiter zu laufen.

Oho, nicht mit mir! Ich fuhr scharf an und hielt quer vor ihm auf dem Bürgersteig. Eine von meinen spontanen Handlungen, die nicht ganz meinen sonstigen Richtlinien entsprachen. Aber irgendwie war mir das in dem Moment völlig gleich. Bei mir brannte laut knallend irgendeine Synapse durch.

Überrumpelt blieb Blaise einen Meter vor mir stehen, als ich förmlich aus dem Auto sprang und mich ihm gegenüber aufbaute. Was bei einer Körpergröße von ungefähr 1,90m in der Tat respekteinflößend wirken konnte. Absicht.

„Du wirst jetzt in dieses Auto steigen und dich dafür entschuldigen, dass du einfach abgehauen bist“, erklärte ich in einer gefährlich leisen Tonlage. Ich glaube, meine linke Augenbraue zuckte sogar gefährlich.

Blaise sah provokant zu mir auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Davon träumst du, Sunnyboy.“

Ich trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und registrierte zufrieden, wie er ein wenig in sich zusammensank. „Du verstehst mich nicht. Mir steht deine pubertäre Art bis hier“, demonstrativ hielt ich mir die Hand an den Hals, „Ich bin nett zu dir und du findest es scheiße, schön. Dann bin ich eben nicht mehr nett zu dir. Du steigst jetzt ein!“

„Du hast doch `ne Macke“, brummte er und versuchte sich an mir vorbei zu mogeln. Erfolglos, als ich ihn sanft, aber bestimmt zurückzog. „Blaise!“, warnte ich ihn donnernd. Sein trotziger Blick traf mich unnachgiebig und wir starteten ein wütendes Starrduell. Blitze schlugen ein, Funken sprühten, fehlte nur noch fließendes Blut.

Dazu kam es nur nicht. Als ich in seine gewohnt trotzigen Augen schaute, verrauchte meine Wut von einem auf den anderen Augenblick. Da waren helle, blaue Sprenkel um die Iriden herum und meine Gedanken verpufften schamlos in einer Blase.

Aus der wütenden Spannung wurde plötzlich etwas Seltsames. Ich hörte seinen Atem, meine Augen wanderten zu seinen leicht geöffneten Lippen und die Nähe war nicht mehr bedrohlich, sondern elektrisierend. Unter seiner linken Augenbraue entdeckte ich einen kleinen Leberfleck und an seinem Kinn eine hauchdünne Narbe. Die böse Falte auf seiner Stirn, die bei seinen abneigenden Gesichtsausdrücken entstand, glättete sich auf einmal und ich bemerkte, wie ein unbekannter Glanz in seine Augen trat.

Ich hatte noch nie vorher erlebt, dass eine Stimmung so radikal umschlagen konnte. Und es verwirrte mich tierisch.

Wir standen uns schon viel zu lange starrend gegenüber, bis Blaise schließlich den Bann brach und fast ruckartig einen Schritt zurück trat. „Schön“, brummte er versöhnlich und stapfte wie ein wütendes Kind zur Beifahrertür. „Sorry, dass ich abgehauen bin. War’s das?“ Ich blinzelte ein paar Mal, um mich in die Realität zurückzubringen und nickte ihm geistesgegenwärtig zu. Erst, als ich hinterm Steuer saß, fand ich meine Stimme wieder. Ich räusperte mich.

„Das war doch gar nicht so schwer“, entgegnete ich nur halb so wütend, wie ich beabsichtigt hatte. Er schwieg und ich startete den Motor.

Warum zum Teufel fühlte ich mich jetzt unwohl?

Und wieso bei Gott hatte mich das gerade eben tatsächlich irgendwie angemacht?! Ich war einfach schon viel zu lange Single.

„Fährst du jetzt oder was? Oder willst du noch länger dumm auf dem Bürgersteig stehen?“ Ich seufzte und fragte mich im selben Moment, wie ich diese Ausgeburt der Hölle hatte anziehend finden können. Lag bestimmt an dem debilen Deutschunterricht mit Frau Haller, der musste mich wohl hirntot gemacht haben…

Ein Schritt vor ...

Zu Hause angekommen warf ich wortlos meine Schlüssel in die Schale auf der Kommode, schmiss meine Jacke über die Lehne des Sofas und ließ mich auf selbiges fallen. Es war still im Haus, die Hunde waren draußen im Garten und das einzige Geräusch war das Zuklappen der Haustür, als Blaise sie hinter sich ins Schloss drückte.

Ich schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung, die Vorstellungen, wie ich den Kotzbrocken auf jede erdenkliche Art und Weise umbrachte, verdrängen zu können. Obwohl der Stoß von einer Klippe schon verlockend aussah.

Wir sprachen nicht mehr, seitdem er mich angepampt hatte, dass ich losfahren sollte. Was auch besser so war, weil ich weder wusste, was das für ein Hormonschub vor dem Auto gewesen war, noch, wie ich damit umgehen sollte.

Umgehen? Es war nichts passiert, wir hatten uns lediglich angestarrt. Ich sollte aufhören, aus kleinen Dingen einen Elefanten zu machen.

Das war nicht wie damals mit Lucas.

Ich massierte mir den Nasenrücken, um den Gedanken daran zu verdrängen und rappelte mich schweren Herzens wieder von der Couch auf. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, bis ich zum Training musste und ich wollte vorher etwas gegessen haben, weil mich die Jungs sonst gnadenlos zusammenfalten würden.

Blaise war wohl ohne jeden Ton hoch ins Zimmer gestapft. Eigentlich tat es mir ja leid, ihn so angeschnauzt zu haben. Es kam so selten vor, dass ich wütend oder gar böse war, dass ich mich deswegen sogar unwohl fühlte. Ich hatte mich immer unter Kontrolle. Na ja, anscheinend hatte auch ich meine Grenzen.

Ich beschloss standhaft, dass es sich dabei um eine Ausnahme gehandelt hatte. Egal wie abstoßend Blaise auch war, ich sollte mich nicht davon beeinflussen lassen. Seine Probleme waren nicht meine Probleme. Da sieht man mal, wie gut erzogen ich war.

Das kleine, gehässige Stimmchen in meinem Kopf, das mich gehässig fragte, ob ich mir auch nur ein Wort davon selbst glaubte, ignorierte ich geflissentlich.

 

Ich schob mir fix eine Fertigpizza in den Ofen, weil Kochen leider zu den Fähigkeiten gehörte, die ich gnadenlos aus meinem Leben verbannt hatte, was wohl auch daran lag, dass meine Ma mich ziemlich bemutterte. Es war bereits ein Wunder, dass ich wusste, wie Geschirrspüler und Waschmaschine funktionierten.

Na ja, meine Fertigkeiten reichten bis hin zu Nudeln mit Soße und Toast. Halleluja!

Während die Pizza Urlaub im Ofen machte, wagte ich mich hoch in mein Zimmer, um meine Trainingssachen zu holen. Eigentlich wollte ich mir nur schnell meine Tasche schnappen, die grundsätzlich direkt neben der Tür lag, aber ich hatte den Drang, mich bei Blaise zu entschuldigen. Vielleicht brauchte er echt, wie Mama sagte, eine gewisse Zeit, um sich einzugewöhnen … wenn Lars ihn tatsächlich bloß abgeschoben hatte, war es kein Wunder, dass er scheiße drauf war, weil er lieber woanders wäre. Möglicherweise, irgendwann, wenn er sich damit abgefunden hatte oder feststellte, was für ein netter Kerl ich war – verdammt, ich war ja wirklich selbstverliebt – hörte er auf, mich zu behandeln, wie einen in Ungnade gefallenen Diener.

Ich zögerte jedoch, als ich mit gehobener Hand vor meiner Zimmertür stand. Die Tür war lediglich angelehnt, weshalb es ein leichtes war, das relativ laute Telefongespräch von Blaise zu belauschen. Okay, das war definitiv nicht die feine, englische Art. Irgendwie konnte ich meinen Körper aber auch nicht davon überzeugen, dass es unhöflich war, fremde Unterhaltungen abzuhören. Ich war ja nicht die NSA. „Ja, ich weiß“, ertönte Blaise Stimme deutlich, „Es war dumm von mir, das zu tun.“

Leider verstand ich nicht, was geantwortet wurde. Da fehlte eindeutig das Vulkaniergehör. Ein Seufzen seitens Blondie. „Ja, du hattest ja Recht“, Pause, „Mann, wie oft soll ich denn jetzt noch sagen, dass du Recht hattest?! Der allwissende Robert hat mal wieder richtig gelegen, Glückwunsch!“ Jetzt klang er patzig. Wenn auch noch lange nicht so, wie er mit mir sonst sprach. Dieser Robert musste ein Freund von ihm sein.

„Mir tut’s doch auch leid“, erwiderte Blaise ruhiger, „Ist scheiße gelaufen, Ende. Ich komm ja bald wieder. Wenn Mike erst…“, diesmal war ich mir sicher, dass er wütend unterbrochen wurde, „Hör auf, so über ihn zu reden! Du kennst ihn gar nicht richtig“, Pause, „Zumindest nicht so, wie ich ihn kenne“, Stopp, „Bist du jetzt auf der Seite von meinem Vater, oder was?!“, langsam kam ich mir wirklich schlecht vor, „Mir egal. Er will halt keinen Ärger mit seinen Eltern. Du verstehst das nicht“, oh, das war sicher nicht das, was dieser Robert hatte hören wollen, „Du kannst denken, was du willst“, er seufzte erneut, „Ist momentan einfach alles scheiße“, Pause, „Na ja, sind jedenfalls besser als mein Vater und Martha“, aha, das waren ja ganz neue Töne, „Nur der Sohn ist’n Arschloch.“

Nein, wie nett. Er präsentierte mich also von meiner Schokoladenseite. „Wieso? Ist so ein Sunnyboy, groß, muskelbepackt, arrogant“ – bitte, der nannte mich arrogant?! – „und macht auf lieben Cousin. Ich wette, der ist genauso ein intoleranter Wichser. Und ich hab keinen Bock mehr auf sowas.“

Tja, es war nett von ihm, mich muskelbepackt zu nennen. Nur weniger nett, mich als einen intoleranten Wichser zu bezeichnen. Sah ich echt so aus? Wie jemand, der einen mobbte – und darum ging es hier hundertprozentig – und in Kloschüsseln steckte? Klar, es gab Leute, die hatten wegen meiner Statur automatisch Respekt vor mir, aber mich direkt als Bösewicht darzustellen, war neu. Blondie schätzte mich komplett falsch ein.

Was wohl daran lag, dass er mir auch keine Chance gab diesen Eindruck zu ändern.

Nach dieser freundlichen Darstellung meiner Person war mir die Lust auf eine Entschuldigung vergangen. Ich wollte mir auch keine weitere Sekunde reinziehen, wie Blaise mich bei völlig Fremden niedermachte, also stratzte ich zielstrebig ins Zimmer, die erschrockene Diva ignorierend und versuchte mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen, dass ich sein Gespräch belauscht hatte, auch wenn ich ihm am liebsten an den Kopf geklatscht hätte, dass er hier der intolerante Wichser war.

Ruhig, Phil. Lass dich nicht auf sowas herab…

„Kannst du nicht anklopfen?“, fauchte Blaise, der das Handy ein wenig verkrampft an sein Ohr presste. „Ich telefoniere.“ „Hab ich gehört.“ Oh, das war ja fast schon ein Geständnis, dass ich alles gehört hatte. Ablenken! „Ich will nur meine Trainingssachen holen.“

Er musterte mich prüfend, wahrscheinlich versuchte er herauszufinden, wie viel ich gehört hatte, aber ich setzte mein Pokerface auf und schulterte mit dem Rücken zu ihm meine Tasche. Ich würde ihm ganz sicher nicht die Gelegenheit geben, mich vollzunölen, weil ich ihn belauscht hatte. „Übrigens“, warf ich im Türrahmen stehend ein, „Das ist mein Zimmer. Und da werde ich sicher nicht anklopfen“, endete ich demonstrativ und marschierte erhobenen Hauptes davon. Im Flur hätte ich mir am liebsten an den Kopf gegriffen.

Echt, das war alles, was ich hervorbrachte?

Das ist mein Zimmer?

Richtig arm, Phil. Ich war eindeutig zu nett.

 

Rolf wartete bereits auf mich, als ich aus der Umkleide kam. Ich war mal wieder einer der letzten. Ich ging direkt auf ihn zu, um mich wegen der Verspätung zu entschuldigen, doch er warf mir einen seiner ‚Lass-Es-Einfach-Blicke‘ zu und ich reihte mich bei der Erwärmung ein. Ruben, ein ähnlich großer, braunhaariger Kerl, der gern ohne Ende quasselte, grinste mich von vorne an und ich zog eine Grimasse. Letzte Woche hatten wir gewettet, dass ich das nächste Mal wieder zu spät kommen würde – jetzt schuldete ich ihm ein Bier.

Das Training war anstrengend und ich fragte mich automatisch, ob Rolf mich für meine ständigen Verspätungen bestrafen wollte. Statt dem üblichen Trainingsverlauf – Erwärmung, Sparring, Lockerung – verdonnerte er mich zu ein paar Trainingssets, die mich beinahe meine Lungen hervorwürgen ließen.

Ja, er war eindeutig sauer.

Obwohl es wahrscheinlich mal wieder an der Zeit gewesen war, mich ein bisschen herauszufordern. Nach dem letzten Wettkampf hatte ich ein bisschen abgebaut. Da waren die Ferien gewesen, Klausuren …

Ich boxte seit neun Jahren, also seit meinem zehnten Lebensjahr. Das war ausnahmsweise die Idee meines Vaters gewesen, nachdem meine Eltern beinahe an mir verzweifelt wären, weil ich ein wenig unausgelastet war als Kind. Tatsächlich hatte mich das Training irgendwie beruhigt und kontrolliert, sodass Mutti nicht mehr täglich um zerbrochene Gegenstände oder dergleichen weinen musste. Ich mochte das Boxen. Man konnte Stress abbauen, baute Muskeln auf, tat was für seinen Körper und alles in allem war es ein sehr vielseitiger Sport. Abgesehen davon, dass sich auch so gut wie niemand mit einem angelegen wollte, wenn man erst mal erklärt hatte, dass man boxte. Obwohl ich natürlich niemals außerhalb des Ringes handgreiflich werden würde.

Ich hatte sogar schon einige Medaillen und Pokale gewonnen, auch wenn ich nicht vorhatte, ins Professionelle zu gehen. Wenn das mit dem Studium nichts wird, konnte ich vielleicht noch Trainer werden, aber ich hatte keine Lust auf den ständigen Stress mit den Kämpfen und dem Zusammenflicken meines Gesichtes und Körpers danach.

Was Rolf bedauerte, aber akzeptierte. Auch wenn er gerade mit einem Medizinball auf mich warf.

„So, noch drei Sets und dann wärmst du dich mit Ruben auf. Ich will dich in zwanzig Minuten im Ring sehen.“ Rolf nickte mir beiläufig zu und wandte sich an die Gruppe der Frischlinge, die sich gerade mit Schattenboxen vor den Spiegeln aufwärmten.

Nach den nervigen Sets gesellte ich mich zu Ruben, der gerade mit Niklas ein paar Schlagübungen trainierte.

Niklas nickte mir lächelnd zu und ging aus dem Ring, rüber zu seinem eigentlichen Sparringpartner. Nik war eigentlich ein netter Kerl, aber seit letztem Jahr war es fast eine unausgesprochene Regelung, dass wir uns lieber aus dem Weg gingen. Was nicht an ihm lag, sondern eher an seinem besten Freund.

Lucas. Meine Jugendsünde, sozusagen. Einer dieser Fehler, den jeder Teenager irgendwann mal beging.

„Hey, magst du am Freitag auch kommen?“, riss mich Ruben aus meinen Gedanken. Ich wandte mich ihm zu, während ich meine Boxhandschuhe anzog.

„Was geht denn am Freitag?“, fragte ich vorsichtig nach. Ruben machte oft am Wochenende eine Trinkrunde in seinem Partykeller, um ein wenig von der Woche auszuspannen. Da kamen meistens die Jungs vom Training und einige Freunde von denen. Meistens waren es ohnehin immer die gleichen, also fiel das nervige Vorstellungs-Stelldichein weg.

„Einfach `ne Runde, vielleicht gehen wir danach noch ins Funhouse. Kannst auch wieder Konrad mitbringen, wenn der Bock hat.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Klar, wieso nicht.“

Damit war unser Gespräch beendet. Denn bevor Rolf uns noch zusammenfaltete, weil wir lieber tratschten, als zu trainieren, fingen wir lieber von alleine an.

 

Zwei Stunden später war ich am Ende meiner Vitalität angelangt. Ich fühlte mich schlapp, meine Hände schmerzten und meine Füße wollten, genau wie ich, ins Bett. Der Tag war lang und anstrengend gewesen.

„Okay“, meinte Rolf, als ich mir mit den Zähnen einen Handschuh auszog. „Das reicht auch für heute. Ruben, vergiss nicht, dass in drei Wochen dein Kampf ist. Und Phil, komm noch einmal zu spät und du gehst joggen, bis dir die Beine taub werden, verstanden?!“ Ich nickte artig. „Gut. Ansonsten, arbeite an deinem linken Haken, der fällt nicht richtig. Und egal ob du müde bist oder nicht, Beinarbeit nicht vergessen. Die Deckung ist in Ordnung, du hast das Glück, dass du längere Arme hast als Ruben.“ Ruben schaute auf seine Arme und machte ein trauriges Gesicht. Ich grinste. „Grins nicht so dämlich, Phil. Und jetzt ab mit euch, die anderen sind schon unter der Dusche!“

Wir gehorchten natürlich sofort und verschwanden mit unseren Sachen aus der Halle.

Nach einer kalten Dusche und dem Umziehen verabschiedete ich mich von Ruben, dem ich nochmals zusagte wegen Freitagabend. Solche Runden waren mir oft lieber als direkt aufdringliche Partys. Man unterhielt sich, spielte irgendwelche Trinkspiele, hörte selbstausgewählte Musik und allgemein war es gemütlicher. Wenn man am Ende trotzdem in einen Club wollte, konnte man immer noch entscheiden, ob man gehen wollte.

Als ich das Auto neben unserer Garage parkte – mein Vater fand, dass sein Audi A4 es eher verdient hatte untergestellt zu werden, als mein alter BMW – und ausstieg, wollte ich möglichst schnell noch Abendbrot essen und dann vor die Glotze. Hausaufgaben waren mir im Moment egal. Die konnte ich mir auch notfalls noch morgen früh irgendwo besorgen, Theresa war nicht umsonst Jahrgangsbeste. Na gut, oder ich erledigte sie halt bevor ich ins Bett ging.

Vor der Haustür fielen mir dann auch die zwei Paar Schuhe auf, die ich zwar identifizieren konnte, aber nicht zu unserem eigentlichen Haushalt gehörten. Zumindest erkannte ich Blaise Converse, da ich nicht davon ausging, dass er Kinderstiefel der Größe 29 oder Frauenboots trug.

Kaum hatte ich die Tür geöffnet und meine Trainingstasche fallen gelassen, wurde ich nebst Hektor und Nestor auch von einem kleinen, brünetten Tornado begrüßt, der auf mich zustürmte und wahrscheinlich direkt in mich reingerannt wäre, wenn ich ihn nicht in letzter Sekunde hochgehoben hätte.

„Phil!“, grinste mein Neffe und lachte, als ich ihn gleich über meine Schulter legte. Ich zwickte ihm in die Seite, was ihn noch mehr zum Kichern brachte, während ich mit ihm ins Wohnzimmer spazierte. „Iiih“, quietschte er, „Deine Haare sind nass!“

Meine Schwester Penny saß auf der Couch, auf ihrem Schoß die kleine Emma, die an einem Ohr ihres Kuschelhasens lutschte, und neben ihr ein grinsender Blaise. Sie unterhielten sich anscheinend angeregt, da sie nicht einmal aufsahen, als ich das Zimmer betrat.

„Hey“, warf ich einfach in den Raum hinein und nahm Tim von meiner Schulter, um ihn kopfüber an den Beinen hochzuhalten. Er jauchzte und versuchte angestrengt, mit den Händen auf den Parkettboden zu kommen, aber er war zu hoch in der Luft.

„Na, irgendwann lässt du ihn mal fallen“, betonte Penny halbherzig zur Begrüßung und beobachtete, wie ich Tim langsam runterließ. Er rollte sich ab und landete sanft vor mir auf dem Rücken. Als ob ich unvorsichtig mit einem Fünfjährigen umgehen würde. Der war ja nicht Mamas Geschirr.

„Ich hab noch nie ein Kind von dir fallen lassen“, betonte ich grinsend und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Blaise mich seltsam musterte.

Noch nicht. Emma ist erst sechs Monate alt, du Tollpatsch hast noch einige Gelegenheiten, sie fallen zu lassen.“ Penny zwinkerte mir zu und Emma blubberte erheitert. Stimmte sie ihr zu?

Ich verdrehte die Augen und wandte mich Tim zu, um mich von dem unangenehmen Gefühl abzulenken, dass ich gerade angestarrt wurde. Was hatte Blaise denn? Hatte ich was im Gesicht? Hatte Ruben mir mal wieder einen Bluterguss verpasst?

„Timmy, wie war’s im Kindergarten?“ Sofort verfinsterte sich das Gesicht der Sprungfeder. Er hüpfte auf den Sessel und stöhnte sogar genervt. Und das in dem Alter! Als er mich aus seinen bernsteinfarbenen Augen ansah, die kurzen Locken chaotisch auf dem Kopf, kam ich nicht umhin, die Ähnlichkeit zu meiner Schwester zu bemerken. Sie hatten die gleiche Augenfarbe, Gesichtsform und Mundpartie. Nur die Haare waren etwas heller, aber die würden sicherlich auch noch so tiefbraun werden wie Pennys und meine. Auch der gebräunte Teint war beinahe derselbe. Im Sommer sahen wir grundsätzlich aus, als kämen wir frisch aus dem Toaster. Das war wohl alles ein Erbe unseres Vaters, auch wenn wir nicht ganz so osteuropäisch aussahen wie er. Ich mochte meine griechischen Wurzeln, auch wenn ich leider nicht viel mit ihnen anfangen konnte. Mein Griechisch umfasste lediglich einfachste Sätze und Vokabeln, diese dann auch noch richtig zu Schreiben grenzte an ein Wunder. Und im Gegensatz zu meinem Vater, erkannte man nicht direkt, woher wir abstammten. Die meisten tippten einfach auf etwas Südländisches, wenn sie mich sahen – oder dachten, ich würde ins Sonnenstudio gehen. In Griechenland war ich zuletzt mit zwei Jahren gewesen. Ein richtiger Bezug zu meiner Herkunft war also eher nicht da.

„Doof“, antwortete Tim schließlich ernst, „Ich will nicht in den Kindergarten.“ Ich hob amüsiert die Augenbrauen, hob ihn hoch und setzte mich mit ihm auf dem Schoß auf den Sessel. „Und wo willst du stattdessen hin?“ „Zuhause bleiben“, erklärte er fröhlich, „Oder hier her.“

„Dann wärst du aber alleine hier.“

Jetzt grinste er diebisch. „Dann könnte ich mit deiner Playstation spielen!“ Ich prustete und tippte mir mit dem Finger an die Stirn. „Du hast ja wohl `n Vogel. Davon träumst du, Kleiner!“

Er stieß ein langgezogenes, enttäuschtes „Ooooh“ aus und sprang auf, um zu Emma zu hasten und ihr ihren Hasen wiederzugeben, den sie gerade hatte fallen lassen. Momentan war er noch fasziniert von seiner sabbernden Schwester, aber mal abwarten, wann die Eifersuchtsphase kam. Immerhin war er fünf Jahre lang ein Einzelkind gewesen. So, wie meine Schwester es darstellte, war ich auch nicht immer ein Segen als kleiner Bruder für sie gewesen.

Nachdem Tim gegangen war, konnte ich mich auch auf das Gespräch Pennys mit Blaise konzentrieren. Schien mal wieder so, als würde sich jeder mit ihm verstehen, außer meiner Wenigkeit. Das warf eher ein schlechtes Bild auf mich, als auf ihn.

Ich war unschuldig, ich schwör‘s!

„Wo waren wir? Kunstleistungskurs. Du bist also kreativ?“ Penny bedachte unseren Hausdrachen mit ihrem typischen, neugierigen Blick. Wäre sie nicht Fotografin geworden, hätte ich darauf bestanden, dass sie Journalistin werden sollte. Die bohrte solange, bis sie herausfand, was sie wissen wollte, glaubt mir. Hätte ich mich nicht freiwillig vor ihr geoutet, hätte sie das für mich übernommen.

Ich registrierte sofort, wie Blaise mich kurz, aber misstrauisch anschaute, bevor er antwortete. Als würde ich jede Information von ihm gegen ihn verwenden. Als ob ich so ein Untier wäre! „Ich zeichne ab und zu gern, ja.“ Er zuckte bescheiden mit den Schultern. „Für den Unterricht reicht‘s.“ „Du bist bestimmt gut.“ Penny zwinkerte ihm zu. „Bei Gelegenheit würde ich gern mal eine Zeichnung von dir sehen. Ich zeichne nur noch mit Tim“, besagter Junge jagte gerade Nestor hinterher, der mit einem von Tims Spielzeugautos im Maul versuchte den Abgang zu machen, „Und bei dem scheint das Talent leider verloren gegangen zu sein. Der malt genau wie Phil.“ „Hey“, mischte ich mich empört ein, „Ich kann malen!“ Meine Schwester schnaubte. „Blumen, ja. Aber das war’s auch schon. Deine Figuren sind Strichmännchen und deine Katzen sehen aus, als hätten sie Tumore am Kopf.“ Beleidigt rappelte ich mich auf und schmollte theatralisch. „Tim fand’s toll“, erklärte ich überzeugt und gesellte mich zu meiner Ma in die Küche, in der ich sie schon die ganze Zeit herumwerkeln hörte. Wohnzimmer und Küche trennte nur ein Türbogen, sodass man grundsätzlich mitbekam, was in dem jeweils anderen Raum vor sich ging.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ich halbherzig, während Mutti das Fleisch in der Pfanne umdrehte und gleichzeitig mit der anderen Hand eine Herdplatte niedriger stellte. Mütter konnten zaubern, ungelogen. Bei Bedarf hatten sie plötzlich dreißig Hände und machten alles gleichzeitig – staubsaugen, singen, Wäsche aufsammeln, dich anschnauzen, weil du nicht aufgeräumt hast und dann noch zufällig Dinge finden, die du in deinem Zimmer eigentlich vor ihr versteckt hattest.

„Nein, ist fast fertig. Du könntest den Tisch decken. Timmy, hör ich dich da etwa an der Süßigkeitenschublade?“ Es folgte ein „Och, Mann“ von Tim. Wie gesagt, zaubern. „Teller hab ich schon rausgestellt.“

Ich schnappte mir besagte Teller und Besteck und ging rüber zum Esstisch im Wohnzimmer. Da erwartete mich jedoch ein lustiges Bild.

Penny versuchte gerade Blaise davon zu überzeugen, dass er Emma mal halten sollte, die ohnehin schon mit ihren Patschehändchen nach ihm griff, während Blondie verzweifelt versuchte, meine Schwester davon zu überzeugen, dass er nicht wollte. Sein Gesicht drückte pure Überforderung aus.

Ich deckte den Tisch und hörte, wie Emma zu quengeln begann, weil ihr Drang nach Blaise Aufmerksamkeit nicht erfüllt wurde, da der sich immer noch verweigerte. Bevor sie hätte anfangen können zu weinen, war ich fix bei ihr und pflückte sie schwungvoll von Pennys Schoß, die nur beleidigt dabei zusah, wie Emma sofort erheitert gluckste. Sie hatte letztes Mal bereits betont, dass sie eifersüchtig darauf war, wie ihre eigene Tochter – Zitat: „Mein eigen Fleisch und Blut!“ – sie verriet und so gut wie nie auf meinem Arm weinte.

Tja, das waren Onkel-Superkräfte, da konnte sie nichts gegen tun.

„Na, will der böse Blaise nicht mit dir spielen?“ Ich hörte ein Schnauben und grinste zufrieden. „Dann spielt eben Onkel Phil mit dir.“ Sie kicherte, als ich große Augen machte und die Lippen schürzte, bevor ich schmatzende Geräusche machte. Bei jedem Ton lachte sie. Ich mochte zwar gerade aussehen wie der größte Vollidiot – Gott bewahre, dass das jemals einer meiner Trainingskollegen zu sehen bekam – aber solange Emma glücklich war, war’s gar nicht so wichtig.

Erst, als Mama das Essen auftischte und ich Emma zurück an ihre Mutter gab, damit sie gestillt werden konnte, bemerkte ich, dass Blaise mich wieder so merkwürdig musterte. Es war kein böser Blick wie sonst, sondern fast schon hinterfragend. Und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, auch ein wenig bewundernd.

 

Nach dem Essen verzog ich mich hoch ins Zimmer und vollbrachte irgendwie auf magische Weise meine Deutschhausaufgaben zu Faust, während nebenbei irgendeine Sitcom im Fernsehen lief. Penny war vor einer halben Stunde mitsamt Emma und Tim abgedüst und meine Mutter korrigierte mit Glitzer, Smileystempel und Rotstift irgendwelche Arbeiten.

Nach einer halben Stunde hörte ich jemanden die Treppe hochkommen, was kein Wunder war, bei den knarrenden Teilen. Man konnte sich wirklich niemals betrunken nach Hause schleichen – Mutti bekam es immer mit.

Es handelte es sich jedoch um Blaise, der, wie ich durch die offene Zimmertür sehen konnte, auf seinem Handy rumdrückte, bevor er sich wiedermal im Bad einschloss. Keinen Schimmer, wieso er sich beim Telefonieren verbarrikadierte, aber das musste ja einen schwerwiegenden Grund haben. Entweder, er mochte die Atmosphäre, wobei ich daran zweifelte, oder er hatte Angst, ich würde ihn belauschen. Ups.

Nicht, dass ich jemals lauschen würde, also … ähm …

Eine gute halbe Stunde und dreißig verzweifelte Versuche, ein anständiges Fernsehprogramm zu finden, musste ich dringend pinkeln. Das blöde war jedoch, dass Blaise sich da drin immer noch feierte. Egal, wie sehr ich mir versuchte, einzureden, dass ich Herr über meine Blase war, hatte die völlig andere Pläne.

Auch wenn das wahrscheinlich wieder auf eine Auseinandersetzung hinauslaufen würde, beschloss ich, anzuklopfen und zu hoffen, dass Voldemort da drin sein Telefonat für mich kurz unterbrechen oder woanders weiterführen könnte.

„Hey“, ich klopfte vorsichtig, „Kann ich kurz auf Klo?“

Es war still und ich überlegte kurz, ob es möglich war, dass er aus Versehen im Klo ertrunken war. Eher unwahrscheinlich. „Blaise, ich muss mal. Dringend.“

Wieder Stille, bevor endlich seine Stimme ertönte, wenngleich sie seltsam verschnupft klang. „Geh weg!“

Na toll. Ich würde sicher nicht wie ein räudiger Hund in den Garten pinkeln! „Komm schon, ich will doch nur kurz auf Klo!“ Erneut keine Antwort. Für wen hielt er sich, den Badezimmergott? Der konnte mir doch nicht verbieten auf mein eigenes Klo zu gehen! „Blaise, ich komm gleich rein!“ „Verpiss dich, ich hab abgeschlossen.“

Gut, okay. Er hatte es nicht anders gewollt.

Da ich ja nicht erst seit kurzem in diesem Haus lebte, sondern seit meiner Geburt, wusste ich über jede Eigenart des Gebäudes Bescheid. Und weil ich mit einer älteren Schwester gesegnet worden war, wusste ich natürlich auch, wie man ins Bad kam, wenn es einem stundenlang versperrt wurde.

Ich schnappte mir meine Krankenkassenkarte, drückte sie in die Türspalte und öffnete das Schloss. Innerhalb von Sekunden hatte ich die Tür aufgerissen, tief Luft geholt und Worte bereit gelegt, um Blaise über gewisse Menschenrechte aufzuklären, als ich jedoch unvollrichteter Dinge wie erstarrt stehen blieb, bei dem Anblick, der sich mir bot.

Diesmal war es kein nackter Blaise, sondern ein weinender.

Jeden Abend was Neues.

 

„Scheiße“, entfuhr es mir ungehalten, was ich sogleich wieder bereute. Blaise, der bis eben mit dem Handy in der Hand auf dem Klodeckel gesessen hatte, wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und setzte das übliche Ich-Hasse-Dich-Abgrundtief-Gesicht auf.

„Ich hab doch gesagt, verpiss dich!“ Er schubste mich leicht, was jedoch kaum Wirkung zeigte. Ich machte lediglich einen kleinen Schritt nach hinten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Blondie starrte mich aus wütenden, verquollenen Augen an und irgendwas in mir brach.

Scheiße, mein verdammtes Kryptonit.

Ich konnte einfach niemanden weinen sehen.

„Na, freust du dich? Die dumme Heulsuse, was?“, fing er grantig an, nachdem ich ihn bloß wortlos angestarrt hatte. „Mach doch `n Foto, Arschloch!“

„Blaise…“ „Halt die Schnauze und verpiss dich endlich!“

Das wäre wahrscheinlich das Beste gewesen, aber irgendwie konnte ich es nicht. Ich konnte ihn nicht so zurückgelassen. Mit den Tränenspuren im Gesicht und den roten Augen. Das war, als würde ich zusehen, wie jemand einen Welpen trat.

Wortlos schloss ich die Badezimmertür hinter mir und ging vorsichtig, fast wie bei einem erschrockenen Reh, auf ihn zu. Er registrierte mein Verhalten mit einem skeptischen, ängstlichen Blick, als erwartete er, ich würde ihn aus dem nächsten Fenster werfen. Stattdessen breitete ich die Arme aus und tat etwas, was ich in geraumer Zeit abgrundtief bereuen würde.

Ich umarmte ihn.

Er zuckte bei der sanften Berührung derartig zusammen, dass ich sofort wusste, dass er was anderes erwartet hatte. Ich drückte ihn an mich und schloss die Arme um seine Schultern. Becca hatte mir einmal gesagt, ich wäre der perfekte Kuschelbär und für irgendwas musste diese Fähigkeit doch nützlich sein. Trösten wäre doch eine gute Verwendung.

Erst wehrte Blaise sich fluchend – es fielen Worte wie „Irrer“ und „Perverser“ – bis der Widerstand mit einem Schluchzen brach und ich spürte, wie seine schlanken Finger an meinem Rücken in mein Oberteil griffen und er seine Stirn an meine Schulter lehnte.

Es war egal, dass er mich eigentlich verabscheute. Er war so gut wie allein hier und ich wusste, wann man jemanden brauchte, der einen hielt. Und Blaise war jemand, der es zwar nicht zugeben würde, aber ganz sicher gerade Trost brauchte. Das hier brauchte.

Und ich war niemand, der Mitgefühl verweigerte.

Ich hätte nur nie geahnt, dass das der Anfang einer nervenaufreibenden Kette von Ereignissen sein würde, die mein Leben komplett auf den Kopf stellen würden.

... zwei Schritte zurück

Es dauerte gute fünf Minuten, bis Blaise sich soweit wieder beruhigt hatte, dass ich ihn loslassen konnte. Ich trat einen Schritt zurück, unwissend, was ich tun oder sagen sollte, während er sich die letzten Tränen vom Gesicht wischte und betreten zu Boden schaute.

Das war eine ziemlich unangenehme Situation. Blaise schämte sich sichtlich und ich hatte keinen Schimmer, wie ich reagieren sollte, da ich jederzeit erwartete, dass er erneut zur Hexe mutierte und mich beschimpfte.

Was jedoch nicht geschah.

Blaise atmete tief durch, ehe er aufsah und mich mit einer Mischung aus Distanziertheit und Dankbarkeit musterte. Sein Blick blieb an dem nassen Fleck an meiner Schulter hängen. Er seufzte und fuhr sich durch die blondierten Haare. „Es tut mir leid.“

„Nicht dafür!“ Ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn aufmunternd an. „Das ist schon okay. Jeder hat mal `n Tief.“

„Nicht nur deswegen“, murmelte er beinahe schon und rupfte etwas Toilettenpapier ab, um sich die Nase damit zu putzen. „Ich war echt scheiße zu dir, obwohl ich dich gar nicht richtig kenne. Ich ging einfach davon aus, dass du … na ja…“

„Ein oberflächlicher Wichser bist? Hab ich schon gemerkt.“ Er lächelte bedauernd und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er mich wirklich ansah. Es war so unnatürlich, dass er freundlich aussehen konnte, fast wie ein gezähmter Bär. Als wäre ich in seinen Augen zu einem menschlichen Wesen aufgestiegen.

Keine Ahnung, wieso sich das so erleichternd anfühlte. „Hey“, warf ich ein, bevor er sich Sorgen machte, „Das ist nicht schlimm. Ich bin groß, ich verkrafte das.“ Es hatte mich lediglich einige Nerven gekostet…

Ich wuschelte ihm abermals durchs Haar und diesmal lächelte er darüber. „War trotzdem scheiße. Bei mir läuft sowieso zurzeit einfach alles scheiße.“

Es war vielleicht keine gute Begründung für sein Verhalten, aber für mich durchaus eine akzeptable Entschuldigung. Was brächte es, ihm sein dämliches Verhalten übel zu nehmen. Erstens, wäre das kindisch, zweitens würde das nur mehr Ärger bringen und drittens schaffte ich es auch nicht, ihm das weiter krumm zu nehmen, wenn er mich so wehleidig ansah.

Wow, ich war ja echt leicht zu manipulieren.

Ich wollte etwas erwidern wie „Kann ich mir vorstellen“, aber das wäre stupide und gelogen gewesen, da ich nicht wusste, wie es war, wenn man plötzlich umziehen musste, weil man gemobbt wurde und Probleme Zuhause hatte. Das einzige Mal Stress hatte es hier wegen meines Outings mit meinem Vater gegeben und seitdem höchstens, weil ich mein Zimmer nicht aufräumte.

 

Also schob ich zurückhaltend meine Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. „Das wird schon“ – ich geborener Optimist! – „Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst…“

„Damit ich dich wieder vollflenne wie ein pubertierendes Mädchen?“, grinste Blaise halbherzig und stopfte sich das Handy in die Hosentasche. Ich hatte die Vermutung, dass seine Heulattacke von seinem Telefonat herrührte. Vielleicht sein Vater oder dieser Robert? Ich war neugierig, obwohl ich nicht glaubte, dass er, wo wir uns ohnehin erst seit gestern kannten, sich mir plötzlich anvertrauen würde. Dafür war er zu misstrauisch.

„Ich bin mit einer älteren Schwester aufgewachsen, schon vergessen? Die hat ständig geflennt.“ Ich erwiderte das Grinsen, bevor ich ernst wurde. „Aber ehrlich, wenn du drüber reden willst, ich stelle mich zur Verfügung. Ich lach dich auch nicht aus oder so. Mobbing ist einfach scheiße, das hat niemand verdient.“

Plötzlich hatte ich das Gefühl, etwas schrecklich Dummes gesagt zu haben. Die Stimmung schlug radikal um und es wurde gefühlte tausend Grad kühler im Raum.

Blaise Blick war vernichtend. „Ach so“, murmelte er grimmig, „Ich verstehe. Der dumme, kleine Blaise wird gemobbt und du machst einen auf Samariter.“ Er schnaubte abfällig und stand auf. Ich konnte nur verwirrt zusehen, wie er mich beim Vorbeigehen anrempelte. „Spar dir dein verdammtes Mitleid!“ Damit verließ er das Badezimmer und stapfte davon. Er hatte eindeutig ein Faible für dramatische Abgänge.

Was zum Teufel hatte ich denn jetzt wieder falsch gemacht?! Eine Unterhaltung mit Blaise glich dem Entschärfen einer Bombe. Wenn man auch nur eine falsche Bewegung machte oder den falschen Draht anschnitt … Bumm!

Ich hatte ihn bloß getröstet, wir hatten uns zum ersten Mal richtig unterhalten, ohne, dass Beleidigungen oder Schimpfwörter fielen und dann das, weil ich von seinem Mobbing gesprochen hatte? Gut, eigentlich hätte ich nicht wissen dürfen, warum er die Schule gewechselt hatte, aber was war so schrecklich daran, wenn ich es wusste? Wenn ich Mitgefühl zeigte? Ich tat das alles doch nicht, weil es mir einen Kick versetzte, mich um verletzte, kleine Diven zu kümmern! Das war nicht herablassend gemeint gewesen, also worüber regte er sich auf? Da hieß es, Frauen seien schwer zu verstehen. Dann probiert mal in Blaise Kopf zu schauen, das war ein Mysterium!

 

Statt einer nahenden Freundschaft zwischen Blaise und mir, herrschte nun die gleiche miese Stimmung wie zuvor. Außerdem hatte ich keinen Schimmer, wie ich mit ihm umgehen sollte. Einerseits wusste ich, dass er anders sein konnte, wenn er wollte und er war dankbar dafür gewesen, dass ich ihn getröstet hatte, andererseits war diese Freundlichkeit schnell wieder weg gewesen. Der Kerl war so launisch wie `ne hochschwangere Frau.

Den restlichen Abend und auch den nächsten Morgen, bis hin zur Fahrt zur Schule, strafte er mich mit eisernem Schweigen. Kaum im Schulgebäude angekommen, preschte er los und ließ mich zurück wie einen ausgesetzten Hund. Ich fühlte mich dezent verlassen.

Ich trat wenige Sekunden nach ihm in den Unterrichtsraum und setzte mich ebenso wortlos wie er auf meinen Platz. Becca fragte grinsend, ob ich mich immer noch nicht mit Blaise vertrug und ich antwortete lediglich mit einem ratlosen Schulterzucken. Konrad stürzte sich sofort auf den Blonden und quatschte ihn voll, als wären sie bereits jahrelang befreundet. Anscheinend fanden meine Freunde diese neue „Klatschstory“ äußerst amüsant.

„Hey, Konny“, unterbrach ich sein erheitertes Gegacker, wobei Blaise für ihn nur ein müdes Lächeln übrig hatte. „Ruben hat gefragt, ob du Lust hast Freitag mitzukommen? Er macht wieder `ne Runde.“

Konrad grinste nickend und legte seine Füße auf dem Tisch ab. „Klar! Wenn Fabian sich wieder betrinkt und jeden zu einem Rapduell herausfordert?“

Ich lachte bei der Erinnerung daran. „Unbedingt!“ Bevor wir uns noch weiter über die verborgenen Rapkünste Fabians auslassen konnten, stürmte bereits Herr Götz herein und warf atemlos seine Aktentasche auf den Lehrertisch. Sein Übergewicht machte ihm zu schaffen, deswegen schnaufte er auch, als er seinen Blick durch die Reihen schweifen ließ. Der ältere, grauhaarige Mann war einer der besten Lehrer an der Schule. Er war nett, aufgeschlossen und wusste, was er von welchem Schüler erwarten konnte, ohne unfair oder persönlich zu werden. Und na ja, ich war einer seiner Lieblingsschüler.

„Du träumst wohl, Konrad“, tadelte Götz und deutete auf Konrads Füße auf dem Tisch, „Wir sind hier nicht im Zoo, Freundchen. Und dein Nachbar da ist wohl der Neue?“

„Jap“, antwortete Konrad beinahe stolz, „Blaise hat sich den besten Platz ausgesucht.“

Herr Götze lächelte leicht und fing an, kopfschüttelnd das heutige Thema an die Tafel zu schreiben. „Daran wage ich zu zweifeln. Blaise, du kannst dich natürlich jederzeit umsetzen, wenn du deine Wahl bereust.“

Es folgte ein grinsendes „Alles klar“ von Blondie, der sich köstlich darüber amüsierte, wie Konrad sich künstlich aufregte, was für ein toller Sitznachbar er doch wäre. Buhu, na klar.

 

Englisch war eines meiner Lieblingsfächer, neben Sport und Deutsch. Seitdem ich es bevorzugte, allmögliche Serien und Filme auf Englisch zu sehen, hatte ich ein gewisses Gefühl für die Sprache entdeckt.  

Was ich wohl üblerweise auch Lucas zu verdanken hatte. Immerhin etwas Positives.

Jedenfalls war ich einer der besten Schüler in dem Fach, weshalb es mich nicht wunderte, als ich die letzte Arbeit mit einer dicken Eins zurückbekam. Becca neben mir stöhnte genervt, weil sie einen Punkt an einer Eins vorbei war und Konrad hörte ich gut hörbar darüber jubeln, dass er eine knappe drei geschafft hatte. Er mochte zwar ein Genie in Naturwissenschaften sein, aber sprachlich gesehen war er nicht der gewandteste.

„Das war nur ein kleiner Einführungstest“, teilte Götze beruhigend mit, als ein paar enttäuscht über ihren Arbeiten hockten, „Wir haben das Thema gerade erst richtig angefangen. Und ihr habt jede Stunde die Chance, eure Hausaufgaben oder eine Stundenaufgabe abzugeben. Hier kommt keiner mit etwas Schlechterem als einer drei aus dem Kurs, damit das klar ist!“ Ich sagte doch, dass der Kerl schwer in Ordnung war. Manche Lehrer freuten sich beinahe diebisch darüber, wenn sie dir eine schlechte Note verpassen konnten – natürlich alles pädagogisch gesehen hilfreich, sie wollen dir ja nur zeigen, dass du dich mehr anstrengen sollst und so weiter – und dann gab es da Götze, der dir notfalls eine Eins aufs Zeugnis schmuggelte.

„So, we have a new student!“, fing Herr Götze nun den Unterricht an und schenkte Blaise ein freundliches Lächeln. „Blaise, right? Please, tell us something about yourself.“

Blaise wirkte mit einem Mal nicht mehr so selbstsicher oder locker, sondern eher überrascht und überfordert. Er wurde blass im Gesicht und fuhr sich unruhig durchs Haar. „Äh … I’m Blaise … I’m … äh … 18 years old and I’m from Hamburg.“

„A Hamburger!“ Niemand lachte über Götzes schlechten Witz außer ihm. Traurig, aber das taten Lehrer irgendwie öfter. Entweder, sie fanden sich tatsächlich lustig oder sie überspielten damit die Tatsache, dass sie eben nicht lustig waren. „What are your favorite subjects?“

„Art, German and French“, kam es zögerlich zurück und Becca stieß mir zweideutig grinsend den Ellbogen zwischen die Rippen. „Französisch, was?“ Ich verdrehte bloß die Augen über ihren schlechten Witz und sie schmollte.

„Not English? What a shame. Thanks, Blaise. I think, we’re all happy to have you here. Especially Konrad, right?“

Konrad, der glucksend neben dem sich langsam beruhigenden Blaise saß, grinste schelmisch und nickte enthusiastisch. „Yes, natürlich. He can learn a lot von mir.“ Zusätzlich wackelte er zweideutig mit den Augenbrauen und die Klasse lachte, bis auf meine Wenigkeit und Blaise. Ich musterte den Blonden prüfend, dem die Situation immer noch sichtlich unangenehm war. Ich fragte mich, ob das an der ungeteilten Aufmerksamkeit lag oder daran, dass er Englisch reden musste. Er hatte ziemlich unsicher gesprochen, als wäre er nicht wirklich geübt darin.

Herr Götze bedachte Konrad mit einem skeptischen Blick und seufzte, als wäre alle Hoffnung für ihn gerade gestorben. „Okay“, er schüttelte nochmals den Kopf, „Let’s start. Well…“

 

Es stellte sich heraus, dass Blaise tatsächlich nicht sehr gut in Englisch war. Das wunderte mich – immerhin hatte er behauptet, er würde Französisch mögen und gegenüber Englisch war Französisch ungefähr so verständlich, wie das brunftige Brüllen eines paarungsbereiten Hirsches. Zumindest für mich.

Nach der Doppelstunde hielt Herr Götze Blaise noch kurz zurück, um mit ihm zu reden. Ich schwöre, ich wollte wirklich nicht zum Wiederholungstäter werden, aber ich konnte nicht anders, als im Türrahmen stehen zu bleiben und zu lauschen. Das war eine Krankheit! „Ich habe deine letzten Noten gesehen. Ich weiß ja nicht, woran es liegt, aber wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit Bescheid sagen. Das wird schon. Allzu schwierig wird der Leistungskurs hier nicht und ansonsten helfen dir sicher auch deine Mitschüler. Muss ja nicht gerade Konrad sein, aber soweit ich weiß, wohnst du bei Phils Familie und der ist ein vorbildlicher Schüler.“

Pries Götze mich gerade als Nachhilfelehrer an? Seine hohe Einschätzung von mir in allen Ehren, aber war das sein Ernst? Klar, ich quatschte Blaise stundenlang mit Vokabeln und Grammatik voll und er ignorierte mich gekonnt. Für 3,50€ die Stunde, sicher!

Ach, ich wusste doch sowieso, dass ich Softy ihm sofort helfen würde, sollte er mich fragen – woran ich aber zweifelte. Dafür war er zu stolz. Und hatte gestern einen zu dramatischen Abgang hingelegt.

Trotzdem hörte ich, wie Blondie sich höflich bei Götze bedankte und bevor er in mich hineinrasselte, machte ich eiligst einen Abgang. Sonst würde es doch nur Beleidigungen regnen.

 

Nach der achten Stunde wartete ich mit Konrad und Becca auf Blaise und Theresa, die beide im Kunstleistungskurs waren und anscheinend noch Farben auswaschen mussten oder sowas. Ich konnte mit Kunst leider gar nichts anfangen, wie meine liebste Schwester nicht selten implizierte. Sie ritt gerne darauf herum, dass sie der kreative Part der Familie war. Seit meinem vierten Lebensjahr hatten sich meine Zeichenfertigkeiten leider nicht mehr gesteigert. Mama hatte sich jahrelang ein gerührtes, dankbares Lächeln abgerungen, als ich ihr Bilder von krummen Blumen, Delphinen, die mutierten Haien ähnlich sahen und Maushunden geschenkt hatte.

„Ach“, Konrad klopfte mir, plötzlich erleuchtet, grob auf die Schulter. Höher kam er aber auch nicht, also war es ihm zu verzeihen. „Ich hab Blaise übrigens überredet, dass er Freitag mitkommt.“

Verwundert blinzelte ich. „Du hast was?

Konrad zuckte mit den Schultern, als wäre es kein großes Ding. „Sollte ich nicht? Hab gedacht, das hilft ihm vielleicht. So zum Eingewöhnen und Leute kennenlernen.“

„Nein, ist schon okay.“ Ich kratzte mich am Kopf. Konrad und sein Überredungstalent. „Ich hätte nur nicht gedacht, dass er mitkommen will. Vor allem, wo ich doch dabei bin.“

„Jetzt übertreib nicht“, tat Konny es ab, „Er hasst dich nicht, niemand kann das. Er ist bloß eingeschüchtert. Er weiß nicht, wie er mit deiner ganzen Männlichkeit umgehen soll.“

Konrad grinste diebisch, Becca fing an hysterisch zu lachen und mir blieb nichts anderes übrig, als mitzulachen. Der Typ hatte `ne riesige, unheilbare Macke. So eine Scheiße hatte ich nicht mehr gehört, seitdem die NPD ihr Wahlprogramm vorgestellt hatte.

„Du hast Probleme, Konrad“, lachte Rebecca, bevor Theresa und  Blaise aus ihrem Unterrichtsraum kamen und auf uns zu liefen. „Aber wir haben gelernt, damit zu leben.“

„Danke“, grunzte er und schlang automatisch einen Arm um Theresa, nachdem sie sich wortlos neben ihn gestellt hatte. Blaise bedachte mich derweil mit einem eindeutig auffordernden Blick. Ich ahnte, was er mir sagen wollte, aber solange er nicht tatsächlich mit mir sprach, würde ich nicht auf dieses kindische Verhalten eingehen. Er konnte ruhig mit mir reden, das war ja wohl nicht zu viel verlangt.

„Habt ihr gemalt?“, fragte Becca aus dem Nichts und wandte sich Blaise zu. Erst da fiel mir auf, was Rebecca wohl meinte. Abgesehen davon, dass seine Hände teilweise blau waren, zeichnete seine Wange eine gut sichtbare Farbspur in vielfältigen Nuancen – von Grün zu Rot alles dabei.

Blaise nickte verwirrt und Rebecca zwinkerte ihm amüsiert zu. „Sieht man. Du hast da Kriegsbemalung.“

„Ups.“ Blondie wischte sich unkoordiniert über die Wange und verteilte die Farbe nur noch großzügiger. Grinsend sah ich dabei zu, wie er verzweifelt in seinem Gesicht rumschmierte, bis Theresa ihm helfen wollte und es mit der Farbe an ihren Fingern lediglich verschlimmerte. Becca kicherte bereits, als ich mit einem Taschentuch aus meinem Rucksack das lustige Schauspiel, ohne groß darüber nachzudenken, unterbrach.

„Das kann man sich ja nicht ansehen“, meinte ich leichtfertig und entfernte durch ein-, zweimal Reiben die Fingerfarbe. Dass seine Wangen seltsamerweise danach immer noch rot waren und mich alle komisch anstarrten, registrierte ich gar nicht richtig.

Nach einigen Augenblicken kam wieder Leben in den stocksteifen Blaise, der jetzt zischend meine Hand aus seinem Gesicht schlug und mich böse taxierte. „Griffel weg, Tarzan!“

Ein wenig erschrocken zog ich die Hand zurück, fast wie ein Kind, dass auf die heiße Herdplatte gegriffen hatte. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, aber dass Blaise derartig reagierte, hätte ich eigentlich ahnen müssen. Ein Wunder, dass er mich nicht gleich gebissen hatte.

Was war das auch für eine spontane Eingebung gewesen? Völlig bescheuert. Da konnte ich auch tollwütige Füchse im Wald streicheln gehen und erreichte den gleichen Effekt.

Meine verdammte Nettigkeit.

Blondie brummte und trabte dramatisch und mit roten Wangen davon. Rebecca, Theresa und Konrad warfen sich verschwörerische Blicke zu und ich verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Himmel, der Kerl war erst zwei Tage da und nutzte die Zeit ausnahmslos, um mir auf vielfältige Arten auf die Nerven zu gehen. Ich stieg einfach nicht dahinter. Er motzte mich an, spurte, wenn ich ihn anschrie, ließ sich trösten, wollte aber keinen Beistand und motzte mich wieder an. Ich hasste dieses Wechselspiel!

Ich mochte unkomplizierte Menschen. Jemand wie Konrad. Der entweder ständig sagte, was er dachte, oder sowieso die meiste Zeit gut drauf war.

„Ähm, Phil“, fing schließlich Becca vorsichtig an und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir auf, „Hast du Mutterkomplexe?“

Konrad prustete los und ich verdrehte die Augen. „Ha ha, sehr lustig. Ich wollte bloß nett sein!“

„Das war ein wenig aufdringlich“, erklärte Theresa als einzige sachlich. „Es war ihm unangenehm.“

„Unangenehm?“, warf Konrad grinsend dazwischen. „Noch `n bisschen länger und er hätte geschnurrt, wetten? Oh Phil, du bist so zärtlich!“, quiekte er mit verstellter Stimme, bis ich ihm grob in den Bauch boxte und er röchelnd abbrach.

„Fick dich, Konrad“, brummte ich eingeschnappt und schulterte wieder meinen Rucksack. „Vergiss nicht, wer sich immer anhören durfte, wie geil du Theresa findest. Oh Mann, hast du ihre Augen gesehen? Oder ihre Beine? Oder ihren Arsch? Sie ist sooooo perfekt!“ Konrad lachte verlegen, während Theresa ihn erheitert musterte und ich triumphierend auf seine Schulter klopfte. „Also, sei lieber ruhig, bevor du dich über mich lustig machst. Ich muss ihm dann auch mal hinterher, bevor er wieder durchbrennt. Wir sehen uns!“

 

Mit einem Heben der Hand verabschiedete ich mich von der Runde und verließ das Schulhaus. Es war ziemlich warm, sodass mir draußen direkt eine heftige Hitzewelle entgegenschlug. Bereits der kurze Weg zum Auto brachte mich in meinem T-Shirt und der Collegejacke – ein Geschenk meiner Schwester, sie stand auf amerikanisches Zeug – ins Schwitzen. Keine Ahnung, warum die Sonne Ende September nochmal so aufdrehen musste.

Ich hatte Glück, denn Blaise hatte mir die Ehre erwiesen, am Auto zu warten. Er lehnte an der Beifahrertür und schaute grimmig. Das war durchaus ein Fortschritt, wenn man bedachte, dass er diesmal nicht wie ein trotziges Kind davongerannt war.

„Mutti hat gesagt, dass ich dich heut Nachmittag mit Penny zu Ikea fahren soll, damit wir langsam dein Zimmer einrichten können“, berichtete ich halbherzig, nachdem wir eingestiegen waren und ich den Motor startete.

Blaise zuckte mit den Schultern. „Niemand zwingt dich.“

Oh, da kannte er meine Mutter aber schlecht. Abgesehen davon, tat ich das natürlich gerne, was der Kerl nicht zu verstehen schien. Hielt er denn so wenig von seinen Mitmenschen, dass er dachte, man müsste andere zwingen, um ihm zu helfen?

Langsam bekam ich die Einsicht, dass es nicht an mir oder meinem Verhalten lag – zumindest nicht hauptsächlich – dass er mich so abfertigte, sondern daran, was Blaise von Menschen erwartete. An seiner Einstellung und seinen Erfahrungen. Er wertete Personen, die er nicht kannte, nicht gerade hoch ein. Was wohl wiederum auch an dem Mobbing lag, das er durchgemacht hatte.

Ich weiß nicht wieso, aber ich wollte, dass er mir eine Chance gab.

„Muss auch niemand“, erwiderte ich schlicht und beendete das Gespräch damit.

 

Zuhause erwartete uns bereits Penny mitsamt Nachwuchs. Tim spielte mit Mutti Mau-Mau und Emma schlief selig in ihrem Maxi-Cosi, worauf mein Neffe mich äußerst diskret mit einem lauten „Sssshh!“ aufmerksam machte.

„Ihr könnt noch fix essen, aber dann müssen wir auch schon los. Jonathan kommt uns“, damit deutete sie auf sich und ihre Kinder, „um sieben abholen, deswegen müssen wir uns etwas beeilen.“

Wir taten wie geheißen, schaufelten uns kommentarlos schnellstmöglich die Lasagne rein und spurteten dann mitsamt Penny zum Auto, auf direktem Weg nach Hamburg, die nächste Großstadt, die ein Möbelhaus wie Ikea beherbergte. War an sich eine läppische Fahrt von einer Stunde, wenn man auf der Autobahn nicht so schlich wie meine werte Schwester – weshalb auch ich fuhr. War ja immerhin mein Auto.

„Mama hat gesagt, wir können so viel kaufen, wie du möchtest“, lächelte Penny fröhlich und beugte sich zu uns vor. Ich verbannte sie prinzipiell auf die Rückbank, wenn sie mit mir fuhr, weil sie ungefähr die schrecklichste Beifahrerin der Welt war. Den Titel hatte sie sich ehrenhaft mit diversen Sprüchen wie „War da nicht ein Stoppschild?“ oder „Du fährst viel zu schnell!“ oder gar „Oh mein Gott, hast du überhaupt den Schulterblick gemacht?! Du bringst uns noch um!“ verdient.

„Das ist wirklich nett“, erwiderte Blaise dankbar. „Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich noch brauche.“ „Kein Problem“, grinste Penny, als wäre das ihr Stichwort gewesen, „Dafür bin ich ja da! Mutti hat mir alles genau erklärt. Wir brauchen einen kleinen Schrank, einen Nachttisch, ein Bett und alles, was du dir vielleicht noch wünschst.“

Na klasse, in meinen Ohren klang das bloß nach viel Arbeit, die ich wieder erledigen musste. Als ob hier irgendjemand außer meiner Wenigkeit Möbel zusammenbauen würde. Dass ich nicht lache!

Die restliche Fahrt plapperte Penny heiter drauf los. Sie redete von ihrem Beruf als Fotografin, wie sie Jonathan kennengelernt hatte und leider auch über die Geburt von Emma. Nichts gegen Kinder, aber Geburten waren für mich so ziemlich das ekeligste, was ich mir vorstellen konnte. Ich meine, da kommen Babys … aus … und Blut … und … danach …

Einfach ew.

 

Ich hätte beinahe erleichtert aufgeseufzt, als wir schließlich endlich bei Ikea angekommen waren. Kaum zu glauben, aber ich war keine Person, die gerne einkaufen ging, schon gar nicht Möbel. Mit sowas konnte man mich foltern.

Und so fühlte es sich auch an.

Blaise und Penny schafften es, bei jeder neuen Tapete, jedem andersfarbigen Teppich und jedem verdammten Vorhang stehen zu bleiben. Es nützte nichts, sie darauf aufmerksam zu machen, dass wir eigentlich nach viel wichtigeren Dingen suchten, sie gingen trotzdem glücklich weiter ihrer Beschäftigung nach. Blaise gewiss nicht ohne mich giftig anzuschauen.

„Wie findest du eigentlich die Schule hier? Ist bestimmt anders als in der Großstadt.“ Penny sah fragend von dem Gardinenstoff auf. Sie redete, als würde er aus einem anderen Land kommen und nicht bloß aus einem anderen Bundesland.

Blondie fuhr sich mit einer Hand durch das gestylte Haar, bevor er sie in die Hosentasche steckte. Es wunderte mich, dass da Platz war, so eng wie die Hosen waren. „Es ist ganz nett hier. Irgendwie offener als in Hamburg.“ Verwundert blinzelte Penny. „Offener? Echt? Ich dachte eher, es wäre andersrum.“ Blaise lächelte leicht und ich lehnte mich neben ihm an die Wand, um so zu tun, als würde das Gespräch mich gar nicht beschäftigen. Obwohl meine Ohren gerade tellergroß wurden.

„Ja, in großen Städten sind die Leute irgendwie … misstrauischer, finde ich. Viele sind oberflächlich und unterscheiden nur in Schwarz und Weiß.“ Es fiel mir schwer, mir dabei nicht vorzustellen, wie irgendwelche Typen auf ihm rumhackten und dumme Kommentare abgaben, während er verzweifelt versuchte, sich verbal zu verteidigen. Dabei schoss mir das Bild von einem weinenden Blaise in den Kopf und ich wurde seltsamerweise wütend.

„Das Problem wirst du bei uns nicht haben. Du findest bestimmt schnell Freunde. Und Phil ist ja auch noch da, der ist sowieso die netteste Person, die du weit und breit finden kannst“, feixte meine Schwester mit blitzenden Augen.

Ich zog eine Grimasse und Blaise schnaubte. So viel dazu.

Penny schüttelte über uns grinsend den Kopf und stapfte weiter zu der Abteilung mit den Schlafzimmermöbeln, ohne sich nach uns umzudrehen.

Wir warfen uns einen kurzen, fast prüfenden Blick zu, ehe wir ihr folgten. Es wunderte mich sowieso, seit wann jeder in meinem Umfeld meinte, mich anpreisen zu müssen wie einen Rassepudel.

Er ist ja so nett!

Ja, nett ist der kleine Bruder von scheiße – zumindest schien Blaise das zu denken.

„Wann wollt ihr die Möbel eigentlich zusammenbauen?“, fragte Penny beiläufig, wobei sie gerade mit Blaise ein Futonbett in Augenschein nahm.

Bevor Blaise hätte antworten können, war ich eingesprungen. „Ich mach das morgen Abend, denk ich mal.“

Sofort traf mich der überraschte Blick des Blonden vor mir. Keine Skepsis, kein Misstrauen, bloß Überraschung. „Du?“ Verwirrt und schief grinsend erwiderte ich den Augenkontakt. „Wer denn sonst? Ich mach das schon, kein Problem.“

Aha, kein Problem also, Phil? Wie war das noch, als ich das letzte Mal etwas zusammengebaut hatte? Richtig, ich hatte mir den Finger gebrochen. Tja, die meisten Unfälle passieren im Haushalt…

„Oder soll ich nicht?“, hakte ich vorsichtshalber nach, als er mich immer noch anstarrte.

Er schüttelte mit dem Kopf und hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, schon gut. Ich bin nur … also … ähm … danke.“

Wow. Hatte sich Cinderellas böse Stiefmutter gerade wirklich bei mir bedankt? Der war ja jeden Tag für eine Überraschung zu haben!

„Süß“, murmelte derweil Penny in sich herein, was hoffentlich nur ich gehört hatte. Ich schaute sie drohend an und sie tat unschuldig. Unbekümmert schickte sie Blaise los, nach den Preisen der anderen Futonbetten zu schauen, die sie eben gesehen hatte und wartete geduldig, bis der Blonde sich einige Meter entfernt hatte, ehe die Worte aus ihr raus sprudelten.

„Warum hilfst du dem Kleinen so? Er giftet dich die ganze Zeit ohne Ende an. Wenn ich so zu dir war, hast du meine Lieblingsbücher zerschnitten.“

Ich verkniff mir das schadenfrohe Grinsen bei dem Gedanken und zuckte mit den Schultern. „Ich bin eben nett. Und aus dem Alter raus, wo ich mich leicht provozieren lasse.“

Sie starrte mich einige Augenblicke an, bevor sie ihr „Oh“-Gesicht machte und sich die Hand gegen die Stirn schlug. „Du hast ihn weinen gesehen, oder?“

Das war gruselig, wie gut meine Schwester mich kannte. Ertappt und skeptisch kratzte ich mich am Kopf. „Ja, ähm … woran merkt man das denn?“

„Ich bitte dich“, spielte Penny sich sogleich auf, „Ich kenne dich. Erstens, ist die Stimmung zwischen euch echt seltsam und zweitens, mutierst du immer zur Übermutti, nachdem du jemanden weinen gesehen hast. Ich meine, du willst freiwillig sein Zimmer umbauen?“

„Das stimmt doch gar nicht, ich mutier doch nicht zur Übermutti!“ „Ach ja?“ Penny lachte. „Wie war das, als ich damals geweint habe, weil ich Liebeskummer hatte? Du warst sieben und wolltest den Jungen verprügeln. Und da hattest du noch Angst im Dunkeln.“

„Also, das ist jetzt…“

„Oder damals“, überging sie mich einfach, „als du mit Rebecca Schluss gemacht hast und sie bitterlich geweint hat. Du bist so zur Übermutti mutiert, dass du kurz davor warst, ihr einen Heiratsantrag zu machen.“

Ich brummte unbestimmt und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Blaise zu uns zurück schlenderte. „Okay“, ging ich mit, „Ich seh’s ja ein.“

„Gut.“ Penny grinste zufrieden. „Ich find’s süß, dass du dich um ihn kümmern willst. Ich hab das Gefühl, dass er das braucht.“

Blaise kam bei uns an, warf uns fragende Blicke zu, weil wir unser Gespräch abrupt beendeten und ich musste lächeln.

Ja, ich war ein guter Kuschelbär.

Phillis baut Betten

Schlussendlich musste ich mit einem Schrank, einem Bett und einem Nachttisch Tetris spielen. Es dauerte fast zehn Minuten, bis ich die ganzen Kartons irgendwie in meinen Kofferraum und auf die Rückbank manövriert hatte, sodass auch noch Platz für Penny übrig blieb. Die konnte ich bedauerlicherweise nicht dalassen.

„Gute Wahl mit dem dunklen Holz“, kommentierte meine Schwester fast ein bisschen stolz, als wir schließlich alle im Auto saßen und ich erleichtert vom Parkplatz rollte. „Wir können ja den Rest zusammen dekorieren, wenn Phil die Möbel zusammengebaut hat?“

„Klar, wieso nicht. Du hast bestimmt mehr Geschmack als mein Vater. Der stellt sich die Bude mit so kitschigen Glasfiguren und Uhren voll.“ Blaise zog demonstrativ eine angewiderte Grimasse.

„Ew“, machte Penny, die sich allein durch den Gedanken daran ekelte, „Das tu ich dir bestimmt nicht an. Scheußlich! Jonathan hatte zum Beispiel sein halbes Zimmer vollgestellt mit Schneekugeln, die er gesammelt hat. Zum Glück konnte ich ihn davon überzeugen, dass die sich im Keller besser machen.“

Hach ja, was hatte mein Schwager für ein Glück mit meiner Schwester gehabt…

„Wenn man vom Teufel spricht.“ Penny wühlte hörbar ihr klingelndes Handy aus ihrer Handtasche und hob ab. „Ja?“ Es dröhnte eine dunkle Stimme zurück, die ich sofort als Jonathans identifizierte. Ich mochte den Kerl, weil er ein praktischer, direkter Mann war, der meine aufbrausende Schwester mit nur einem Blick zum Schweigen bringen konnte – und das schaffte nicht mal ich. Außerdem war er ein fürsorglicher Vater und ein Sportfreak. Dinge, die ihn in meinen Augen eben sympathisch machten.

„Na, meine Amazone?“, tönte es viel zu laut aus dem Lautsprecher zurück, worauf Penny rot wurde und den Ton sofort leiser stellte. Ich gluckste und sah, wie Blaise sich neben mir ein Grinsen verkniff. Penny ignorierte uns und konzentrierte sich darauf zu antworten.

Nach dem kurzen, säuselnden Telefonat der beiden bohrte ich natürlich augenblicklich nach. Ich schaute grinsend durch den Rückspiegel zu meiner Schwester. „Er nennt dich Amazone? Echt jetzt?“ „Na und“, empörte Penny sich verlegen, „Jedes Pärchen hat seltsame Kosenamen, das ist ein ungeschriebenes Gesetz.“

„Aber Amazone?“, fragte Blaise grinsend nach und drehte sich fassungslos zu ihr um. „Weil du so eine Kriegerin im Bett bist oder…?“ Pennys Gesicht wurde rot und ich lachte laut auf. „Nein“, echauffierte sie sich und schlug dem Blonden sanft von hinten gegen den Oberarm. „Wegen meines Namens!“

„Penny?“, hakte Blaise verwirrt nach. „Was hat das mit Amazonen zu tun?“

Meine Schwester zwirbelte eine ihrer brünetten Strähnen und freute sich anscheinend darüber, eine neue Person mit ihrer tollen Geschichte nerven zu können. „Das ist bloß ein Spitzname. Eigentlich heiße ich ‚Penthesilea‘, wie die Tochter der Amazonenkönigin und Ares, dem Kriegsgott. Griechische Mythologie, sagt dir das was?“

„Äh“, Blaise schüttelte ratlos den Kopf, „Eher nicht. Höchstens aus Filmen etwas.“

„Jedenfalls war sie eine Amazone, die auch im trojanischen Krieg gekämpft hat. Sie starb im Kampf gegen Achilles, der sich aber kurz vor ihrem Tod noch in sie verliebte. Tragisch, oder?“ Penny seufzte und ich verdrehte die Augen. Sie konnte so dramatisch sein.

„Die kürzeste Tragödie der Geschichte“, kommentierte ich gelangweilt – war ja nicht das erste Mal, dass ich mir das anhören durfte – und brachte damit Blaise zum Lachen.

Na ja, immerhin konnte er noch über meine Witze lachen.

„Mutti steht ziemlich auf die griechische Mythologie und alles, was mit ihr zu tun hat. Da war’s natürlich praktisch, dass unser Vater ursprünglich aus Griechenland kommt. Und unsere Oma wollte, dass wir griechische Namen bekommen. Ich bin froh drüber.“

„Zu dir hätte auch super Chantal gepasst“, flötete ich und kassierte dafür sogleich einen Klaps gegen die Schulter. „Hey“, schimpfte ich, „Nicht den Fahrer schlagen, bist du irre?“

„Du bist doch bloß neidisch, weil du kein toller Held oder Krieger bist!“ Sie streckte mir die Zunge raus und ich fragte mich wie so oft, ob sie wirklich die Ältere von uns beiden war.

„Also ist Phil auch nur eine Abkürzung?“, stellte Blaise fest und besah mich ungewohnt neutral von der Seite. Ich lächelte ihn an und er wandte stur den Kopf wieder ab, als könnte er meine Visage nicht ertragen. Vielleicht interpretierte ich auch zu viel in seine Gesten.

„Hab dir doch gesagt, ich heiße nicht Philipp. Ich besitze natürlich auch so einen tollen mythologischen Namen“, bestätigte ich ruhig und trommelte auf dem Lenkrad herum. Im Radio lief irgendein rhythmischer Chartsong, der schon die ganze Woche rauf und runter gespielt wurde.

Blaise sah mich einige Zeit abwartend an und erwartete wohl, dass ich ihm verriet, wie ich tatsächlich hieß. Ich grinste jedoch lediglich in mich hinein und schwieg mich aus. Mein Name war mir zwar nicht peinlich, aber er würde ihn nicht erfahren, solange er sich mir gegenüber so distanziert verhielt. Den verdiente man sich mit Freundschaft.

Ansonsten sollte Phil reichen. Ich mochte meinen Namen nämlich, da konnte man sich immer sicher sein, dass Emailadressen oder Usernamen noch nicht vergeben waren. Abgesehen davon, dass Penny und ich damit gestraft waren, auf ewig Vor- und Nachnamen buchstabieren zu müssen, damit man sie auch richtig verstand. Grundsätzlich hießen wir nämlich, laut diversen Briefen und Einschreiben, immer Drimakis, Diwakis oder sogar mal Dimakus, statt Dimakis.

 

Das Gesprächsthema wurde daraufhin fallen gelassen und Penny gab sich damit zufrieden, mit Blaise die restliche Zeit zu planen, wie sie sein Zimmer einrichten konnten.

Zuhause angekommen, half Jonathan uns gnädigerweise die neu erstandenen Möbel mit reinzutragen. Für den Fitnesstrainer kein Problem.

Kurz darauf verabschiedete die kleine Familie sich – Penny ließ es sich dabei nicht nehmen, mir viel Glück zu wünschen, wobei auch immer. Ich schob es auf das Möbelbauen, auch wenn ich befürchtete, sie meinte etwas anderes.

Blaise strafte mich wie gewohnt mit Schweigen und so kam es, dass dieser Abend ausnahmsweise ereignislos zur Neige ging. Fast ein bisschen unheimlich. Kein Drama, keine peinliche Situation, sondern das einfache Ausschalten der Nachttischlampe. „Gute Nacht“, brummte ich irgendwann seufzend und verschränkte die Arme hinterm Kopf, ohne eine Antwort zu erwarten. Deswegen erschrak ich umso mehr, als nach einigen Minuten plötzlich ein brummendes, knurriges „Nacht, Tarzan“ geantwortet wurde.

 

In der Schule passierte nichts Außergewöhnliches. Es war ein Mittwoch wie jede Woche, bis auf die Tatsache, dass Becca und Konrad sich in multiplen Abständen über mich lustig machten und so taten, als würden sie sich gegenseitig irgendwas aus dem Gesicht wischen, ehe sie in wieherndes Gelächter ausbrachen. Ha ha, sehr lustig.

Blaise bekam davon zum Glück nichts mit. Keine Ahnung, ob er das so unterhaltsam gefunden hätte oder mir glatt noch eine verpasste, weil ich es gewagt hatte, seine Porzellanhaut anzutatschen.

Konrad bestand immer noch hartnäckig darauf, dass Blaise schwul war, nachdem er sich die meiste Zeit als einziger von uns mit ihm unterhielt. Dadurch erfuhr ich, dass Blaise nähen mochte und er etliche Modemarken erkannte – alles vielleicht nicht gewöhnlich für `ne Hete, aber noch längst nicht genug, um ihm einen Stempel aufzudrücken. Ach, selbst wenn, würde es mich nichts angehen. Homosexualität war ja kein Club, dem man plötzlich angehörte. Entgegen aller Überlegungen seitens der Heteros trafen wir uns nicht wöchentlich in einem blumengeschmückten Saal und diskutierten darüber, welcher männliche Schauspieler den geileren Arsch hatte.

Channing Tatum.

Nach der Schule ging ich mit den Hunden Joggen und zwang mich dazu, nach den fertigen Hausaufgaben mit dem Aufbauen der Möbel anzufangen. Mein Vater und ich hatten das alte Büro glücklicherweise bereits am Wochenende soweit ausgeräumt, dass zumindest genügend Platz dafür vorhanden war.

Ob genügend handwerkliches Talent vorhanden war, war eine andere Sache.

Immerhin hatte ich schon mal Möbel zusammengebaut. Sowohl mein Bett, als auch meinen Schreibtisch. Das hatte mich zwar einige Nerven und auch einen Daumen gekostet, aber ich würde sicher keinen Rückzieher machen. Vielleicht würde es dieses Mal ja schneller laufen…

Der Schreibtisch stellte tatsächlich kein schwerwiegendes Problem dar, genauso wenig der Nachttisch. Das beides kostete mich eine Stunde und das dämliche Bett lag noch vor mir. Und dabei war es so affig heiß, dass ich in meinem T-Shirt anfing ohne Ende zu schwitzen. Selbst das offene Fenster schaffte keine Linderung, also zog ich mir stattdessen ein altes Muskelshirt an, das ein wenig luftiger war. So hatte ich wenigstens nicht das Gefühl gleich zu ersticken.

Ich verlor bereits nach zwanzig Minuten die Geduld, was noch zusätzlich dadurch bestärkt wurde, dass auch noch Blaise aus dem Nichts auftauchte. Ich schwitzte, mir war warm und eine der Holzlatten hatte mir in die Hand geschnitten. Und mir fehlte ein größerer Bit.

Blaise Anwesenheit fiel mir erst auf, als ich plötzlich ein lautes Poltern hinter mir vernahm, mich  erschrocken umdrehte und in den Flur spähte, wo ich den Blonden schließlich erblickte, der gerade verzweifelt versuchte, die Kommode gegenüber, die er anscheinend umgestoßen hatte, wieder aufzurichten. Ausnahmsweise war nicht ich der Tollpatsch.

Es dauerte eine ganze Weile, in der ich den, mittlerweile hochroten, Blaise dabei beobachtete, bis es ihm gelang, weil er irgendwie vollkommen unruhige, unkoordinierte Bewegungen vollführte. Was war der denn so durch den Wind?

„Ähm“, ich runzelte die Stirn, als er sich zu mir umdrehte und mich mit roten Wangen anstarrte, „ Alles okay…?“

Er machte sofort sein böses Gesicht, auch wenn es ihm so verlegen nicht ganz gelang. „Natürlich“, brummte er und trat unschlüssig auf der Stelle herum. „Ich sollte nur nachsehen, wie weit du bist. Deine Mutter…ähm…“

Er stockte und stotterte, weshalb ich verwirrt mein Schrauben unterbrach und mein Augenmerk wieder auf ihn richtete. Er starrte mich immer noch an. Fast so seltsam wie vorgestern, als ich mit Tim gespielt hatte.

Tat ich irgendwas, was er nicht leiden konnte? Oder merkwürdig fand? Hey, ich baute hier sein Bett zusammen, da sollte er mich nicht anstarren, wie ein Tier im Zoo.

„Meine Mutter?“, half ich ihm abwartend auf die Sprünge, nachdem er es vorzog, zu glotzen und zu schweigen.

Erschrocken stoppte er die Musterung meines Körpers und schaute mir wieder in die Augen. Mochte er mein Muskelshirt nicht? Oder war es, weil ich schwitzte? Ich konnte ja schwer meinem Stoffwechsel sagen, er sollte das bitte mal lassen mit dem Kühlen. Es war wirklich arschwarm! „Sie ist fast fertig mit dem Abendessen, deswegen…“

Er gestikulierte sinnlos in der Luft herum und ich nickte zum Verständnis, weil ich mir das Gestammel nicht mehr anhören wollte. Blondie brach sofort ab und sah runter auf den Werkzeugkasten vor seinen Füßen. Da fiel mir ein, dass ich einen Bit suchte.

„Hey, kannst du mir bitte einen anderen Bit geben? Am besten den größten, der drin ist.“

Ich drehte ihm wieder den Rücken zu und versuchte verzweifelt mit dem Akkuschrauber die Schrauben ins Gestell zu zwingen, was mehr schlecht als recht funktionierte. Weil ich hörte, wie Blaise sich hinter mir bewegte, ging ich davon aus, dass er mir den Gefallen tat. Blind hielt ich die Hand nach hinten und wartete, bis er mir das gewünschte Objekt in die Handfläche legte, staunte aber nicht schlecht, als er mir tatsächlich eiskalt eine Zange überreichte.

Ungläubig und mit hochgezogenen Augenbrauen wandte ich mich um, nur um festzustellen, dass er mich schon wieder – oder immer noch? – mit seinen grauen Augen durchbohrte. Er war irgendwie nicht ganz bei der Sache, hatte ich das Gefühl.

„Äh, Blaise. Das ist eine Zange“, ich wedelte mit dem Ding vor seiner Nase rum, „Und kein Bit.“ In welcher Welt waren sich eine Zange und ein kleiner Bit so ähnlich, dass man sie verwechseln konnte?! Hatte der Kerl Gras geraucht?

„Ich weiß doch“, schnauzte er und riss mir das Werkzeug förmlich aus der Hand. Aufgebracht stapfte er zurück zum Werkzeugkoffer, kramte endlich einen Bit hervor und warf ihn mir kurzerhand zu. Dann schnaubte er und verschwand polternd, wie er gekommen war, irgendwelche Flüche vor sich hin brummelnd.

Äußerst suspekt, der Kerl. Aber ich hatte gerade keinen Nerv übrig, um mir wegen seines merkwürdigen Verhaltens den Kopf zu zerbrechen. Ich war leider nicht multitaskingfähig und wollte nicht riskieren, mir nebenbei mit dem Akkuschrauber ein Guckloch zu verpassen.

 

Nach über einer weiteren Stunde war ich endlich fertig mit dem Bett. Beinahe hätte ich vor Erleichterung aufgejauchzt und einen Freudentanz vollführt, wenn mir mein Rücken nicht so verdammt wehgetan hätte. Das Abendessen hatte ich willentlich verpasst, weshalb ich mich jetzt durchgeschwitzt, müde und kaputt in die Küche quälte und mir übrig gebliebenes Futter auf einen Teller lud. Am Ende glich es einer großen Fresspyramide, aber mein Körper schrie gerade nach vielen Kohlenhydraten.

Am Esstisch traf ich auf Blondie, der mit Brille und ernster Miene vor seinem Laptop hockte und auf die Tasten einhackte. Das schwarze Gestell auf seiner Nase stand ihm überraschend gut und ließ ihn harmloser wirken, als er tatsächlich war. Fast wie Ablenkungsmanöver, um die Aufmerksamkeit von seinen bohrenden, bösen Augen zu nehmen…

Ich setzte mich wortlos gegenüber und schaufelte mir zu dem klackenden Tippgeräusch rhythmisch Fleisch in den Mund. Es war seltsam, so still zu essen. Normalerweise hätte meine Mutter längst losgequatscht, von Penny ganz zu schweigen. Das war gespenstisch hier. Mutti war unten in der Waschküche, wenn ich mich nicht irrte und von Blaise durfte ich kein vernünftiges Gespräch erwarten.

Innerlich seufzend stand ich nach vollbrachter Fressattacke auf und legte meinen Teller in die Spüle. Dadurch konnte ich direkt über Blaise Schulter auf seinen Laptopbildschirm gucken und stockte.

Das war ein Blog.

Und nicht irgendein Blog, sondern ein Fashionblog.

Lauter Klamotten, Marken und anderes Gedöns. Und ich wäre nicht noch perplexer gewesen, wenn ich nicht gesehen hätte, dass Blaise gerade etwas auf diesem Blog hochlud. Was es also zu seinem Fashionblog machte.

Ich konnte Blogger nicht ausstehen, weil die meisten meines Wissens nach nur unsinniges, dummes Zeug quasselten, von ihrem ach-so-schrecklichem Leben oder dämlichen Sonnenuntergangskulissen, die sie beim Spazieren in der Stadt gegen das Licht fotografiert hatten. Gut, ich kannte mich nicht wirklich mit Blogs aus, aber für mich waren sie halt nichts.

Am schlimmsten fand ich jedoch diesen aufkommenden Hype um Fashionblogs. Oftmals erstellt von siebzehnjährigen Mädels mit Ombré Style, Hipstermütze und diesen kreativen Jutebeuteln.

Na ja, jeder hatte halt seine Hobbies. Von Konrad wusste ich ja bereits, dass Blondie nähen konnte und Kleidung mochte, also eigentlich kein Wunder.

Aber das Blaise zu diesen Fashion-Groupies gehörte…

Ich gluckste und Blondie fuhr mit krauser Stirn zu mir herum.

„Was ist so lustig, Tarzan?“, brummte er und schob sich die leicht verrutschte Brille wieder hoch. Niedlich

Bevor ich mich hätte stoppen können, plapperte mein loses Mundwerk bereits drauf los. Achtung, unbedachte Wörter im Anmarsch! „Ein Fashionblog?“ Blaise Wangen färbten sich leicht rötlich und Gift spritzend klappte er grob den Laptop vor sich zu. „Warum nicht? Was gibt’s da zu lachen?“ Argh, blöder Phil! Natürlich stand er zu seinem Hobby – warum auch nicht? Aber ich Trottel machte mich über seine Interessen lustig. Mal wieder sehr charmant! „Nichts, ähm … sorry. Das kam falsch rüber“, versuchte ich vergeblich das Schlimmste noch abzuwenden – doch zu spät.

„Falsch rüber, na klar“, schnaubte Blaise und klemmte sich beim Aufstehen den Laptop unter den Arm, „Findest du ganz witzig, was? Kann ja nicht jeder rumlaufen wie’n Troll.“ Abschätzig wanderte sein Blick an mir herunter, obwohl es einige Sekunden dauerte, bis er sich von mir loseisen konnte, so hatte ich das Gefühl. „Und an deiner Stelle würde ich mal duschen. Du stinkst.“

Damit rümpfte er die Nase und ließ mich wie den letzten Depp stehen. Ich schnüffelte unauffällig an meinem miefigen Muskelshirt und seufzte. Er hatte Recht. Ich war echt ein stinkender Troll. Irgendwie konnte ich es nicht lassen, jedes mögliche Fettnäpfchen mitzunehmen.

Da hatte ich ja wieder was angerichtet…

 

Als ich oben ankam, hatte Blaise seinen Koffer und sein Bettzeug bereits in sein neues Zimmer verfrachtet. Das ausgeklappte Sofa strahlte eine ungewohnte Leere aus. Dabei waren es bloß vier Tage gewesen. Eigentlich hätte ich mich gar nicht daran gewöhnen können, mein Zimmer mit zu teilen, in der kurzen Zeit. Trotzdem fühlte ich das schlechte Gewissen an mir nagen. Warum konnte ich nicht einmal meine dumme Klappe halten? Wo es mich doch sowieso schon belastete, wenn jemand auf mich sauer war.

Ich schob das Sofa wieder zusammen, warf die passenden Kissen darauf und setzte mich.

Wieso war es eigentlich so schwierig, sich mit Blaise anzufreunden?

Wieso war es für ihn so schwierig, sich mit mir anzufreunden?

Ich war ja nun wirklich umgänglich…

 

Bis Freitag war eigentlich alles wie immer. Blaise konnte mich nicht ausstehen, war aber nun vom Stadium ‚Ignorieren‘ dazu übergegangen, mich zu beleidigen, wo es ihm möglich war. Ich hatte also offiziell eine neue Stufe in seiner Hassskala erreicht. Ob es dafür einen Preis gab? Außer seiner Abscheu? Eine kostenlose Kastration?

Freitagabend kam schneller als gedacht. Während ich schließlich unten auf dem Sofa hockte und von Konrad vollgequasselt wurde, hatte Blaise sich oben bereits seit einer halben Stunde im Bad eingesperrt, um sich fertig zu machen. Irgendwie hatte ich kaum noch Lust, mit zu Ruben zu gehen. Ich würde mich lieber mit einer DVD vor meinen Fernseher hocken und Chips essen, aber aus der Nummer kam ich wohl nicht mehr raus. Blaise schien sich gefreut zu haben, dass man ihn eingeladen hatte und Konrad ließ sich gemütliche Abende mit Bier eh nie durch die Lappen gehen.

„Was macht der denn da oben?“, brummelte ich und stützte mein Kinn lustlos auf einer Hand ab. Konrad gab mir mit dem Fuß einen unsanften Stoß gegen den Oberschenkel. „Guck nicht so gequält! Dass wir da hingehen war deine Idee. Und ich geh sicher nicht mit dir irgendwohin wenn du so’n Gesicht machst!“

Ich brummte und Konrad gab mir einen weiteren Tritt, als endlich Blaise ganz in Prinzesseninnenmanier die Treppe runter stolzierte. Fehlte nur, dass mir bei seinem Anblick die Luft weg-

Himmel, ging die Hose noch enger?!

Er trug eine enge, dunkelblaue Jeans mit Löchern, ein Jeanshemd, dessen obersten Knöpfe geöffnet waren und dort helle Haut offenbarten und passende, schwarze Chucks. Er sah aus wie eines dieser leicht androgynen Männermodel aus den Katalogen.

Ich schüttelte den Kopf und stand ein wenig zu ruckartig auf. Also wenn der Kerl nicht schwul war, dann hatte er einen eindeutig zu gefährlichen Modegeschmack für eine Hete!

Um den Gedanken loszuwerden blubberte ich laut etwas von „Bereits den Motor anlassen“ und schlenderte bemüht lustlos aus dem Haus. Wenn ich bereits meinen Stiefcousin – ich meine, Blaise! – anziehend fand, waren meine Hormone eindeutig zu übergriffig. Gut, das letzte Mal war fast ein ganzes Jahr her, aber das war längst kein Grund gleich die Kontrolle zu verlieren!

Keine drei Meter hinter mir traten auch Konrad und Blaise aus dem Haus und verabschiedeten sich noch freundlich von Mutti, die winkend im Türrahmen stand und uns viel Spaß wünschte.

„Weißt du, wer alles da ist?“, fragte Konny, als er auf der Beifahrerseite einstieg und sich anschnallte. Der Motor schnurrte bereits ungeduldig und ich stellte meinen Sitz ein. Ich hasste es, wenn Mutti mit meinem Auto fuhr, die saß so nah am Lenkrad, dass sie beinahe ihr Kinn drauf ablegen konnte.

„Ich denke mal wie immer. Fabian, Steffen, Torsten, Niklas…“

„Niklas?“ Konrad klang nicht begeistert. „Klasse.“

Ich schmunzelte leicht und warf ihm einen kurzen, amüsierten Blick zu. „Langsam könntest du mit der Nummer aufhören. Ist schon ein Jahr her, dass er‘s bei dir verkackt hat.“

„Einer muss ihm den Scheiß ja übel nehmen“, erklärte Konrad gleichgültig, „Wenn du Spacken mal wieder viel zu nett für diese Welt bist.“

Ich gluckste und beschloss, dass Gespräch zu beenden und loszufahren, weil Blaise auf der Rückbank mittlerweile schon ungeduldig mit dem Fuß wippte. Es war kurz nach acht und wenn wir zu spät kämen, würde Ruben uns bei den kommenden Trinkspielen benachteiligen.

 

Wir waren nicht die letzten, aber Ruben ließ uns für die zweiminütige Verspätung alle zwei Shots trinken. Blaise zog bei dem puren Wodka eine angewiderte Grimasse, trug es aber wie ein Mann. Allgemein machte er sich den Abend ganz gut. Die Jungs waren nett zu ihm und er integrierte sich reibungslos durch lustige Sprüche oder spitze Kommentare – die natürlich alle ausschließlich mir galten. Alle amüsierten sich köstlich darüber, dass ich anscheinend als heutiges Opfer auserkoren worden war. Selbst die Trinkspiele verlor ich fast alleingehend. Das war eindeutig nicht mein Abend.

„Wenn Phil noch mehr trinkt, muss ich ihn nach Hause tragen“, lachte Konny schadenfroh und wedelte demonstrativ mit der Hand vor meinem Gesicht rum. „Alter, wie viele Finger zeige ich?“

„Gleich gar keine mehr“, drohte ich halbherzig und schlug seine Griffel weg. „Ich vertrag mehr Alkohol als du trinken kannst, also tu nicht so!“

„Schon gut, du Angeber“, grinste Ruben und mischte die Karten neu. „Verlieren wirst du aber trotzdem, Großer.“

Ich schnaubte belustigt und nahm meine Karten entgegen, ehe Steffen mich darauf aufmerksam machte, dass mein Glas mal wieder leer war. Ich hatte mittlerweile das Gefühl, dass das Glas keinen Boden hatte, so oft, wie ich schon nachgeschenkt hatte…

„Blaise, gibst du mir bitte mal den Wodka?“ Ich streckte ihm die Hand entgegen, weil die Flasche direkt vor seinen Füßen platziert war, aber Blondie dachte gar nicht daran.

„Ehrlich, noch mehr Wodka? Nicht, dass deine Pille dann nicht mehr wirkt“, erwiderte er süffisant grinsend und tippte auf seinem Handy rum, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Wieso, willst du mich etwa schwängern?“, pampte ich zurück. Derweil hatte Fabian, der uns belustigt beobachtete, längst die Flasche an mich weitergereicht.

„Bitte? Für mich ist dein Gesicht eigentlich schon Verhütung genug.“ Er lupfte eine Augenbraue und ich zog eine Grimasse. Der Herr hatte also sein loses Mundwerk wiedergefunden, super. Die kleine Auseinandersetzung wegen seines Fashionblogs war wohl sowas wie eine Kriegserklärung für ihn gewesen…

Das ging schon den ganzen Abend so – was natürlich zur allgemeinen Belustigung beitrug. Zum Glück besaß ich ein dickes Fell und Geduld, jeder andere hätte dem blondierten Idioten längst den Hals umgedreht. Seltsamerweise musste ich mir irgendwann eingestehen, dass ich den Schlagabtausch eigentlich ganz unterhaltsam fand. Es war zumindest besser, als von ihm ignoriert zu werden.

„Ihr seid echt niedlich“, grinste Steffen. „Wie ein altes Ehepaar.“

Sein Grinsen verschwand innerhalb von Sekunden, als sowohl Blaise als auch ich ihn gleichzeitig böse anstarrten. „Uh“, flötete Konrad und lachte, „Wenn Blicke töten könnten…“

Just in dem Moment trötete Blaise Handy los. Ohne ein weiteres Wort verschwand er damit aus dem Keller und ging nach oben. Damit lenkte er auch die Aufmerksamkeit weg und die Jungs starteten zeitgleich ein Gespräch über das kommende Fußballspiel vom FC Bayern. So schnell wurde das Thema gewechselt.

Da war nur noch Konrad, der unauffällig mit der Hand auf sein Handy deutete und mir dann zunickte. Es dauerte einige Gesten, bis ich verstand, dass er wollte, dass ich auf mein Smartphone schaute.

 

Niklas hat gefragt, ob Blaise dein Neuer ist

 

Ich hätte am liebsten laut losgeprustet, wenn das nicht viel zu auffällig gewesen wäre. Grinsend sah ich auf und begegnete dem angesäuerten Gesicht von Konrad.

„Was geht ihn das an?“, brummte mein bester Freund und nippte an seinem Gin Tonic. „Erstattet der Bericht, oder was?“

Das Grinsen verging mir ein bisschen und auch ich nahm einen großen Schluck von meiner Mische. „Kann ich mir nicht vorstellen.“

„Na ja, berechtigt ist die Frage schon“, entgegnete Konny plötzlich bemüht ernst, obwohl ich die Belustigung in seiner Stimme hören konnte. „Ist er dein Neuer, Phil?“

Ich schlug ihm grob gegen die Stirn und wollte ihn gerade zurechtweisen, weil Blaise eher meine neue Pestbeule war, als ich ruckartig innehielt und die Ohren spitzte.

„…und er kommt in den nächsten Semesterferien her. Er meint, er vermisst das gute, deutsche Essen hier“, erzählte Niklas amüsiert gerade gut hörbar Fabian und verpasste mir damit einen dämpfenden Schlag in die Magengrube. Mein Frühwarnsystem schrie in meinem Kopf Zeter und Mordio.

Es gab nur einen Bekannten, den er damit meinen könnte.

Nur einen blonden Chaoten, der in den Semesterferien Niklas besuchen wollte, weil er das Essen vermisste.

Ach scheiße, wieso zog mich der Gedanke daran eigentlich immer noch so runter? Und wieso posaunte Niklas das in meiner Anwesenheit heraus, als wäre es ein Grund zu feiern?!

Steif und unwohl stand ich auf und verließ mit einem knappen Kommentar, dass ich aufs Klo müsste, den Partykeller. Konrad hatte nicht mal die Gelegenheit, etwas zu antworten. Irgendwie wollte ich nur noch so schnell wie möglich an die frische Luft. Keine Ahnung, ob es an dem ganzen Alkohol lag, den ich bis dato bereits konsumiert hatte, aber als mir draußen die kühle Nachtluft entgegenschlug, war mir tatsächlich ein wenig schwindelig.

Aus der Zigarettenschachtel, die ich vom Tisch hatte mitgehen lassen, schnappte ich mir Feuerzeug und eine Zigarette, die ich mir umstandslos in den Mund steckte und anzündete.

Eigentlich war ich kein Raucher – zum Teufel, ich hasste es zu rauchen. Der Gestank, der Geschmack und die Folgeschäden erst. Vor allem als Sportler. Aber immer, wenn es um dieses leidige Thema ging, zündete ich mir eine an. Das war fast schon ein Zwang. Eine sehr schlechte Angewohnheit, schon klar.

Meine Laune hatte jedenfalls den Tiefpunkt erreicht, was noch zusätzlich davon unterstützt wurde, dass Blaise mit wütendem Gesichtsausdruck aus dem Schatten der Hauswand trat und auf mich zu stapfte. Das konnte ja nur besser werden. Seit Montag kam er grundsätzlich wütend, angefressen oder traurig von seinen Telefonaten. Diesmal war er eine Mischung aus allen drei Dingen.

„Na, will Phil zu den coolen Kids gehören? Oder sind das nur Kaugummizigaretten?“, fuhr er mich gleich an, nachdem er mich vor der Haustür entdeckt hatte. Diesmal war mir nicht danach, mich mit der blondierten Plage rumzuschlagen, also warf ich ihm einen abweisenden Blick zu und beließ es dabei. Er nur leider nicht. „Tust du jetzt genervt, oder was?“

„Ich habe gerade keinen Nerv für dein Gequatsche, Prinzessin“, fauchte ich ungeduldig und zog an meiner Zigarette.

„Schön, ist mir eh lieber, wenn du die Fresse hältst.“ Blaise seufzte und stellte sich tatsächlich wortlos neben mich. Verwundert über seine augenscheinliche Kapitulation stand mir der Mund offen. Seit wann gab er denn nach? Das war ja … gruselig.

Ich sah ihn wohl ziemlich offensichtlich überrascht an, denn irgendwann stöhnte er entnervt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Glotz nicht so, Tarzan! Ich hab halt grad keine Lust auf dumme Unterhaltungen. Und jetzt gib mir eine!“

Bevor ich hätte widersprechen können, hatte Blaise nach der Schachtel in meiner Hand gegriffen und sich eine Zigarette stibitzt. Auch das Feuerzeug entriss er mir flink. „Du rauchst?“, entfuhr es mir skeptisch, während ich dabei zusah, wie er ungeschickt versuchte, die Fluppe anzuzünden.

Er verdrehte die Augen und hustete Rauch aus. „Du“, Husten, „etwa?!“

Da hatte er auch wieder Recht. Ich zuckte kommentarlos mit den Schultern und starrte in den Himmel. Keine Sterne, bloß Wolken. Wir sagten beide nichts, das einzige was man hörte, war sein gelegentliches Husten.

Irgendwann konnte ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. „Du krepierst ja gleich.“

„Ach, halt die Klappe“, brummte er zurück, warf aber seine Zigarette neben meinen bereits ausgetretenen Stummel und trat drauf.

„Seit wann kann so’n Regenbogenscheißer wie du eigentlich schlecht drauf sein?“, fragte er plötzlich und schaute von der Seite her zu mir herauf.

Seit wann interessierte sich so ein Kotzbrocken wie du eigentlich für mich? Aber das fragte ich natürlich nicht. Stattdessen atmete ich tief durch und beschloss, dass ich genügend Trübsal geblasen hatte. „Ich dachte, du hast keine Lust auf dumme Unterhaltungen?“

Jetzt grinste er sogar leicht. „Stimmt. Eigentlich wollte ich dich was ganz anderes fragen.“ Er biss sich auf die Unterlippe und zupfte an seinen gegelten Haarsträhnen. Anscheinend schien ihm diese Frage viel abzuverlangen. „Frag ruhig“, versuchte ich ihm ruhig zu helfen. Er seufzte.

„Ich bin grottenschlecht in Englisch und wollte dich fragen, ob du mir Nachhilfe geben könntest. Nur, bis ich einigermaßen auf’m Stand bin. Ich hätte ja jemanden anderen gefragt, aber wie’s aussieht, bist du der einzige Trottel, der mir echt helfen könnte.“

Ich blinzelte ihn völlig verwirrt an, ehe ich laut auflachte. „Was? Dein Ernst? Du beleidigst mich quasi nonstop und giftest mich an ohne Ende … und fragst jetzt, ob ich dir helfen kann?“

Blaise brummte in seinen nicht vorhandenen Bart und hob das Kinn. „Ja oder nein, Tarzan?!“

Eigentlich müsste ich nein sagen. Und ihm verdeutlichen, dass er sich wie ein riesen Arsch verhielt. Dass er gar keine Hilfe verdient hatte und ich viel zu nett zu ihm war, während er Galle auf mich spuckte. Am Ende könnte ich ihn dann stehen lassen und hätte ihm einen riesen Denkzettel damit verpasst.

Eigentlich.

„Okay, ich mach‘s.“

„Schön, such ich mir halt wen…was?“ Blaise stotterte und starrte mich an. Allein deswegen hatte es sich schon gelohnt.

Ich grinste und zuckte mit den Schultern. „Ich hab kein Problem damit dir zu helfen. Unter der Bedingung, dass du mich nicht mehr Tarzan nennst.“

Blaise fuhr sich durchs Haar und schaute nachdenklich. Anscheinend hatte ihn meine Zusage überrascht. „Wenn du mir sagst, wie du wirklich heißt, vielleicht.“

„Phil.“

„Ich meine deinen richtigen Namen“, fügte Blaise ungeduldig hinzu. Als ob ich das nicht wüsste. Obwohl es mich wunderte, dass ihn das tatsächlich interessierte.

„Verdien ihn dir doch“, grinste ich und er verdrehte die Augen.

„Phillipos?“

„Nein.“

„Phillipe?“

„Nein!“

„Phillis?“

„Blaise!“

„Was denn? Hätte doch sein können…“

Ein rolliger Kater

 Zwei Wochen vergingen, in denen sich das Leben in unserem Haus wieder eingependelt hatte. Ich wusste, wann Blaise wie lange das Bad blockierte, um welche Uhrzeit er meistens telefonieren ging, an welchen Tagen er früher oder später Schulschluss hatte als ich, all sowas eben. Um diese anfänglichen Reibereien zu vermeiden, musste ich mir solche Sachen praktisch merken. Damit wurde der Alltag um einiges angenehmer.

Was nicht hieß, dass er sich seine spitzen Kommentare verkniff. Höchstens vor meiner Mutter, weil die uns ohnehin schon ab und an so seltsame Blicke zuwarf, als würde sie befürchten, dass wir uns jederzeit zum Duell herausfordern und uns gegenseitig erdolchen würden.

Um ehrlich zu sein, fand ich die Diskussionen mit ihm amüsant. Ich mochte keine Menschen, die zu allem ‚Ja und Amen‘ sagten oder sich überall einzuschleimen versuchten. Seine Sprüche waren lustig – und nicht halb so verletzend, wie sie klangen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er sie auch nicht aus diesem Grund äußerte, sondern bloß, weil er nicht wusste, wie er sich anders mit mir unterhalten sollte. Meine Nettigkeit war ja nicht positiv bei ihm angekommen. Blaise war niemand, der seine Gefühle durch Worte äußerte, weshalb ich einfach darauf wartete, dass sich die Sprüche zu normalen Konversationen entwickelten, bis hin zu einer Freundschaft.

Ich wollte mit ihm befreundet sein. Wirklich. Nicht nur, weil ich fest davon überzeugt war, dass er hier dringend jemanden brauchte, sondern auch, weil er mir sympathisch war. Kaum zu glauben, was? Nach dem ersten Eindruck …

Aber der täuschte ja bekanntlich gerne mal.

Penny bezeichnete es als zwielichtig, dass ich mich so dringend mit ihm anfreunden wollte. Immerhin war ich niemand, der Leuten hinterherrannte. Die meisten mochten mich prinzipiell – und die, die es nicht taten, existierten in meinem Umfeld gar nicht. Ich hatte ihr weisgemacht, dass Blaise anders war und wirklich nur Hilfe bräuchte und sie hatte bloß irgendwas Kryptisches von „dem Anfang vom Ende“ und „Herzschmerz“ geblubbert, was ich nicht verstanden hatte. Frauen halt.

Ich war jedenfalls stolz darauf, dass zwischen Blaise und mir nicht mehr ausschließlich diese abgrundtiefe Abneigung herrschte. Der Kerl war bloß eine von vielen zu meisternden Herausforderungen in meinem Leben, die meine Mutter mir ungefragt vor die Nase setzte.

Zu diesen Herausforderungen gehörte leider auch die Englischnachhilfe. Ich bereute zwar nicht, ihm zugesagt zu haben, aber mir graute es trotzdem davor, Blaise zu unterrichten. Wo sollte ich anfangen? Wie konnte ich ihm am effektivsten helfen? War ich überhaupt ein guter Lehrer? Nicht, dass er währenddessen wegdöste, wie Konrad es immer in Englisch tat… Schlussendlich entschied ich mich dazu, spontan auf seine Probleme einzugehen und mich danach zu richten. Unser Lehrbuch gab viel her und ansonsten existierte auch noch das Internet als Antwort aller Fragen.

Er hatte gemeint, es wäre gut, wenn wir jeden Donnerstagabend lernen könnten, notfalls, vor einem Test, auch nochmal Dienstag. Letzten Donnerstag hatte ich ihm bloß bei den Hausaufgaben geholfen, ohne, dass ich seine grundliegenden Lücken schließen konnte. Diesmal hatte ich ein paar Arbeitsblätter vorbereitet – ja, Tatsache, ich gab mir halt Mühe! – und auch ein paar Seiten aus dem Lehrbuch herausgesucht. Das alles half mir natürlich auch, meine eigenen Englischkenntnisse wieder aufzufrischen. Als ob ich noch den kompletten Stoff der letzten Jahre wusste!

Blaise war allgemein nicht sehr begeistert von der Nachhilfe, aber zeigte sich so enthusiastisch wie möglich, wahrscheinlich aus Dankbarkeit. Das einzige was ihn wohl antrieb, war ein gutes Abi.

„Ich hab mal ein paar Sachen rausgesucht“, fing ich lächelnd an und legte die Sachen auf seinem Schreibtisch ab. Mithilfe meiner Schwester sah das Zimmer nicht mehr so steril und unbewohnt aus, sondern tatsächlich lebendig. Auf dem Nachttisch erkannte ich seinen Liebesbär wieder, an den Wänden hingen zwei Bilder, irgendwelche Aufnahmen von Landschaften, an seinem Schrank klebte ein Karl Lagerfeld Kalender und auf seinem Schreibtisch befanden sich die einzigen richtigen Fotografien: Ein Schnappschuss von Blaise und einem etwas größeren Jungen mit Brille und ernstem Gesichtsausdruck beim Zocken, wahrscheinlich vor einem Jahr; und ein Foto von einer ausgesprochen hübschen Frau, die warm in die Kamera lächelte, mit einem Baby auf dem Arm, von dem ich mir sicher war, dass es Blaise war. Das war’s dann aber auch schon mit persönlichen Dingen, die etwas über ihn oder sein Leben preisgaben. Das einzige, was noch etwas über seinen Charakter aussagte, waren die zwei Stapel Bücher auf dem Schreibtisch. Die Genres waren dabei durchmischt, von Fantasy bis Romanzen einiges dabei, aber nichts Schlechtes. Sein Buchgeschmack war, um ehrlich zu sein, ziemlich gut. Über die Hälfte der Bücher hatte ich entweder selbst schon gelesen oder zumindest positive Kritik darüber gehört. Wenn ich nicht gerade einen auf Hobbyhandwerker oder Lieblingscousin machte, trainierte, schlief oder futterte, las ich. Eine Angewohnheit, die ich von meiner Schwester gelernt hatte. Ältere Geschwister beeinflussten einen enorm – anstatt Egoshooter am Computer zu zocken (obwohl die Phase auch mal da gewesen war, bis mein alter Rechner bedauerlicherweise den Geist aufgegeben hatte), bevorzugte ich es zu lesen. Ich hatte wahrscheinlich mehr Bücher verschlungen, als alle meine Mitschüler zusammen. Okay, vielleicht ein bisschen übertrieben, aber es war eben meine kleine Obsession, bevorzugt Science-Fiction Romane.

Selbst schreiben war hingegen nicht so mein Ding, ich mochte es lieber, diesen Teil der Arbeit wegzulassen und das gelungene Endprodukt zu analysieren. Ich lebte gerne einfach.

„Ein paar?“, fragte Blondie skeptisch nach und lupfte eine Augenbraue. „Sind das Arbeitsblätter?

Ich ließ mich nicht verunsichern, grinste und ließ mich auf den Stuhl neben ihn plumpsen. Er zog einen der Texte hervor und ich entnahm ihn ihm sofort wieder. „Das sind bloß ein paar Aufgaben und zwei Texte aus dem Buch. Wir fangen mit Grammatik an und setzen das dann bei Textaufgaben um.“ Blaise warf mir einen ungläubigen, fast lächerlichen Blick zu. „Ohne Scheiß?“ Ich nickte lächelnd. „Ohne Scheiß. Komm, du bist nicht so schlecht wie du tust und je eher wir anfangen, desto…“ „Komm mir jetzt nicht mit der Kacke.“ Er seufzte. „Gib mir einfach die Arbeitsblätter…“

 

Eine Stunde später hatte ich es zumindest geschafft, gewisse grammatikalische Grundkenntnisse in sein geblichenes Haupt zu prügeln. Die ständigen ‚Hä?‘s hatten zwar – wiedermal – meine Geduld auf die Probe gestellt, aber ich hatte ja gewusst, worauf ich mich da einließ. Auch wenn mein Körper das anders sehen zu schien. Entweder brannten, wie so oft in letzter Zeit, meine Hormone durch, oder mir wurde wirklich immer wärmer, je näher ich Blaise kam. Lag bestimmt bloß an Körperwärme … Hitzestrahlung und so … und … hey, was machte mein Arm eigentlich über seiner Stuhllehne?

Seit wann lag der da?! Und wieso, bei Konrads Unterhosen, fiel mir ausgerechnet jetzt auf, dass er für einen Jungen ausgesprochen lange, schöne Wimpern hatte? Genauso dunkel wie seine Augenbrauen, während  das Sonnenlicht von draußen seine blonden Haare beinahe weiß erscheinen ließen. Eine seltsame Mixtur, mit diesen grauen Augen, aber durchaus attraktiv. Keine Ahnung, wie ich das Grau hatte kalt finden können – seltsamerweise fand ich es jetzt eher … glänzend. Warm. Leuchtend…

„…richtig? Hallo? Verarschst du mich? Ich hab gefragt, ob das richtig ist, Phillis.“

Die grauen Iriden bohrten sich ungeduldig und verwirrt in meine. Ich wäre beinahe zusammengezuckt, versuchte aber meinen Schreck und die daraus folgende Verlegenheit mit einem Räuspern zu überspielen und nahm wie beiläufig meinen Arm von seiner Lehne.

„Zeig doch mal her.“ Ich schob das Blatt zu mir und überflog die Zeilen, ohne, dass ich die Wörter vor mir tatsächlich begriff. Himmel, was war denn mit mir los? Besaß ich die Konzentrationsspanne eines Goldfisches? Das war Blaise da neben mir und mein perfides Hirn hatte nichts Besseres zu tun, als über sein ansehnliches Äußeres zu philosophieren. Als wäre er ein verdammtes Männermodel oder Sexsymbol. Von wegen! Langsam kam ich mir verarscht vor. So nötig konnte ich es doch gar nicht haben.

„Ja ja, ist alles richtig.“ Ich gab ihm das Blatt zurück und sah auf meine Armbanduhr. Ich wollte hier weg, möglichst schnell. „Jetzt such‘ dir noch einen Text von den beiden aus und schreib `ne kurze Zusammenfassung.“ Blaise seufzte und nahm das Blatt dazu hervor. „Krieg ich kein Lob? Kein Smiley unter der Punktzahl oder ein ‚Well done‘? Komm, eine Eins und ein Schulterklopfen wären doch drin, oder?“

Ich verdrehte die Augen, auch wenn ich mir ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Schon klar. Du kriegst deine Lorbeeren wenn du damit fertig bist. Hopp.“

„Woher denn die Eile?“, murmelte er, während er den Text überflog. Weil ich ihm schlecht sagen konnte, dass ich mich gerade unwohl in seiner Gegenwart fühlte, beschloss ich einen anderen Ausweg zu suchen. „Becca und Konrad wollten in einer Dreiviertelstunde kommen.“

Daraufhin nickte er nur noch, abwesend und in den Text vertieft und ich genoss den Moment der Ruhe.

Becca hatte vorgeschlagen, weil wir in Deutsch gerade ohnehin Faust behandelten, den Film davon auszuleihen und den anzusehen, bevor wir das gesamte Buch lasen. Goethe in allen Ehren, aber die Lust dazu, meine jetzige Lektüre zu pausieren und mir stattdessen eine klassische Tragödie reinzuziehen, war nicht da. Also hatten Konrad und ich dem Vorschlag freudig zugestimmt. Na ja, vielleicht auch nicht freudig.

Blaise brauchte eine gute halbe Stunde, um die Aufgaben zu erledigen. Das Korrigieren brachte ich im Handumdrehen hinter mich, was einerseits daran lag, dass er eine relativ schnelle Auffassungsgabe besaß und somit nicht viel zu korrigieren war und ich es andererseits nicht erwarten konnte, von diesem Arsch in viel zu engen Jeans wegzukommen.

Ich ließ ihm die Arbeitsblätter zum Lernen und verschwand kurz angebunden und zügig aus seinem Zimmer. Es war mir ein Rätsel, wieso ich Blaise auf einmal attraktiv fand. Klar, auf den ersten Blick hin hatte ich ihn schon als hübsch betrachtet, aber – wie meine Mutter so gerne betonte, wenn sie mich wieder mal für oberflächlich hielt – ein schlechter Charakter macht hässlich. So wie er sich am Anfang verhalten hatte, hatte er auf mich gewirkt wie eine altersschwache Hexe mit Warzen am Kinn, aus denen Haare sprießen. Jetzt, als sich etwas wie Freundschaft zwischen uns entwickelte, dachte der primitive Teil meines Hirns sich plötzlich, dass er tatsächlich in mein Beuteschema passte.

Scharf war er ja schon…

Schnauze, Penis!

 

Rebecca und Konrad erlösten mich von meinen dämlichen Gedankengängen. Becca kam grinsend herein und drückte mir eine Tüte Chips in die Hand, bevor sie meine Eltern im Wohnzimmer begrüßte. Konny klopfte mir bloß auf die Schulter und nahm mir die Tüte eiskalt wieder ab, um sie noch beim Gehen zu öffnen und kommentarlos hoch in mein Zimmer ging. Tja, beste Freunde eben.

Kopfschüttelnd sah ich nach Becca, die von meinem Dad bereits in eine Unterhaltung verwickelt worden war. Mein Vater mochte sie und hatte stets von ihr als seine zukünftige Schwiegertochter geschwärmt, bis ich eben Schluss gemacht und später sogar verkündet hatte, ich würde auch auf Jungs stehen. Das hatte ihm einen kleinen Dämpfer verpasst, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er immer noch hoffte, Rebecca und ich würden wieder zusammen kommen. Andauernd sollte ich sie zum Essen mitbringen, bloß um mir dann anhören zu müssen, wie reizend sie doch wäre. Ich meine, klar war sie reizend – aber eben nicht mehr reizend für mich, wenn ihr versteht.

„Kommst du?“, fragte ich eindringlich, den Laptop unterm Arm geklemmt, als ich neben Becca stand. Die nickte und folgte mir, natürlich nicht ohne sich noch mit einem umwerfenden Lächeln bei meinen Eltern einzuschleimen. Mutti wünschte uns grinsend viel Spaß – sie hatte den Film bereits gesehen und fand ihn, ihr Wortlaut, scheiße – und ich zog eine begeisterte Grimasse.

Oben angekommen, entdeckte ich einen lümmelnden Blaise auf meinem Bett, daneben Konrad, der die Chips aus der Tüte halb auf seinem Bauch ausgeleert hatte. Bei Blondies Anblick hatte ich beinahe ein Déjà-vu – wie an seinem ersten Abend hier, als würde er absichtlich ignorieren, dass das nicht sein Zimmer war.

Ich weiß nicht, was diesmal anders war, aber ich grinste bloß und kapitulierte wortlos. Sollte er ruhig da sitzen, immerhin gehörte er irgendwie mittlerweile zu meinen Freunden, auch wenn er weder etwas davon wusste noch begeistert davon sein würde. Ich brauchte Konrad gar nicht fragen, um zu wissen, dass er ihn zum Filmgucken eingeladen hatte.

„Hat einer von uns eigentlich tatsächlich Faust gelesen?“, fragte Rebecca in die Runde, während sie die CD in meinen DVD-Spieler schob.

Synchrones Kopfschütteln, bis auf Blaise, der mit den Schultern zuckte. „Auf meiner alten Schule hatten wir’s bereits behandelt.“

„Und warum willst du dann den Film sehen?“ Ich setzte mich auf das Sofa und schaute zu ihm rüber. Es war eben schwierig für mich, mir vorzustellen, dass jemand freiwillig seine Zeit mit so was verschwendete.

Blaise lupfte, wie so oft, eine Augenbraue. „Soll ich lieber gehen?“

Himmel, jetzt drehte er mir wieder die Worte im Mund herum. „So hab ich das gar nicht gemeint!“, ereiferte ich mich schnell, um nicht wieder einen sinnlosen Streit zu provozieren, worauf Blondie mir lediglich ein amüsiertes Grinsen schenkte. „Ich weiß, Tarzan. Ich hab nur nichts Besseres zu tun. Kaum vorzustellen, was?“

Konrad lachte und warf mir einen ‚Nicht-dein-ernst?‘-Blick zu. Ich brummte verlegen in meinen nicht vorhandenen Bart und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du sollst mich doch nicht mehr Tarzan nennen.“

„Würde ich ja, wenn du nicht so ein Tarzan wärst.“

„Ach, halt die Klappe, Blondie.“

„Uh, sind wir jetzt eingeschnappt?“ „Na und?“

„Mädels!“ Becca fasste sich an die Stirn und sah zwischen uns hin und her. „Ich würde euch ja gerne ewig zuhören, aber könnten wir jetzt bitte den Film sehen? Ohne dieses peinliche Necken?“ Das Schmunzeln aus meinem Gesicht schwand und ich räusperte mich, um wieder zur Ernsthaftigkeit wiederzufinden. Blaise breites Grinsen half da nicht unbedingt.

„Du bist doch nur neidisch“, kam es grienend von Konrad, „Weil wir dich vernachlässigen, seit Blaise da ist. Soll ich dich mal in den Arm nehmen? Du weißt doch, dass wir immer einen Platz in unseren Herzen für dich haben werden, oder? Du bist doch unser ganzer Stolz!“

Rebecca verdrehte die Augen und erwiderte ein schlichtes „Arsch“, wobei sie sich dabei nur schwer das Lächeln verkneifen konnte. Dann drückte sie endlich auf Play und die längsten zwei Stunden meines Lebens begannen.

 

„Oh Gott“, stöhnte Blaise und rieb sich die Augen, die Haare verwuschelt, halb über mein Bett hängend. „Wieso werden solche scheiß Verfilmungen überhaupt produziert?“

„Damit verzweifelte Schüler wie wir unsere Freizeit damit verschwenden können“, gähnte ich und rappelte mich langsam vom Bett auf. Meine Knie knackten und ich hatte das Gefühl, als wäre ein Schwertransporter mit Vollgas über meinen Nacken gebrettert. Ich hatte zwischendurch das unbequeme Sofa verlassen, weil mir zum einen die Lehne zu hart war und zum anderen Rebecca ständig ihre Position wechseln musste, um mir entweder ihre kalten Füße in die Seite zu rammen oder gleich halb auf mir zu liegen. Also hatte ich kapituliert und mich zwischen Konrad und Blaise gequetscht, wo ich auch die letzten siebzig Minuten verbracht hatte, trotz der Tatsache, dass sich so ein hautnaher Kontakt mit Blondie seltsam angefühlt hatte. Ach, ich gab’s gerne zu, ich hatte es genossen. Na ja, musste ich doch auch, oder? Bevor er mir bei der nächstbesten Gelegenheit wieder verbal in die Eier trat, waren solche ruhigen Momente auch mal ganz nett. Freundschaftlich betrachtet natürlich. Außerdem war ich erwachsen – da sollte ich mich nicht von so etwas lächerlichem wie Hormonen aus der Ruhe bringen lassen.

„Kann mir mal einer erklären, warum die Olle ihr Kind ertränkt hat?“ Becca streckte sich müde und schaute auf ihre Armbanduhr.

„Weil sie vor Liebe irre geworden ist“, erklärte Konrad. „Wie Phil und du damals.“

Rebecca wurde rot und ich schmunzelte. Als ob wir irregeworden waren – viel hatte sich damals während unserer Beziehung nicht geändert. Nur, dass Konny immer kindische Kotzgeräusche gemacht hatte, wenn wir uns geküsst hatten.

„Ihr wart mal ein Paar?“, kam es geringfügig überrascht von Blaise.

Ich zuckte mit den Schultern und tauschte mit Becca einen kurzen Blick aus. „Na ja, das war vor zwei Jahren.“

„Vor einem Jahr und sechs Monaten“, fügte Rebecca besserwisserisch hinzu und ich verdrehte die Augen. „Da wurde aus Freundschaft kurzzeitig mal mehr.“

„Bis?“, hakte Blaise neugierig nach. Bei Konrads dreckigem Grinsen, das er daraufhin zeigte, schrillten meine Alarmglocken. Da konnte nur was Blödes folgen.

„Bis Phil das Uf…“

„Hey“, platzte just in dem Moment meine Mutter strahlend herein, in der Hand eine großen Teller mit Häppchen, „Ich hab mir gedacht, ihr habt doch bestimmt Hunger?“

Die Drei hatten die Unterhaltung sofort vergessen – das Essen wurde freudestrahlend entgegengenommen, während ich Blaise prüfend musterte. Ob er ahnte, was Konrad ihm hatte sagen wollen? Es war zwar ein wenig offensichtlich, aber Blondie hielt mich ja immerhin für einen intoleranten Wichser, da wäre die Option, dass ausgerechnet ich schwul war, doch abwegig. Ich wusste nicht, ob ich es gut oder schlecht fand, wenn Blaise es erführe. Ich war mir sicher, dass er nicht homophob war – um ehrlich zu sein, vermutete ich mittlerweile eher, dass wir beide etwas quer waren – aber irgendwie befürchtete ich, dass er mich komplett anders behandeln würde, wenn er es wüsste.

Das Thema schien unter den Tisch gefallen. Nachdem das Essen verputzt war, verabschiedeten Konrad und Becca sich, letztere überredete uns sogar noch, am Samstag mit ihr ins Funhouse zu gehen. Konny war zwar nicht begeistert, ließ sich aber breitschlagen, als Blaise und ich bereits zugesagt hatten. Dann verschwanden sie auch schon und ich durfte Chipskrümel von meinem Bettlaken pflücken.

Vielleicht war in einen Club zu gehen keine unbedingt schlechte Idee. Man trank, man feierte und man lernte neue Leute kennen, wobei ich letzteres in einem gewissen Maße dringend nötig hatte. Meinen Seelenverwandten dort zu finden, hoffte ich zwar nicht, aber ein kleiner Flirt würde mich durchaus mal auf andere Gedanken bringen…

Als ich bereits umgezogen und mit ausgeschalteter Nachttischlampe im Bett lag, zuckte ich wegen eines plötzlichen penetranten Klopfens an der Wand hinter mir vor Schreck zusammen. Scheiße, sowas machte man einfach nicht um elf, wenn das gesamte Haus bereits ruhig war! Ich wäre beinahe aus meinem verdammten Bett gefallen.

„Hey, Tarzan?“

Mann, waren die Wände dünn. Blaise Bett grenzte, wie ich gerade feststellte, genau an die Wand, die unsere beiden Zimmer trennte. Kein Wunder, dass ich seine Stimme laut und deutlich vernahm. Ein bisschen gruselig. „Was denn?“, fauchte ich, noch immer erschrocken, zurück.

„Philander?“

„Was?“

„Heißt du Philander?“

Ich lachte laut auf. Fast. Soweit ich wusste, hieß Philander so etwas wie ‚Freund der Männer‘. Wenn er wüsste, wie richtig er damit lag – obwohl das natürlich nicht mein Name war.

„Nein.“

Ich hörte ihn drüben fluchen und lachte erneut. Es war ja fast schon rührend, wie dringend er herausfinden wollte, wie ich hieß.

„Dann gute Nacht, Tarzan.“

Ich schüttelte mit dem Kopf, musste aber über beide Ohren grinsen. „Nacht, Blondie.“

 

Der Rest der Woche verstrich eigentlich ereignislos. Freitag in der Pause hatte Leonard, ein kleingeratener Junge mit Hakennase aus einem anderen Stammkurs, einen blöden Kommentar neben mir über Blaise gerissen, von wegen Tucke oder halbes Mädchen, als Blondie sich in der Gruppe über Modetrends unterhalten hatte. Wahrscheinlich hatte da bloß der Neid gesprochen, weil der weibliche Anteil unserer Stufe sich bestens mit Blaise verstand und seine Nähe suchte wie die Fliegen. Die Eifersucht war Leonard förmlich ins Gesicht geschrieben. Blaise brauchte nur Lächeln und etwas sagen wie „Das Oberteil betont deine Figur perfekt“ und die Weiber seufzten im Akkord. Leonard war noch kleiner geworden als ohnehin schon, als ich ihn mit dem bösesten Blick, den ich auf Lager hatte, von oben herab taxierte, bis er sich unauffällig einige Schritte von mir entfernte.

Man musste ja auf seinen Stiefcousin aufpassen.

Das war auch das einzig halbwegs interessante, was passiert war, bevor Rebecca und Theresa im Duo kurz vor acht am Samstag bei mir aufkreuzten. Konrad würde nachkommen, weil er noch, laut Theresa, schwer damit beschäftigt war, irgendeine Schlacht bei seinem Online-Spiel für sich zu gewinnen.

Ich war noch ungeduscht und in Jogginghose, weil Blaise diesmal länger als sonst das Bad blockierte, ließ die Mädels aber rein und führte sie hoch in mein Zimmer, wo ich bereits einige Gläser zum Vorglühen bereit gestellt hatte.

„Willst du so gehen?“, fragte Theresa halb lächelnd und setzte sich aufs Sofa, wo sie sich lediglich Cola in ihr Glas füllte. Sie trank so gut wie nie etwas – ein gutes Pendant zu ihrem Freund – und fuhr uns deswegen praktischerweise meistens auch nach Hause.

Ich runzelte die Stirn und schaute an mir herunter. Die Jogginghose hatte ein Loch am Knie und mein Shirt war ein Stück zu kurz, sodass grundsätzlich ein Zentimeter Hüfte oder Bauch hervorblitzte. Ich schnaubte. „Klar, das trägt man jetzt so.“ Becca wackelte mit den Augenbrauen. „Also, ich kann mir  vorstellen, dass das durchaus bei einigen ankommt. Wie wär’s, wenn du vorne noch einen Knoten in dein Shirt machst?“

Die Mädels lachten und ich machte grinsend „Haha“.

Nach einigen Minuten gesellte sich schließlich auch ein wie gewohnt perfekt gestylter Blaise dazu. Er roch nach Aftershave und seinem Mandelshampoo. Der Duft benebelte mich kurz, sodass mir die enge, schwarze Jeans und das dunkle Shirt mit dem V-Ausschnitt erst danach auffielen. Das Outfit wurde durch schwarze Sneaker und einige Holzperlenarmbänder in verschiedenen Farben abgerundet – kurzum hatte er es mal wieder geschafft, mich wie einen modischen Unfall neben sich aussehen zu lassen. Mir war bislang noch bei keinem Mann derartig aufgefallen, wie er sich kleidete. Ich wusste meistens nicht mal bei mir selbst, was ich da gerade trug.

„Miau“, machte Rebecca, nachdem sie Blaise begutachtet hatte. „Du bist ja zum Fressen.“

Blondie lachte herzhaft und schmiss sich locker auf meinen Schreibtischstuhl, auf dem er dann zu uns rüber rollte. „Danke“, erwiderte er glucksend, nicht gerade bescheiden.

Um den Anblick seiner haarlosen Brust, von der dank des Ausschnitts nicht zu viel und nicht zu wenig zu sehen war, verarbeiten zu können, verabschiedete ich mich ins Bad, um endlich auch an meinem Äußeren zu arbeiten. Was hieß, dass ich in Rekordgeschwindigkeit duschen ging, Zähne putzte, ein bisschen Gel in die braune Mähne schmierte und mich rasierte, bis ich bemerkte, dass ich die Jeans und das Hemd, was ich anziehen wollte, in meinem Zimmer vergessen hatte. Um die Mädchen nicht zu schocken, schlüpfte ich, zwar immer noch nass, wieder in Jogginghose und Taschentuchoberteil und tapste barfuß zurück.

„Hab was vergessen“, erklärte ich den verwunderten Gesichtern, während ich, ohne groß Zeit zu verschwenden, zu meinem Schrank ging und aus dem obersten Fach Hemd und Hose zog.

„Ach, bauchfrei ist wieder in?“, scherzte Theresa bei meinem Anblick, da sich durch das Heben meiner Arme das Oberteil noch weiter gelüftet hatte, als ohnehin schon. Ich nickte ihr mit den Augenbrauen wackelnd zu und klemmte mir die Klamotten unter den Arm, während Blaise, der sich kurz nach meinem Erscheinen an seinem Bier verschluckt hatte, lautstark hustete und Rebecca ihm mit einem strahlenden Grinsen auf den Rücken klopfte. Der Szene keine weitere Beachtung schenkend, ging ich wieder ins Badezimmer.

Eine halbe Stunde später stand schließlich auch Konrad auf der Matte. Wir spielten ein paar Trinkspiele, um nicht nüchtern in den Club zu müssen – das würde ich nicht aushalten – und machten uns gegen kurz nach elf auf den Weg. Wie bereits erwartet, fuhr Theresa uns.

Voll war es noch nicht, wenn auch bereits gut gefüllt. Der Türsteher fragte bloß die Mädchen und Blaise nach dem Ausweis, was ich mit einem Grinsen quittierte. Konny war seit den Trinkspielen schon gut drauf, weshalb der auch gleich mit Theresa auf die Tanzfläche stürmte, wo gerade 90er gespielt wurden. Becca und ich warfen uns vielsagende Blicke zu, ehe wir mitsamt Blaise an die Bar übersiedelten.

„Was wollt ihr?“, fragte ich meine Begleiter. Als größte Person hier, war es ein leichtes für mich die Bar zu erreichen und dran genommen zu werden. Ich konnte über die Männer vor mir sogar einfach rüber greifen.

„Tequila?“ Becca schaute fragend und sowohl Blaise als auch ich nickten zustimmend. Bevor einer von ihnen auch nur die Geldbörse hätte zücken können, hatte ich einen Zehneuroschein gezückt und dem Barkeeper auf die Theke geknallt. Wir tranken den Tequila pur und schüttelten uns im Nachhinein.

Die Musik wurde nicht besser und eine Weile lang war das einzig unterhaltsame Konrad, der mit Theresa über die Tanzfläche wirbelte, bis es mit der Zeit voller wurde und mehr und mehr Leute den Club füllten. Wir trafen auf ein paar Klassenkameraden, einer gab mir sogar ein Bier aus, und unterhielten uns, bis kurz nach Mitternacht Blaise spurlos verschwand und eine gute Dreiviertelstunde später mit zerknittertem Gesichtsausdruck wieder auftauchte. Auf meine Frage hin, wo er gewesen war, bestellte er sich bloß kommentarlos einen Cocktail. Obwohl das eigentlich schon Antwort genug war – das war seine ‚Ich-War-Grad-Telefonieren‘-Laune. Es würde mich brennend interessieren, wer ihm grundsätzlich derartig die Laune verdarb.

Nach dem dritten Cocktail innerhalb kürzester Zeit, war Blaise Zustand besser, aber nicht mal annähernd mehr nüchtern. Ich hatte mit Theresa getanzt – Konrad war ihr mit dem ständigen Gewirbel auf die Nerven gegangen – bis sich plötzlich zwei Arme um meinen rechten geschlungen hatten und ein deutlich alkoholisierter Blaise von unten zu mir herauf grinste und lautstark verkündete, dass wir mal shoppen gehen sollten.

Perplex blinzelte ich ihn an, bis eine erleichtert aussehende Becca durch die Masse zu uns stolperte. „Puh“, atmete sie aus, „Ich hatte Angst, der wäre verloren gegangen. Ist einfach abgehauen, der Trottel!“ Blaise schürzte wegen der Beleidigung angefressen die Lippen. „Guck nicht so! Ich schütte mir nicht innerhalb einer Stunde die Birne zu und spiel dann im Club verstecken!“ Ihr Blick war anklagend.

„Beccaaaa!“ Konrad legte ihr schwankend einen Arm um die Schultern, „Lass Blaisi doch mal in Ruhe! Das nennt man feiern, was er da macht!“

Um ehrlich zu sein, feierte er gerade nicht, sondern zog debil grinsend an meinem Arm, aber ich wollte ja nicht klugscheißen. Ich philosophierte gerade nur angestrengt, ob er mir damit etwas vermitteln wollte oder bloß mühevoll versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Im flackernden Licht der Scheinwerfer strahlten seine Augen hellgrau.

„Vielleicht sollte er mal Wasser trinken“, schlug Theresa gewohnt sachlich vor, den Blonden prüfend musternd.

Ich nickte zustimmend und entfernte seinen Klammergriff, um ihn am Handgelenk packen zu können. Das warme Gefühl, das sich breit machte, als ich seine Haut berührte, ignorierte ich geflissentlich.

„Ich will einen Tequila Sunrise!“, verkündete Blaise stolz und lehnte sich an die Bar. Seine Stimme klang nasal, aber sonst nüchtern. Wenn er nicht solche offensichtlichen Koordinationsstörungen hätte, würde man gar nicht bemerken, dass er betrunken war. Bloß seine Augen sahen ein wenig verklärt aus. Bei seinem Anblick schlug der Beschützerinstinkt in mir Purzelbäume. Zumindest glaubte ich, dass der es war.

„Sorry, Blondie. Kein Alkohol mehr für dich. Ich bestell dir ein Wasser.“ Ich lächelte dem Barkeeper zu, der die Unterhaltung mitbekommen hatte und er nickte mir verstehend zu. „Warum hast du dich denn so abgeschossen?“

„Weil Mike ein Arschloch ist“, erklärte er schnaufend und pustete sich wütend eine blonde Strähne aus der Stirn. Ich hatte keinen Schimmer wer Mike war, bezahlte also und drückte ihm das Wasser ohne Worte sogleich in die Hand. Er trank sogar, wirkte aber enttäuscht, als er realisierte, dass es sich dabei um keinen Cocktail handelte.

„Willst du nach Hause?“, fragte ich ruhig und erntete ein Kopfschütteln. „Willst du zurück zu den anderen?“ Wieder ein Kopfschütteln. Damit war ich einverstanden. Irgendwie war ich stolz darauf, dass er sich in seinem Zustand an mich gewandt hatte und nicht etwa an Rebecca oder Konrad. „Willst du mal raus?“ Diesmal nickte er. Ich lächelte aufmunternd und schob ihn vor mir her, raus aus dem überfüllten, stickigen Club, weg von der dröhnenden Musik und dem vibrierenden Bass.

Die kalte Nachtluft war so erfrischend wie ein Mentosbonbon. Blaise setzte sich draußen auf eine Mauer neben dem Gebäude und legte das Gesicht in die Hände. Unwissend, was ich tun sollte, stellte ich mich ihm gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte nicht viel getrunken, zumindest nicht genügend, um angetrunken zu sein und das Umsorgen der Blondine vor mir hatte mich noch nüchterner gemacht. Er brummelte etwas von „Sandalen und Socken“ und fluchte andauernd, was mich unpassenderweise zum Lächeln brachte.

„Geht’s deinem Freund gut?“

Überrascht wandte ich den Blick nach links. Ein hübsches Mädchen stand da und lächelte mich freundlich an. Sie wirkte nicht betrunken, weshalb ich kurz überlegte, warum sie mich angesprochen haben könnte, bis mir einfiel, dass ich sie kannte. Sie war eine Bekannte von Becca, zumindest hatte ich sie mal zusammen gesehen und hieß Marie oder Maria, irgendwas in der Richtung. „Der braucht nur mal `ne Pause“, erklärte ich, ihr Lächeln erwidernd. In dem kurzen Kleid musste sie frieren, aber sie machte keinerlei Anzeichen davon. Der schwarze Stoff betonte ihre langen, schlanken Beine und ihre Kurven. In jeder anderen Situation hätte ich die Chance eventuell genutzt – immerhin hatte ich mich eigentlich von Blaise ablenken wollen – um mit ihr in eine Unterhaltung zu kommen, aber in diesem Moment dachte ich nicht mal annähernd daran. Ich war eher genervt davon, dass sie mich ansprach.

„Hast du Rebecca gesehen?“ Sie strich sich ihr brünettes Haar über die Schultern und tat so, als würde sie sich umsehen. „Ich dachte, ihr wärt zusammen hergekommen.“

„Sind wir auch.“ Ich nahm Blaise die Wasserflasche ab, als sie drohte, von seinem Schoß zu fallen. „Sie muss irgendwo drinnen sein“, fügte ich bei und drehte ihr den Rücken zu, als sie noch immer keine Anstalten machte, zurück in den Club zu gehen. Blondie hatte mittlerweile den Kopf gehoben und betrachtete Marie (oder Maria?!) grinsend. Kurz darauf ertönte ein kleinlautes „Danke“ und ich vernahm das Geräusch ihrer Absätze auf dem Asphalt, die sich entfernten.

Blaise gluckste unkontrolliert, nachdem sie verschwunden war. „Du bist’n Idiot, Tarzan.“

Ich verdrehte wegen des Spitznamens die Augen. Selbst betrunken blieb er dabei. „Wieso?“, fragte ich halbherzig und nahm selbst einen Schluck aus der Wasserflasche.

„Weil sie auf dich steht. Sie hat dich mit ihren Blicken“, er schwankte und ich drückte ihn zurück auf die Mauer, „ausgezogen!“

Schmunzelnd zuckte ich mit den Schultern. „Sie wird schon jemand anderen finden.“

„Sorry, dass du dich um mich kümmern musst“, murmelte er plötzlich ruhig und sah entschuldigend zu mir auf. Es war fast schon ein bisschen unheimlich, wie freundlich er betrunken war. Ob er sich daran morgen überhaupt noch erinnern konnte? Ich bezweifelte es.

„Ich muss das nicht. Ich helfe gern.“ Irgendwie bekam ich das Gefühl, dass ich ihm das noch öfter erklären müsste.

„Ja ja“, kicherte Blaise, „Du Samariter, ich weiß schon. Dabei ist die echt heiß gewesen!“

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, ob er das ernst meinte oder das eine betrunkene Form seines Sarkasmus war – bei ihm wusste man ja nie. Der Satz widersprach wieder Rebeccas Theorie, dass er schwul war. Er würde sie doch nicht heißen finden, wenn er eigentlich auf Männer stand. Oder war das rein objektiv gemeint gewesen?

„Weißt du“, er legte eine Hand auf meine Schulter und fing an mich zu tätscheln wie eine alte Oma, „wenn ich nicht schwul wäre, dann hätte ich sie nach ihrer Nummer gefragt.“

Objektiv, eindeutig objektiv!

Wären in dem Moment nicht etliche meiner Synapsen durchgebrannt, dann hätte ich bemerkt, dass ich ein blöderes Gesicht machte, als ein Teenagermädchen, das auf den positiven Schwangerschaftstest in ihrer Hand starrte.

Sprachen Kinder und Betrunkene nicht immer die Wahrheit? Er behauptete das doch nicht aus Spaß, oder?

Und scheiße, warum schrie eigentlich eine perverse, kleine Stimme in meinem Kopf gerade lauthals „Jackpot“? Hatte ich meinem Geschlechtsorgan nicht gesagt, es sollte die Klappe halten?!

Verdammt, ich hatte ein mächtiges Problem…

Des einen Freud, des anderen Leid

„Huch“, grinste Blaise verpeilt, „Eigentlich hatte ich das gar nicht sagen wollen.“ Ach was. In meinem Kopf rotierten gerade einige Rädchen wie verrückt. Blaise hatte sich tatsächlich vor mir geoutet und damit alle Theorien, die Rebecca, Konrad und ich hatten, bestätigt. Er war schwul. Er trug die engen Hosen nicht bloß aus Modegründen und er war an seiner alten Schule nicht auf einmal grundlos gemobbt worden.

Hey, dann war er halt homosexuell, was war dabei? Langsam sollte ich aufhören, so geschockt auszusehen. Sonst kümmerte es mich doch auch nicht, wer auf wen oder was stand. Höchstens, wenn ich an der Person interessiert war…

Nein!

Nein, das war vollkommener Quatsch. Ich war nicht an Blaise interessiert. Da gingen momentan bloß ein paar Gefühle mit mir durch, weil wir seit drei Wochen aufeinander hockten und ich schon seit längerer Zeit keinen näheren menschlichen Kontakt mehr genossen hatte. Mehr war da sicher nicht im Spiel! Ich wollte mit ihm befreundet sein und das würde sicher nicht funktionieren, wenn ich mich weiterhin wie ein notgeiler Bock verhielt.

Ich atmete tief durch. Der Beschützerinstinkt ihm gegenüber war ja noch okay gewesen – also sollte ich es dabei belassen. Blaise hockte noch immer auf der Mauer, schwankend und unkoordiniert und starrte mich an. Als ich weiterhin beharrlich schwieg, versuchte er ein ernstes Gesicht zu machen. Betonung auf versuchte.

„Du hasst mich jetzt doch nicht, oder?“

Perplex blinzelte ich ihn an. „Was? Wieso sollte ich?“

„Na, weil ich schwul bin.“

Ich presste meine Lippen aufeinander. Es war schrecklich genug, dass es Leute gab, die jemanden auf seine Sexualität reduzierten, aber dass er das anscheinend von mir erwartete … das zeigte doch nur wieder, wie er von mir dachte. Er schaute mich so vorsichtig und scheu an, dass er mich automatisch an ein verletzliches Rehkitz erinnerte – Bambi in Person. Scheiße, wie sollte sich da jemand nicht verantwortlich fühlen?!

„Blaise“, fing ich streng an, was bei seinem betrunkenen Eindruck wohl Verschwendung war, „Ich bin wirklich der letzte, der was gegen Schwule hat. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“

Weil ich ohnehin gerade damit beschäftigt bin, mir vorzustellen, wie deine Lippen wohl schmecken…

Himmel, wo kam das denn her?! Reiß dich zusammen, Phil! Erinner‘ dich daran, dass Blaise dir im nüchternen Zustand auf verbaler Ebene regelmäßig das Ego stutzt! Nüchtern würden wir diese Unterhaltung gar nicht führen. Ich musste mir vor Augen führen, dass es nicht in Ordnung war, für Blondie zu schwärmen; für meinen launischen Stiefcousin, mit dem ich mich gerade erst so etwas wie angefreundet hatte…

Obwohl das verdammt schwierig war, wenn er beide Arme um meinen Bauch schlang und sein Gesicht an meine Brust drückte, als wäre ich eine überdimensionale Version seines Liebesbärs. Ich spannte mich automatisch an und sog scharf die Luft ein. Das war wichtig, um meine Konzentration zu sammeln und nicht von dem Impuls, ihn noch fester an mich zu ziehen und meine Nase in seinem hellen Haarschopf zu vergraben, überrascht zu werden. Wenigstens ein Stück Selbstbeherrschung musste ich mir lassen.

„Du bist so kuschelig“, gurrte Blaise lallend in mein Oberteil. Seine Finger an meinem Steiß verursachten bei mir eine höllische Gänsehaut. Hatte er mich gerade echt kuschelig genannt?

„Ähm, danke…denke ich.“ Ich tätschelte ihm unbeholfen den Rücken und sah mich verlegen um. Mir war die Situation so verdammt unangenehm – nicht, weil uns jemand hätte sehen können, sondern, weil das hier Blaise war … und wenn der wüsste, was der hier tat, hätte er mir längst aus Scham jegliche Erinnerung daran herausgeprügelt.

„Ich frage mich schon seit heute Abend…“, murmelte Blondie plötzlich und drückte sich schwankend wieder ein Stück von mir weg, den Blick dabei auf meinen Bauch gerichtet. Bei seinem Gesichtsausdruck ahnte ich nichts Gutes. Meine Ahnung bestätigte sich natürlich. Ohne, dass ich schnell genug hätte reagieren können, hatte er mein Hemd hochgeschoben und begutachtete nun mit verklärten Augen meinen freigelegten Bauch, meinen erschrockenen Ausruf ignorierend.

„Hey, Blondie“, stieß ich ziemlich unmännlich in hoher Tonlage hervor, als seine kalten Fingerspitzen meine Haut völlig schamlos berührten. So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt! Wie wär’s denn mal mit vorher fragen?! „Eine Warnung wäre nett gewesen!“

Blaise kicherte als Antwort lediglich und stieß einen entzückten Laut aus, bei dem sich meine Nackenhaare aufstellten. „Du hast es ja tatsächlich!“

Als er mit seinem Zeigefinger meine Hüftknochen entlang fuhr, wurde es mir zu bunt. Mit knirschenden Zähnen packte ich ihn möglichst sanft an seinen Handgelenken und drückte ihn, mit gebührendem Abstand, zurück auf seine Mauer. Ich war zwar nicht prüde, aber leider auch kein Stripper – umsonst anfassen war also nicht drin. Kein Betatschen ohne gültige Gegenleistung … und die erwartete ich von Blaise nun wirklich nicht. Der hatte keine Vorstellung davon, was er meinen Hormonen im Moment zumutete.

„Was habe ich?“, hakte ich bemüht ruhig nach und richtete mein Hemd wieder. Die Stellen, an der er meine Haut berührt hatte, kribbelten immer noch. Langsam fühlte ich mich wie ein dämliches Teenagermädchen in der Hochphase ihrer Pubertät.

„Das V!“ Er fuchtelte mit den Händen wild in die Richtung meiner Lenden. „Dieses verdammte V!“

Es dauerte einige Sekunden, bis mir einleuchtete, was er meinte. Meine Bauchmuskeln endeten seitlich mit diesem V, was laut Fitnesstrainern und diversen Men’s Health Schmonzetten so begehrt war. Ich hatte eine natürliche Veranlagung dafür und fand es nicht ausgesprochen besonders. Blaise anscheinend schon. Einerseits erschien mir der Moment zunehmend bizarr und andererseits schwoll meine Brust bei diesem offensichtlichen Kompliment von ihm an. Ich war seiner Meinung nach also durchaus attraktiv…

Und kein Troll, halleluja!

„Mike versucht seit Jahren, auch so eins zu bekommen…“ Er grinste spöttelnd. „Hat’s bis heute aber nicht geschafft.“

Bei dem wiederholten Erwähnen dieses Namens formte sich das Kribbeln in mir zu einem schweren Klumpen. Ich war zwar kein Sherlock Holmes, aber auch mein Verstand war dazu fähig, gewisse Indizien richtig zu deuten.

Trotz des Wissens, dass ich mir sicher war, dass ich die Antwort nicht hören wollte, fragte ich: „Wer ist dieser Mike eigentlich?“

Blaise seufzte, als würde er am liebsten gar nicht darüber reden, überwand sich aber trotzdem. „Mein Freund, auch wenn er davon gerade nichts wissen will.“

Ich hätte eigentlich nicht schockiert sein sollen – genauso wenig wie bei seinem ungewollten Outing eben. Dann war er halt schwul, dann war er halt vergeben…was ging mich das an? Nichts, genau!

Und warum wurde mir dann gerade flau im Magen?

Bestimmt irgendein Virus…

„Oh, ja … das … ähm…“, war alles, was ich hervorbrachte. Unwissend, wie ich mich verhalten oder was ich sagen sollte. Hatte ich mir nicht bis eben noch umfassend eingeredet, dass ich nicht an Blaise interessiert war? Woher kam dann dieser imaginäre Gefühlsknüppel, der mir just in diesem Moment über den Schädel gezogen wurde?

Scheiße, dann fand ich ihn halt anziehend, noch lange kein Grund, gleich die Welt untergehen zu sehen, bloß, weil er einen Freund hatte. Ich musste doch nur meine Krallen wieder einfahren und so tun, als ginge mich das gar nichts an.

Mike, wer? Das war die richtige Einstellung! Irgendwie hallte da trotzdem Verzweiflung in meinem Kopf wieder…

„Äh…und warum will er nichts von dir wissen? Ich meine, wenn er doch dein Freund ist.“ Gut, Phil. Einfach darauf einsteigen. Als rein platonischer Kumpel interessierte man sich nämlich für das Leben seiner Freunde. Diese ungewohnte Enttäuschung von eben ließ sich ganz sicher einfach abtrainieren.

„Er ist’n Arsch“, nuschelte Blaise und wischte sich orientierungslos über die Stirn. „Er … ach, keine Ahnung. Einerseits ist er manchmal total charmant und kümmert sich … und dann benimmt er sich wie der letzte Neandertaler und versteht nicht mal, was er falsch macht.“

Blondie seufzte und in mir rüttelte etwas, ein bisschen wie damals, als ich ihn weinen gesehen hatte.

Mitleid. Mein alter Freund.

„Er will sich nicht outen“, fuhr er fort und lehnte sich mit der Stirn gegen meine Schulter. Kurz darauf folgten die Arme, die sich um mich schlossen. Fast augenblicklich versteifte ich mich wieder.

Diesmal ging die Umarmung von ihm aus, nicht bloß so eine Umklammerung von eben. Wäre er nicht so unheimlich betrunken gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich darüber gefreut. Doch in diesem Moment fühlte es sich falsch an.

„Tut mir leid“, erwiderte ich schließlich schlicht. Was anderes fiel mir nicht ein und es schien, als würde er Trost brauchen. Ein Freund, der sich nicht outen wollte, war tatsächlich etwas Trauriges. Ein Produkt unserer intoleranten Gesellschaft. Wäre Homosexualität nämlich nicht in den Augen vieler eine Krankheit, dann würden auch keine Schrankschwuchteln existieren.

„Schon gut“, brummelte er. „Du kannst da ja nichts für. Du bist’n toleranter Hetero. Seeeehr selten…“

Das letzte ging im Gebrabbel unter, kaum verständlich. Wieder tätschelte ich ihm den Rücken und kam mir vor wie ein Trottel. Meine einzige Hoffnung war, dass Blaise mir dafür nicht am nächsten Morgen den Kopf abriss … obwohl ich natürlich keine Schuld trug. Aber versteh einer mal den Blondschopf, dem traute ich alles zu.

Wo war eigentlich der Fehler in seinem Satz? Ach ja, Hetero …

„Na ja, eigentlich“, begann ich vorsichtig, wurde aber von ihm erbarmungslos unterbrochen.

„Du bist total lieb … wieso sind wir nich‘ gleich Freunde geworden?“ Seine Hand tätschelte dabei ohne Unterlass meinen Rücken, als wäre ich seine Oma.

Okay, vielleicht ein Zeichen dafür, dass es der falsche Moment war, um sich zu outen.

„Egal, Hauptsache wir sind jetzt Freunde“, lächelte ich kapitulierend und hätte beinahe erleichtert aufgeseufzt, als plötzlich Becca in mein Sichtfeld trat. Genau im richtigen Moment.

„Wir haben euch schon vermisst“, verlautete Rebecca nüchtern und blieb vor uns stehen, eine Augenbraue bei dem Anblick, den wir wohl abgaben, skeptisch hochgezogen.

„Blaise ist ziemlich betrunken“, erklärte ich genauso sachlich, mich über ihre genervte Tonlage wundernd. „Ist was passiert?“

„Ach, nichts Großes … außer, dass Konrad sich mal wieder wie ein Arsch verhalten und Theresa damit beinahe zum Heulen gebracht hat.“ Becca machte ein zerknirschtes Gesicht und musterte Blaise von der Seite, der sie irritiert anblinzelte. „Ich hab sie getröstet und er ist abgedüst. Sie ist gerade ihre Jacke holen, wir wollen gehen. Kommt ihr mit?“

Das „Oder störe ich gerade?“ hing gefährlich in der Luft und ich überging es gekonnt mit einem Kopfschütteln. „Ich geh nicht ohne Konny. Er ist einfach abgehauen und hat Theresa stehen gelassen? Echt?“

Sie nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Keine Ahnung, was das sollte. Sie haben sich gestritten und er ist abgehauen. Er ist bestimmt noch drinnen, aber ich hab ihn aus den Augen verloren, als Theresa Tränen in den Augen hatte.“

Den Vorwurf hörte man ja gar nicht aus ihrer Stimme heraus.

„Ich kümmer‘ mich um ihn. Kommt ihr beide nur gut nach Hause.“ Ich lächelte aufmunternd, worauf selbst Becca sich noch ein halbherziges Lächeln abrang. In dem Moment tauchte aber auch schon eine aufgelöste Theresa bei uns auf. Ihre Schminke an den Augen war verlaufen, ein ziemlich eindeutiges Indiz dafür, dass Konrad ordentlich Scheiße gebaut hatte.

Ich hoffte nur, dass man das noch richten konnte. Die beiden stritten sich nicht selten, vertrugen sich aber auch meistens sofort.

„Oh je“, murmelte Blaise und drückte sich mit Schwung von mir weg, sodass er beinahe einen Purzelbaum nach hinten machte. Schwankend – und durch meine Hand, die ihn am Ellbogen hielt – taumelte er rüber zu Theresa und nahm sie so fest in den Arm, dass sie einen quietschenden Laut von sich gab.

Er streichelte ihr über den Rücken, während er ihr bemüht tröstend „Männer sind Schweine“ ins Ohr flüsterte. Meiner Meinung nach nicht sehr hilfreich, aber der Wille zählte ja bekanntlich.

„Danke“, nuschelte Theresa und entwand sich seinem Todesgriff. „Wir … fahren jetzt.“ Damit lächelte sie, mit Tränen in den Augen, in die Runde und wurde von Rebecca, die mir im Vorbeigehen noch etwas zu grob gegen den Oberarm schlug, zum Auto geschliffen.

Es war nicht schlimm, nach Hause zu laufen. Das würde vielleicht eine halbe Stunde dauern, war aber machbar. Außerdem wollte ich Konrad nicht einfach so zurücklassen, nach dem Streit. Der Kerl war viel zu verliebt in sie, als dass er sich nicht jetzt genauso elend fühlte.

 

„Tschüühüüs!“ Blaise winkte wie ein Irrer hinter den Mädchen her und lenkte mit seiner nicht gerade leisen Stimme die komplette Aufmerksamkeit aller Leute auf uns. Ich schlug mir getrost mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Komm“, seufzte ich und packte ihn am Oberarm, „Wir suchen jetzt Konrad und gehen dann auch.“

„Aber der ist doch ein Schwein?“, fragte Blaise verwundert nach und ließ sich mitziehen. Als wir den Türsteher passierten, folgte er uns misstrauisch mit den Augen.

„Ja, aber das Schwein ist mein bester Freund.“ Ich suchte die Menge ab, wurde aber in dem Gedrängel der sich bewegenden Körper nicht fündig. „Deswegen geh ich nicht ohne ihn.“ „Du bist viel zu nett“, stellte Blondie klug fest und brachte mich zum Lachen. Schön, dass ausgerechnet er das feststellte.

Erst weitere fünf Minuten später entdeckte ich den dunklen Haarschopf an der Bar. Er gab seine leere Flasche Bier ab, ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Ich musste ihn nicht überreden zu gehen, auf die Frage hin nickte er bloß und stürmte beinahe mit uns hinaus. Erst draußen an der frischen Luft, wo lediglich das Stimmengewirr von einigen Betrunkenen Gästen, die wie wir den Club verließen, zu hören war, traute ich mich das Krisengespräch zu beginnen.

„Was ist’n jetzt eigentlich passiert?“ Ich warf Konrad einen prüfenden Blick zu und er fuhr sich mit beiden Händen verzweifelt durchs Haar.

„Keine Ahnung … sie war wieder so … so unsicher. Ich hab bloß mal mit Cathleen gesprochen, die kenn ich noch aus der Grundschule. Sonst nichts, ich schwöre!“ Er hob zum Beweis seine rechte Hand, während er die Linke aufs Herz legte. Ein Zeichen, dass er noch immer ziemlich angesäuselt war. Wenn auch nicht so sehr wie Blaise, der gerade Sterne zählte.

„Da wurde sie eifersüchtig und hat die ganze Zeit so Andeutungen gemacht … dass ich sie nicht hübsch finden würde oder sowas … und hat dann sogar ‚unauffällig‘ gefragt, wie ich Cathleen denn finde. Ich mein, was soll der Scheiß. Nur, weil sie kein Selbstbewusstsein hat, muss sie mir das nicht anhängen.“

Ich verdrehte bei dem Drama die Augen. „Lass mich raten, du hast es ihr auch genau so gesagt, oder?“

Ein wenig beschämt brummte er etwas Zustimmendes. „Konnte ja nicht ahnen, dass sie so drauf abgeht. Dabei weiß sie doch, dass ich sie liebe, was soll das Drama dann noch drum rum…“

„Frauen eben.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Die brauchen das irgendwie. Rebecca war auch so.“

„Ich kann irgendwie nich‘ glauben…“ Blaise machte eine Kunstpause und schluckte energisch. „…dass du und Rebecca ... die guckt immer so zerknirscht. Und hübsch ist sie auch nicht.“

Konrad und ich warfen ihm zeitgleich einen skeptischen Blick zu und er seufzte. „Gut, sie ist hübsch. Aber ihr passt gar nicht zusammen…“

„Das hab ich dann ja auch erkannt“, gluckste ich und klopfte Blondie gegen die Schulter. Er grinste zurück und wirkte dabei unnötig triumphierend.

Auch wenn ich Rebecca wirklich gemocht – ja, sogar geliebt – hatte, war das Ende unserer Beziehung damals nicht überraschend gewesen. Na ja, zumindest für mich. Es lag nicht daran, dass ich auch auf Jungs stand, was ich so langsam entdeckt hatte. Das Problem war, dass unsere Beziehung irgendwann zu alltäglich, langweilig und spießig geworden war. Scheiße, sie hatte mich dazu gezwungen, Spieleabende mit Konrad und Theresa zu machen, als wären wir ein altes, verheiratetes Pärchen. Klang nicht nur für mich bescheuert, oder?

Sie war zwar mächtig sauer und traurig gewesen, aber Gott sei Dank hatten wir zurück zu unserem freundschaftlichen Stadium vor der Beziehung gefunden. Ich hätte es bereut, wenn sowas Bescheuertes unsere enge Freundschaft zerstört hätte.

Deswegen wollte ich um jeden Preis verhindern, dass meine Hormone die Sympathien zwischen Blaise und mir kaputt machten. Außerdem hatte mir die Tatsache, dass er einen Freund hatte – obgleich er wohl ein Arschloch war – einen mächtigen und dringend notwendigen Dämpfer verpasst. Auch wenn ich niemals einem Flirt abgeneigt war, versicherte ich mich immer, dass ich dadurch keine Beziehung zu Grunde richtete. Ich wäre ungern das Flittchen, das sich im Schrank verstecken muss.

 

Apropos Flittchen. Obgleich Blaise eben noch gebeichtet hatte, dass er vergeben war, benahm er sich betrunken ein wenig … billig. Zumindest fand ich es dezent aufdringlich, dass er sich permanent an meinen Arm klammerte wie ein Äffchen und seinen Kopf an meine Schulter lehnte. Mein ständiges Gewackel mit dem Unterarm und die kläglichen Versuche ihn abzuschütteln, störten ihn dabei überhaupt nicht. Leider.

Wir liefen bereits zwanzig Minuten und hatten auch nicht mehr viel Weg vor uns, als Blaise anfing, sekündlich zu jammern, dass ihm schlecht wäre. Wenn ich nicht so ein großes Verantwortungsgefühl ihm gegenüber hätte, wären mir an diesem Abend längst Mordgedanken gekommen.

„Mir ist soooo schlecht…“, stöhnte er unleidig und presste sich mit geschlossenen Augen an meine Seite. Konrad gab einen genervten Laut von sich und sah mich vielsagend an. Er schien bereits mit der Vorstellung, Blondie in der nächsten Grube zu entsorgen, zu spielen.

„Dann steck dir den Finger in den Hals und kotz in den nächsten Busch“, brummte Konny.

„Das hilft wirklich“, pflichtete ich bei und schüttelte aufmunternd meinen Arm, den er wie ein Schraubstock umschloss.

„Will nich“, kam es nuschelnd zurück. „Bin speifrei.“

„Wie jetzt?“ Konrad blinzelte debil. „Du hast noch nie gekotzt?“ „Noch nie von Alko’l.“ Blaise streckte den Daumen raus und grinste stolz. Das Grinsen verging ihm aber recht schnell wieder, als ihn wohl eine neue Woge Übelkeit erfasste.

„Dann wird’s mal Zeit.“ Ich befreite mich endlich von seinem Griff und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. Das andauernde Gestöhne von ihm ging mir nämlich langsam auf den Zeiger.

Blaise fand unseren Ratschlag jedoch unnötig – das schloss ich aus der Tatsache, dass er sich gerade ohne weiteres Tamtam einfach auf den Bürgersteig legte und Arme und Beine von sich streckte. In dem Moment fragte ich mich, ob das überhaupt noch dieselbe Person war.

Tja, Kinder. Finger weg vom Alkohol.

Ich war bloß froh, dass Konrad sich wieder so weit im Griff hatte, um sich nicht genauso blöd und besoffen daneben zu legen. Wann war ich eigentlich zum nüchternen Aufpasser auserkoren worden? Für den Mist hier war ich bei weitem nicht betrunken genug.

„Blaise“, seufzte ich und rieb mir über die Stirn. „Steh auf. Wir wollen nach Hause.“

Angesprochener murmelte etwas Unverständliches und bewegte die Glieder wie ein Hampelmann. Gott, wenn ich nicht gewusst hätte, dass er mich deswegen im nüchternen Zustand gemeuchelt hätte, dann hätte ich mein Handy gezückt und ein Video von der Aktion gedreht.

„Du kannst hier nicht schlafen, Blondie.“

„Lass mich, Tarzan!“

Konrads Nasenlöcher blähten sich auf wie die von einem Stier. Ein Zeichen dafür, dass er all seine Geduld zusammennahm, um Blaise nicht in kompakte Teile zu hacken. „Ja“, kam es lahm von ihm. „Lass ihn doch einfach hier. Dann kann ich auch endlich ins Bett.“

„Was zählt, is‘ die Mission!“, kicherte Blondie darauf belustigt und fing an, den Gehweg zu streicheln. Frische Luft machte sich bei Betrunkenen anscheinend nicht so gut.

„Ich habe dich nicht zurückgelassen und lass ihn jetzt auch nicht hier.“ Blaise brabbelte etwas von Soldaten. „Außerdem würde meine Mutter mich sonst umbringen. Hilf mir lieber.“

Gemeinsam brachten wir die Nervensäge in eine aufrechte Position, sodass ich ihn, ein Arm an seinen Kniekehlen, die andere an seiner Taille, mit Schwung hochheben konnte. Meine Befürchtung, dass er mich deswegen vollkotzen würde, verflüchtigte sich, als er dabei laut „Hui!“ schrie und mit den Beinen zappelte.

Überraschenderweise wog er mehr, als ich erwartet hatte. Er war zwar schmal, aber ohne jegliche Körperspannung nicht leicht zu tragen. Sein Glück war meine Nüchternheit. Tja, des einen Leid, des anderen Freud.

„Das ist, als würde man auf ein Kleinkind aufpassen“, stellte ich grinsend fest und nahm unseren Weg wieder auf. Konrad schnaubte. „Ein Glück hast du Erfahrung.“

 

Weitere zwanzig Minuten – und einige Pausen, weil Blaise andauernd „Ich muss kotzen!“ rief – später, erblickte ich endlich unser Haus am anderen Straßenende. Das Gebäude war alt, aber dank meiner Großeltern, die zuvor darin gewohnt hatten, gut erhalten. Die gelbe, steinige Fassade glänzte im Licht der Laternen orange.

Konrad fischte den Hausschlüssel aus meiner Jackentasche und schloss auf. Natürlich war es stockdunkel und mucksmäuschenstill. Möglichst leise schlichen wir in den Hausflur, die Tür hinter uns schließend. „Geh schon mal hoch und zieh dir die Couch aus. Ich bring Blaise in sein Zimmer.“

Leichter gesagt, als getan. Konrad huschte hoch und verschwand in meinem Zimmer, während ich mich mit Blaise die Treppen hochquälte. Mittlerweile hatte er es darauf belassen, leise in sich hinein zu brummeln und mich von unten herauf anzustarren. Meine Arme wurden langsam lahm.

„Wieso … Mike … nich‘ … du…“, sprudelte der Wörtersalat aus seinem Mund, während ich endlich das obere Stockwerk erreicht hatte.

„Blaise, ich bring dich in dein Bett und dann schläfst du erst mal. Und mit ganz viel Glück hast du das morgen alles vergessen … oder du stirbst an deinem Schamgefühl. Solange du mir nicht die Schuld dafür gibst, ist mir alles recht.“

Ich stieß seine Zimmertür mit dem Fuß auf und schaltete den Lichtschalter mit dem Ellbogen an. Tja, ich war ein Ausnahmetalent. Dass ich dabei seinen halben Schreibtisch abräumte, war bloß ein unschicklicher Nebeneffekt.

Auf seinem Bett ließ ich den Klotz schließlich fallen – hey, ich hatte das Ding aufgebaut, das federte gut genug, um kein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Blaise schien trotzdem nicht zufrieden.

„Will nich‘ ins Bett.“

Ich stöhnte genervt. Scheiße, der war ja schlimmer als Timmy. Ich war eindeutig zu alt für diesen Quatsch … und zu müde.

„Mir auch recht.“ Ich zuckte mit den Schultern und wollte endlich – das hatte ich mir redlich verdient! – ins Bett gehen, aber Blaise dachte nicht daran, mich gehen zu lassen. Innerhalb von Sekunden war der Dreckskerl wieder fit und energisch aufgesprungen.

„Lass uns verstecken spielen! Wenn du mich findest, haben wir Sex.“ Blondie kicherte ziemlich unmännlich und eilte schwankend und unkoordiniert zu seinem Kleiderschrank, den er augenblicklich aufriss und hineinstieg. Das Wort Sex aus seinem Mund hatte mich in dem Moment so irritiert, dass ich gar nicht registrierte, wie geschockt ich in der Bewegung innegehalten hatte.

Während mein Gehirn gerade an dem Geisteszustand des blondierten Schönlings zweifelte, befahl mir mein Penis, ihn unbedingt zu finden. Die Belohnung klang nicht schlecht, aber ich würde mich hüten, dem nachzugehen.

Na ja.

Obwohl …

Ich konnte ihn da doch nicht einfach bis morgen früh drin sitzen lassen, oder?

Ach scheiße, ich sollte ihn da einfach versauern lassen!

„Blaise, komm da raus!“ Ich fuhr mir unruhig durchs Haar und stellte mich vor den Schrank, aus dem ein betrunkenes Glucksen ertönte. „Ich bin in Narniaaaa!“, plärrte es zurück, gefolgt von dem Rascheln von Klamotten. Wie zum Teufel passte der Idiot da eigentlich rein?

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, während ich die Schranktüren öffnete und Blaise in einer Lache seiner Hemden entdeckte. Er hockte da wie ein Frosch, konnte nicht nach hinten oder zur Seite. Wie gern ich davon Fotos gemacht hätte.

Blaise kullerte wie eine kleine, betrunkene Kugel heraus und erhob sich, keine zwei Zentimeter Abstand zu mir. Er sah zu mir auf und wackelte mit den Augenbrauen, seine Nase direkt vor meinem Kinn.

„Du hast mich gefunden.“

Wow, er war ja ein richtiger Sherl-

Innerhalb weniger Augenblicke hatte er sich auf die Zehenspitzen gestellt und mir einen ungelenken Kuss auf den Mundwinkel gegeben. Wahrscheinlich hatte es total bescheuert ausgesehen und sonderlich verführerisch war es auch nicht, aber diese kleine Berührung seiner Lippen verpasste mir einen Stromschlag, direkt durchs Herz, tief in die Glieder. Es war bei weitem der mieseste Kussversuch meines Lebens, aber auch bei weitem der erste, der mir so viel Hunger auf mehr gemacht hatte.

Ruckartig zuckte ich zurück, fiel beinahe über meine eigenen Füße, während ich wieder, wie so oft in dieser Nacht, Abstand zu ihm nahm. Blaise zog kurz einen Schmollmund wegen meiner derben Reaktion, stolperte aber schließlich mit verschleiertem Blick zu seinem Bett und ließ sich wie ein Sack darauf fallen.

„Ich hab dich lieb, Tarzan. Du bist’n netter Mensch. Viel zu nett…“ Er gähnte und kuschelte sich wie ein Kind in seine Bettdecke. „Und ich bin viel zu böse.“

Ich stand noch immer ziemlich starr an meinem Platz, entrang mir ein stickiges „Ja“ und verließ langsam und unschlüssig sein Zimmer.

Kein Gutenachtgruß diesmal. Ich floh förmlich ins Badezimmer.

Dort, wo ich ihn vor kurzer Zeit noch getröstet und umarmt hatte.

Bloß eine Umarmung. Ein kleiner Schritt in seine Richtung. Wann waren aus diesen Schritte Sprünge geworden?

Wieso reagierte ich auf diesen besoffen, kleinen Kuss derartig extrem?

Morgen wüsste Blaise nichts mehr davon und ich blieb verwirrt und hormongesteuert zurück.

Ja, das war böse. Womit hatte ich netter Kerl das bitte verdient?

Der Kater danach

 

Fakt war, dass Blaise mich geküsst hatte. Na ja, zumindest größtenteils.

Fakt war, dass er dabei ziemlich betrunken gewesen war.

Fakt war, dass er einen Freund hatte.

Fakt war leider auch, dass mich das mehr verwirrt hatte, als es sollte.

Lösung des Problems?
Dem Abhilfe verschaffen.

Da ich Blaise leider nicht zurück in seine Großstadt schicken konnte – ein Teil von mir hätte das am liebsten getan, was fiel es Blondie ein, mich so zu verwirren? – musste ich mir eine andere Lösung ausdenken.

Die hieß letztendlich Marie.

Die hübsche, niedliche Marie, die vorm Club Interesse an mir gezeigt hatte, während ich Trottel mich um die blondierte Diva gekümmert hatte. Facebook sei Dank, hatte ich sie schnell gefunden und angeschrieben. Sie schien sich über meine Kontaktaufnahme zu freuen, zumindest entnahm ich das ihrer übermäßigen Benutzung von Smileys. Es war erfrischend, mit Marie zu schreiben – sie war nett, humorvoll und offen, und vor allem zeigte sie ehrliches Interesse an mir, ohne mir andauernd irgendwelche zickigen Kommentare oder böse Bemerkungen an den Kopf zu werfen. Das war Entspannung pur.

Ich hatte Blaise den Tag nach seinem übermäßigen Alkoholkonsum in Ruhe gelassen. Das war, meiner Erfahrung nach, das Beste was man tun konnte, wenn jemand mördermäßig schlecht drauf war. Dass er einen Kater hatte, war eine Tatsache, die ich aus seinen müden Augen, der bleichen Hautfarbe und der Hand, die sich quasi permanent an seiner Schläfe befand, entnahm. Ich glaubte sogar, ihn am Morgen im Bad kotzen gehört zu haben – und das nicht gerade wenig.

Den Vormittag über blieb er in seinem Zimmer, mit den Vorhängen unten. Mutti hatte ihn wegen des Frühstücks geweckt, aber lediglich ein Brummen geerntet. Als ich schließlich hochging und in seine Gruft spähte, konnte ich nur einen blondierten Wurm unter einer dicken Decke erahnen. Es miefte da drin nach Schnapsleiche und bevor ich den Mund hätte öffnen können, hatte er mir bereits ein „Tür zu, es zieht, Phillis“ entgegengeworfen.

Im ersten Moment hätte ich am liebsten etwas geantwortet, einfach, weil ich mir Sorgen machte (das war verflucht nochmal nicht abzustellen, ja!), aber dann durchfuhr mich eine seltsame Erleichterung. Nicht, weil die Diva noch atmete – der Kerl ist wie `ne Zecke nicht totzukriegen, da war ich mir sicher – sondern weil er nach gestern Nacht noch mit mir redete. Ich war mir zwar nicht zu hundert Prozent sicher, ob er sich an alles erinnern konnte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen kompletten Filmriss hatte.

Was auch bestätigt werden sollte.

 

Der Sonntag verlief gefährlich ruhig und wenn ich im Nachhinein darüber nachdachte, war es durchaus mit der Ruhe vor dem Sturm zu vergleichen. Blaise bequemte sich erst gegen Abend aus seinem Zimmer – obwohl er zwischendurch wie ein scheues Reh in die Küche gehuscht war, um sich etwas Essbares abzugreifen – und unterhielt sich kurz mit Mutti, die ihn wegen der Party gestern ausfragte. Dabei war sie, für ihre Verhältnisse, sogar irgendwie zurückhaltend.

„Freut mich, dass du Freunde gefunden hast“, erklärte sie gerade warm lächelnd, während sie die Pfanne vom Abendessen abwusch. Bis eben hatte ich ihr noch freimütig beim Abtrocknen geholfen, aber nachdem mir eine Auflaufform aus der Hand gerutscht und dann in etliche Scherben auf den Kacheln zerbrochen war, hatte sie mich mit zusammengepressten Lippen aus der Küche verbannt. Ich bekannte mich zwar schuldig, aber mich gleich ins Exil zu schicken fand ich etwas hart. Von meiner eigenen Mutter!

Deswegen lauschte ich ihrem Gespräch auch vom Wohnzimmer aus. Paps war im Esszimmer an seinem Laptop und arbeitete, sodass ich hier in Ruhe, Hektor und Nestor vor mir dösend auf dem Teppich liegend, fernsehen konnte. Bis auf ein nüchternes „Hey“ hatten Blaise und ich uns nicht weiter unterhalten, nachdem er heruntergekommen war. Der kurze Moment hatte aber gereicht, um zu sehen, dass er verlegen war – er hatte überall hingesehen, nur nicht in mein Gesicht und war schneller in der Küche verschwunden, als ich gucken konnte.

Das hieß also, er konnte sich durchaus erinnern, was passiert war.

Oder viel mehr, was er getan hatte. Eigentlich trug ich ja keine Schuld daran, ich war bloß der geborene Gentleman gewesen, like always. Vorwerfen durfte man mir, so gesagt, nichts – oder sollte ich ihn das nächste Mal betrunken im Schrank sitzen lassen?

Hm, wahrscheinlich. Wäre besser, wenn ich nicht wieder dem kauernden Kussmonster Blaise ausgesetzt sein wollte.

Einmal hatte mir gereicht, ehrlich. Auch wenn ich mich nicht davon abhalten konnte, ihm hinterher zu starren, als er in die Küche ging, und daran zu denken, dass…

Scheiße, Schluss mit dem Käse!

„Wie war die Party denn so?“, fragte Mutti neugierig. „Phil erzählt ja nie viel davon.“

Wofür ich auch allen Grund hatte – sie war so eine Tratschtante. Fehlte nur noch, dass sie sich bei Facebook anmeldete, um besser stalken zu können.

„Ganz nett“, erwiderte Blaise nüchtern und ich hörte, wie Geschirr klapperte. „Haben ein bisschen viel getrunken.“

Oh ja, dachte ich sarkastisch, ein bisschen zu viel.

Mama lachte laut auf, beinahe spöttisch. „Ja, das habe ich gesehen. Ich gebe dir einen Tipp, fürs nächste Mal: Iss was, bevor du ins Bett gehst, dann musst du dich am nächsten Morgen nicht übergeben. Und Tomatensaft hilft gegen den Kater.“

„Echt? Tomatensaft?“

„Ist bei uns ein altbekanntes Hausmittel. Gott, wie oft ich Phil schon Tomatensaft eingeflößt habe, nachdem er am nächsten Morgen immer noch betrunken durchs Haus geschlurft ist…“

Zweimal, beantwortete ich ihr in Gedanken. Sie sollte mal nicht so übertreiben! Typisch Mama.

„Ist gestern was passiert?“, griff Mutti das Gespräch dann nach einigen Sekunden der Stille wieder auf. Ich wurde hellhörig. Er würde ihr bestimmt nichts erzählen, da war ich mir sicher. Blaise war niemand, der über solche Dinge redete. Schon gar nicht, wenn ich direkt und in Hörweite im Nebenzimmer saß.

„Wieso?“, kam es kratzig zurück, beinahe paranoid. Er hustete ein paar Mal und brachte mich zum Grinsen.

„Du guckst nur so nachdenklich.“

„Konrad und Theresa haben sich gestern gestritten“, lenkte er ohne zu zögern ein. Gutes Ablenkungsmanöver.

„Oh, wieso denn das? Die beiden sind ein hübsches Paar.“

„Weiß ich auch nicht.“

Weil du viel zu betrunken warst, um das richtig wahrzunehmen.

„Da muss ich Phil später fragen. Aber die beiden vertragen sich bestimmt wieder.“
„Bestimmt.“

Dann herrschte erneut Stille und ich fing an, unwohl auf meinem Hintern hin und her zu rutschen. Der plötzliche Drang, mit Blaise wegen der Sache zu reden, überfiel mich wie ein starker Juckreiz. Ich wollte wirklich damit abschließen, völlig, aber das konnte ich nicht, wenn ich nicht wusste, ob Blaise und ich, also … ob unsere Freundschaft das überstand. Die steckte immerhin noch, zerbrechlich wie Porzellan, in ihren Kinderschuhen.

Und ich wollte das, Himmel nochmal, endlich abschließen. Ohne, dass das unsere Beziehung irgendwie beeinflusste.

Wieder einmal fand ich keine Antwort auf die Frage, warum mich das derartig beschäftigte.

 

Ich schob dieses ‚ernste Gespräch‘ auf Montagmorgen, wenn wir gemeinsam zur Schule fahren würden. Dann wären wir alleine und hatten unsere Ruhe. Außerdem bestand so nicht die Möglichkeit, dass er versuchen würde, mich umzubringen, weil es doch sehr lebensmüde gewesen wäre, den Fahrer kalt zu machen.

Nach der Unterhaltung mit Mutti verzog Blaise sich kommentarlos zurück in sein Zimmer. Als ich ihn dabei beobachtete, absichtlich auffällig, entging er erneut jeglichem Augenkontakt und duckte sich förmlich vor meinem Blick. Auch auf das ironische „Bis morgen“, das ich ihm hinterherrief, zeigte er keine Reaktion.

Am nächsten Morgen stand ich ungewohnt früh auf. Ich war bereits eine Stunde vor meinem Wecker aufgewacht und beschloss, nach der täglichen Morgenroutine, die Zeit mit einem Spaziergang totzuschlagen. Also suchte ich die Hunde zusammen, während meine Ma eifrig Frühstück für uns machte, fand aber merkwürdigerweise nur Nestor, der, jung und fidel wie er war, ungeduldig durch das Wohnzimmer wuselte, seine Leine, die er bereits von der Halterung gepflückt haben musste, im Maul rumschleppend.

„Mutti, hast du Hektor gesehen?“, rief ich durch den Flur und hüpfte auf einem Fuß, um einen Schuh anzukriegen.

Es musste meine Frage wiederholen, weil Mama sie anscheinend nicht gehört hatte, und bekam letztendlich nur ein „Nein“ zurück. Also machte ich mich seufzend auf die Suche, was Nestor mit einem ungeduldigen Jaulen kommentierte. Er blieb jedoch an der Tür sitzen.

Ich suchte alle Räume ab und rief nach Hektor, aber wurde nicht fündig. Normalerweise hätte das bloße Rufen seines Namens ausgereicht, um ihn anzulocken, doch nichts. Als ich bei völliger Ratlosigkeit angelangt war, hörte ich ein Kratzen an Holz, das mir verdächtig bekannt vorkam. Krallen auf Holz.

Das Geräusch war schnell zurück zu verfolgen und ehe ich mich versah, stand ich vor Blaise Zimmertür, die ich zögerlich öffnete. Drinnen war es soweit dunkel, wie es die Vorhänge zuließen und ein freudig mit dem Schwanz wedelnder Weimaraner kam mir entgegen gestürmt. Hektor war schon immer der Schoßhund gewesen, der gerne in der Nähe eines Familienmitglieds schlief – meistens schlich er sich des Nachts auch ins Bett – aber dass er bei Blaise übernachtet hatte, überraschte mich. Normalerweise brauchte der ältere Rüde ein Stück, um sich mit jemandem anzufreunden und Blondie war … nun ja, niemand, den ich als tierfreundlich beschrieben hätte.

Aber gut, ich hinterfragte das nicht weiter.

Stattdessen stand ich dort im Türrahmen und blieb mit meinem Blick an der schlafenden Prinzessin hängen. Sein Mund war leicht geöffnet und seine Schlafposition sah so seltsam verdreht aus, dass ich grinsen musste. Dann riss mich von dem Bild los, ehe es noch zu einem peinlichen Teenie-Film-Moment kommen konnte, in dem Blaise aufwacht und mich beim gruseligen Starren erwischt. Darauf verzichtete ich zu dieser frühen Stunde.

Ich ging mit den Hunden meine Runde und kam rechtzeitig zum Frühstück zurück. Blaise war ausnahmsweise schon wach, als ich durch den Flur ins Wohnzimmer trat. Er schlurfte gerade die Treppe herunter, die blonden Haare noch chaotischer als jedes Vogelnest und die Augen halb geschlossen (oder halb geöffnet?). Seine Boxershorts hingen an einer Seite schief von seiner Hüfte und das Shirt in Übergröße verdeckte jegliche Körperform…

…und trotzdem durchzuckte mich für eine Millisekunde die Vorstellung von einem Blaise in meinem übergroßen Shirt.

Der Gedanke war schneller verdrängt, als er gekommen war und die Röte, die mir daraufhin ins Gesicht stieg, war dank meines dunkleren Teints ohnehin nicht zu erkennen. Alles im Griff.

Das Frühstück verlief genauso still und unbehaglich, wie schon der gesamte Tag zuvor. Blaise brachte einen guten Morgen Gruß hervor, aber damit endete es auch. Mutti hatte keine Zeit, sich um unsere geisterhafte Distanziertheit zu kümmern und eilte förmlich zur Arbeit, uns noch einen schönen Schultag wünschend. Ich nickte ihr zu und Blaise brummte.

 

Fünfunddreißig Minuten später saß ich im Auto und trommelte ungeduldig – Konrad würde es nervös nennen, aber ich war verdammt nochmal nicht nervös – auf dem Lenkrad herum. Blaise brauchte ewig, um seine Sachen zu packen, das kannte ich mittlerweile schon so. Wenn ich ihn darauf ansprechen würde, wäre Sekunden später wieder ein Streit vom Zaun gebrochen, und darauf verzichtete ich geflissentlich. Vor allem, weil ich mich über den Vorfall von gestern unterhalten wollte. Da konnte ich keine negative Energie gebrauchen. So gar nicht.

Mein Handy ploppte auf und erinnerte mich daran, dass ich vergessen hatte, meinen Ton auszustellen. Marie hatte mir geschrieben.

 

Marie

Gibt nichts Besseres, als zwei Stunden Mathe am Montagmorgen. ;)

 

Ich grinste.

 

Phil

Guten Morgen erst mal, du Glückspilz! Ich hoffe, du überstehst die Folter. Muss gleich losfahren. Ich drück dir die Daumen!

 

Die Antwort folgte prompt.

 

Marie

Danke für das geheuchelte Mitleid! ;) Ich bin schon ein großes Mädchen. Verfahr dich nicht! Bis später ;*

 

Ich wünschte ihr noch viel Spaß und steckte, nachdem ich den Ton ausgestellt hatte, das Handy in meinen Rucksack. Marie war wirklich ein nettes Mädchen – und nicht gerade zurückhaltend oder schüchtern. Vielleicht genau das, was ich jetzt gerade brauchte.

Dann wurde plötzlich die Beifahrertür aufgerissen und Blaise ließ sich wuchtig und lustlos auf den Sitz plumpsen, die Schultasche auf dem Schoß. Er sah immer noch müde aus, daran hatte die Dusche nichts ändern können.

Nach gefühlten Minuten, in denen sich nichts getan hatte, runzelte Blaise die Stirn und schaute mich verwirrt und ratlos an. „Willst du nicht mal langsam losfahren, Tarzan?“

Ich seufzte und wusste, dass der Moment gekommen war, um Klartext zu reden. Alles in mir sträubte sich dagegen, den Mund aufzumachen, aber wie sagt man so schön: Wenn nicht jetzt, wann dann?

„Hey, ich wollt eigentlich mal mit dir reden…“, begann ich leise, von Wort zu Wort lauter werdend und räusperte mich am Ende mit ernster Miene. War immerhin ein Anfang.

Blaise klatschte daraufhin lautstark und frustriert seine Hand gegen die Stirn. „Oh Scheiße, nein…“

„Wegen dem, was nach dem Club passiert ist“, fuhr ich davon unbeirrt fort, mit allem Mut, den ich aufbringen konnte.

„So ein verfickter Dreck“, fluchte Blondie ungehalten und verbarg nun sein Gesicht in beiden Händen. „Nein, nein, nein…schieß mir doch einer den verkackten Kopf weg…“

„Blaise“, forderte ich ruhig und wartete darauf, dass er seine Fluchtirade beendete und endlich wieder zu mir sah. „Komm schon, wir müssen darüber reden.“

Er nahm die Hände runter und warf mir einen verzweifelten Blick zu. „Dein verdammter ernst? Kannst du nicht einmal ein lieber Tarzan sein und den Scheiß einfach vergessen?“ So oft hintereinander hörte ich ihn selten fluchen, beinahe bemerkenswert. Fast malerisch.

Ich brummte und fuhr mir durchs Haar. „Das würde ich gern, aber du kannst mir ja nicht mal in die Augen gucken.“

„Weil es verflucht peinlich ist, Mann.“

„Blaise…“

„Nein! Ich war betrunken und ... und …äh.“

„Hast mich geküsst“, beendete ich den Satz und erntete ein beschämtes Stöhnen. Sein Gesicht verschwand erneut hinter seinen Händen, deren Finger mittlerweile seine Stirn massierten, als hätte er enorme Kopfschmerzen.

„Blaise, ich habe nichts gegen deine Sexualität, das habe ich dir gestern schon gesagt“, versuchte ich ihn zu beruhigen, doch er gab als Antwort ein genervtes Grunzen von sich, fassungslos den Kopf schüttelnd.

Ich verstand ihn nicht. „Was ist denn?“

Er schnaubte teils amüsiert, teils angefressen. „Kannst du auch einmal nicht so verdammt verständnisvoll sein? Du bist ein verkackter Heiliger.“

Das Lachen, das darauf meine Kehle hochstieg, konnte ich nicht unterdrücken. „Was?“

„Ich habe dich geküsst, du Hohlbirne. Jeder andere Hetero hätte…“

Jetzt war ich genervt. Er hatte immer noch nicht verstanden, worum es mir ging – und eigentlich regte ich mich hauptsächlich über mich selbst auf, weil ich das mit dem ‚hetero‘ immer noch nicht richtig gestellt hatte. „Ich bin nicht jeder andere, Blaise!“

Wieder ein Schnauben. „Das hab ich gemerkt, danke.“

„Dann kannst du auch aufhören, so zu tun, als müsste ich dir den Kopf abreißen.“ Nach einem beiläufigen Blick auf meine Armbanduhr, startete ich den Motor, damit wir noch rechtzeitig zur ersten Stunde kommen würden. „Ich nehm’s dir nicht übel, okay? Sowas passiert, wenn man betrunken ist. Vor allem, wenn man so betrunken ist, wie du es warst.“

Blaise grummelte und verschränkte die Arme vor der Brust, das Gesicht gen Fenster gerichtet. „Bild dir bloß nichts drauf ein, Tarzan. Ich habe einen Freund.“

Meine rechte Hand verkrampfte sich kurz um das Lenkrad – bestimmt bloß irgendwelche Muskelzuckungen – und ich lächelte schief. „Das hast du auch erwähnt, Blondie. Keine Sorge, so toll, dass ich ihn mir einprägen würde, war der Kuss nicht.“

Gelogen. Der war schon viel zu tief in mein Gedächtnis gebrannt.

Ich spürte, wie Blaise den Kopf in meine Richtung drehte und mich empört anstarrte. „Beschwerst du dich gerade allen Ernstes über die Qualität des Kusses?!“

Ungerührt grinste ich, mir über das Kinn reibend und die Unterhaltung langsam genießend. Das war eindeutig besser gelaufen, als ich gedacht hatte. Zumindest fühlte es sich an, als wäre alles wieder in Ordnung. Ich hoffte es. „Na ja, toll war er nun wirklich nicht.“

„Du kannst froh darüber sein, dass dich jemand geküsst hat, du Kobold!“

Ich lachte und merkte, wie die Anspannung von mir abfiel. „Oh, `tschuldige. Was für eine Ehre!“

„Ja, du solltest dich verdammt glücklich schätzen, Phil“, beendete Blaise ironisch auflachend das Gespräch.

Den Rest der Fahrt grinste ich in mich hinein. Einerseits, weil ich das tatsächlich war (wegen der entspannten Situation natürlich, nicht wegen Blaise oder so) und andererseits, weil er mich Phil genannt hatte…

 

„Alter, mit wem schreibst du da die ganze Zeit?“

Es war Pause und Konrad, Becca, Blaise und ich saßen im Schulflur an einem leeren Tisch. Becca hatte mir ihr restliches Pausenbrot überlassen, das ich nun glücklich und zufrieden in mich hinein stopfte, während ich in der rechten Hand mehr schlecht als recht versuchte, eine Nachricht in mein Handy zu tippen. Diese Smartphones waren einfach viel zu groß geworden.

„Mawwiie“, erwiderte ich mit vollem Mund und tippte angestrengt weiter. Bis eben hatte Konrad noch irgendwas von einem neuen Ego-Shooter gefaselt, aber er hatte schnell gemerkt, dass meine Aufmerksamkeit anderweitig lag. Rebecca und Blaise unterhielten sich unabhängig von uns über irgendeine Geschichtsaufgabe.

„Mit wem?! Steck dir doch noch mehr in den Mund, dann versteh ich dich besser“, scherzte Konny beinahe tadelnd, eine Augenbraue kritisch hochgezogen. Das sagte natürlich der richtige, ausgerechnet Konrad, der mal mit mir gewettet hatte, dass er es schaffte, einen Eimer Chicken Wings in zwei Minuten zu essen.

Unwichtig zu sagen, dass er die Wette gewonnen hatte.

Die Augen verdrehend schluckte ich den Bissen runter und drehte mein Handy so, dass Konrad den obersten Namen lesen konnte. „Mit Marie.“

Konny pfiff anerkennend und besah sich das Bild von ihr. „Die Freundin von Becca? Hübsch. Gute Wahl.“

„Welche Freundin von mir?“, mischte sich nun bei der Nennung ihres Namens besagte Dunkelhaarige ein und spähte vom Tischende zu uns rüber. In ihren Augen sprudelte die pure Neugier.

„Marie“, antwortete Konrad ihr grinsend versuchte einen weiteren Blick auf meinen Display zu erhaschen, um lesen zu können, was ich schrieb. Vergeblich, denn ich hatte mich bereits zurückgelehnt und das Handy aus seiner Reichweite gebracht.

„Marie?“ Rebecca guckte überrascht. „Echt? Hätte nicht gedacht, dass sie dein Typ ist.“

Konrad gluckste. „Ich auch nicht, immerhin hat sie keinen…“

„Sie ist nett“, fuhr ich Konny rückhaltlos über den Mund, „und humorvoll. Außerdem ist sie nicht gerade schüchtern.“

Jetzt machte Rebecca ihr Aha-Gesicht. „Verstehe, du willst sie nur knallen, oder?“ Sie klang ein wenig enttäuscht. Als hätte sie mehr von mir und meiner Moral erwartet.

Ich hörte Blaise neben mir schnauben und Konrad lachte in sich hinein. Es war nicht verwerflich, bei einer Person nicht gleich an Beziehung zu denken, meiner Meinung nach entwickelten sich manche Dinge von alleine – und wenn man sich über gewisse Grenzen einig war, dann … Scheiße, ja, dann wollt ich halt mit ihr schlafen. Ich war 19 Jahre alt und wohnte seit kurzem mit meinem schwulen Stiefcousin zusammen, der gern enge Jeans trug und einen küsste, wenn er betrunken war. Da brauchte ich das eben, daran war doch nichts falsch!

Ich war alt genug, um zu wissen, was ich wollte. Das Leben war nicht so wie in der Bravo beschrieben. Man traf sich, verliebte sich und schlief dann miteinander und so ein Quatsch.

Der Mittelteil passierte nämlich gar nicht so oft, also konnte man den doch auch getrost weglassen.

Außerdem war ich nun wirklich kein geborener Aufreißer – ich hüpfte nicht von Bett zu Bett oder dergleichen. Ich wollte lediglich ein bisschen Ablenkung. So. Deswegen war ich kein Unmensch.

Wieso fühlte ich mich dann wie einer?

Das Gefühl wurde durch Beccas zweifelhaftem Blick und Blaise abfälliges Schnauben unterstützt und ich rieb mir verlegen den Nacken. „Ach, jetzt tut mal nicht so, als wärt ihr verdammte Heilige. Ich hab ja nicht gesagt, dass ich ihr Tabletten ins Getränk schmeiß und sie dann hinter der nächsten Ecke vergewaltige.“

Becca seufzte und wank beschwichtigend ab. „Ist schon gut, ich hab nur gedacht, dass…“ Sie stoppte und musterte mich für den Bruchteil einer Sekunde, dann zuckte sie bloß mit den Schultern. „Egal.“

„Ich bin dann mal weg“, warf Blaise plötzlich ein, anscheinend hatte er das Interesse an der Unterhaltung verloren. Gelangweilt schulterte er seine Schultasche und trabte mit einem knappen Winken davon. Jetzt hatte er Kunst mit Theresa, soweit ich wusste.

„Ich geh nochmal zu Resi“, flötete Konrad kurz darauf und schwang sich ebenfalls vom Stuhl. „Sie meint, sie basteln in Kunst gerade Menschenköpfe und sie wollte, dass ich ihr vor der Stunde Modell stehe.“

„Für deinen Kohlkopf braucht man bestimmt massig Zeitungspapier und Kleber“, brummte ich zurück und drückte auf Senden, um endlich die Nachricht bei WhatsApp abschicken zu können. Rebecca lachte über meinen Kommentar und Konrad boxte mich hart, ehe er Blaise nachlief. Wie gewohnt hatten Theresa und Konny sich wieder vertragen, keine zehn Stunden nach ihrem Streit. Die beiden konnten nicht lange ohne einander. Was das Drama andauernd sollte, verstand ich trotzdem nicht.

Ich wollte gerade Maries Antwort lesen, als mir mein Handy auf magische Weise entzogen und auf dem Tisch vor mir abgelegt wurde. Perplex blinzelte ich Becca an, die mit überschlagenen Beinen vor mir saß und mich eingehend musterte. Als wäre ich ein Pferd, das sie verkaufen wollte.

„Du willst was mit Marie anfangen?“, fragte sie aus heiterem Himmel. Ich hatte keinen Schimmer, worauf sie hinauswollte oder was hier gerade abging, aber ihren verurteilenden Augen konnte man nicht entgehen. Das klang, als bräuchte ich ihre Erlaubnis dafür.

Ich zuckte mit den Schultern. „Mal sehen, kann sein.“

„Obwohl du Jungs eigentlich bevorzugst?“

„Ja, schon, und? Ich komme auch mit Marie klar.“

„Aber das müsstest du nicht, oder?“

Jetzt verstand ich nur noch Bahnhof. „Hä?“

Meine beste Freundin brummte entnervt und trug ihren besten Ach-Komm-Schon-Ausdruck zur Schau. „Wieso hast du Blaise nicht erzählt, dass du auch auf Kerle stehst?“

„Was?“ Ich rutschte unwohl ein Stück von ihr weg. „Woher weißt du, dass er…?“

„Oh bitte“, schnaubte sie. „Abgesehen davon, dass ich euch vor dem Club reden gehört habe, merke ich sowas. Ich bin nicht Konrad.“

„Wie, du hast uns reden gehört?“ Ich kam bei ihrem Gerede nicht ganz mit. Sie hatte uns belauscht, als ich draußen auf Blaise aufgepasst hatte?

„Bevor ich euch wegen Konrad und Theresa Bescheid gesagt habe, hab ich euer Gespräch aufgeschnappt. ‚Du bist ein toleranter Hetero‘, was?“ Becca grinste diebisch und verschränkte ihre Hände vor ihrem Bauch. „Richtig süß, wie er dich als Hete heiliggesprochen hat … obwohl du keine bist.“

Ich seufzte schuldig und machte ein ratloses Gesicht. „Ich fand einfach, dass das nicht der richtige Moment war, um ihm an den Kopf zu klatschen, dass ich auch auf Kerle stehe.“

„Aber wieso nicht?“ Rebecca schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ihr versteht euch doch anscheinend jetzt ziemlich gut und…“

„Scheiße, Rebecca. Du willst doch nicht etwa, dass ich ihm das sage, damit ich was mit Blaise anfange, anstatt mit Marie?“

Ertappt grinste die dunkelhaarige Teufelin. „Komm schon, ich habe euch gesehen. Wärst du auch betrunken gewesen, dann wäre da sowas von was gelaufen.“

„Ich weiß nicht, ob du das alles sagst, damit ich die Finger von Marie lasse oder weil du es tatsächlich so meinst“, grinste ich halbherzig.

„Ich meine es“, bestätigte sie daraufhin ernst. „Vergiss mal kurz Marie. Das ist so oder so deine Entscheidung. Ich will nur sagen, dass du deine Chancen bei Blaise nicht einfach so wegschmeißen solltest, bloß weil er dein Stiefcousin ist. Ich weiß, ihr kennt euch noch nicht lange, aber da ist eindeutig was zwischen…“
„Er hat einen Freund.“

Becca wurde still. Ihr Mund machte ein perfektes, rundes ‚O‘, das sie schließlich auch aussprach: „Oh.“

„Wie du siehst, hat es also keinen Sinn, da groß von zu reden“, schloss ich nüchtern ab und steckte mein Handy in meine Hosentasche. „Oder willst du, dass ich wieder nur eine Affäre bin?“

Theoretisch war Blaise bereits fremdgegangen. Aber … zählte das überhaupt?

Zählt es denn für dich?

Ich ignorierte die vorlaute Stimme in meinem Kopf. Die Sache mit dem Kuss hatten Blaise und ich bereits geklärt, es gab nichts, worüber ich noch nachdenken sollte, da konnte Becca die Dinge interpretieren, wie sie wollte.

Das traf Rebecca. Sie zuckte zusammen und schüttelte eiligst den Kopf. „Natürlich nicht! Ich hab das nicht gewusst, sorry Phil. Ich nerv dich nicht weiter damit“, fügte sie einfühlsam hinzu, mir ein aufmunterndes Lächeln schenkend. Ich konnte eindeutig Mitleid darin erkennen, von dem ich dachte, es längst losgeworden zu sein. Na toll, das brauchte ich jetzt als aller letztes.

„Schön, dann geht’s jetzt auf zu Wirtschaft.“ Ich half ihr aufzustehen und schulterte meinen Rucksack. „Nicht, dass wir davon auch nur eine schöne Minute verpassen.“

Probieren kostet nichts

Ich war kein Casanova, dafür besaß ich die benötigten Eigenschaften gar nicht – verwegen, verlogen und verführerisch passte nicht zu mir. Nicht umsonst war ich der „Knuddelbär“, laut Becca, das war weit entfernt von Hugh Hefner.

Nur manchmal … manchmal, da konnte man nicht anders. Manchmal musste man die verstaubten Verführungskünste ausgraben, wenn man es auf etwas abgesehen hatte.

Nicht, dass ich viel Charme aufwenden musste, um Marie von mir zu begeistern. Das sollte nicht heißen, dass ich so ein toller Hecht war oder sie leicht zu haben. Nein, es lag mehr daran, dass wir lediglich gut harmonierten. Sie war locker, verstand jeden Spaß und dazu auch noch nicht gerade auf den Kopf gefallen. Oder auf den Mund.

Okay, alles hatte eben einen Haken. Sie redete vielleicht ein bisschen viel, aber das hieß doch nur, dass sie eine ziemlich offene Persönlichkeit besaß, oder?

„Gut, du kannst gehen, Phil. Deine kleine Freundin wartet sicher schon sehnsüchtig auf dich.“ Rolf nickte mir zu und gab mir grinsend mit der Pratze einen unliebsamen Stupser gegen die Brust. Ich warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Marie saß seit ihrer Ankunft auf der Bank am Eingang der Halle, die Tasche auf dem Schoß und schenkte mir ab und an, wenn ich zu ihr sah, ein Lächeln.

Ich nickte Rolf zu und verabschiedete mich. Ruben gab mir auf dem Weg zu der Bank einen deutlich zu offensichtlichen High Five, nachdem er gefragt hatte, ob „die Hübsche“ zu mir wollte. Niklas beobachtete das alles mit Argusaugen, aber ich ignorierte es gekonnt, denn keine Sekunde später stand ich vor Marie.

Sie trug ihre schokobraunen Haare lockig und ihre leicht rötlich bemalten Lippen verzogen sich zu einem süßen Lächeln, als sie aufstand und mich mit einer Umarmung begrüßte.

„Iiih“, lachte sie und zuckte zurück, nachdem sie meine Schultern berührt hatte. „Du bist völlig verschwitzt.“

Ich machte ein schuldbewusstes Gesicht und fing an, die Bandagen von meinen Händen zu wickeln. „Sorry, daran hab ich nicht gedacht. Aber wer weiß, vielleicht färbt so etwas Sportlichkeit auf dich ab?“

Marie setzte einen gespielt empörten Gesichtsausdruck auf und boxte mir gegen den Oberarm. „Hey, willst du sagen, dass ich unsportlich bin – aua, sag mal, sind deine Arme aus Stahl?“

Ich lachte über ihre schmeichelhafte Übertreibung. „Nicht nur die“, scherzte ich und wackelte zweideutig mit den Augenbrauen. Sie verdrehte schmunzelnd die Augen und schnappte sich ihre Tasche. „Okay, geh lieber duschen, bevor du noch Höhenflüge kriegst.“

„Duschen? Ich dachte, du stehst auf meinen männlichen Männergeruch.“ Zum Beweis hin drückte ich sie fest an meinen verschwitzten Oberkörper, worauf sie einen kieksenden, angeekelten Schrei ausstieß und Ruben rief, dass wir uns ein Zimmer suchen sollten. Sie wurde rot und mir fiel wieder auf, mädchenhaft und klein sie war – und es störte mich, Gott weiß wieso.

„Oh, du bist so ekelig.“ Sie kicherte leise und wischte sich über die Arme, als würde sie lästige Insekten abschütteln wollen. „Behalt das nächste Mal deinen Schweiß!“

Marie gab noch ein paar Körpergeruch-Kommentare zum Besten, ehe ich mich losreißen konnte und duschen ging. Es war bereits unser zweites Treffen, am Samstag hatte ich sie ganz spontan von der Schule abgeholt und wir waren in die Stadt gefahren, um ein paar Burger zu essen. Ich kam nicht umhin, sie dabei ständig mit Rebecca zu vergleichen, die während unserer Beziehung gemeint hatte, fanatisch auf ihre Ernährung achten zu müssen. Es hatte tierisch genervt, mit ihr etwas zu essen auszusuchen. Die Relativitätstheorie war schneller aufgeklärt, als Beccas Ernährungsplan.

Marie hatte zwei Burger und die Hälfte meiner Pommes gefuttert, bevor sie angefangen hatte, mich mit lächerlichen Anekdoten so zum Lachen zu bringen, dass ich mich an meiner Cola verschluckte.

Marie war gänzlich unkompliziert – und es störte mich.

 

Wir fuhren zu mir nach Hause. Sie hatte vorgeschlagen, anstatt klischeehaft ins Kino zu gehen und unnötig Geld auszugeben, einen Film bei mir zu gucken, womit ich mehr als einverstanden gewesen war. Konrad hatte mich daraufhin freundlicherweise hingewiesen, nachdem ich es ihm in der Schule erzählt hatte, dass „Film gucken“ lediglich das offizielle Codewort für „Vögeln“ war, aber ich schätzte Marie nicht so ein, dass sie nach der kurzen Zeit, in der wir Kontakt hatten, gleich mit mir ins Bett steigen würde.

„Ich hab übrigens 22 Jump Street mitgebracht“, erklärte Marie, ihre Erzählung von eben unterbrechend und überreichte mir die DVD, während sie aus ihren Sneakers schlüpfte und sie direkt neben Blaise‘ stellte.

„Cool, den hab ich noch nicht gesehen“, erklärte ich, mir die Beschreibung durchlesend. „Der erste war schon ziemlich gut.“

„Oh ja“, grinste sie, „Der zweite ist genauso gut, glaub mir.“ Sie nahm mir die DVD wieder ab und fing an, sich umzusehen. Meine Ma war zu einem Elternsprechtag und Paps zu einer Besprechung, sodass wir praktisch allein waren – bis auf Blaise, aber soweit ich wusste, war das die Uhrzeit, zu der er stundenlang mit seinem Freund telefonierte.

„Geh schon mal hoch, mein Zimmer ist das erste von links. Ich such uns noch was zum Futtern.“ Ich deutete auf die Treppe und lächelte aufmunternd. Sie sprach noch ihren lebenswichtigen Drang nach Chips aus, ehe sie beschwingt die Stufen hochhüpfte.

Ich suchte geschlagene fünf Minuten in dieser Küche nach Knabberkram – ich wusste, dass wir welchen besaßen, aber leider nicht wo. Unglücklicherweise war auch keine Mama da, die ich fragen konnte, also begnügte ich mich damit, alle Schränke und Schubladen im Akkord zu öffnen, was zusätzlich auch noch durch Nestor behindert wurde, der natürlich seinen Kopf in jedes Fach stecken musste, um zu schnuppern.

„Jetzt nimm doch mal deine Schnauze da weg!“, brummte ich irgendwann genervt, als Nestor mir wiederholt den Weg versperrte. Er machte ein unschuldiges Gesicht, ließ sich aber widerstandslos bei Seite schieben. Um Verzeihung bittend – er hatte meinen harschen Ton durchaus verstanden – leckte er mir feuchtfröhlich über die Wange.  „Mann, leck mich nicht ab, ich weiß genau, dass du vorher mit dem Teil an deinen Eiern warst“, schimpfte ich halbherzig und fuhr mir mit dem Ärmel übers Gesicht, bevor hinter mir ein heiseres Lachen ertönte.

Erschrocken drehte ich mich herum und stand aus der Hocke auf. Im Türrahmen stand ein lachender Blaise, der sowohl mich als auch Nestor amüsiert beäugte. „Scheiße, wenn ich nicht gewusst hätte, dass du mit einem der Köter sprichst…“

Ich wiederholte gedanklich meine Worte und musste grinsen. „Den will ich sehen, der mit seiner Zunge an seine Eier kommt.“

Blaise nickte bejahend. „Oh, und ich erst.“ Danach herrschte kurz Stille, während ich die Suche nach Chips wieder aufnahm. Die Teile waren wie vom Erdboden verschluckt. In einer Schublade fand ich lediglich Smarties und Butterkekse. Es war zum Haare raufen.

„Ich wollt dich eigentlich nur fragen, wann wir heute…“, setzte Blondie schließlich im freundlichen Ton an, bis eine hohe, weibliche Stimme ihn unterbrach.

„Phil? Phil, isst du gerade heimlich alle Chips alleine? Ich verhungere hier oben.“ Marie rief vom oberen Treppenansatz herunter, das hatte Penny auch ständig gemacht, vielleicht eine typische Frauensache?

Ich rieb mir verlegen den Nacken und warf Blaise, dessen Gesichtsausdruck von freundlich, zu überrascht und letztendlich zu entnervt wechselte, einen prüfenden Blick zu. Bislang hatte er Marie noch nicht getroffen, seitdem wir ihr vor dem Club begegnet waren, aber innerhalb dieser Woche hatte er oft genug betont, wie oberflächlich er es fand, dass ich mich bloß mit ihr anfreundete, um meine „Triebe“ zu befriedigen. Wir waren zwar mittlerweile Freunde – das bestritt sogar er nicht mehr – und ich schätzte die Meinung meiner Freunde, aber im gleichen Maße konnte sie mir auch egal sein.

Immerhin hatte Blaise einen Freund.

Wo war da der Unterschied? Wer sagte denn, dass Marie und ich kein Paar werden würden? Er meinte also, nur weil er in einer richtigen Beziehung war, dass er über mich urteilen könnte – und das war nicht fair.

„Ich komm gleich. Kannst ja schon mal probieren den Film anzumachen“, gab ich laut zurück. Blaise verdrehte theatralisch die Augen, als sie ein „Aye, Sir“ antwortete und hörbar zurück in mein Zimmer stapfte.

„Echt? Ihr guckt einen Film?“ Er schnaubte und lief an mir vorbei, um sich aus dem Kühlschrank einen Joghurt zu fischen. „Verhüte bloß, das Kind mit deinem Fischgesicht täte mir ehrlich leid.“

Oh, da war aber jemand mal wieder richtig gut drauf. „Wir gucken wirklich nur einen Film!“

„Klar.“ Sein Grinsen wurde spöttisch. „Und Leonardo Dicaprio kriegt `n Oscar.“

Ich atmete ungeduldig aus und schnappte mir, mich dem Schicksal ergebend, die Butterkekse. „Denk doch was du willst.“ Damit wollte ich ihn stehen lassen, weil ich wusste, ich wusste es einfach, dass, wenn wir das Gespräch weiterführen würden, es in einem Streit enden würde.

Aber Blaise war noch nicht fertig mit mir.

 

Keine Ahnung, ob das Telefonat mit seinem Freund wie so oft irgendwie schief gelaufen war oder es ihn tatsächlich dermaßen störte, dass ich mich mit Marie traf, aber er schien die Auseinandersetzung mit mir förmlich zu suchen. „Ich wollte nur fragen, wann wir heute das mit der Englischnachhilfe machen, aber wenn du damit beschäftigt bist, einen wegzustecken, können wir das liebend gerne verschieben.“ Blaise Ton klänge beinahe zuvorkommend, wenn er dabei nicht so herablassend grinsen würde.

Ich versuchte ein letztes, verzweifeltes Mal einzulenken. Meine Stirn pochte schmerzhaft. „Sorry, das mit der Nachhilfe hab ich verpeilt, aber das könnten wir ja auch morgen machen, wenn du Lust hast.“

„Natürlich. Aber nur, wenn du nicht zu erschöpft bist, von der heftigen Nummer…“

Im Nachhinein war ich definitiv nicht stolz auf diesen Moment, aber es ließ sich genauso wenig aufhalten, wie Blaise ungerechtfertigten Zorn auf mich. Es brach aus mir heraus, bevor ich darüber hätte nachdenken können. Es störte mich nur so und verwirrte mich gleichermaßen – erst küsste er mich betrunken, dann rieb er mir auch noch unter die Nase, dass er einen dämlichen Freund hatte und jetzt meckerte er permanent daran herum, dass ich mir ebenfalls jemanden suchte. Was fand er so falsch daran? Ich wollte doch bloß meinen Frieden – und vergessen, was all dieser Mist in mir ausgelöst hatte.

Ich konnte es niemanden erklären, nicht einmal mir selbst.

Mir platzte der Kragen.

„Wie wär’s, wenn du dich einfach mal um deinen Scheiß kümmern würdest, hm?“, fuhr ich ihn an, sein arroganter Gesichtsausdruck verrutschte überrascht. „Ich bin niemandem eine Rechenschaft schuldig und dir schon gar nicht. Nur, weil deine lächerliche Beziehung den Bach runter geht, musst du dich nicht bei mir einmischen! Kehr vor deiner eigenen verdammten Tür.“

Rumms. Da waren sie, die Worte, die ich überhaupt nicht hatte aussprechen wollen. Ich konnte sie nicht zurücknehmen, sie schwebten beinahe greifbar und scharf wie Rasierklingen in der Luft – und sie schienen tatsächlich in Blaise rohe, giftige Oberfläche zu schneiden.

Ich sah, dass es ihn verletzt hatte, auf irgendeine unerklärliche Weise. Dabei fühlte ich mich keineswegs besser – eher im Gegenteil. Doch ich wollte sie nicht zurücknehmen, so ungewohnt bösartig es auch aus mir herausgebrochen war … ich hatte es so gemeint.

Blaise Mund öffnete sich, als würde er etwas erwidern wollen, wie man es von seiner großen Klappe gewohnt war, aber er blieb still. Er war sprachlos. Seine Augen waren starr und ich wusste, ich hatte einen empfindlichen Punkt zielgenau getroffen.

Bevor ich noch einen Rückzieher machen konnte, atmete ich tief ein und aus, schenkte ihm einen letzten, prüfenden Blick und marschierte raus aus der Küche. Ich ahnte unheilvoll, dass das Konsequenzen haben würde.

Und ich lag richtig.

 

Als ich in meinem Zimmer ankam und fahrig die Tür hinter mir zu warf, erwartete mich Marie bereits auf meinem Bett liegend und auf das Pausemenü des DVD Players starrend. Sie schaute zu mir auf und lächelte begeistert, bis sie meinen zerknitterten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Hey, alles okay?“ Sie setzte sich auf und musterte mich. Ich versuchte sie überzeugend anzulächeln und setzte mich neben sie, ihr die Butterkekse in die Hände drückend. „Alles gut, hab mich nur ein bisschen mit Blaise gezofft.“

Ein bisschen war gut. Scheiße, wie sollte ich das jemals wieder hinbiegen? Ich hätte mir am liebsten eine reingehauen. Ich wollte nicht der Bösewicht sein, ich war normalerweise der Gute – der, der die Prinzessin aus dem Schloss rettet, aber eben gerade hatte ich mich als Drache entpuppt. Am meisten störte mich jedoch, dass es mir bei Blaise passiert war. So komisch es klang, ich hätte lieber Konrad oder Rebecca angeschnauzt, als ihn.

Weil ich ihn wirklich mochte.

Also, rein platonisch, immer noch…

Die beiden hätten mir so einen Ausraster sowieso schnell verziehen – aber Blaise, bei dem es schon gefühlte Dekaden gedauert hatte, um sich mit ihm anzufreunden?

Ich hatte keine Lust, mir deswegen die Zeit mit Marie zu verderben, also lenkte ich mich ab, obgleich das unwohle Gefühl in der Magengegend nur langsam abklang. „Ich hab keine Chips gefunden, ich hoffe, Butterkekse sind auch in Ordnung?“

Marie nickte eifrig und ging auf den Themawechsel mit leuchtenden Kinderaugen ein, während sie die Packung aufriss. „Klar! Ich liebe Kekse. Meine Mutter bezeichnet mich gern als Krümelmonster“, grinste sie und stopfte sich auch schon den ersten genussvoll in den Mund. Ihre Begeisterung brachte mich zum Lächeln.

Ja, Marie war schwer in Ordnung.

 

Wir starteten den Film und obwohl meine Gedanken nicht selten zu Blaise und meinem Ausraster wanderten, musste ich zugeben, dass wir eine Menge Spaß hatten. Wir lachten teilweise, bis wir Bauchschmerzen bekamen und mit ihr konnte ich wesentlich leichter über Dinge reden, als mit manch anderem. Zum Beispiel erzählte ich ihr frei heraus, dass ich bi war, ohne groß darüber nachzudenken und es störte sie nicht, sie fragte mir nicht mal unnötige Löcher in den Bauch. Sie redete vielleicht etwas viel, aber es war irgendwie eine sympathische Macke von ihr.

Marie erzählte gerade von ihrem letzten Urlaub, als mir erneut der Streit mit Blaise durch den Kopf ging.

Ich war so ein Arsch. Egal, wie sehr Blaise mich provoziert haben mochte, es war kein Grund, darauf einzugehen und derartig unter die Gürtellinie zu schlagen…

Schluss damit, Phil! Du wirst darüber hinwegkommen – und hast du dich nicht eigentlich mit Marie angefreundet, um dich von deinen Gedanken und Gefühlen abzulenken? Weil du ja sonst merken würdest, dass du dich in deinen Stiefcousin ver…

Marie hatte weitergeredet, ohne zu merken, dass ich ihrer Erzählung nicht gefolgt war. Ihr Mund bewegte sich fast ohne Unterlass und ich fuhr ruckartig nach vorne, ehe sie hätte reagieren können. Meine Lippen legten sich bestimmend auf ihre und ihre Worte erstickten darunter, als würde man ein Radio langsam leiser drehen.

Wie erwartet erwiderte sie den Kuss, trotz meiner forschen Art. Ihre Hand legte sich an meinen Hals und wir rutschten einfachhalber näher zusammen. Der Geruch ihres süßlichen Parfums schwebte in meine Nase. Ich hatte schon seit gefühlten Ewigkeiten niemanden mehr geküsst – Blaise‘ betrunkene Aktion konnte ich nicht ernsthaft dazuzählen. Diese Nähe hatte ich vermisst und Marie küsste gut. Als wir uns nach ein paar Minuten trennten, hatte sie rote Wangen und ein Grinsen auf den lippenstiftverschmierten Lippen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Es hatte sich gut angefühlt, wie der perfekte Abschluss unseres Nachmittages. Nicht ein einziger Kritikpunkt war zu finden.

Und es störte mich. Der Gedanke ließ mich innerlich wahnsinnig werden und das unwohle Gefühl in meinem Bauch kehrte mit einer einzigen Wucht zurück.

„Wow, wo kam das denn her?“, lachte sie etwas verlegen und strich sich ihr Haar hinters Ohr. Marie wäre die beste feste Freundin, die ich mir an meiner Seite vorstellen könnte. Also, was zum Teufel störte mich so?

Was war es? Was?!

Ich merkte erst, dass ich sie lediglich penetrant anstarrte, anstatt zu antworten, als sie eine Augenbraue lupfte und mich mit einem skeptischen Blick, der dem von Blaise unheimlich ähnlich sah, musterte. „Du guckst, als wäre das dein erster Kuss gewesen.“

Es traf mich nicht derartig unerwartet, wie ich es gehofft hatte. Als sie so vor mir saß und mich aus gutgläubigen, glänzenden Augen anschaute, wurde mir klar, dass es die falschen Augen waren; die falschen Lippen, die ich geküsst hatte; das falsche Lachen, das ich geerntet hatte.

Scheiße.

Ich öffnete den Mund, doch es dauerte ein paar Sekunden und brauchte mehrere Anläufe, bis ich es endlich herausbrachte: „Es tut mir leid.“

Marie verstand nicht, was ich meinte und lachte entzückt auf. „Es brauch dir nicht leidtun, Phil. Du küsst echt gut und hätte ich es nicht gewollt, dann hätte ich das schon gezeigt.“

„Nein“, seufzte ich und fuhr mir mit beiden Händen verzweifelt durchs Haar, „Nein, das meine ich nicht. Es tut mir leid, aber…“ Ich stand auf und tigerte durch mein Zimmer, die plötzliche Erkenntnis verpasste mir einen nicht unerheblichen Schock. „Ich steh gerade ein bisschen neben mir.“

Maries Ausdruck wurde verständnislos und alles daran sagte „Ich habe keinen Plan was dein Problem ist, Kumpel“.

Ich suchte hilflos nach den richtigen Worten und wedelte planlos mit den Händen in der Luft. „Es ist zurzeit bei mir ein bisschen schwierig und … keine Ahnung, wie ich’s dir erklären soll.“

Dann tat Marie etwas, das mich auf eine skurrile und leider völlig brüderliche Weise in sie vernarren ließ. Sie lächelte ihr sanftes Lächeln, nahm sich ihre Handtasche und stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir einen raschen, liebevollen Kuss auf die Wange zu geben.

„Schon okay“, meinte sie leichtfertig und wuschelte mir gutmütig durch die zerstreuten Haare. „Manchmal weiß ich auch nicht, was ich denken soll. Weißt du, was mir dann hilft?“

Ich war noch zu überrascht von ihrer lockeren Reaktion, um darüber nachzudenken und schüttelte lediglich mit dem Kopf. Sie grinste schief. „Dann steh ich am nächsten Morgen früh auf und geh eine Runde laufen. Das macht den Kopf frei. Wenn du willst, können wir morgen zusammen joggen gehen.“

Ich hasste es zwar, Laufen zu gehen, aber ihr Vorschlag war nett gemeint und klang gar nicht so abwegig, also verabredete ich mich mit ihr zum Joggen. Es wäre auch unnötig hart von mir gewesen, das Angebot auszuschlagen, nachdem ich mich gerade eben schon wie der letzte Trottel verhalten hatte. Ich war ihr das irgendwie schuldig.

Ohne eine große Erklärung zu verlangen, verabschiedete sie sich von mir und ließ mich mit meinen wirren Gedanken im Hausflur alleine zurück. Keine zehn Sekunden, nachdem ich die Haustür seufzend hinter ihr geschlossen hatte, hörte ich, wie eine leise, schneidende Stimme, anscheinend zu einem der Hunde, sprach: „Na, hat es der blöde Halbaffe bei dem Flittchen verkackt? Oh ja, das hat er, ja das hat er!“ Es ertönte ein freudiges Bellen und ich atmete angestrengt ein und aus. So viel zu der Treue des tierischen besten Freundes. „Ist er ein Arschgesicht? Ja?“ Ein weiteres Bellen. „Ja, das ist er! Du bist ja ein richtig schlauer Hund. Ew, kein Grund, mich zu knutschen, du Flohschleuder.“

Ich knurrte wütend. „Bist du jetzt fertig?“

„Schnauze, Phillis“, kam prompt die flapsige Antwort.

Das klang, als hätte ich es – kam ja so selten vor – richtig verkackt. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen die nächste Wand geschlagen, vielleicht würde auf diese Weise endlich das Chaos in meiner Birne verstummen.

Wie war Amor eigentlich darauf gekommen, dass es eine gute Idee wäre, mir ausgerechnet Blaise vor die Nase zu setzen und mir dann seinen verdreckten Pfeil in den Rücken zu schießen?

Hinterhältiger Bastard.

 

Innerhalb der nächsten Woche bekam ich deutlich zu spüren, wie sehr ich Blaise doch den Buckel runterrutschen konnte. Ich hatte eine gänzlich neue Stufe seiner Verachtung erreicht – ich vermisste das Ignorieren und die Wortgefechte unheimlich, denn jetzt begnügte er sich nicht mehr mit diesen Einfachheiten. Nein! Viel besser! Jetzt ging er mit seinem Zorn mir gegenüber förmlich hausieren. Wenn ein Gespräch auch nur annähernd in meine Richtung wechselte, schlug er derartig mit verbalen Fäusten auf mich ein, dass mein schlechtes Gewissen schneller anwuchs, als jedes Krebsgeschwür. Ich hatte mit meinen verletzenden Worten eine intime Grenze überschritten und ihm damit die Freiheit eröffnet, ebenso zurückzuschlagen.

Ich verstand diese Reaktion, in einem gewissen Maße, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es mir deswegen ziemlich dreckig ging. Nicht zuletzt, weil meine Hoffnung auf eine lockere Beziehung mit Marie pompös in tausend Scherben zerbrochen war, nachdem ich gemerkt hatte, dass ich, egal, wie sehr ich mich bemühen würde, keine romantischen Gefühle für sie entwickeln könnte, solange Blondie in meinem Kopf herumschwirrte.

Es war schwer, diese Situation zu akzeptieren, wenn man von der Person, auf die man augenscheinlich stand (scheiße, ich kam mir vor wie ein pubertäres Mädchen!), gnadenlos ignoriert wurde.

Dass es dem stets grinsenden und glücklichen Phil auch mal mies gehen konnte, war ein seltenes und unerklärliches Phänomen für meine Freunde. Konrad, der zwar bemerkte, dass ich die Woche etwas geknickt war, erklärte es sich damit, dass Marie mich in die ‚Friendzone‘ verbannt hatte, seine Worte. Theresa beschäftigte sich hauptsächlich mit Blaise oder Konny, das konnte ich ihr nicht übel nehmen. Also war es wiedermal Rebecca, die sich Sorgen um mich machte und mich zuerst darauf ansprach. Es war Samstagnachmittag, brennender Sonnenschein ließ den Asphalt schmelzen wie Butter und man schwitzte bereits beim bloßen Erheben der Gliedmaßen. Deswegen begnügten wir uns auch damit, faul auf meinem Sofa vor einem übergroßen Ventilator dahinzuvegetieren und amerikanische Comedy Serien zu sehen.

„Das mit dir und Marie ist nichts geworden, was?“, fragte Becca plötzlich in den Raum, die angenehme Stille, die von dem Surren des Ventilators untermauert wurde, unterbrechend.

Ich nippte an meiner eiskalten Cola und zuckte bemüht gleichgültig mit den Schultern. So gerne ich anderen Menschen mit ihren Problemen half, so ungern sprach ich über meine eigenen. „Ja, sieht so aus.“

„Warum?“, hakte sie träge nach. Ihre langen, dunklen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden und das bisschen Schminke, das sie aufgetragen hatte, war längst dem Schweiß zum Opfer gefallen. Wir lagen extra mit einer Armlänge Abstand nebeneinander – einmal, um jeglicher Körperwärme zu entgehen, und dann noch, weil zwischen uns Nestor schlummerte, genau wie wir auf dem Rücken liegend und alle vier Pfoten von sich gestreckt. Ab und an schnarchte er laut.

„Hat nicht gepasst zwischen uns“, erklärte ich knapp und wischte mir etwas Schweiß aus der Armbeuge. „Aber wir sind Freunde.“

„Ich weiß. Ihr geht zusammen joggen.“ Rebecca verzog bei dem Wort ‚joggen‘ angeekelt das Gesicht. „Fast schon schade, ihr Freaks hättet gut zusammen gepasst.“

„Ich weiß.“

Der Ventilator drehte sich und surrte summend vor sich hin. Meine kleine Colaflasche war leer und zielgenau warf ich sie – wie sollte es auch anders sein – neben den Mülleimer, es knallte kurz und meine Tischlampe gesellte sich dazu.

Rebecca neben mir schmunzelte, während sie sich aufsetzte und mein Chaos mit geübten Handgriffen aufräumte. „Bist du deswegen die Woche so schlecht drauf?“

Mein geschmolzenes Hirn verstand den Kontext nicht ganz. Weil ich ein total unkoordinierter Körperklaus war? „Weswegen?“

„Weil das mit Marie nicht geklappt hat.“

Ahhhh. Ich seufzte. „Nein, also … nicht nur, denke ich.“

Rebecca ließ sich natürlich nicht davon abbringen, mich mit weiteren Fragen zu löchern, also erzählte ich ihr notgedrungen, was bei dem Date mit Marie passiert war – ich erzählte ihr, wie gut wir uns verstanden hatten, wie negativ Blaise darauf reagiert hatte und was ich Blondie an den Kopf geworfen hatte. Bei letzterem schlich sich ein bemitleidender Ausdruck in ihr Gesicht.

„Ich hab schon gemerkt, dass da was zwischen euch schief gelaufen ist, aber dass es so schief gelaufen ist, hätte ich nicht gedacht.“ Becca tätschelte mir mütterlich die Schulter und stand von meinem Schreibtischstuhl auf, wobei ihre nackten Oberschenkel an dem Leder kleben blieben. Sie trug bloß Hotpants und ein weißes Top, das ich ihr vorletztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.

„Tja, ich hab’s mal wieder verkackt, würde ich sagen.“ Ich lächelte schief und kraulte Nestors Bauch, der im Schlaf selig brummte. „Ich wusste, dass er empfindlich ist und hab ihm das trotzdem an den Kopf geworfen.“

„Und du hast es so gemeint, oder?“ Rebecca stellte den Ventilator auf die nächsthöhere Stufe und stellte sich direkt davor. Ich wandte den Blick ab und starrte zur Decke.

Ja, ich hatte gemeint, was ich gesagt hatte. Immerhin hatte er sinnlos Streit gesucht und es provoziert, eigentlich hätte es ihn nicht wundern dürfen.

Aber genau das hatte es getan. Blaise war überrascht und verletzt gewesen – und so, wie er sich mir gegenüber benahm, war er es noch. Die Woche über hatte ich so oft versucht, mit ihm zu reden und mich zu entschuldigen, aber er hörte nicht zu. Ich blieb zwar äußerlich gelassen, aber zugegeben, es deprimierte mich. Meine Harmoniesucht schlug aufgebrachte Purzelbäume in meinem Schädel.

„Ich dachte echt, dass wir’s endlich geschafft haben und Freunde sind, aber irgendwie…“ Ich zuckte ratlos mit den Schultern und seufzte. „Keine Ahnung.“

Rebecca studierte einige Sekunden meine Mimik und setzte sich dann an meine Seite. „Er sollte sich entschuldigen“, verlautete sie dann ernst.

Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. „Was? Er soll sich entschuldigen? Aber ich…“

„Du warst bloß ehrlich und so wie’s aussieht, will er, dass man ehrlich zu ihm ist. Du solltest dir keinen Kopf machen, ich glaube, er wollte bloß seinen Ärger an dir auslassen und hat’s nicht verkraftet.“ Sie lächelte mich aufmunternd an und klopft mir auf den Bauch, wie ich es bei Nestor getan hatte. „Bist doch ein lieber Fiffi.“

Ich prustete amüsiert und gab ihr einen leichten Schubs, sodass sie beinahe vom Bett plumpste. „Und in welcher Welt entschuldigt sich Blaise?“

Becca grinste entschuldigend und hob abwehrend die Hände. „Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Irgendwann wird er sich schon wieder abregen. Spätestens, wenn der Ärger mit seinem Freund aufhört. Und dann kannst du ihm weiter hinterher schmachten.“

Ich gab einen empörten Laut von mir, um meine getroffene Verlegenheit zu überspielen. „Ich schmachte ihm nicht hinterher! Ich bin bloß harmoniesüchtig.“ Ehrlich, ein fast zwei Meter großer Kerl schmachtet nicht, ich bitte euch! Oder?

„Und verknallt.“

„Becca!“
„Sorry! Ich hör ja schon auf. Bock auf `n Eis?“

 

Rebecca und ich gingen noch ein Eis essen und bummelten durch die Stadt, bis sie ihren kleinen Bruder von einem Fußballspiel abholen musste. Als ich Zuhause ankam, war Blaise von seiner Shoppingtour mit Penny und Mutti zurück – Penny hatte mich zwar gefragt, ob ich mit will, aber selbst wenn Blondie und ich uns vertragen hätten, hätte ich mir wohl lieber mit einer Zange jeden Zahn einzeln gezogen – und die drei saßen tratschend im Wohnzimmer. Von Emchen und Timmy keine Spur, wie ich mit bedauern feststellen musste.

Mutti und Penny grüßten mich kurz, Blaise hatte nicht einmal einen Blick für mich übrig. Um der miesen Stimmung zu entgehen, gesellte ich mich zu meinem Dad in den Keller, wo er ein paar Kisten mit irgendwelchem alten Kram sortierte. Mein Vater besaß ungefähr denselben Ordnungssinn wie ich, deshalb sah es, wenn er ‚aufräumte‘, danach meist genauso aus wie davor. Als ich unten ankam, blätterte er gerade durch alte Fotoalben.

„Mama hat gesagt, ich soll mal mit dir reden“, begrüßte er mich ruhig, während er sich die vergilbten Fotos besah. „Wegen deinem Streit mit Blaise.“

Ich stöhnte genervt und setzte mich auf eine staubige Kiste, auf der dick WEIHNACHTSDEKO stand. „Sie muss sich auch überall einmischen, oder?“

Papa zuckte mit den Schultern und lächelte mich verständnisvoll an. „Kennst sie doch. Sie macht sich bloß Sorgen, weil Blaise sich hier wohlfühlen soll und sie dachte, ihr würdet euch so gut verstehen.“

„Haben wir ja auch. Ich hab nur was Blödes gesagt, das ist alles. Das wird schon wieder.“

„Er ist ein Sensibelchen, was?“ Paps schnaubte amüsiert und legte das Album zurück in den Karton vor seinen Füßen. „Da musst du aufpassen, was du sagst.“

Ich verdrehte die Augen. „Ach was, das sagst du mir ja früh.“

Er fing an zu lachen und klopfte mir auf die Schulter. „Schon gut. Hilfst du mir ein bisschen? Deine Mutter sucht unser altes Hochzeitsalbum und ich habe keine Ahnung, in welche Kiste ich es gepackt habe...“

Ich seufzte kapitulierend und stand auf. „Gerne.“ Ob das überhaupt noch auffindbar war, wagte ich nicht zu fragen.

War es nicht. Wir suchten eine geschlagene Stunde nach diesem Album, bis Mutti uns zum Essen rief und wir es endlich aufgaben. Am Esstisch herrschte eine bedrückte Stimmung, die wohl von dem Streit meiner Eltern wegen des verschwundenen Albums und Blaise giftigen Blick, den er mir ab und an vom Tischende herüberwarf, herrührte. Einzig Penny war gut gelaunt und trällerte fröhlich irgendwelche Geschehnisse von der Arbeit daher.

„Penny, gibst du mir mal bitte die Kartoffeln?“ Blaise deutete auf die Schüssel, die direkt vor meiner Nase stand und meine Schwester schaute verwirrt drein, ehe sie danach griff und sie herüber reichte. „Und die Soße, bitte?“ Gesagt, getan. Auch diese Schüssel hatte sich direkt vor meinem Teller befunden. Ich presste meine Zähne aufeinander und versuchte, Geduld zu bewahren.

„Und…“

„Scheiße, kannst du mal aufhören, so kindisch zu sein?“, unterbrach ich ihn scharf und warf ihm den Rotkohl, auf den er gezeigt hatte, förmlich entgegen.

Der Blick aus den sturmgrauen Augen war eisig. „Klar, wenn du aufhören kannst, so eine Hackfresse zu sein.“

Ich schnaubte. „Oh, sehr erwachsen, echt.“

„Jungs“, fuhr mein Vater dazwischen, doch seine ruhige Stimme kam nicht gegen unsere Differenzen an.

„Immerhin treibe ich mich nicht wie ein pubertärer Playboy mit irgendwelchen Weibern rum.“

„Fang nicht wieder mit dem Scheiß an!“

Jungs!“ Paps schaute uns streng und tadelnd an. „Wenn ihr euch anschreien wollt, dann geht raus! Sowas regelt man nicht am Esstisch.“ Mutti sah uns ebenso enttäuscht an und Penny wirkte regelrecht erschrocken. Blaise starrte mich nieder, während ich mich, gleichermaßen wütend und emotional wund, in diesen stahlgrauen Iriden verlor. Wieder dieses Knistern, diese Spannung, wie damals, als ich ihn auf dem Nachhauseweg abgefangen hatte. Und ich war es leid; ich war es leid, mich mit ihm zu streiten, dieses ewige Auf und Ab zu ertragen und mich zu fragen, was ich als nächstes falsch machen könnte.

Weil er nicht mal ansatzweise ahnen konnte, was in mir gerade vorging – und ich am liebsten meinen Kopf gegen die nächste Wand brettern würde.

„Mach doch, was du willst“, meinte ich ruhig und stand, vier Augenpaare auf mir spürend, mit gesenktem Kopf vom Tisch auf. Ich schnappte mir wortlos mein Handy und ging hoch, ohne, dass jemand etwas sagte. Selbst meine Mutter blieb still und ließ mich ziehen, wofür ich ihr in diesem Moment ausgesprochen dankbar war.

Ich schloss tief ein und ausatmend meine Zimmertür hinter mir und schaltete unterbewusst den Fernseher ein, während ich mich auf die Bettkante setzte. Normalerweise war ich nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, schon gar nicht emotional betrachtet. Es war lange her, dass ich derartig durch den Wind gewesen war…

Dieser Mist ging wirklich an meine Nieren. Nachdem Lucas zurück nach Schweden gegangen war, hatte ich gedacht, so ein Chaos nie wieder zu erleben, aber das machte der Situation von damals auf eine völlig andere Art und Weise Konkurrenz – und ich glaubte nicht, dass Blaise demnächst auswandern würde, damit mein Leben sich normalisieren konnte…

 

Ich griff nach meinem Handy, um Rebecca anzurufen und bei ihr zum zweiten Mal an diesem Tag nach Beistand zu suchen, doch als ich das Smartphone in meine Hand nahm, stellte ich fest, dass es leichter und unwesentlich größer als meines war. Irgendwie sah es anders aus…

Das ist nicht mein Handy, stellte ich, klug wie ich war, fest und betrachtete es von allen Seiten. Als ich es widerstandslos entsperren konnte und ein Bild von einem blonden Kerl in engen Jeans bei irgendeiner Modeausstellung betrachten konnte, wurde mir klar, wessen Handy ich hier in der Hand hatte. Bereits beim Nehmen hätte mir auffallen müssen, dass ich Blaise‘ erwischt hatte, meines war wesentlich älter und besaß, dank meiner Tollpatschigkeit, überall Schrammen und ein paar Sprünge im Display.

Toll, was sollte ich denn jetzt tun? Wenn Blondie mitkriegte, dass ich aus Versehen sein Handy genommen hatte, würde er mir die schlimmsten Dinge unterstellen und mir im Schlaf kaltblütig die Kehle durchschneiden.

Bevor ich darüber grübeln konnte, wie ich das Teil unbeobachtet loswerden könnte, klingelte es auch noch. Penetrant und laut dödelte es fröhlich irgendeinen neumodischen Popsong daher, während mich die pure Panik durchflutete.

Scheiße!

Weil ich natürlich zwei Meter große Dummheit war, brachte mich mein verpeiltes Hirn dazu, das möglichst dümmste zutun, das einem einfallen konnte.

Ich ging ran.

„Blaise? Endlich gehst du ran! Ich dachte schon, du redest gar nicht mehr mit mir. Mann, egal was Robert dir erzählt hat, das ist absoluter Müll, glaub mir! Die Alte hat mich geküsst, ich schwöre es dir. Wem glaubst du mehr, diesem Streber Robert oder deinem Freund?“ Ich lauschte mit offenem Mund und starrte fassungslos auf den flimmernden Bildschirm meines Fernsehers. Der Typ am anderen Ende entnahm dem Schweigen etwas Anderes. „Jetzt sag doch was. Bitte! Ich weiß doch auch nicht, was du in dieser verkackten Kleinstadt so treibst und ich flipp auch nicht gleich bei jeder Kleinigkeit aus. Komm schon…“

Einer Eingebung folgend legte ich auf. Unwissend, was ich davon halten und was ich denken sollte, starrte ich auf das Display. So blöd, dass ich nicht wusste, wer da gerade unfreiwillig mit mir gesprochen hatte, war ich nicht. Mike, Blaise seltsamer, Ärger verursachender Freund.

Jetzt verstand ich auch, was für eine Laus Blondie über die Leber gelaufen war und warum meine Worte ihn so heftig getroffen hatten. Ich hatte den Nagel nicht nur auf den Kopf getroffen, sondern auch schmerzhaft ins Fleisch getrieben.

Mike hatte Blaise betrogen. Ich musste diesen Kerl nicht gesehen haben, um zu wissen, dass er ein Quatscher war – ein Lügner, wie er im Buche stand. Von wegen, die Alte hätte ihn geküsst. Ich würde meinen Arsch dafür verwetten, dass er bewusst fremdgegangen war. Immerhin war sein Freund, von dem ohnehin keiner wusste, einige Kilometer entfernt und würde es eh nicht erfahren.

Tja, so viel dazu.

Der plötzliche Drang, nach Hamburg zu fahren und dieser Pfeife eine reinzuhauen, war schwer zu unterdrücken. Einzig mein unermessliches schlechtes Gewissen lenkte mich davon ab.

Ich musste etwas tun. Irgendwas, damit Blondie mir verzieh und er wieder gut drauf war, denn ich wusste nur zu gut, wie man sich an seiner Stelle fühlte.

 

Ich schlich – in bester Mission Impossible Manier – in Blaise Zimmer und legte sein Handy auf sein Bett. Danach wartete ich, bis er mit dem Essen fertig war und bevor er sich verbarrikadieren konnte, fing ich ihn im Flur ab. Es war egoistisch von mir gewesen, ständig nur daran zu denken, was ich fühlte oder was mich gerade beschäftigte, wenn Blaise, ein Freund von mir, egal ob ich auf ihn stand oder nicht, offensichtlich Probleme hatte. Und ich wäre nicht Phil, wenn ich mich nicht darum kümmern würde.

„Hey, warte mal.“ Ich stand zwischen ihm und seiner Zimmertür. Durch meine Größe bedingt, musste ich mich nicht sonderlich anstrengen, um jemandem den Weg zu versperren. „Ich will mich entschuldigen.“

Blaise Gesichtsausdruck war Gold wert. Seine dunklen Augenbrauen schossen in die Luft und auf seine Lippen legte sich ein ungläubiges Lächeln. Ich nahm an, dass das ein Fortschritt war, im Gegensatz zu seinen Gift versprühenden Blicken, die ich die Woche über bekommen hatte. „Was?“

„Ich will mich entschuldigen.“ Ich fuhr mir unsicher geworden durchs Haar. Dieses intensive Grau ließ meine Konzentration dahinschmelzen. Scheiße, Becca hatte Recht, ich schmachtete tatsächlich! „Das, was ich zu dir gesagt habe, war nicht fair.“

Blaise starrte mich einige Sekunden an, fast prüfend, als erwartete er, dass ich in der nächsten Sekunde „Verarscht!“ brülle und ihn aus dem Fenster werfe. Dann brummte er leise, schob mich bei Seite und schlüpfte an mir vorbei in sein Zimmer. „Okay.“

Die plötzliche Erleichterung durchfuhr mich wie ein warmes Kribbeln, ähnlich, als würde man an einen Weidezaun fassen. „Okay? Du bist nicht mehr sauer?“

Er warf mir einen genervten Blick zu und griff unter meinen prüfenden Augen nach seinem Handy, auf dem er sogleich heiter herumtippte. „Ja, alles okay.“ Dann seufzte er und sah mich an, der Mund leicht verzogen, als würde er angestrengt etwas abwägen.

„Mir tut’s auch leid.“ Ich wollte freudig antworten, doch seine erhobene Hand hielt mich davon ab. „Kriech mir jetzt bloß nicht in den Arsch, Tarzan. Ich war sauer und hab’s an dir ausgelassen, das war nicht fair von mir. Ich war nur so…“ Er stockte und sah aus, als hätte er beinahe etwas gesagt, das er bereut hätte. „Jedenfalls, sorry.“

Es herrschte kurz Stille und ich stand unsicher und unbeholfen im Türrahmen. „Wir streiten uns oft, was?“

Blaise schmunzelte und ließ sich auf sein Bett plumpsen. „Irgendwie schon. Ich meine, ich hab schon gemerkt, dass du in Ordnung bist, aber manchmal … hey, grins nicht so debil, das war noch keine Liebeserklärung.“

Das Grinsen verschwand schlagartig und wurde durch eine Röte ersetzt, die er – hoffentlich – dank meines dunklen Teints nicht erkennen konnte. „Schon klar, Blondie. Du liebst nur dich selbst“, konterte ich überraschend schnell. Dieses Knäuel der Enttäuschung, das sich in meinem Magen manifestierte, ignorierte ich geflissentlich.

Daraufhin grinste er und zwinkerte mir zu. Scheiße, sah das niedlich aus. „Ja, wie könnte ich nicht?“ Er lachte und ich trat herein, um mich auf seinen – von mir zusammengebauten! – Schreibtischstuhl zu setzen. „Abgesehen davon verstehe ich, was du mir sagen willst.“

„In meiner alten Schule gab’s ziemlich viele Arschgeigen“, erklärte er dennoch freimütig, „Die sind nicht gerade tolerant, wenn man sich outet. Nach all dem Mist dort fällt’s mir nicht leicht, Fremden zu vertrauen. Das hängt mir noch so’n bisschen nach und nimm’s mir nicht übel, aber du siehst eben aus wie so’n typischer Wichser.“

Ich schnaubte amüsiert. „Ja, wie könnte ich dir das nur übel nehmen. Klingt doch richtig charmant.“

Er boxte mir ungewohnt grob gegen die Schulter. „Du weißt, wie ich das meine, Tarzan. Guck dich doch mal an! Groß, breite Schultern, der Mustersohn und überall beliebt. Du bist ein einziges Klischee. In einem schlechten Hollywood Teenager Film wärst du der Football Kapitän. Scheiße, du hast sogar so eine dämliche College Jacke!“

„Du hast gutaussehend vergessen“, fügte ich trocken hinzu, wofür ich abermals eine kassierte, obwohl er dabei grinste. Es tat gut, ihn wieder so locker zu sehen.

„Mann, ich erklär dir gerade, warum ich so ein Arsch bin, und du nimmst mich nicht ernst.“

Ich lachte auf. „Nichts für ungut, aber du bist eben ein kleines Arschloch, daran lässt sich nichts ändern.“
„Danke.“

„Kein Ding. Bock, einen Film zu sehen?“

Er lächelte ehrlich und stimmte zu. Wer hätte gedacht, dass sich dieser Samstag so zum Guten wenden würde? Vergessen war die Sommerhitze, der Zwist und die Worte, die unbewusst tiefer getroffen hatten, als erwartet. Keine fünf Minuten später saß ich mit Blaise auf meinem Sofa und schaute zum gefühlt tausensten Male Alien vs Predator.

Die Stimmung zwischen uns war ungewohnt entspannt – nicht so unangetastet wie zuvor, als ich mich noch vorsichtig heran gewagt hatte, jeder Zeit darauf gefasst, dass er mir an die Kehle springen könnte, sondern tatsächlich friedlich. Als würde er mich als Freund akzeptieren, ohne sekündlich zu erwarten, dass ich mich doch noch als Wichser entpuppte. Wir lachten, kabbelten uns spaßhaft und rangelten wie gewöhnliche Kumpels. Vielleicht hatte er endlich verstanden, dass er das Problem gewesen war und er mir vertrauen konnte. Dass ich anders war.

Und trotzdem schrie diese kleine, verborgene Stimme in meinem Kopf nach mehr.

„…und deswegen solltest du niemals mit Konrad Tequila trinken, außer natürlich du stehst auf kuschelbedürftige Samariter“, beendete ich grienend meine Erzählung, wissend, dass Konny, wenn er wüsste, dass ich das fröhlich herum erzählte, einen ordentlichen Arschtritt verpassen würde. Doch mein Vorhaben, Blondie abzulenken, besaß eine gewisse Priorität gegenüber meinem Hintern.

Blaise lachte in sich hinein und schob die Brille, die mittlerweile wieder auf seiner Nase thronte, nach oben. Er schüttelte den Kopf und musterte mich kurz von der Seite her. Ein seltsamer Schauer lief meinen Rücken hinunter. „Danke.“
Verwirrt blinzelte ich ihn an. Irgendwie fehlte mir der Kontext. „Wofür?“

„Ich, ähm, weiß, dass du mein Handy hattest. Danke.“ Er lächelte mich an und ich hätte schwören können, dass da sowas wie Verlegenheit in seinen grauen Augen hervorblitzte. Ich lächelte mit aller Wärme zurück. Wurde er gerade rot? Oh Gott, wie zum Teufel sollte man diese kleine Diva nicht anschmachten?

Er räusperte sich und innerlich war ich ihm dankbar dafür. Noch eine Sekunde länger und ich wäre wie ein räudiger Waschbär über ihn hergefallen. „Hör auf, mich so anzustarren, Philemon.“

„Ich habe dich nicht … warte, wie hast du mich genannt?“

Blaise grinste mich keck an und pustete sich eine hellblonde Strähne aus der Stirn. „Philemon.“

Ich brummte enttäuscht und zog meinen besten Schmollmund. „Wer hat’s dir verraten?“

„Och, guck nicht so, Tarzan. Ich hab einfach deine Mutti gefragt.“

„Diese Spielverderberin!“

„Psst, alles wird gut, Philli.“

„Ich geb‘ dir gleich mal Philli!“

Blaise‘ Grinsen verging schnell, als ich ihn von der Couch schubste und die Sofakissen nach ihm warf. Ich hatte ihn lange nicht mehr – oder überhaupt jemals? – so ausgelassen lachen sehen. Dieser Mike hatte ihn nicht verdient, egal wie zickig er sich manchmal auch aufführen mochte.

Ich wäre ein besserer Freund.

Ich hatte nur leider keine Chance. Ich wollte keine Beziehung zerstören, abgesehen davon war ich niemand, für den man seinen Freund verlassen würde…

Aber probieren kostet nichts, oder?

Nächtliches Geschnurre

„Was machst du denn da?“

Bis eben hatte ich bemüht unauffällig an der Badezimmertür gelehnt, das Ohr leicht an das Holz gepresst, aber als die schnarrende Stimme meiner Mutter hinter mir ertönte, zuckte ich auf frischer Tat ertappt zusammen.

Ich stolperte eilig zurück, hob wie zur Abwehr meine Arme und machte ein unschuldiges Gesicht. „Ich? Ähm, ich will eigentlich nur ins Bad … ich muss mal, echt dringend … aber ich glaube, Blaise ist drin.“

Mutti grinste über mein klägliches Unschuldslächeln und zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Ah ja, du hast also gelauscht. Du bist ein genauso schlechter Lügner wie dein Vater.“

Ich setzte bereits zu einer Verteidigung an, wurde aber im nächsten Moment auch schon zur Seite geschoben und meine Mutter übernahm den aktiven Part meines ungeplanten Lauschangriffs.

„Mit wem telefoniert er denn da?“, flüsterte sie voller Neugier, ein vergnügtes Lächeln auf den Lippen. Wirkte irgendwie perfide, meine sonst so tugendhafte Mutter bei so etwas zu beobachten. Gruselig.

„Mit seinem Freund“, erklärte ich knapp und presste mich neben sie. Mutti war nicht überrascht über die Tatsache, dass Blaise schwul war, was mich nicht sonderlich verwunderte. „Oh, er ist vergeben? Schade.“

Diese Aussage verpasste mir ein ziemlich ungutes Gefühl und aus reichlicher Erfahrung und Selbstschutz heraus, hakte ich nicht weiter nach. Sie schürzte die Lippen, während sich die Stimme hinter der Tür in einem aufgebrachten Ton erhob.

„Klingt, als würde er sich mit ihm streiten“, stellte Mutti mit unüberhörbarer Begeisterung fest. Okay, das war echt beunruhigend.

„Ich weiß nicht, ob du mit diesen gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut bist, aber normalerweise freut man sich nicht so offensichtlich über das Unglück anderer. Zumindest hast du mir das immer erzählt!“ Ich gab ihr einen leichten Schubs, als sie mich unnachgiebig zur Seite drängeln wollte, um besser lauschen zu können.

Sie verdrehte die Augen und wank lässig mit der Hand ab. „Ach, papperlapapp! Er ist ein hübscher Junge, der Probleme mit seinem Freund hat, die früher oder später zum Aus führen werden, wie das eben so ist – und dann wirst du zur Stelle sein, mein stattlicher, umsorgender Sohn und ich bekomme endlich noch einen Schwiegersohn und süße, adoptierte Babys aus Afrika.“

Meine Kinnlade musste geräuschvoll auf den Boden geprallt sein, denn ich starrte meine Mutter gerade an, als wäre sie Jesus. Das hatte sie nicht gerade gesagt, oder? Ich träumte doch bestimmt. Sowas würde sie niemals einfach so vom Stapel lassen. Wie … unheimlich. „Mutti“, platzte es nach einigen Schocksekunden fassungslos aus mir heraus, „Hast du was genommen?“

Sie grinste mich wissend an, als würde sie in meine verdorbene Seele blicken können und meine tiefsten Abgründe erforschen. So, wie Mütter einen eben anstarrten, wenn sie längst von etwas Bescheid wussten, das man ihnen eigentlich hatte verheimlichen wollen.

„Penny hat mir gesagt, dass du…“

„Oh, nein“, unterbrach ich sie, ahnend, was kommen würde, „Ich hasse es, wenn sie dir was erzählt…“

Das war so typisch. Penny hatte mal wieder ihr Tratschmaul nicht halten können, nachdem sie gemerkt hatte, dass ich einen gewissen Beschützerinstinkt gegenüber Blaise entwickelt hatte – und mehr als das, was ihr wohl genauso aufgefallen war. Das war einer der Nachteile, wenn man eine Schwester besaß. Sie konnte sich jederzeit mit deiner Mutter gegen dich verbünden. Natürlich alles unter dem Vorwand, dass sie ja nur das Beste für mich wollten, ja ja.

„Du musst dich doch nicht schämen“, beschwichtigte sie mich mütterlich, was es nur schlimmer machte, „Er ist doch süß und ich glaube, es würde mir mal gut tun, wenn dir jemand nicht so in den Arsch kriecht.“

„Oh Gott, mach, dass dieses Gespräch vorbei ist“, erwiderte ich, die Hände wie zum Beten verschränkt und den Blick gen Decke. Mutti gab mir dafür einen beleidigten Klaps gegen die Schulter, doch bevor sie mich  tadeln konnte, öffnete sich vor uns schwungvoll die Badezimmertür.

Wie zwei alte Waschweiber, die man beim Tratschen ertappt hatte, erschraken wir uns halb zu Tode. Meine Mutter fasste sich wie schwer getroffen an die Brust, einen baldigen Herzinfarkt erahnend, während ich mich damit begnügte, eine schuldbewusste Miene zu machen.

„Wer sich erschreckt, hat was zu verheimlichen“, merkte Blaise schnippisch an, als er in unsere panischen Gesichter blickte. Ihm war bewusst, dass wir ihn belauscht hatten. Viel hatte ich zwar letztendlich nicht verstehen können, dank diesem Britt Verschnitt hier, aber das, was ich verstanden hatte, war aufschlussreich genug gewesen, um einen winzig kleinen Keim Hoffnung in meinem vernebelten Verstand zu säen. Es waren einige böse Worte und Aussagen gefallen, unter anderem „Fick dich einfach“, „Dein ‚Sorry‘ kannst du dir sonst wohin schieben“ und „Geh doch zu deiner Fickelse“. Wenn ihr mich fragt, klang das nicht gerade nach einer gesunden Beziehung.

Abgesehen von meinen geheimen Sehnsüchten (die Rosamunde-Pilcher-Syndrom-Sirene ertönte), machte ich mir Sorgen um Blondie. Er wirkte gestresst, mitgenommen und alles in allem, einfach traurig. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und getröstet – oder  wäre nach Hamburg gefahren und hätte diesem Idiot von Mike sämtliche Knochen gebrochen.

Da ich aber ein Schmusekater war, entschied ich mich für die erstere Variante. Blaise wusste, dass wir gelauscht hatten, also war es abzustreiten pure Zeitverschwendung. Ich übersprang den unnötigen Part des sinnlosen Gequatsches und keinen Augenblick später fand sich Blondie in meinen kräftigen Armen wieder.

Er quietschte erschrocken, ähnlich einem Hamster, und zappelte hilflos, während ich seinen Rücken tätschelte. „Ich bin für dich da“, murmelte ich beruhigend.

Ein Grunzen war die Antwort. „Oh Gott, das ist, als würde man einen Gorilla umarmen“, kam es, kaum verständlich an meine Brust genuschelt, zurück. „Bist du ein lebendiger Schraubstock, oder was?!“

Ich tätschelte unbeirrt weiter. „Wenn du reden willst…“
„Ich will eigentlich nur atmen“, krächzte Blaise und windete sich erneut, wie ein Aal. Besorgt ließ ich ihn auf der Stelle los und musterte ihn, aus Angst, ich hätte ihn tatsächlich irgendwie angeknackst. Dann fiel mir auf, wie oberpeinlich ich mich gerade benahm, räusperte mich ausgesprochen erwachsen und lehnte mich gespielt lässig an die Wand.

Ich hatte anscheinend die Stufe des verknallten Vollidioten erreicht.

„Gott“, brummte Blaise und richtete pikiert seine Haare, er atmete sogar demonstrativ tief ein und aus, „Ich dachte schon, dass das letzte, was ich in meinem kümmerlichen Leben sehe, deine Brust sein wird. Hatte schon befürchtet, dass bei meiner Todesursache bloß ‚Körperlicher Überschuss von Fürsorge‘ stehen wird. Mann, wäre das peinlich gewesen in der Hölle“, scherzte er schwach und brachte mich zum Grinsen.

„Also“, flötete meine Mutter möglichst unbeteiligt, „Ich lass euch mal allein. Ich könnte Pasta machen…ja, Pasta ist gut.“ Viel zu offensichtlich zwinkerte sie mir – auch noch ziemlich schief – zu und ich schlug mir innerlich die Hand vor die Stirn. Wenigstens war sie endlich weg…

„Willst du reden?“, wiederholte ich meine Frage und sah ernst zu ihm herunter. Das leicht amüsierte Lächeln verrutschte ihm. Er hatte ablenken wollen, so wie ich ihn kannte. Aus seinen Augen konnte ich Enttäuschung lesen. Es brach mir fast das Herz, ihn so zu sehen.

„Nein, eigentlich nicht“, murmelte er unschlüssig und pfriemelte an seinem Shirtsaum rum. „Gibt nicht viel, worüber ich reden könnte.“ Blondie nickte mir noch knapp zu, ehe er langsam die Treppen runter schlurfte und mich sorgenvoll und nachdenklich zurückließ.

Ich musste irgendwas unternehmen. Das war keine Überlegung, sondern ein sicherer Entschluss. Aber was? Einfach wieder Filme mit ihm zu gucken, würde ihn zwar kurz ablenken, aber nicht gerade dauerhaft – und außerdem musste ich langsam anfangen, Mike in seinem Kopf gegenmeine liebenswerte Persönlichkeit einzutauschen.

Nur wie?

 

Mein plötzliches Selbstbewusstsein bezüglich meines Vorhabens, Blaise zu überzeugen, dass ich sein Traumtyp war, nahm ich vor allem aus den aufbauenden Jogging-Sessions mit Marie. Einerseits war ich mir ausgesprochen sicher, dass sie versuchte, mich umzubringen, andererseits gab sie ziemlich gute Ratschläge, was die Liebe betraf. Vielleicht war sie ein personifizierter Glückskeks.

Auch an diesem Morgen war ich mit ihr Laufen gewesen. Am Ende hätte ich beinahe meine Lunge rausgehustet, aber überlebt hatte ich, wider Erwarten, trotzdem. Außerdem hatte sie Recht gehabt – tatsächlich half es, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Meiner Kondition schadete es jedenfalls nicht.

Sie war weit besser in Form als ich. Während ich teilweise kurz davor war, fröhlich auf den Bürgersteig zu reihern, hüpfte sie fidel und ausgeglichen vor mir rum. Neben ihr fühlte ich mich schrecklich alt und verbraucht. Es überraschte mich nicht, als sie erzählte, dass sie bei Marathons mitlief.

Jedenfalls hatte sie mir, nachdem sie mich, kurz vorm Zusammenklappen, auf eine Bank manövriert hatte, dazu geraten, etwas Selbstbewusstsein aufzubauen und mir zu holen, was ich wollte. Das klang nicht nach meiner üblichen Methode – nett lächeln, helfen und dann das Beste zu hoffen, aber ein bisschen Abwechslung konnte mir nicht schaden.

Ich hatte ihr alles erzählt, über Blaise und vor allem mich. Sie hatte mich nicht verurteilt, im Gegenteil, sie hatte verzückt aufgeseufzt. Meinen verpatzten Annäherungsversuch ihr gegenüber nahm sie mir auch nicht übel, sie meinte, sie würde es bedauern, aber auch bei ihr wäre der Funke nicht übergesprungen. Dann hatte sie das Thema gewechselt und mich gefühlte Stunden darüber zugetextet, wie man ihrer Meinung nach jemanden für sich erobern konnte.

Und eine ihrer aufgezählten Methoden klang tatsächlich gar nicht schlecht in meinen Ohren.

 

Ich beobachtete, wie Blaise sich zu meiner Mutter in die Küche gesellte und hörte teilnahmslos zu, wie sie sich unterhielten, bis ich entschlossen mein Handy zückte und die Nummer meiner Schwester raussuchte.

Sie ging nicht sofort ran. Das tat sie nie. Bei ihr konnte es Stunden dauern, bis sie abhob – und selbst dann ging öfter Tim ran, als sie. Manchmal fragte ich mich sowieso, warum sie überhaupt ein Telefon besaß.

Diesmal hatte ich Glück und nach dem achten Tuten meldete sich ihre vertraute Stimme. „Na, was gibt’s, Hummel?“

Ich brummte verstimmt über den lächerlichen Spitznamen, den sie mir als Kleinkind verpasst hatte, und versuchte ausnahmsweise mich nicht darüber aufzuregen. Da existierte halt dieses dämliche Foto von mir zu Fasching, als dicke Hummel verkleidet, aber da war ich neun gewesen und meine Mutter hatte mir keine freie Kostümwahl gelassen! „Du mich auch, Schwesterherz. Ich wollte eigentlich nur fragen, was ihr heute so vorhabt. Kommt ihr vorbei?“

„Ääääähm“, tönt es kurzzeitig überfordert aus dem Apparat zurück, „Schatz? Hatten wir heut was geplant?“ Es erklang eine tiefe, ruhige Stimme im Hintergrund und ich verdrehte die Augen. Meine Schwester war so schrecklich unflexibel.

„Nein, wir hatten nichts geplant. Vielleicht gehen wir noch auf den Spielplatz, es ist so schönes Wetter heute, nicht zu warm und nicht zu…“

„Cool, klingt gut. Es macht doch nichts, wenn Blaise und ich mitkommen, oder?“, unterbrach ich sie grob und grinste, als ich beobachtete, wie Blaise mit einer riesigen Schüssel Pasta und überfordertem Gesichtsausdruck die Küche verließ.

Penny klang verwundert. „Nein, wieso?“
„Schön. Wir kommen nach dem Mittagessen bei euch vorbei. Bis später!“
„Hey, warte mal, wann…“

Ich hatte bereits aufgelegt. Der Duft von frischer Bolognese stieg mir in die Nase und ließ meinen Magen verräterisch knurren. Ich hatte einfach immer Hunger.

Mein Vater saß bereits am Tisch, sein Diensthandy in der Hand, auf dem er wild herumtippte. Keine Ahnung, was er an einem Sonntag noch so dringend zu tun hatte. Blaise war dabei, Besteck zu verteilen, während Hektor und Nestor schwanzwedelnd auf dem Teppich saßen und das Essen auf dem Tisch anstierten.

Ich setzte mich an meinen gewohnten Platz und wartete, bis sich auch endlich Mutti zu uns gesellte und Paps sein Handy wegsteckte. Wenn meine Mutter das am Esstisch zu Gesicht bekäme, würde es wohl hochkant aus dem nächsten Fenster fliegen. Irgendwie hatte sie wohl die Hosen in dieser Ehe an…

„Wir gehen danach übrigens mit Penny und Anhang auf den Spielplatz“, verkündete ich Blaise locker, der gerade angestrengt versuchte, Nestors bettelnden Blick neben ihm zu ignorieren.

Er wirkte ein wenig überrollt. „Was? Direkt nach dem Essen? Hab ich noch Zeit mich umzuziehen?“

Ich runzelte perplex die Stirn. Soweit ich sehen konnte, trug er eine ausgewaschene Jeans und ein einfaches, weißes T-Shirt mit Aufdruck. „Wieso umziehen?“
„Ich seh doch aus wie der letzte Penner!“

Ich übersah Muttis amüsiertes Schmunzeln am anderen Ende des Tisches genauso wenig, wie das breite Grinsen meines Vaters. Ja ja, Hauptsache die wurden unterhalten.

„So ein Quatsch“, brummte ich und füllte mir bereits meine zweite Portion Nudeln auf den Teller, „Wen erwartest du denn da zu treffen? Karl Lagerfeld?“

„Na ja zumindest eine andere Hose würd’s tun…“

„Was gibt’s denn an der auszusetzen?“

„Die ist aus der letzten Saison, du Tölpel.“

Ich stöhnte genervt. „Wir gehen doch nur auf den Spielplatz! Da wird sie sowieso dreckig.“

„Warum? Soll ich mit dir im Sandkasten spielen, oder was?“

„Blaise…“, erwiderte ich drohend und hoffte damit endlich diese sinnlose Diskussion zu beenden. Was mir auch gelang. Blondie hob abwehrend die Hände und meinte kapitulierend „Schon gut!“. Ha, gewonnen!

Meine Eltern lachten sich derweil ins Fäustchen, wobei mein Vater es noch eher schaffte, eine ungerührte Miene zu machen, trotz der ausgeprägten Lachfalten um seinen Mund herum. Mutti war schon ganz rot und zur Krönung tuschelte sie noch viel zu laut Paps etwas von „Wie ein altes Ehepaar“ zu. Ich warf eine zusammen geknüllte Serviette nach ihr und traf ausnahmsweise – direkt zwischen die Augen.

 

„Jetzt hör endlich auf an dir rumzuzupfen“, schimpfte ich halbherzig und schlug Blaise‘ Finger von seiner Jeans, an der er bereits den ganzen Hinweg über rumgemehrt hatte. Sie wäre ja ‚altmodisch‘ und ‚total unpassend zu seinen Turnschuhen‘. Keine Ahnung, was er so gegen diese Hose hatte, mich interessierte es aber auch nicht sonderlich. Er konnte so eine Diva sein, wenn es um seine Klamotten ging – letztens hatte er mich beinahe fünf Minuten am Stück angepöbelt, weil ich aus Versehen Cola auf sein Hemd getropft hatte. Wenn er so grantig wurde, sah er richtig putzig aus.

Er zog eine vielsagende Miene und verschränkte, fast schon schmollend, die Arme vor seiner Brust. Ich seufzte und gab ihm einen sanften Schubser. „Du siehst gut aus, also hör auf drüber nachzudenken.“

Blaise war kurzzeitig etwas überrascht über das unerwartete Kompliment, sodass sich ungewollt ein kleines Grinsen in sein Gesicht schlich. Als er bemerkte, dass ich ihn immer noch beobachtete, biss er sich rot geworden auf die Unterlippe und tat so, als wäre nichts gewesen. Ich grinste still in mich hinein. Sah aus, als würde Blondie auf Komplimente stehen.

Ich konnte mich nicht weiter über meinen kleinen Erfolg freuen, denn just in diesem Moment wurde die Haustür vor uns aufgerissen und ein aufgeregter, kleiner Timmy stand vor uns, ein Schuh an einem Fuß und ein Arm in einer Jacke. Als er mich erblickte, fing er an über das ganze Gesicht zu strahlen.

„Phil!“ Er ließ den Rucksack, den er bis eben in der Hand gehalten hatte, arglos fallen und stürzte sich in meine Arme. Es war immer wieder ein schönes Gefühl, so begrüßt zu werden. „Hallo, Kleiner“, grinste ich und fuhr durch seine gestutzten Locken. Anscheinend war meine Schwester mal wieder mit der Schermaschine unterwegs gewesen.

Nach einigen Sekunden Knuddeln löste er sich von mir und stellte wohl endlich fest, dass ich nicht alleine war. Ein bisschen überrascht schaute er mit seinen Knopfaugen hoch zu Blaise, der, unwissend, wie er sich verhalten sollte, noch an Ort und Stelle stand und schräg lächelte. Ich hätte über diesen hilflosen Anblick am liebsten gelacht.

„Timmy, willst du Blaise nicht hallo sagen?“, versuchte ich den beiden zu helfen, was auch klappte. Tim hörte auf, den Blonden lediglich anzustarren und reichte ihm höflich die Hand, die dieser auch sofort ergriff.

„Hallo, Tim“, grüßte Blaise freundlich und lächelte nett. Das war doch schon viel besser!

Der Sechsjährige schien erfreut über den neuen Besucher zu sein, immerhin zog er Blaise nach der Begrüßung förmlich in die Wohnung. Blondie war davon so überrascht, dass er mir lediglich einen verwirrten Blick schenken konnte, ehe ich ihm grinsend folgte.

„Du kannst mich ruhig auch Timmy nennen, das stört mich nicht“, erklärte der kleine Knopf gerade aufgeschlossen, immer noch Blaise‘ Hand umklammernd, „Soll ich dir mal die Wohnung zeigen? Du warst hier ja noch nie.“

Und schwupps, damit hatte er die sonst so kratzbürstige Diva völlig handzahm hinter sich her in sein Spielzimmer gezerrt. Wenn das doch mal immer so einfach wäre…

„Ihr seid zu früh!“, begrüßte mich Penny barsch, als ich zu ihr in die Küche trat. Sie packte gerade einige Babysachen in ihre monströse Mama-Tasche. Ehrlich, das Ding musste bestimmt an die zehn Kilo wiegen. Mütter hatten aber auch irgendwie immer alles dabei – von Feuchttüchern bis Süßigkeiten ausnahmslos alles. Letztens hatte ich einen alten Schnuller da drin gefunden, der bestimmt noch aus Tims Kleinkindzeiten stammte.

„Ein Zauberer trifft genau dann ein, wenn er es beabsichtigt“, grinste ich und wich im nächsten Moment auch schon einer kleinen Gummibärentüte aus. Glücklicherweise war meine Schwester genauso zielsicher wie ich.

„Du brauchst hier gar nicht Gandalf zu zitieren, du Hobbit. Guck mal lieber nach Emma und Jonathan, immer wenn er sie wickelt, fällt sie fast vom Wickeltisch.“ Sie duldete keinen Widerspruch, das entnahm ich zumindest ihrer hektischen Gestikulation, also trollte ich mich. Schon im Flur kam mir mein zukünftiger Schwager mit der frisch gewickelten Emma auf dem Arm entgegen, die mit ihren Patschhänden gierig nach seiner Brille griff. Jonathan war etwas kleiner als ich, aber nicht weniger muskulös, was als Fitnesstrainer auch kein Wunder war. Sein blondes, kurz rasiertes Haar schimmerte im Licht etwas rötlich.

„Hey“, lächelte er und befreite das Gestell aus ihren Händen, „Hat Penny wieder behauptet, sie würde mir vom Wickeltisch fallen?“

Ich lachte und schlug in seine ausgestreckte Hand ein. Er roch nach Babypuder und sein T-Shirt war an der Schulter bereits stilvoll von Emmas Speichel durchtränkt. Vater sein musste ein wahrer Segen sein.

„Da rutscht sie einem einmal fast aus der Hand und es wird einem ewig nachgehalten“, schmunzelte er und überreichte mir vorsichtig meine brabbelnde Nichte. Sofort wurde ich aus großen, bernsteinfarbenen Iriden angestarrt. Als ich grinste, fing sie an zu lachen und zeigte ihren einzelnen, kleinen Schneidezahn. Sie war wesentlich leichter zu bespaßen, als Tim in diesem Alter. Der war ausgesprochen schläfrig und knatschig gewesen, während Emma sich beinahe für alles begeistern konnte.

 

Zwanzig Minuten später hatte sich unsere kleine, lärmende Reisegruppe endlich auf den Weg gemacht. Blaise war nur froh darüber gewesen, nachdem Tim ihm fast jedes seiner Spielzeuge spektakulär präsentiert hatte. Nach dem dritten, hilfesuchenden Blick seinerseits hatte ich mitleidig eingegriffen und beschlossen, dass es Zeit war, loszugehen.

Jonathan und Penny liefen vor uns, den Kinderwagen vor sich herschiebend. Ich hörte Emma fröhlich plappern – und leider auch die quietschigen, merkwürdigen Antworten meiner Schwester darauf. Als würde sie mit einem Welpen reden.

Tim lief wie gewohnt an meiner Hand, rechts von mir Blaise, der wie wild versuchte, seine Hände an seiner Hose abzuschmieren. Seinem angeekeltem Ausdruck nach zu urteilen, funktionierte es nicht.

„Was machst du da eigentlich?“, fragte ich nach einer Weile belustigt. Er brummte unbestimmt und gab sein Gefuchtel endgültig auf.

„Ich habe klebrige Hände“, klärte er mich pikiert auf, „Warum müssen Kinder immer kleben?“

Ich lachte auf und sah runter zu Tim, der gerade träumerisch in die Weltgeschichte glotzte. „Keine Ahnung, weil sie auf klebrige Dinge stehen?“

„Ekelig“, nuschelte Blaise vor sich hin und rieb abermals über seine Handflächen, „So eine verdammte Scheiße…“

„Das darf man nicht sagen!“, polterte Timmy überraschend laut los. Sowohl Blaise als auch ich erschraken bei der Lautstärke und zuckten zusammen. „Das sind böse Wörter!“

Blondie seufzte entnervt und ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite. „Tim hat Recht, du musst dich entschuldigen.“

Sein Blick war abschätzig. „Nicht dein ernst, Tarzan.“

Tim und ich nickten gleichzeitig bekräftigend, wobei ich mir angestrengt das Grinsen verkniff. „Doch!“

„Verarsch mich nicht, Phil!“, knurrte er unwillig, woraufhin Tim noch empörter dreinschaute. „Da, schon wieder!“

„Also wirklich, Blaise“, tadelte ich gespielt, „Du musst ein gutes Vorbild für die Kinder sein.“

Ich sah in seinem Gesicht, dass er mir in diesem Moment wohl am liebsten an die Kehle gesprungen wäre. Einfach göttlich, wie seine Wangen sich rot färbten und es in seinen Augen aufblitzte.

„Es tut mir leid“, fauchte er, „Ich werd’s nicht wieder sagen.“

„Das hoffe ich doch“, grinste ich nun doch und wich im nächsten Augenblick schon seiner Hand aus. „Hey“, schrie ich theatralisch und versteckte mich hinter Tim, der uns lachend beobachtete. „Penny! Penny, Blaise schlägt mich! Tu was!“

Meine Schwester drehte sich mit skeptischem Blick um und sah halb belustigt und halb verlegen dabei zu, wie ich mich mit meinen knapp 1,90m hinter ihrem sechsjährigen Sohn vor Blaise versteckte. „Männer“, murmelte sie laut, „Werden nie erwachsen.“

„Tim, hilf mir! Greif ihn mit deinen Klebehänden an!“ Ich packte Timmy bei den Handgelenken und fuchtelte mit seinen Händen vor Blaise rum, der zwar die Augen verdrehte, aber grinsen musste.

Tim quietschte lachend auf, als er von Blondie in die Seite gepiekst wurde, was ihn flüchten ließ und ich so mein unfreiwilliges Schild verlor. Bevor Blaise mich jedoch angreifen konnte, hatte ich ihn schon bei den Händen gepackt und abgewehrt. Durch den Schwung, den er mitbrachte, war es schließlich meine Brust, die ihn bremste. Es gab einen dumpfen Laut, als er gegen mich prallte, ich hatte seine Hände noch immer im Griff.

Seine Stirn befand sich direkt an meinem Kinn und ich spürte sein überraschtes Ausatmen am Hals. Eine Gänsehaut zog sich über meinen Nacken. Er war nah, sehr nah. Aber er regte sich nicht – hatte er sich wehgetan? War er sauer? Ich ließ seine Hände frei und suchte besorgt in seinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen dafür, doch mein Blick wurde von seinem aufgefangen. Ich konnte in dem endlosen Grau nichts finden, er starrte mich bloß an. Sekundenlang. Gefühlte Stunden. Dabei bewegte er sich kein Stück weg.

Als ich schon langsam anfing, mich unwohl zu fühlen, bemerkte er schließlich, in welcher Situation wir uns immer noch befanden – Tim stand neben uns und belehrte uns quakend, dass man sich nicht hauen durfte – und schreckte zurück. Ich blinzelte perplex, seine heftige Reaktion verwirrte mich und sah zu, wie er bemüht lässig grinste, als wäre wiedermal nichts passiert.

Doch ich sah es. Das bildete ich mir nicht ein. Er war rot – knallrot, ohne zu übertreiben. Und er hatte mich angestarrt. Ich war nicht naiv, da war etwas…

Ich hatte eine gewisse Wirkung auf ihn. Das konnte er nicht bestreiten. Das durfte er nicht.

Mein Herz schlug noch wie wild, als wir den Spielplatz bereits erreicht hatten. Ich würde ihn schon noch so weit kriegen.

 

„Tim! Hör auf, mit Sand zu werfen!“ Ich warf meinem Neffen einen warnenden Blick zu, der kapitulierend „Och Mann“ brummte und zum Klettergerüst eilte. Penny saß mit Jonathan und Emma auf einer Bank am anderen Ende des Spielplatzes. Blaise stand neben mir und beobachtete, wie Timmy sich durch das Gerüst hangelte.

„Ihr müsst mitkommen!“, rief er enthusiastisch und lachte uns von oben herab an. Blaise und ich schauten uns gleichzeitig ungläubig an und grinsten wissend.

„Nein, lieber nicht“, antwortete ich dem Kleinen, der enttäuscht über eine Brücke tippelte.

„Phil würde das Klettergerüst bestimmt nur zum Einstürzen bringen“, griente Blondie neben mir. „Wie Godzilla.“

Empört schnaubte ich. „Jetzt bin ich schon Godzilla?!“

„Wäre dir King Kong lieber?“

„Wäre es dir lieber, wenn ich deine ach-so-tollen Klamotten verbrenne?“

Blaise lachte spöttisch. „Oh, das machst du nicht, dafür bist du viel zu nett.“

„Stimmt, obwohl … du ohne Klamotten wäre bestimmt auch nicht schlecht.“ Ich lächelte unschuldig und linste rüber, um seine Mimik bei meiner gewagten Aussage zu verfolgen. Erst schaute er mich mit großen, erschrockenen Augen an, ehe er unsicher lächelte, beinahe fragend, ob ich das jetzt ernst gemeint oder bloß einen Witz gemacht hatte. Das sah so drollig aus, dass ich lachen musste.

Das Lachen lockerte ihn wieder auf. „Haha“, machte er und verdrehte die Augen, „Sehr witzig.“

Ich wollte gerade etwas erwidern, als über den Spielplatz ein unzufriedenes Schreien hinweg erklang. Das klang nach einer schlechtgelaunten Emma. Sofort verselbstständigten sich meine Beine – typisches Fürsorglicher-Onkel-Syndrom – und ich eilte zu meiner Schwester.

„Ssshh“, versuchte Penny die Kleine zu beruhigen, hin und herwiegend, doch vergeblich. Sie seufzte, als sie mich erblickte und reichte Emma kapitulierend an mich weiter. „Na gut, ich geb’s ja schon auf.“

Ich grinste siegessicher und schaukelte sie in meinen Armen, in denen sie ohnehin schon beinahe versank, und erwartete wie selbstverständlich, dass sie aufhörte mit weinen.

Doch irgendwie schaffte nicht mal ich es, sie diesmal zu trösten. Ich runzelte perplex die Stirn, unwissend, was ich tun sollte, während Penny gehässig lachte, bis Jonathan ihr netterweise einen kleinen Schubs mit dem Ellbogen verpasste.

„Hey, Kleine“, murmelte ich bemüht, „Ich bin’s, Onkel Phil. Du liebst Onkel Phil doch, oder nicht?“

Just in diesem Moment kam Blaise angetrabt, Tim auf seinem Rücken, den er huckepack hergetragen hatte. Begeistert sah er dabei nicht gerade aus, aber ich war zu abgelenkt, um mich darüber lustig zu machen.

„Bei deinem Gorillagesicht würde ich auch nicht aufhören“, kommentierte er neckisch, wurde bei meinem bösen Blick jedoch sofort wieder handzahm.

Er seufzte geschlagen, ließ Timmy runter und trat zu mir. „Lass mich mal“, verkündete er ruhig, was mich eine Augenbraue lupfen ließ.

„Du?“
Blondie stöhnte genervt. „Ja, ich bin nicht so sozial behindert, wie du denkst.“ Dann räusperte er sich und schaute mich aus grauen Hundeaugen an, sodass ich fast augenblicklich weich wurde. Mist, der Idiot hatte mich schon ganz schön in der Hand. „Bitte.“

Brummelnd drehte ich Emma so, dass sie direkt in Blaise Gesicht sehen konnte. Der warf mir einen prüfenden Blick zu, als wollte er mich warnen, auch nur einen blöden Kommentar abzulassen. Bevor ich fragen konnte wieso, fing er an sanft auf die kleine Heulboje einzureden.

Und nicht irgendwie, nein. Auf Französisch.

Mir blieb die Luft weg.

Diese Pestbeule konnte tatsächlich fließend französisch sprechen.

Ich schluckte hart, nicht nur, weil mich diese Tatsache völlig überraschte, sondern auch, weil es mich, absurd, ich weiß, irgendwie anmachte.

Okay, um Himmels Willen, Phil! Lass dir jetzt bloß nichts anmerken!

Ich schaute vorsichtig rüber zu Penny und Jonathan. Meine Schwester lächelte beeindruckt und selbst Jonathan sah fasziniert dabei zu, wie das Heulen meiner Nichte abebbte und sie interessiert Blaise Worten lauschte. Es klang melodisch und weich, ganz anders, als er sonst sprach.

Trotz meines Französisch Unterrichts seit der fünften Klasse, verstand ich kein Wort. Er redete zu schnell und rhythmisch. Dafür, dass der Gute kein Englisch konnte, stellte Französisch wohl kein Problem für ihn dar.

Als Emma schließlich ruhig und entspannt in meinen Armen lag, überreichte ich sie zurück an ihre Mutter, damit sie gefüttert werden konnte. Tim fragte Penny aufgeregt, was Blaise gesagt hatte, worauf wir alle nur ratlos mit den Schultern zucken konnten.

Blondie, der von uns allen ungeniert angestarrt wurde, grinste verlegen. „Ich hab ihr nur irgendwas vom Wetter und vom Spielplatz erzählt. Der Klang beruhigt Kinder meistens.“

„Wie man hier sieht“, kommentierte Jonathan lächelnd, während ich lediglich doof gucken und rumstehen konnte.

Blaise bemerkte mein ungläubiges Starren und verschränkte verteidigend die Arme vor der Brust. „Na, was für ein dummer Spruch liegt dir auf den Lippen?“
Ich plusterte beleidigt die Backen auf, weil er schon wieder das Schlechteste von mir dachte, ignorierte die Frage aber. „Wieso kannst du so gut französisch?“

„Meine Mutter kam aus Frankreich“, erklärte er knapp und es schien auch so, als wollte er nicht weiter darüber reden. Ein seltsamer, trauriger Ausdruck hatte sich dabei in sein Gesicht gestohlen, kaum zu erkennen, aber ich war mittlerweile ziemlich gut darin geworden, in ihm zu lesen.

Ich beschloss, das Thema vorerst ruhen zu lassen und mich darauf zu konzentrieren, meinen Hormonüberschuss wieder in den Griff zu bekommen. Schande, hatte das scharf geklungen…

 

Nachdem ich mein Testosteron gezügelt hatte, war es auch schon Zeit, nach Hause zu gehen. Es wurde dunkel und Emma war bereits im Kinderwagen eingeschlafen. Tim maulte kurz rum, bis sich Jonathan ihn schlicht und einfach unter den Arm klemmte und sich von uns verabschiedete. Blaise und ich mussten in eine andere Richtung laufen, weshalb sich unsere kleine Reisegruppe auflöste.

Zuhause angekommen redeten wir nicht viel. Ich zog mir direkt noch die Reste vom Mittagessen rein, während Blaise, wider Erwarten mal nicht telefonieren ging, sondern mit Nasenfahrrad vor seinem Laptop hockte und wild herumtippte.

So verging über eine Woche. Zwischen Blaise und diesem berüchtigten Mike herrschte Funkstille, während wir in der Woche relativ viel miteinander unternahmen. Einmal gingen wir mit Marie und Rebecca in die Stadt und anschließend ins Kino, um irgendeine unsinnige Komödie zu sehen. Blaise war den ganzen Tag so gut drauf gewesen wie noch nie. Seine Spitzen mir gegenüber klangen beinahe liebevoll und auch dem Körperkontakt, den ich bemüht unauffällig immer wieder aufbaute, wich er nicht aus. Marie registrierte das alles natürlich und zog mich in einer ruhigen Minute bei Seite, um mir Mut zuzusprechen und zu betonen, wie verdammt niedlich wir zusammen aussähen. Auch Rebecca meinte in der Schule schließlich zu mir, dass es fast gespenstisch sei, wie gut Blaise und ich uns auf einmal verstanden. Ihr Blick blieb dabei skeptisch, als würde sie ahnen, dass ich dabei war wegen meiner Dummheit mal wieder mächtig auf die Fresse zu fallen. Sie kannte mich einfach zu gut.

Mit der Zeit traute ich mich immer mehr. Eine kleine Berührung da, ein Kompliment hier – ich konnte förmlich beobachten, wie sehr ich Blaise damit durcheinander brachte. Und ohne gemein oder schadenfroh klingen zu wollen, ich genoss es. Jedes Mal, wenn er rot wurde, wenn er anfing zu stottern oder unsicher zu werden, bevor er mich schließlich gereizt anschnauzte und wegscheuchte, brachte mich zum Grinsen.

Es war Donnerstagabend, als ich schließlich, mehr unabsichtlich, das Fass zum Überlaufen brachte. Freitag hatten wir einen fetten Englischtest vor uns, für den ich zusammen mit Blaise lernte. Blondie war davon derartig gestresst, dass sein Verstand irgendwie blockierte und jegliche Konzentration flöten ging. Nachdem er die dritte Aufgabe hintereinander falsch gelöst hatte, seufzte ich geschlagen und klappte das Buch zu. Wir hockten bestimmt schon drei Stunden in seinem Zimmer auf dem Teppich, umringt von leeren Chipstüten und Cola-Dosen. Wir brauchten dringend eine Pause. Eigentlich war ich auch überzeugt davon, dass Blaise den Stoff mittlerweile drauf hatte, aber er war anscheinend einer dieser Schüler, die die schiere Panik bei wichtigen Klausuren packte.

„Was ist denn?“, blinzelte Blondie mich verwirrt an, als ich das Buch weglegte, „Ich bin doch noch nicht fertig. Ich muss noch ein paar Aufgaben machen, sonst krieg ich das nie richtig hin…“

„Du kannst das“, erwiderte ich abwinkend und streckte mich auf dem Boden aus. Mein Rücken schmerzte, weil ich die ganze Zeit im Schneidersitz dagehockt hatte. Langsam wurde ich echt alt. „Du machst dir bloß zu viele Gedanken.“

„Das sagt sich so leicht, wenn man so ein Englischgenie ist“, brummte er missgelaunt und war versucht, das Buch von mir wiederzuholen. Ich packte es jedoch und ließ nicht los, während er wie ein Irrer daran zog – natürlich völlig unnötig, gegen mich kam die Diva nicht an.

„Lass los!“, keifte er verkniffen und rüttelte an meinem Arm. Ich drehte mich zur Seite weg und entwand mich seinem Griff. „Du brauchst `ne Pause, du Zicke!“

„Ich muss noch lernen!“, zischte er zurück und zog verzweifelt wie ein kleines Kind an einem Zipfel meines Shirts, doch ich blieb unnachgiebig.

„Fahr dich mal runter! Trink’n Kaffee, oder so. Du bist total unentspannt.“ Ich stand auf, streckte mich nochmals und klopfte mir Chipskrümel von meiner Jogginghose.

„Ich gebe dir gleich mal ‚unentspannt‘“, murmelte Blaise in seinen nicht vorhandenen Bart. Ich grinste über den kleinen Giftzwerg nur und beschloss, dass eine warme Dusche jetzt das Beste für meine strapazierten Glieder wäre. Also wuschelte ich Blondie noch einmal tröstend durchs Haar und verzog mich.

In meinem Zimmer nahm ich mir Schlafsachen aus dem Schrank, scheuchte Nestor von meinem Bett und marschierte ins Bad, wo ich mich sogleich von Shirt und Hose befreite. Der Sportunterricht hatte mir mal wieder einige Blessuren beschert – Konny ließ es sich beim Basketball natürlich nicht nehmen, mich mit  Ellbogen voraus zu tackeln. Hinzu kam, dass ich mit meiner Größe ein leichtes Angriffsziel darstellte,  wenn es vorm Korb zu Reibereien kam. Ich arme, gequälte Seele!

Das war gewiss nicht mit den Verletzungen zu vergleichen, die ich mir durchs Boxen schon zugezogen hatte. Der Cut auf meiner rechten Augenbraue war immer noch zu sehen.

„Phil!“, plärrte es plötzlich lautstark durch den Flur. Ich erschrak so sehr, dass ich das Handtuch, das ich mir gegriffen hatte, spontan fallen ließ.

Ich hörte, wie Blaise aufgebracht in die Richtung meines Zimmers stapfte, mich dort offensichtlich nicht fand und Sekunden später knurrend gegen die Tür klopfte. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du deinen Scheiß bei mir aufräumen sollst, bevor du verschwindest, Tarzan!“

Ich schnaubte amüsiert und stellte mich doof: „Was? Ich kann dich hier nicht hören!“

„Philemon! Ich weiß genau, dass du mich verstehst!“

Ich verkniff mir krampfhaft das Lachen. „Waaaas?“

Daraufhin ertönte ein wutentbranntes Schnauben, ehe die unverschlossene Tür aufgerissen wurde und eine aufgebrachte Diva im Türrahmen stand. Ich grinste unschuldig.

„Du räumst das gefälligst weg!“, schnauzte er sogleich, „Ich habe noch nie so einen unordentlichen Menschen wie dich gesehen!“

„Du bist einfach viel zu penibel“, erwiderte ich leichtfertig und hob das Handtuch wieder auf. Als ich mich bewegte, schien auch Blaise zu bemerken, in was für eine Situation er da gerade hineingerasselt war. Ich, halbnackt vor ihm, lediglich in Boxershorts. Er erstarrte.

Ich registrierte sofort, wie unwohl ihm war und wie verkrampft er den Blick von meinem Oberkörper lösen musste. Aha, da stand jemand eindeutig auf Muskeln.

Sein Adamsapfel bewegte sich, als er sichtbar schluckte. „Es gibt halt Menschen, die halten Ordnung.“ Blaise hob das Kinn und schien seine Fassung wiedergefunden zu haben. „Ich räum dir jedenfalls nicht mehr hinterher.“

Ergeben seufzte ich. „Na gut, wie du befiehlst, Gebieter.“ Die Antwort war ein ungeduldiges Schnauben und das Knallen der Tür, als er sie hinter sich ins Schloss warf.

 

Zwei Stunden später, gegen zehn Uhr abends, ging ich frisch geduscht, rasiert und entspannt rüber zu Blaise Zimmer, um meine aufgezwungene Arbeit zu verrichten. Ich klopfte nicht an – eine schlechte Angewohnheit von mir, laut meiner Schwester – und trat direkt in den dunklen Raum. Verdutzt, weil Blaise anscheinend schon zu schlafen schien und das Chaos, das ich hinterlassen hatte, bereits aufgeräumt war, stand ich mit dem Türgriff in der Hand da.

„Blaise?“, flüsterte ich leise, erhielt jedoch keine Antwort, außer einem tiefenentspannten Stöhnen vom Bett. Wahrscheinlich schlummerte der schon seit einer Stunde selig wie Dornröschen.

Ich zuckte mit den Schultern und wollte gerade das Zimmer verlassen, als ein erneutes Stöhnen mich davon abhielt. Jetzt, beim zweiten Mal Hören, klang es gar nicht mehr so entspannt, sondern eher … erregt?
Ich blieb wie erstarrt stehen und starrte rüber zu dem Knäuel unter der Bettdecke. Soweit ich das in dem fahlen, mickrigen Licht erkennen konnte, waren seine Augen geschlossen – sein Mund jedoch nicht. Eben diesem entflohen plötzlich weitere schlüpfrige Laute, die mir wie ein Stromschlag durch meine Glieder direkt in den Unterleib schossen.

Scheiße, das bildete ich mir doch nicht ein!

Wie mechanisch schloss ich die Tür hinter mir, so leise wie möglich. Keine Ahnung, warum ich nicht einfach peinlich berührt das Zimmer verließ, immerhin schien Blaise gerade eindeutig feuchte Träume zu haben und das war nichts, was ich belauschen sollte. Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht gehen, verdammt.

Das war doch purer Masochismus, der mich dabehielt. Immerhin erträumte sich da Blondie bestimmt gerade eine heiße Nacht mit seinem Lover – und der war, falls es einer vergessen haben sollte – nicht ich. Also, warum zum Teufel tat ich mir das an?

Ich atmete tief ein und aus, um zu verhindern, auf der Stelle wie der letzte Vollidiot mit einem Mörderständer in seinem Zimmer rumzustehen, als er anfing, irgendwas Unverständliches in sein Kissen zu brabbeln, um kurz darauf verhalten zu stöhnen. Ich blinzelte in der Dunkelheit, um mich darauf konzentrieren zu können, was er da murmelte. Klang wie …

„Nicht … nicht …“, hauchte er.

Nicht? Wurde der in seinem Traum vergewaltigt, oder wie durfte man das interpretieren? Sollte ich ihn wecken? Obwohl das vielleicht eine echt miese Idee war, wenn man halbsteif abends seinen Stiefcousin beim sexträumen stalkte. Der wäre bestimmt begeistert!

„…aufhören“, ah, daher wehte der Wind also, „…Tarzan.“

Beinahe hätte ich erwartet, dass er von dem Geräusch, wie meine Kinnlade gerade fröhlich gen Teppich krachte, aufwachte, doch der Gute schlief ungestört weiter stöhnend in seinem Bettchen.

Das hatte er gerade wirklich gesagt, oder? Das träumte ich doch nicht? Ich kniff mir vorsichtshalber selber fest in den Unterarm, nur um zu realisieren, dass das gerade echt passierte.

Er hatte Tarzan gestöhnt! Da hatte ich mich definitiv nicht verhört. Und wenn er nicht gerade einen besorgniserregenden Affenmenschenfetisch besaß, dann konnte er nur eine Person damit meinen.

Mich.

Blaise hatte gerade einen feuchten Traum mit mir – und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Am Ende beschränkte ich mich auf ein debiles Grinsen und die Frage, als ich endlich in meinem eigenen Bett lag, wie ich mit diesem offensichtlichen Erfolg umgehen sollte…

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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Kater da draußen, die auf ihre Streicheleinheiten warten

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