Was ist Poesie? Poesie kommt vom Griechischen Poiein und heißt etwas machen, etwas schaffen. Alles, was der Mensch macht, ist Poesie. Der Mensch macht die Natur nach. Die Natur heißt auf Griechisch Phyein. Damit haben wir die beiden Grundbegriffe, aus denen die Kreativität der Welt besteht: Phyein und Poiein. Kann sich der Mensch gegen die Natur erheben? Sicher nicht. Aber er kann ihr einen zusätzlichen Touch verleihen.
Dieser Touch ist nicht gerade wenig. Es handelt sich dabei um alle Mythen und alle Interpretationen, die die Menschheit erfunden hat, um das Geheimnis des Daseins zu erklären. Haben wir uns diesem Diktat der Interpretationen zu beugen? Das würde heißen, dass wir unabdinglich angehalten sind, alle Interpretationen des Daseins zu übernehmen, die uns die Kultur vorschreibt, in die wir hineingeboren sind. Müssen wir das tun oder gibt es einen anderen Weg für unser Identitätsverständnis?
Frischer Glanz ist einer Verszeile der Hymne Patmos von Hölderlin entnommen. Hölderlin wird aus seiner Heimat entführt. Weil er diese Entführung zulässt, wird er belohnt. Er entdeckt neue Länder. Als Dank für diese Zuwendung erfindet er neue Mythen: nimmer kannt ich die Länder; frischer Glanz; geheimnisvoll; im goldenen Rauche; aufblühen; schnellaufgewachsen; mit Schritten der Sonne; mit tausend Gipfeln duftend; Asia. – In dichterischer Freiheit geht die Entdeckung der Ungeheuerlichkeit der Welt weiter: Vom Tmolus herab fährt der goldgeschmückte Paktol.
Jede dieser Aussagen bildet einen neuen Mythos. Ein Wort genügt und die Welt wird neu interpretiert. Praktisch sind alle Wörter jeder Sprache ein Fundus unentdeckter Mythen. Durch das Erlernen der Muttersprache wird der Mensch zum Hort eines überreichen Angebots möglicher Interpretationen des Daseins. Ein Mythos kann eine lange Inkubationszeit haben, er kann aber auch spontan entstehen und ist er ausgelebt, entschwindet er wieder lautlos im Dunkel der Geschichte. Jeder Mythos hat seine Geschichte. Was für eine Geschichte hat der Frische Glanz?
Ein kleines Grüppchen Leute fasste den Entschluss, eine Kommunität ins Leben zu rufen, die ihrer Zeit entspricht. Die Gruppe kaufte von der Kirche einen sanierungsbedürftigen alten Pfarrhof und versuchte dort, ohne Rücksicht auf Geschichte, Tradition und übliche Verhaltensregeln, eine neue Form des handwerklichen, geistigen und kulturellen Zusammenlebens zu praktizieren.
Gert Trebetsch, einem Mitinitiator dieser Gruppe, war klar, dass ein solches Unternehmen einen Namen braucht. Tja, wie sollte dieses Unternehmen heißen? Er fuhr nach München in die Staatsbibliothek. Am interessantesten war der Artikel über das Wort da im Grimmschen Wörterbuch. Dasein ist ein Grundwort der Philosophie Martin Heideggers. Auch bei Kant, das wusste Gert, spielt das Dasein eine wichtige Rolle. Er fing an, die Wörter zu kombinieren. Gruppe DA. Das wäre doch etwas! Ja, das gab es noch nie.
Am Abend bei Kaminfeuer und Schnaps diskutierte die Gruppe über den Vorschlag Gerts. Niemand brach in Freudenschreie aus. Dennoch, ein neuer Mythos war geboren: Gruppe DA. – Unter diesem Namen wollte man in die kulturelle Weltgeschichte eingehen. Es zeigte sich aber sehr schnell, dass jedes Mitglied der Gruppe seine eigenen Wege ging und der Name Gruppe DA ohne Bedeutung blieb. Vom Ansatz her gesehen hätte es ein bemerkenswerter moderner Mythos werden können. Man hat in einer großzügigen Wohnanlage sein Zuhause, bewundert die Arbeit der Gruppenmitglieder, gibt anspornende Ratschläge, plant ideologieunabhängige Feste und erfreut sich der persönlichen Freiheit.
Merkwürdigerweise empfand Gert bei dieser spon-tanen Lebensführung einen Mangel an Konzentration, Intensität und eine den Geist beflügelnde Orientierung. Woher kam diese Unzufriedenheit, wo doch alle Wünsche erfüllt waren? Es hatte etwas mit der Gleichförmigkeit des Alltags zu tun. Aber wie sie durchbrechen? Als Denkansatz diente Gert die Ontologie. Das Sein. Die letzten Hintergründe des Existierens. Aber kann das auch sinnlich dargestellt werden? Die Welt ist konkret. Also hinaus in die Welt! Das Leben ist real-ontologisch. Gert raffte sich auf und schrieb einen Prospekt zur Verwirklichung seiner neuesten Erkenntnis. Die Überschrift des Prospekts lautete:
EINLADUNG UND PROSPEKT
ZUR TEILNAHME AN EINEM RO–EXKURS.
IN ZWEI- BIS DREIWÖCHIGEN REISEN
SOLLEN IN FORM MODERN-KULTISCHER HANDLUNGEN
EXISTENTIELLE BEZIEHUNGEN ZUR
SEINSMÄSSIGEN WIRKLICHKEIT ERFAHREN WERDEN.
Was ist ein real-ontologischer Exkurs? Ein real-ontologischer Exkurs soll ein Stück bewusst gelebter Existenz sein. Herausgenommen aus den alltäglichen Pflichten soll auf reale Weise, das heißt in Raum, Form, Farbe, Musik und Choreographie eine Verbindung zu ontologischen Begriffen wie Weite, Stille, Zentrierung, Vorhandenheit, Variabilität und Unerklärbarkeit des Daseins hergestellt werden. Üblicherweise geht man dazu in die Kirche, ins Theater oder ins Museum. Aber nur selten wird dabei das Phänomen nichtgewohn-heitsmäßiger Erfüllung erfahren. Einesteils, weil die jahrelange Wiederholung nur noch ein Gefühl der Belanglosigkeit hervorruft, andernteils, weil eine er-wünschte persönliche Beteiligung nicht stattfindet. Happenings, Kunstaktionen oder Pop-Festivals sind erste moderne Formen, die diese Stagnation durch-brechen. RO-Exkurse sind Unternehmungen, die auf nicht traditionelle Weise versuchen, Handlungen so zu gestalten, dass ontologische Wirklichkeiten erfahren werden. -
Eine Gruppe von Leuten unternimmt eine Reise, auf der RO-Aktionen stattfinden sollen. Um die ausge-wählten Aktionsplätze gestalten zu können, müssen Projektoren, Tonbandgeräte, vorbereitete Musiken, Kas-settenrekorder, Lautsprecher, ein Stromaggregat, Foli-en, Stoffe, Stangen, Stricke, Nägel, Farben und Werk-zeug mitgenommen werden. Vor der Abreise treffen sich die Teilnehmer zu einer Besprechung. Dann Abfahrt nach Frankreich oder Spanien. Beispielsweise wird ein kleines, verlassenes spanisches Dorf als Aktionsplatz ausgewählt. Der Dorfplatz wird mit Folien entfremdet. Vor Sonnenuntergang schreiten die Teilnehmer mit selbstgefertigter Aktionskleidung auf eine in der Mitte ausgebreitete schwarze Folie zu und werfen sich zur Begrüßung auf den Boden. Dann werden Steine zur Mitte getragen und aufgeschichtet. Die Steine werden mit roter Farbe übergossen. Jetzt werden Texte vor-gelesen. Jemand legt sich auf den roten Steinhaufen. Er wird mit grüner Farbe übergossen. Die grünen Gestalten tanzen im Scheinwerferlicht. -
Für 1971 sind drei RO-Exkurse geplant. Erster Reisetermin ist der 15. Mai. Weitere Termine sind der 15. Juni und der 15. September. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Sind Sie interessiert, bitte ich Sie, sich umgehend zu melden. Geben Sie den Prospekt bitte an Leute weiter, von denen Sie glauben, dass sie an einem derartigen Unternehmen interessiert sein könnten.'-
Eine Woche war vergangen und Gert hatte noch keine einzige Zuschrift erhalten. Nach zwei Wochen kam ein Brief von einem Herrn Berlinger. Er fragte, warum er von ihm einen Prospekt erhalten habe, wo er ihn doch gar nicht kenne. Allmählich sah Gert ein, dass sein Vorstoß in das Reich des Seyns ein Schlag ins Wasser war.
Der Mythos Gruppe DA hatte sich in nichts aufgelöst und der Mythos RO-Exkurse blieb eine Chi-märe. Ein Mythos folgte auf den andern. Der Mythos RO-Exkurse wurde von Gert erfunden, weil er den Gedanken hatte, dass ein zu oft vollzogenes bewusstes Existieren im gleichen Umfeld unweigerlich des Gefühls höchster Identität verlustig geht. Genau genommen ist einen Gedanken haben ein Mythos. Mythos ist Wort, Rede, Erzählung und als letzte Begründung seines Entstehens ein Gedanke.
Für Gert war es eine bittere Pille, dass die Leute sich sagten, sie hätten etwas Besseres zu tun als auf Reisen Faschingsscherze zu inszenieren. Wenn schon nicht im Ausland und in der weiten Welt, so wollte Gert wenigstens in seiner näheren Umgebung seine Vor-stellung einer gelebten Ontologie verwirklichen. O-Aktionen, so hieß nun schlicht und einfach sein neuer Mythos. Mögen die Leute sagen, was sie wollen, er war mit dieser Bezeichnung für seine Absichten vollauf zufrieden. Natürlich schrieb Gert wieder einen Text für diesen neuen Mythos:
„O-Aktionen sind einfache Handlungen, bei denen alle Anwesenden Akteure sind. Kein Zweifel: Man erscheint, existiert und verschwindet wieder. Existieren heißt sich bewegen in den vielfältigen Verflochten-heiten, Engagiertheiten, Schicksalen. Herausgesprun-gen erleben wir das Einmalige, das Ungewöhnliche, das Aufreißende. Das Ich will verflochten sein mit dem Ganzen. Das Geheimnis der Phantasie und der Materie stellt uns immer wieder aus der Bewältigung in die Verunsicherung. Der positive psychische Kollaps ist das Ziel gegenwärtigen Sich-Erkennens. Real durchführ-bare, einfache Konzepte, die das Material, den Gegen-stand, die technischen Mittel und deren nichtutili-taristische Kombination verwenden, sind Bewegungs-räume unserer Zeit. Spiele der Erwachsenen, wo das verlorene Terrain anderswo betreten wird.“
Hatzl, der Präsident des Wasserburger Kunst-vereins, rief an:
"Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit wären, heuer die Wasserburger Kunstausstellung zu eröffnen? Sie können machen, was Sie wollen."
"Würde die Stadt für meine Aktionen vor dem Rathaus ein Podest aufbauen?"
"Wird gemacht", sagte Hatzl.
"Gut, dann mache ich die Eröffnung."
Gert fragte Irmi, ob sie mitmacht. Sie hatte sich bei einer in Dermanshausen stattgefundenen O-Aktion unter einer Folie mit Dreck bewerfen lassen und hat sich nach dem Zerreißen der Folie als strahlende Königin entpuppt. Irmi sagte zu.
Es war ein strahlender Augusttag. Die Eröffnung der Ausstellung war für 21 Uhr angesetzt. Hoffentlich ist bei Irmi nichts dazwischengekommen, dachte Gert.
Langsam fuhr er vor das Rathaus. Das Podest war aufgebaut. Er machte einen Rundgang. Hier wird die Schaltstelle aufgebaut, dort die Leinwände und neben das Podest kommt das Materiallager. Für Henrietta und seine Leute hatte er zehn Klapphocker dabei.
Punkt 21 Uhr schaltete er den Projektor ein. Der Platz war voller Leute. Aus H.s Mund quollen rote Tischtennisbälle. Die Leute drängten ans Podest. H., Kat und Helga teilten Säcke aus. Irmi setzte sich auf den fahrbaren Thron. Kat und Helga banden ihr eine Folie um den Körper. Die Fahrt begann. Gert hatte mit seinen Freunden vereinbart, dass nur sie an den Stricken ziehen. Aber die Leute waren nicht mehr zu bremsen. Und dann geschah es. Ein junger Bursche riss wie wild an einem Strick. Der Wagen rollte auf den Podestrand zu und kippte. Gert konnte Irmi gerade noch auffangen. Wütend versetzte er dem Burschen einen Schlag in den Bauch.
"Scheißkerl! Lass deine Pfoten von der Schnur!" rief er.
Die Bewerfung mit Dreck begann. Gert richtete die Scheinwerfer auf Irmi. Dann erfolgte die Befreiung vom Müll. Irmi schloss die Augen und hob die Arme. Die Leute klatschten. Gert stellte die Musik leiser.
"War es schlimm?" fragte er sie, als alles vorbei war. "Der Kerl hat durchgedreht."
"Ne, ne," sagte sie, "ich wusste nur im Augenblick nicht so ganz, was mit mir geschieht."
"Wir setzen uns noch zu einem Bier zusammen." Gert schaltete die Musik aus. Im Rathaus begann ein Flötenquartett von Mozart.
Gert hatte an drei Wochenenden mit jeweils einem Dutzend Teilnehmer im Alten Pfarrhof O-Aktionen durchgeführt. Das Resümee war, dass das Herstellen numinoser Stimmungen in Privaträumen fast nicht möglich war. – Dann packte ihn wieder sein Aus-breitungs- und Vermehrungsdrang. Wie haben das denn Bonifatius und Willibrord gemacht, als sie anfingen Europa zu christianisieren? fragte er sich. Bei seinen Recherchen erfuhr Gert, dass es sogar eine Akademie für Weltmission gab. Er war fasziniert von den mittelalterlichen Klosteranlagen, die er auf seinen Reisen mit Henrietta durch Europa gesehen hatte. Diese Wucht, diese Großzügigkeit und diese durch die Architektur der Kirchen und Gemeinschaftsräume ausstrahlende kompakte Verwirklichung ihres Glau-bens. Für Gert war es nicht wichtig, ob es Gott gibt oder nicht, trotzdem war er ein geistig Stigmatisierter. Er wusste zweifelsfrei, dass der alltäglich von den Men-schen vollzogenen Interpretation ihres Daseins das Wichtigste fehlte. Es ist das Wissen, dass wir nichts erklären können und dass, wenn wir diesem Wissen Raum geben, alles, was auf dieser Welt geschieht, in ein geheimnisvolles Licht getaucht ist.
Man muss weltoffen sein. Monastery 2000, das wä-re doch etwas! Gert schrieb wieder einen Prospekt:
Monastery 2000
Gründung einer modernen Existenz-Gemeinschaft
Kontinuierliche Veranstaltungen
von Aktionen zum Unerklärbaren der Existenz
mit Texten der modernen Literatur,
Aussagen der modernen Kunst, multi-mediale Mittel,
überkonfessionell, überparteilich, überstaatlich,
keine institutionelle Bindung.
Zwischen Dijon und Lyon.
Dann führte er einige Aktionsbeispiele an und ver-schickte den Text an alle deutschsprachigen Feuille-tonredaktionen, an die philosophischen Fakultäten der Unis und an die Rundfunk- und Fernsehanstalten.
Er bekam einen ganzen Packen Zuschriften. Ein Herr Harnack aus Berlin schrieb: 'Bitte teilen Sie mir nähere Einzelheiten zum Monastery 2000 mit, z.B. wann Beginn, welche Altersgruppen, Nationen? Gibt es eine Art Statut oder 'Bekenntnis'? Wer ist der Organisator? Welche Interessen stehen dahinter? Wel-che Verpflichtung, Aufgaben für Mitwirkende? Kurze Personenbeschreibung: 28 Jahre, im nächsten Jahr Lehrerexamen, vielseitig interessiert (Musik machend, schreibend, lesend), aber ohne genügenden Raum, auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit in einer kreativen, nicht verkrampften Umwelt.' Gert ant-wortete: 'Vielen Dank für Ihre Zuschrift. Wie ich aus Ihrem Brief ersehe, erwarten Sie ein fertiges Gebilde. Das ist nicht der Fall. Nach den bisherigen Erfahrungen braucht ein solches Unternehmen eine ganze Anzahl vorausgehender Schritte. Es handelt sich darum, Leute zu finden, die interessiert sind, ‚surrealistische Handlungen' in Form von Experimenten, Ereignissen und konstanten Verwirklichungen durchzuführen. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich zu einem Gespräch besuchen würden.'
Gert heftete am Seminar für Sozialgeschichte einen Prospekt an das Schwarze Brett.
"Sind das Sie, der diese Existenzgemeinschaft gründen will?" fragte ihn eine wuschelhaarige Studentin.
"Wenn Sie Interesse haben. Adresse steht auf dem Zettel."
Abends klingelte das Telefon.
"Für dich, Gert", sagte H.
"Sind Sie der Herr, der heute Vormittag an der Uni Plakate wegen einer Existenzgemeinschaft aufgehängt hat?"
"Ja, der bin ich."
"Mein Name ist Rosi Faller. Ich bin Mitglied einer Gruppe von Soziologen. Wir haben heute über Ihren Prospekt gesprochen und würden uns freuen, wenn Sie mit uns darüber ein Gespräch führen wollen."
"Natürlich, gerne. Wann passt es Ihnen?"
Statt eines Telefonanrufs bekam Gert einen Brief: 'Leider konnte ich Sie telefonisch nicht erreichen. Unsere Gruppe ist aber sehr an Ihrer Arbeit interessiert. Wenn Sie Zeit und Lust haben, möchte ich Sie hiermit zu einem Sommerfest bei mir einladen. Es findet am 6. Juli in Garching statt und wäre eine gute Gelegenheit für Sie, die Gruppe kennenzulernen.'
Hier ist es, dachte Gert, als er die parkenden Autos sah. Er hatte als Geschenk eine Tüte Äpfel dabei.
"Gert Trebetsch."
"Aha, der Mann mit der Existenzgemeinschaft."
"Ich heiße Elis. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie als Gert vorstelle? Also, mal herhören, das ist Gert, von dem uns Rosi erzählt hat."
Ungefähr zwanzig bis dreißig Leute waren anwe-send. Gert überreichte Elis die Äpfel. Jemand fing an, Gitarre zu spielen. Dann stocherte man im Feuer herum. Mehr passiert da nicht, sagte sich Gert. Er stand auf und verabschiedete sich. Elis begleitete ihn noch.
"Ich habe mich sehr gefreut, dass du gekommen bist."
"Ja, es war schön bei euch. Aber kommt doch mal nach Dermanshausen."
Am Sonntag kamen Elis, Rosi und Joe zu Gert.
"Mehr hatten leider keine Zeit", sagte Elis zur Begrüßung.
"Das finde ich sehr schön, dass ihr euch soweit aufs Land herausgewagt habt. Ihr studiert also Soziologie?"
"Rosi und ich machen Pädagogik, Joe mehr Politologie."
"Ihr habt ja gelesen, was ich geschrieben habe. Es haben sich schon eine Menge Leute gemeldet. Im Übrigen könnte man das auch hier machen."
"Schon", sagte Elis, "aber wir sind eine moderne Gruppe und da ist es für uns befremdlich, dass hier alles so feudal ist.“
"Feudal?"
"Man hat direkt Angst, wenn man in das Haus tritt. Niemand kann sich heute mehr so etwas leisten."
"Das Ganze hat hunderttausend Mark gekostet und dabei sind die Anteile unter drei Besitzern aufgeteilt. Ist das feudal?"
"Was? So billig?"
"Wir haben uns eben umgesehen."
"Erst mal müssen die alle weg, die jetzt am Ruder sind", sagte Joe.
"Aber wenn die weg sind, kommen andere."
"Genau das muss verhindert werden."
"Und du glaubst, dass man das kann?"
"Wir sollten uns zusammentun."
Gert läutete bei Carola. Er war einmal Hauslehrer bei ihr und hatte einen ihrer Söhne zum Abitur gebracht.
"Das ist aber nett, dass Sie sich wieder einmal se-hen lassen."
Carola führte Gert in den Salon.
"Nehmen Sie bitte Platz. Sie kennen sich ja aus. Was ist eigentlich aus Ihrem Monastery 2000 geworden? Ich habe Ihnen ja geantwortet. Es ist tatsächlich immer noch so: Wenn Sie eine Schule oder eine geistige Bewegung gründen wollen, kann ich Ihnen dafür im Haus eine Etage zur Verfügung stellen."
"Ja, das mit dem Monastery. Irgendwie glaube ich, dass die Bedingungen noch besser herausgearbeitet werden müssen."
"Wie meinen Sie das?"
"Zum Beispiel Texte. Was ist ein Text? Welches Umfeld braucht ein Test? Was ist eine Übersetzung? Was ist eine Interpretation? Welche Texte soll man aus-wählen? Im Übrigen kann man ja auch selber Texte machen. Ich habe in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Texten gemacht. Und dann geht es eigentlich erst los. Wie soll man die Texte einsetzen? Wie soll man sie vortragen? Sind die Fragen mit den Texten dann erledigt, stellen sich die gleichen Fragen für die Musik, die Thematik, die Szenerie, für die zu vollziehenden Handlungen und für die Gefühle, die dabei entstehen."
"Da haben Sie sich aber ganz schön was vorgenommen. Haben Sie sich auch mal mit chinesischer Philosophie beschäftigt?"
"Konfuzius hat das Erhabene Wissen entdeckt. Er teilt es in: Weisheit, Güte, Treue, Ehrfurcht und Mut ein."
"Und was ist für Sie das Wichtigste?"
"Sagt man Existenz, sagen die Leute 'aha, ein Existenzialist'. Sagt man das Offene, sagt man: 'o ja, das Offene. Es ist gut, wenn der Mensch im Leben offen ist'. Sagt man das Unbegreifliche oder das Unerklärbare, ist man ein Agnostiker."
"Sie sind ein moderne Atheist."
"Ja, das wird auch gesagt, aber es ist falsch. Ist man Atheist, wenn man das Faktische ernst nimmt? Konkrete Möglichkeiten ernst zu nehmen, das ist die Chance des modernen Menschen Aber man darf das Ganze auch wieder nicht zu ernst nehmen."
"Sie! Sie sind mir einer!" Carola und Gert lachten.
Henrietta und Gert fuhren nach Frankreich.
„Und wie belieben der Herr Graf die Reise zu gestalten?“
„Der Herr Graf fahren jetzt mit seiner Mätresse übers Land.“
Gegenüber von Taizé fanden sie eine schöne Wiese.
"Die wäre doch etwas!"
"Ja, der Platz ist gut."
"Madame, excusez-moi", fragte Gert eine Frau, "können Sie uns sagen, wem diese Wälder und Wiesen hier gehören?"
"Das gehört dem Staat. Wenn Sie etwas wollen, müssen Sie mit dem Bürgermeister sprechen."
Der Bürgermeister wohnte in Villard.
"Ah, Monsieur le maire! Bon jour!"
"Bon jour!" Monsieur Roy war ein freundlicher, alter Mann.
"Monsieur", begann Gert, "vous êtes le maire et vous connessez la place-camping avant Flagy."
Gert trug seine Bitte vor, dort im nächsten Jahr ein Festival modern machen zu dürfen.
"Tja, ihr Deutschen", sagte M. Roy.
"Zwei Kriege! Der erste und jetzt der zweite! Ihr seid die Feinde! Ja, wirklich, Feinde! Und jetzt wollt ihr hierher kommen!"
"Non, non, Monsieur, wir sind keine Feinde. Ich nicht und Gräfin von der Winck auch nicht. Ich war noch gar nicht geboren im ersten Weltkrieg und im zweiten ein Kind. Und die Gräfin war gegen Hitler. Aber das ist ja alles vorbei."
"Vorbei? Ich weiß nicht. Sie machen ja einen ganz guten Eindruck. Aber die anderen! Na gut, lassen wir es. Vielleicht ist es wirklich vorbei. Also, Sie möchten da an diesen Platz? Er ist frei. Nur im Herbst, da wird geschossen, auf Tontauben."
"Wir würden im August oder spätestens Anfang September kommen."
"Das würde gehen. Aber Sie müssen auch noch die anderen fragen. Ich bin ab 1. März nicht mehr im Amt."
"Ja, aber wenn Sie sagen, dass ich mit Ihnen gere-det habe?"
"Das ist möglich."
"Also gut, ich schreibe Ihnen in den nächsten Tagen und schicke Ihnen Unterlagen von der Veranstaltung. Selbstverständlich setze ich mich mit dem neuen Bürgermeister in Verbindung. Au revoir, monsieur!"
"Au revoir!"
"Fahren wir noch einmal zu dem Platz? Ich habe ihn noch gar nicht so richtig angeschaut."
Der Topos ist schwer zu fassen, heißt es bei Aristoteles. Gert schwebte auf Wolken. Hier sollte also das stattfinden, was die Bestimmung des künftigen Menschen ist?
"Der Schütz wird an die Decke gehen, wenn er erfährt, dass sich ausgerechnet vor seiner Haustür die Surrealisten treffen!"
Es sah so aus, als ob sich Gerts Vision von existentiell-ontologischen Veranstaltungen, tatsächlich zwischen Dijon und Lyon verwirklichen lässt. Ein fertiges Kloster wird es allerdings nicht sein. Doch Gert war fest entschlossen diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Den Mythos Monastery 2000 konnte er dafür jedoch nicht mehr brauchen. Er knobelte wochenlang herum wie er die Unternehmung im Burgund nennen sollte. Schließlich hatte er es. Das Ganze sollte heißen 1. Sur-reales Actions-Camp. Ein neuer Mythos!
Gert entwarf wieder einen Prospekt. Unter die Überschrift 1. Sur-reales Actions-Camp setzte er einen Text von Breton:
'Je mehr ich zuweilen Grund fand, mit dem Leben Schluss zu machen, um so mehr fand ich zu meiner Überraschung Grund, diese beliebige Diele im Fußboden zu bewundern: Wirklich schön wie Seide war sie, wie eine Seide, die schön im Wasser ist. Diesen bewussten Schmerz liebte ich, als habe sich in diesem Augenblick die ganze universale Tragödie in mir abgespielt, als sei ich sie plötzlich wert gewesen.'- Als weiteren Text, der seine Idee erläutern sollte, nahm er eine Stelle aus Becketts 'Endspiel': 'Also, ich bin dran. Jetzt spiele ich. Altes, von jeher verlorenes Endspiel, Schluss damit, nicht mehr verlieren'.- Zu guter Letzt wollte er noch eine Stelle aus Sartres Ekel auf dem Plakat haben: 'Habe ich es geträumt, dies ungeheure Gegenwärtigsein? Es war da, es lag auf diesem Park, diesen Bäumen, weich, alles beschmierend, dick, eine Marmelade.'- So, das genügt, sagte er sich. 'Ein Symposion inmitten der Landschaft. Sprachaktionen: multimediale Mittel; ontologische Szenen; Produktion und existentielles Umsetzen von Kunst, Literatur, Theater; Campieren in Zelten und Wohnwagen; Improvisationen der Aktionsräume; alle Teilnehmer sind Akteure. Information und Anmeldung: Gert Trebetsch.' Gert verschickte tausend Plakate.
Nach einer Woche kamen die ersten Zuschriften. Nach drei Wochen hatte Gert bereits zwanzig feste Zusagen.
"Das funktioniert, das funktioniert", jubelte er.
Radio Freies Berlin rief an. Sie fragten, ob er einverstanden sei, wenn über das 1. Sur-reale Actions-Camp ein Interview gesendet würde.
Gert kaufte einen Generator. Als Texte, die er bei den Aktionen verwenden wollte, suchte er Stellen aus Sartre, Beckett, Laing, Gérard de Nerval, Konrad Bayer, Hugo Ball und Pavese. Ulla half ihm beim Übersetzen ins Französische.
"Das machst du großartig! Wie das klingt: 'Plu-sieurs corps apparaissent. Chacun de ces plusieurs corps a une conscience … Auftreten mehrerer Körper. Jeder dieser Körper hat ein Bewusstsein.'"
Es war ein Text aus Konrad Bayers Der Stein der Weisen. Als Musik hatte er Stücke von Stockhausen, Bayle, Henry, Malec und anderen avantgardistischen Komponisten. Dazu kamen noch etwa zwanzig Stücke, die er alleine mit dem Moog gemacht hatte und zehn Stücke Musique concrète. -
Es war Putztag.
"Ich fahre Einkaufen", sagte H.
Auch Gert wollte nicht Opfer des Herumgefum-mels werden. Er packte die Zeitung, kaufte sich ein Cola und fuhr nach Öd. Schon längere Zeit wollte er sich die dortige Ziegelfabrik einmal näher ansehen. Er setzte sich auf einen Ziegelhaufen, blätterte in der Zeitung und trank sein Cola. Plötzlich fühlte er sich wie von einer fremden Kraft gepackt. Taizé! Auroville! Poona! Soleri! Ist Öd das ihm zugedachte Ganz Große? Er fuhr nach Hause, legte sich aufs Bett und starrte zur Decke. Ein Kloster! Ein modernes Kloster! Für die ganze Welt!
Er fuhr noch einmal nach Öd. Durch einen dicken Plastikvorhang gelangte er ins Innere der Fabrik. Die zwanzig Brennöfen waren ausgeräumt. Jeder Ofen war wie eine romanische Kapelle. Im ersten Geschoß be-fanden sich Schienen und Loren, im zweiten die Trockenräume. Die Dimensionen der Fabrik waren enorm. Gert stieg einen Verbindungsgang nach oben. Er stand in einer achtzig Meter langen und zwanzig Meter breiten Halle. In der Mitte war ein riesiger Berg Ton. In dieser Halle wird er den Himmel auf die Erde herunterholen, phantasierte er.
"Na, was ist denn mit dir los?" fragte ihn H., als er wieder zuhause war.
"Mit mir? Nichts."
Die Recherchen ergaben, dass die Fabrik tatsächlich stillgelegt war. Sie gehörte einem Unternehmer namens Firlholz. Frau Kürzinger, die Wirtin in Der-manshausen, war seine Schwester.
"Hast du mal einen Augenblick Zeit für mich?" fragte Gert H.
"Gleich, ich hänge nur noch die Wäsche auf. Was gibt es denn Aufregendes?"
"Du bist also für Aufregendes?"
"Immer."
"Dann setz dich. Also folgendes. Ich war vor kurzem in Öd. Du weißt doch, diese Fabrik mit dem Schornstein."
"Die da hinten im Wald?"
"Ja, die Fabrik ist stillgelegt. Der Besitzer heißt Firlholz. Frau Kürzinger ist seine Schwester."
"Die bei uns?"
"Ja. Also folgendes: Die Fabrik ist grandios. Du musst dir das mal ansehen. Du weißt doch, die großen geistigen Unternehmen in der Welt. Das ist so etwas."
"Ich verstehe nicht."
"Ich meine, aus der Fabrik muss man ein geistiges Zentrum machen."
"Du bist größenwahnsinnig."
"Stimmt."
Nur mit Mühe gelang es Gert, H. wieder zu beruhigen.
"Weißt du, wir sollten da einfach 'mal mit dem Firlholz reden. Sag doch Frau Kürzinger, dass wir an der Fabrik Interesse haben und dass wir mit Ihrem Bruder gerne einmal darüber reden wollten."
"Wir! Wir! Du!"
"Aber sei doch nicht so."
"Was heißt hier sei doch nicht so?"
"Ist doch nur ein Telefon. Sagt der Firlholz nein, ist die ganze Angelegenheit erledigt."
"Du immer mit deinen Ideen! Als ob dir da irgendjemand eine Fabrik schenken würde, nur weil du so ein sympathischer Mensch bist."
H. ging in Ihr Zimmer.
"So", sagte sie, als sie wiederkam. "Ich habe mit Frau Kürzinger telefoniert. Am Mittwoch um 10 Uhr. Aber ob ich mitkomme, weiß ich noch nicht."
Die aufgelassene Fabrik des Herrn Firlholz über-strahlte alle anderen Pläne Gerts. Das ist ein einmaliges Geschenk des Himmels, dachte er. Wenn er jetzt nicht zugreift, hat er die größte Chance seines Lebens vertan. Er machte sich sofort daran, einen Prospekt zu schreiben:
Ein Kloster für moderne Kunst, Literatur und Philosophie. Fabrik Öd ist eine stillgelegte Ziegelfabrik in einer landschaftlich schönen Lage in Oberbayern. In dieser Fabrik wird der Versuch gemacht, mit den Mitteln der modernen Kunst und Texten zeitgenössischer Literatur und Philosophie szenische Existenzabläufe zu gestalten und zu erleben. Sonnenaufgangszeremonien in surrealen Gewändern. Elektronische Musik. Choreographien mit Spiegeln. Kurzvorträge, z.B. das Ich bei Fichte; die phänomenologische Reduktion bei Husserl; der Horizont bei Heidegger; die Sprachspiele bei Wittgenstein. Kultische Mahlzeiten. Vorbereitung und Durchführung ontologischer Tages- und Nachtaktionen. Für Bildhauer, Maler, Photographen etc. stehen zum Ausbau Ateliers und Werkstätten zur Verfügung. Teilnahmegebühr, inklusive Unterkunft und Verpflegung, pro Person und Tag 40 DM (Studenten 30 DM). Die Teilnahmegebühr kann durch Arbeiten an 'Fabrik Öd' abgeleistet werden.
Weitere Informationen,
Anmeldung und Terminvereinbarungen:
Gert Trebetsch, Alter Pfarrhof Dermanshausen.
Gert las H. den Prospekt vor.
"Gert, Gert, ich glaube, dass du dich da ganz schön verrennst", sagte sie.
"Aber Henrietta, irgendwo muss man anfangen."
"Anfangen ja, aber doch nicht etwas so total Unrealistisches."
"Man muss Reklame machen und man muss den Leuten Räume und Ateliers anbieten. Natürlich, vom Sinn des Lebens haben sie keine Ahnung."
"Aber Gertchen, glaubst du denn, dass das, was du da so machst, die Verwirklichung des Sinns des Lebens ist?"
"Ja."
H. schaute Gert entgeistert an.
"Das glaubst du wirklich?"
"Ja."
"Drucken Sie es in Blau", sagte Gert zum Drucker, "und das Foto als Negativ."
Anfangs waren die Zuschriften und Telefonanrufe auf Gerts Prospekt von Fabrik Oed spärlich. Allmählich aber sprach sich das merkwürdige Vorhaben herum und er hatte plötzlich alle Hände voll zu tun, um den Informations- und Terminwünschen der Leute gerecht zu werden. Die Vereinbarungen waren so, dass Firlholz monatlich 2500.- DM Miete erhält und der Überschuss für den Ausbau der Fabrik verwendet werden sollte. Doch dann meldete sich die Öffentlichkeit zu Wort. Das Landratsamt hatte die Fabrik besichtigt und Firlholz mitgeteilt, dass bis zur Genehmigung der Ateliers noch 100 000 DM investiert werden müssen. Da niemand das Geld hatte, wurde das Unternehmen Fabrik Öd abgeblasen.
Gerts Wille, ein Kloster für moderne Kunst und Philosophie zu gründen, war ungebrochen. Ein Freund von ihm hatte die Klosterruine San Cristóbal in Spanien als seinen Alterssitz gekauft. Er bot Gert an, dieses auf einer Anhöhe der Iberischen Berge liegende Vierkant-gemäuer für seine Aktionen zu benützen. Es war ein neues Dach gemacht worden und die Fußböden hatten einen Betonestrich. Gert beschloss, die nächste Ver-anstaltung auf San Cristóbal durchzuführen. Das Plakat war fertig. Die Überschrift lautete:
Kloster für moderne Kunst und Philosophie.
Er schrieb: Die abendländische Tradition ist zu Ende gegangen. Andere Kulturen, z. B. asiatische, lassen sich nicht übertragen. Es ist also die Aufgabe gestellt, neue Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Das Kloster für moderne Kunst und Philosophie bietet Kommunikationsformen, die auf den durch die Existenzphilosophie entdeckten Grundlagen des menschlichen Daseins und den durch die verschiedensten Richtungen der modernen Kunst aufgezeigten materiellen und formalen Möglichkeiten aufgebaut sind. Durch ernsthafte Arbeit und engagierte Beteiligung entsteht ein Spiel, in dem das unfassbare Geheimnis der Vorhandenheit und des Existierens ausgedrückt und erlebt wird. Die Kurse im Kloster für moderne Kunst und Philosophie sind für jeden gedacht, der einmal im Jahr Interesse hat, für eine gewisse Zeit ein Leben zu führen, das durch Form und Inhalt eine Antwort darauf gibt, wie auf avantgardistische Weise das Numinose erlebt werden kann. Obgleich die Handlungen und Szenerien moderne Aktionskunst sind und die Themen dem Standard der gegenwärtig an den Universitäten diskutierten Existenzphilosophie entsprechen, brauchen Sie für die Teilnahme am Leben des Klosters für moderne Kunst und Philosophie keine Vorkenntnisse zu haben.
Mitte November wurden die Plakate verschickt Es war die längste Anlaufzeit, die Gert je für eine Veranstaltung hatte. Warum nicht einfach mit Plakaten, Prospekten und einem Megaphon vor die Unis fahren? fragte er sich. Er rief das Amt für öffentliche Ordnung an. Gerts Kloster wurde als Wirtschaftsunternehmen eingestuft. Das Auto durfte nur so abgestellt werden, dass es als Parkhandlung verstanden werden konnte. Megaphone waren verboten. Gert war die Lust vergangen.
Gert stellte die Ausrüstung für die Veranstaltung des Klosters für moderne Kunst und Philosophie auf San Cristóbal zusammen. Ein Problem waren die Scheinwerferstangen. Sie waren zu lang. Er sägte sie in der Mitte durch, bohrte Löcher und machte Laschen dazu, mit denen die Stangen zusammengeschraubt werden konnten. Die Lautsprecher wurden überprüft und die roten Tücher geflickt und gewaschen. Für den Fall, dass der Generator versagte, lötete es zwei Phasen eines Starkstromkabels zusammen. Dieses Kabel wird er dann an die Autobatterie anschließen. Die meiste Zeit brauchte er für Kabel, mit denen er alle Geräte untereinander verbinden konnte. Letzte Mitteilungen an die Kursteilnehmer wurden verschickt. Kleinkram musste erledigt werden: Reserveschlüssel fürs Tankschloss, Farben für Aktionsgewänder, Geschenke für Ferrer, eine Muffe für den Gaskocher.
Narbonne. Plötzlich war ein ohrenbetäubender Lärm zu hören. Jetzt ist alles vorbei, dachte Gert. Er lenkte den Wagen an den Straßenrand und kontrollierte das Auto. Der Auspuff war entzwei. Na, wenn das alles ist! Der Wagen sprang wieder an und Gert fuhr weiter.-
Fructosa, die Tochter des Verwalters, gab ihm den Schlüssel für Cristóbal. Gert fuhr den Berg nach oben. Es krachte ein zweites Mal. Er war auf einem Felsen aufgefahren. Es war Mitternacht und die Sterne leuchteten. Er holte die Eisensäge und sägte die eingequetschten Rohre ab. Der Schweiß rann ihm aus allen Poren. Er war voller Öl und Dreck. Doch die Rohre waren abgesägt. Er konnte weiterfahren. Das letzte Steilstück kam. Beim vierten Anlauf schaffte er es. Er steckte den Schlüssel ins Schloss. Die Tür ächzte. Zwei Dohlen stürzten sich auf ihn und wollten ihm die Augen aushacken.
Unter dem Titel Kloster für moderne Kunst und Philosophie führte Gert eine ganze Anzahl von Veranstaltungen durch.
In der Süddeutschen Zeitung erschien ein Artikel über die documanta. Die Überschrift lautete: 'Das Tandem formiert sich'. 'Die Documenta 8, die im Sommer 1987 in Kassel stattfinden soll, ist auf den Weg gebracht. Das Leitungs-Tandem, der Holländer Edy de Wilde und der Schweizer Harald Szeemann, wird zwar erst mit Beginn des Jahre 1985 offiziell in den Vertrag einsteigen, doch wurden erste Überlegungen bereits angestellt.'
Gert wollte sein Kloster für moderne Kunst und Philosophie der Öffentlichkeit vorstellen.
"Die Öffentlichkeit", sagte er zu den Teilnehmern seiner Veranstaltungen, "ist lediglich der Rahmen für das Tun des Einzelnen."
Gert und H. hatten sich alle bis dahin stattgefundenen Documentas angeschaut.
"Man muss die anderen im Auge behalten", sagte Gert.
Er schrieb an Szeemann:
Ich schreibe Ihnen aufgrund des Artikels 'Das Tandem formiert sich' in der SZ. Ich möchte Ihnen und Edy de Wilde eine Idee unterbreiten, die schon zur 6. Documenta verwirklicht werden sollte, aber an Fragen der Räumlichkeit scheiterte. Erlauben Sie mir, Ihnen einen Brief beizufügen, den Manfred Schneckenburger zu einem Katalog von mir über 'Existenzial-onto-logische Aktionen' als Vorwort schrieb. Jetzt in aller Kürze ein paar Anmerkungen zur Idee eines Kunstkloster der Documenta 87:
1. Kloster Documenta 8 soll im Rahmen der Documenta 8 eine Veranstaltungsreihe sein, an der jeder Documentabesucher teilnehmen kann, der sich in den Veranstaltungsplan einträgt und bereit ist, bei den angegebenen Aktionen aktiv mitzumachen.
2. Das Kloster soll aus wirklichen vielleicht zehnWohnzellen bestehen, in denen die Teilnehmer zwei oder drei Tage wohnen. Die erarbeiteten Veranstaltungen finden im Fridericianum oder auf dem Gelände der Orangerie statt.
3. Die Veranstaltungen beginnen am Morgen und gehen bis in die Nacht hinein. Themen sind 'Moderne Kunst und Philosophie'. Alle Veranstaltungen sind öffentlich und finden vor den Besuchern der Documenta statt.
4. Die Hauptaktionen geschehen, nach Rücksprache und Einwilligung der Künstler, mit auf der Documenta ausgestellten Kunstwerken. Es werden Choreographien des 'Herbeibringens', des 'Enthüllens', des 'Wahrnehmens, des 'Berührens' und des 'Betroffenwerdens' gemacht. Dazu werden Musik gespielt und Texte vorgetragen.
Wenn Sie Interesse an diesem Vorschlag haben, würde ich mich freuen, mit Ihnen und Herrn de Wilde darüber ein Gespräch zu führen.'
Nach einem Monat kam eine Antwort: 'Besten Dank für Ihren Brief mit dem Vorschlag eines Kunstklosters auf der Documenta 87. Ich bin nicht gegen ein solches Kunstkloster, aber eben im Zusammenhang mit der d 8. Es hat sich stets erwiesen, dass interpretatorische Aktivität mit der Eigendynamik der Ausstellung eher kollidiert, denn fusioniert. Für mich ist es nur Beuys gelungen, der mit Unterweisungen sein Werk erhöhen konnte.'
Gert antwortete:
'Ich habe mich sehr gefreut, von Ihnen Nachricht erhalten zu haben. Ich stimme mit Ihnen völlig überein, dass es bei Aktivitäten an der Documenta wenig Sinn hat, mit Interpretations-Vorgaben zu arbeiten. Der 'Werk-Beitrag' meiner Arbeit beruht darin, dass das Arrangement eines bewusst reflektierenden Handlungssetzens der wichtigste Schritt ist, um legitim von einem 'Gesamtkunstwerk' sprechen zu können. Sie haben es in Ihren 'Obsessionen' angedeutet: Objekt, Handlung, Musik, Text, Beteiligung, Sicht. Das alles ist dann das Objektive. Ich würde Sie gerne besuchen, wenn Sie Interesse an einem Gespräch mit mir haben. Selbstverständlich sind Sie, auch mit Freunden, jederzeit herzlichst bei mir hier in Dermanshausen willkommen.'
Gert schlug die Zeitung auf: Er stutzte. Eine Schlagzeile lautete: 'Manfred Schneckenburger für die documenta berufen. Der 46-jährige Kunsthistoriker Manfred Schneckenburger wird die 8. documenta in Kassel leiten. Das teilte der Vorsitzende des documenta-Aufsichtsrats, der Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel, in Kassel mit. Schneckenburger übernimmt die Aufgabe der beiden bisherigen künstlerischen Leiter, Edy de Wilde und Harald Szeemann, die ihren Auftrag im Dezember vergangenen Jahres zurückgaben.'
"Das ist ja unglaublich!" sagte Gert zu H.
Er schrieb an Manfred:
'Ich habe eben in der SZ Deine Bestallung zum Leiter der d 8 gelesen. Natürlich war ich überrascht, da doch ständig gesagt wurde, dass jemand, der schon einmal eine documenta geleitet hat, kein zweites Mal zur Leitung berufen werden soll. Ich weiß nun nicht, inwieweit du in meiner Angelegenheit mit Harald Szeemann oder Edy de Wilde ein Gespräch hattest. Es liegt jedenfalls ein Briefwechsel vor, den du ja zu Gesicht bekommen wirst. Um was es jetzt geht, sind zwei Dinge. Erstens, ob du Dich für meinen Vorschlag zur d 8 interessierst und bereit bist, Dich dafür einzusetzen. Die zweite Sache ist folgendes. Vor einiger Zeit machte mir eine Stiftung zur Förderung moderner Philosophie das Angebot, meine Idee eines Kunstklosters an der d 8 finanziell zu unterstützen. Durch dieses Angebot wäre es möglich, das Kunstkloster d 8 auch architektonisch, vielleicht vor dem Fridericianum oder der Orangerie, als Kunstwerk in Auftrag zu geben, zum Beispiel an Dani Karavan. Am liebsten allerdings Owäre mir eine 'Kunstklosterarchitektur' von Michael Heizer.‘
Manfred antwortete: 'Da ich meine Arbeit in Kassel erst im April beginne, werde ich dann erst Näheres über Deine Pläne und Vorschläge erfahren. Dani Karavan ist ein sehr guter Freund von mir. Ob er allerdings eine benutzbare Architektur bauen will, bleibt fraglich. Allgemein gesagt: Deine Idee halte ich nach wie vor für interessant. Präziseres kann ich Dir aber erst schreiben, wenn einige Grundlinien der d 8 festliegen.'
Es war an der Zeit, für die Documenta einen Prospekt zu entwerfen. Die Überschrift lautete: Kunstkloster Documenta 87. Das Kunstkloster, schrieb Gert, ist eine Einrichtung, durch die Documentabesucher aktiv an der Documenta teilnehmen können. Alle Aktionen werden vom Begründer des Kunstklosters, Gert Tre-betsch, geleitet. Grundlagen der Aktionen sind die wichtigsten Aussagen der Philosophie, insbesondere der Existenzphilosophie. Das Einmalige des Kunstklosters besteht darin, dass diese Aussagen durch Kunstaktionen dargestellt und erlebt werden können. Die Teilnehmer am Kunstkloster verpflichten sich, einen oder mehrere Tage an der Besprechung, Gestaltung und Durchführung solcher Aktionen mitzumachen.' Jetzt führte Gert in sechs Punkten aus, wie er sich das Kunstkloster vorstellte.
Manfred antwortete:
'Besten Dank für Dein Kunstklosterkonzept. Das Kunstkloster hat jetzt sehr deutliche Konturen. Da es sich hier um ein besonders wichtiges und repräsentatives Projekt handelt, würde ich es gerne auch in meinem Beirat diskutieren. Die nächste Sitzung findet allerdings erst Anfang Juli statt. Ich bitte Dich, bis dahin Geduld zu haben.'
Gert stieß einen Jauchzer aus und rannte zu H.
"Ein Brief von Manfred!"
"So? -Ich würde mich an deiner Stelle nicht zu früh freuen. Du hast doch selbst gesagt, dass Manfred ein großes Schlitzohr ist."
"Ja, eloquent. Aber der kann doch keinen solchen Brief schreiben und mich dann hängen lassen."
"Na gut, wir werden sehen!"
Ein halbes Jahr war vergangen. Gert rief Manfred an.
"Ach ja, Gert."
"Danke für deinen Brief. Weißt du, das mit dem Beirat. Ich habe gedacht, dass deine Kompetenz genügt, das Kunstkloster zur documenta einzuladen."
"Schon, schon. Aber so einfach ist das für mich nicht. Der Zweite und der Herzogenrath sind auch noch dabei und ich brauche ein bisschen Rückendeckung."
"Kann ich dich am kommenden Sonntag besuchen?"
"Ja, das würde gehen."
"Sagen wir am Nachmittag."
Gert packte zwei Koffer Dokumentationsmaterial ein und fuhr nach Kassel. Er musste eine Stunde auf Manfred warten.
"Hier. Für dich", sagte Gert und öffnete die Koffer. Immer wieder wurden sie von Telefonanrufen unterbrochen.
"Kannst du mir das dalassen?"
"Das Ganze? Du, das sind alles Unikate."
"Es genügen auch ein oder zwei Alben."
"Na gut. Aber ich brauche sie wieder."
"Ich kann dir leider noch keine endgültige Zusage geben", sagte Manfred. "Aber im Februar schicke ich dir die Entscheidung. Weißt du, mein Erfolgsrezept besteht darin, dass ich nur bewährte Kräfte nehme. Ich habe schon fast alle Leute beisammen. Ich war gerade in Amerika, aber da habe ich auch nur die genommen, die ich kannte."
"Ein Brief von der documenta!" rief H. Gert las ihn vor:
"Nochmals Dank für deinen Besuch. Inzwischen haben wir im documenta-Beirat sehr ausführlich und kontrovers über deinen Vorschlag diskutiert. Du hast einige faszinierte Verehrer gewonnen, während andere Schwierigkeiten mit der öffentlichen Realisierung philosophischer Gedanken haben. Letztlich überwogen auch bei mir die Argumente, dass die documenta für diese Art von Arbeit nicht der rechte Rahmen ist. Sie erschwert den Rückzug in die abgeschlossene Meditation und würde sie zum exotischen Spektakel machen. Bitte, hab Verständnis, wenn ich dir deshalb doch nicht zusagen kann."
H. und Gert waren entsetzt.
"Tja, so ist es", sagte Gert kleinlaut.
"Das tut mir aber leid für dich."
"Ach, lass mal. Irgendwie ist es vielleicht gar nicht so schlecht."
"Ja, ich weiß, es ist zwar wenig", sagte H. "aber wenn ich etwas zu sagen gehabt hätte, hätte ich dich genommen."
"Ich hole etwas vom Bäcker. Machst du Kaffee?"
"Mach' ich."
Es schien so, als ob das Schicksal Gert nun einen nur für ihn reservierten Trumpf in die Hand gegeben hätte. Sonntagvormittag. Noch halb im Schlaf schaltete er das Fernsehen ein. Und das? Was war das? Eine Klosterruine. Sie hatte genau die numinose Ausstrahlung wie er sie sich für seine Veranstaltungen wünschte, die Ruine des Klosters Sveti Petar in Istrien. Nach einigen Verhandlungen und Absprachen mit der Regierung von Istrien bekam Gert die Genehmigung, in dieser Ruine seine existential-ontologischen Aktionen zu veranstalten.
Das Plakat war fertig. In roter Farbe prangte auf goldenem Grund: Und kommen muß zum heilgen Ort das Wilde, von Enden fern, übt rauhbetastend den Wahn. 1991 / 5. 25. Aug. / Istrien, Sveti Petar u Šumi / Thema dieser existenzial-ontologischen Aktion ist das Gedicht Friedrich Hölderlins Friedensfeier.
Gert verschickte zweihundert Plakate an die deutschsprachigen Universitäten und die Presse. Für die Feuilletons legte er noch einen fingierten Artikel bei:
'Hölderlin, Trebetsch und die Slaven. So skurril es klingen mag, aber der Aktionskünstler Gert Trebetsch ist von seiner Mission, dass er den Jugoslawen Hölderlin vermitteln muss, absolut überzeugt. Fünfzehn Jahre hat er nun, der sein Unternehmen Kloster für moderne Kunst und Philosophie nennt, in Südeuropa (Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland) mit Freunden und Interessenten sein Wirkliches Gesamtkunstwerk der dortigen Bevölkerung gezeigt. Heuer, vom 5. bis 25. August, begibt er sich nach Jugoslawien, genauer gesagt nach Istrien in das altehrwürdige Kloster Sveti Petar u Šumi. Thema der Veranstaltung ist das Gedicht Friedensfeier von Friedrich Hölderlin.'
Die Veranstaltung wurde ein einziges Ineinander-gleiten von geschichtsträchtigem Flair, thematischer Brisanz, expressiver, moderner Choreographie und persönlicher Betroffenheit.
“Dieses desolate Kloster wird der Stammsitz meiner Visionen“, sprach Gert laut zu einem imaginären Gegen-über.
„Und wo willst du das dafür nötige Geld herneh-men?“ fragte ihn H.
„Da wird sich schon jemand finden“, sagte Gert halb im Ernst und halb im Spaß.
Henrietta, die treue Weggefährtin Gerts bei all seinen Unternehmungen, starb und er lernte Rebekka kennen. Da Rebekka eine ähnlich liberale Einstellung zu den Dingen der Welt hatte wie Henrietta und sich eindeutig gezeigt hatte, dass der Mythos Kloster für moderne Kunst und Philosophie nicht die erhoffte Resonanz für Gerts Visionen brachte, auch der Titel Akademie für moderne Kunst und Philosophie bewirkte nichts, suchte Gert einen neuen Namen für seine Unternehmungen. Plötzlich, bei einer Einkaufsfahrt las er ein Schild mit der Aufschrift: Zufahrt bis zur Baustelle gestattet. Das war es! Baustelle! Sein Unternehmen ist eine Baustelle. Endlich ist er seinen mittelalterlichen Tick mit dem Kloster los. Sein Unternehmen hieß ab jetzt: Baustelle für moderne Kunst und Philosophie. Er bestellte einen neuen Stempel und änderte auf den Prospekten und dem Briefkopf seine Adresse.
Die Zeit schritt voran und Gert war klar, dass er, wenn seine Visionen auch nur einen Pfifferling wert sein sollten, genauso wie die übrige Welt, eine Webseite ins Internet stellen musste. Wieder begannen die Überlegungen, welchen Namen er seinen Unterneh-mungen geben sollte. Baustelle, na gut. Aber moderne Kunst und Philosophie? Ist heute nicht alles modern? Und Kunst? Besteht Kunst heutigentags nicht fast ausschließlich aus dem in die Luft Plärren irgend-welchen Blödsinns? Und Philosophie? Herrje, ein zur falschen Zeit Geborener!
Die Welt lebt von den neuesten Nachrichten. Alles muss frisch sein. Frische Fische, auch wenn sie schon monatelang auf Eis liegen, frischer Kaffee, frischer Salat, frische Eier. Gibt es auch frische Gedanken? Ist nicht schon alles gedacht und gesagt? Wie frisch ist unser Denken? Das Denken über die Dinge der Welt, das Denken über den Umgang mit diesen Dingen, das Denken über den Tod? Alles Frische glänzt. Eine gesäuberte Badewanne, ein blankpolierter Kotflügel, die Splitter eines gerade zerbrochenen Glases. Auch Gedanken können glänzen. Frischer Glanz! Ein neuer Mythos!
Wir haben zeitgerafft gesehen, wie Mythen geboren werden, wie sie sich verändern, wie sie das Leben der Menschen bestimmen und wie sie sterben. Es begann mit Gruppe DA. Der Mythos mauserte sich zu RO-Exkursen und O-Aktionen. Dann sollte der Mythos des Klosters für moderne Kunst und Philosophie als alles überstrahlendes neues Existenzangebot seinen Sieges-zug antreten. Der Mythos mutierte zur Akademie für moderne Kunst und Philosophie und dann zur Baustelle für moderne Kunst und Philosophie. Nun haben wir den Frischen Glanz vor uns. Wie lange wird er frisch bleiben? Gert wird diesen Mythos ins Internet stellen. Er machte dazu einen Text, den er mit ein paar Fotos ins Internet setzte:
„Frischer Glanz“ ist ein poetischer Ausdruck für ein bewusstes Existieren im Unüblichen.
Fritz Schranz, Studium Mathematik, Physik,
Philosophie, ist der Begründer dieser Unternehmung.
Er hat in ca. 400 „Aktionen des Frischen Glanzes“ gezeigt, wie ein Existieren im Unüblichen eine Aufforderung des Parmenides gestaltet werden kann.
Frisch heißt, von nichts abhängig zu sein.
Keine Abhängigkeit von Geschichte, Religion, Ideologie oder stereotypen Angeboten der Gegenwartsgesellschaft.
Doch wie kann man sich ausklinken aus den Fesseln des Alltags, dem Überflutetwerden durch die Medien und dem
Chaos des Bewusstseins?
Für „frisch“ können wir auch sagen:
Neu, noch nicht dagewesen, unerhört, verblüffend, einmalig, kreativ.
Für „Glanz“: leuchtend, alles überstrahlend, optimale Wahrnehmung, Erfüllung, ständige Vollendung.
Das Planen, Ausführen und Erfülltwerden durch Aktionen, die ein wichtiges existentielles Thema
zum Ausdruck bringen,
macht aus dem Menschen ein Wesen,
das die ganze Welt in sich vereinigt.
Jeder wird Kreator, Besitzer und Verwalter
eines einmaligen Universums.
Der unübliche Umgang mit den Dingen der Welt geschieht durch Auswahl und Produktion von Texten, Erstellung von Szenerien, choreographisches Erleben des Aktionsthemas, Musik.
In der Weltgesellschaft brodelte es. Jeder fühlte sich plötzlich aufgerufen eine neue Form des Existierens ins Leben zu rufen. In Indien wurde die Stadt des Zukunftsmenschen gebaut. Auroville! Sie sollte wie ein Spiralnebel aussehen. Die Fotos waren grandios. Die Häuser und Gärten waren so gebaut, dass sie mit der Natur verschmolzen. Es gab Schulen, Brunnen und Gemeinschaftsküchen. Und dann das Matrimandir! Auf einem Foto sieht man vier riesige Gerüste in den Nachthimmel ragen. Es waren die Baustellen der Pfeiler des Matrimandirs. Aurobindo ist der Erfinder des Supramentalen. Er sagt:
"Kinder, was ihr bisher gemacht habt, ist psychisch oder spirituell. Nun aber kommt das ganz Andere. Das Supra! Die wirklich reine und höchste Wahrheit! Dafür leben wir zusammen und dafür bauen wir das Ma-trimandir."
Eine andere Kunde über das Zusammenleben von Menschen und den Umgang mit den Dingen kam aus dem Westen Amerikas. Soleri, ein Italiener, baut mitten in der Wüste eine Stadt der Zukunft. Die Energie für die Megapolis, die von riesigen Gärten umgeben ist, soll aus der Sonne gewonnen werden. Im Gegensatz zu Auroville, wo das Tun der Leute durch supramentale Meditation und die Verehrung des Meisters und der Mutter vorgegeben war, schien es in Megapolis niemanden zu geben, der die Feste des Menschen der Zukunft machen wollte. Soleri nennt sein Unternehmen Arcology.
Taizé ist das Werk von Roger Schütz. Man zieht am Eingang die Schuhe aus. Dann werden Gebete ge-sprochen und Lieder gesungen. Als Höhepunkt zündet man als symbolische Einheit mit Christus -gegenseitig Kerzen an und reicht ein Wollknäuel weiter. Zum Schluss streichelt Schütz noch ein Kind und das Häuflein Priester zieht wieder aus der Kirche.
Die Natur-, Öko- und Biofreunde fanden ihr großes Glück im nördlichen Schottland. Findhorn hieß das Zauberwort. Vierzigpfündige Kohlköpfe und zweieinhalb Meter hoher Rittersporn wachsen dort. Der Mensch spricht zur Natur und die Natur belohnt seine Aufmerksamkeit.
Etwas völlig anderes war aus Wien zu hören. Was Otto Mühl dort mit seiner Wohngemeinschaft machte, sprengte jeden Rahmen. Mühl fragte nicht, was das Tao ist, sondern pinkelte mit seinen Kumpanen auf nackte Frauen. Zur Rechtfertigung seines Unternehmens führte er Freud und Reich an. Die Menschen in Zweierbeziehungen nannte er Kleinfamilienmenschen und die freie Sexualität bekam den Namen Aktions-Analytischer-Orgasmus. In der Selbstdarstellung kann der Mensch den ihm anerzogenen Körperpanzer zerbrechen und ein neuer Mensch werden. Man hat keine Probleme mehr, arbeitet gemeinsam, zeugt gemeinsam Kinder und zieht sie gemeinsam auf. Da auch Geselligkeit erwünscht ist, erweitert man die Selbstdarstellung zur Gruppenselbstdarstellung und diese zum Gruppenselbstdarstellungstheater. Mühl lehnte es ab, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. Das Hirn, so sagte er, ist kein Organ für metaphysische Erkenntnisse. Daher ist es müßig, über den Sinn des Lebens nachzudenken. -
All diese Unternehmungen sind Mythen: Auroville, Arcology, Taizé, Findhorn, die Aktions-Analytische-Organisation.
Wir haben uns mitten in die Frage hineingearbeitet wie jedwede Kultur der Menschheitsgeschichte entstanden ist. Wir wissen, es ist die Evolution des Menschen zum sprechenden Primaten. Parallel zur Sprachfähigkeit entwickelte sich das Bewusstsein. Sprache und Mythos sind dasselbe. Ähnlich der Rückverfolgung der Entstehung des Kosmos zum Urknall können wir auch durch Rückverfolgung des Sprachgebrauchs an die Ursprünge unserer Kulturen gelangen.
Das Christentum ist beispielsweise nichts anderes als ein gewaltiger Mythos. Für Bonnke, dem Gründer des Mythos Christus für alle Nationen lautet das christliche Glaubensbekenntnis:
Wir glauben, dass die Bibel das von Gott inspirierte, einzig unfehlbare und souveräne Wort Gottes ist.
Wir glauben, dass es nur einen Gott gibt, der ewig ist und in drei Personen existiert: Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Heilige Geist.
Wir glauben an die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus, Seine jungfräuliche Geburt, Sein sündloses Leben, die Wunder, die durch Ihn vollbracht wurden, Seine Kreuzigung auf Golgotha, wo er für die Sünden der Menschheit starb, Seine Auferstehung, Sein Auffahren zur rechten Hand Gottes, Seine persönliche Rückkehr auf die Erde, um in Kraft und Herrlichkeit zu regieren, die segensreiche Hoffnung – die Entrückung der Gemeinde bei Christi Wiederkunft.
Wir glauben, dass das einzige Mittel zur Reinigung und Befreiung von Sünde die Buße ist und der Glaube an das Blut Jesu Christi, die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist zur persönlichen Errettung notwendig ist, das erlösende Werk Jesu Christi am Kreuz körperliche Heilung beinhaltet, die durch das Gebet des Glaubens empfangen wird, die Taufe im Heiligen Geist allen Gläubigen, die darum bitten, mit dem Begleitzeichen des „Redens in neuen Zungen“ gemäß Apostelgeschichte 2,4, gegeben wird.
Wir glauben an die heiligende Kraft des Heiligen Geistes, die jeden Christen dazu befähigt, ein heiliges Leben zu führen, die Auferstehung der Geretteten zum ewigen Leben und der Verlorenen zur ewigen Verdammnis.
Ähnlich wie dieses Glaubensbekenntnis lauten auch das nicänische und alle anderen christlichen Glaubensbekenntnisse. Aber ist das nicht purer Fundamentalismus? Wir wissen es, aber wir trauen es uns nicht zu sagen, weil uns das Christentum zu ängstlichen statt zu freien Menschen erzogen hat. Alle Religionsgemeinschaften verlangen von ihren Gläubigen, dass sie an die von ihnen verkündeten Mythen glauben. Jeder Mensch braucht einen Halt und alle diese Halte sind Mythen.
Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Alles, was die Natur macht, ist ein Phyein, ein Aufblühen und alles vom Menschen Gemachte ist ein Poiein, also Poesie. Alle Mythen sind Poesie. Der innerste Kern der Poesie ist der im Menschen virulente Drang, es dem Phyein gleich tun oder es
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Fritz 'Schranz
Lektorat: Anne Luthardt-Schranz
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2015
ISBN: 978-3-7368-8693-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Gottliebe und Anne,
die Treuesten der kleinen Gruppe
Foto des Buchdeckels
Fritz Schranz,
Der Wille zur Macht , Nietzsche-Festival
Copyright: Fritz Schranz