Cover

Titel

Der Grund, warum in unserer Gegenwartsgesellschaft

alles durcheinander gewirbelt wird, ist der,

dass die Menschen nicht mehr an

Religionen, Weltanschauungen,

politische Systeme und Ideologien glauben.

Sie wollen ausschließlich sic h selbst verwirklichen.

Und in der Tat:

Die Selbstbestimmung ist das Ziel der Evolution.

In der Trilogie ‚Von goldenen Träumen schwer‘

wird gezeigt,

wie ein solches Leben

durch Selbstbestimmung gelebt werden kann.

 

Fritz Schranz

 

1. Band: ‚Und voll mit wilden Rosen‘

2. Band: ‚Frischer Glanz‘

3. Band: ‚Anders als bisher‘

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto des Buchdeckels: Anne Luthardt-Schranz,

Spiel mit der Sonne (Hölderlin: Patmos).

Copyright aller Fotos: Fritz Schranz

 

 

 

Inhalt

 

 

 

 

An die frische Luft gesetzt

Dermanshausen

Fahrt in die Wüste

Das Panorama

Texte

Das Material

Aktions-Hymnen

 

 

 


 

Für Gottliebe und Anne,

der Treuesten der kleinen Gruppe

 

 

 

 

 

An die frische Luft gesetzt

 

 

Voilà. Da haben wir’s. Endlich ein klares Wort. Gert hat sein Leben im Kosmos als schwebendes Nichts verbracht. Was hat er verbrochen? Es gibt zwei Existenzverwirklichungspakete. Er hat das Christentum verraten und er hat eine neue Existenzmöglichkeit entdeckt. Das sind zwei gewaltige Brocken. Ist das im Einklang mit der Evolution? Ist das Verrat? Was ist Verrat? Man geht zur Schule und gerät ins Netz der Seelenfänger Gottes. Hat man Glück, wie Gert es hatte, darf man sehr nahe an den geistigen, ästhetischen und weltanschaulich beseligenden Verwirklichungsformen des religiösen Lebens teilnehmen. Aus diesen Fängen Gottes gibt es aber kein Entrinnen mehr.

Durch ein Intrigenspiel, in dem der Satz die Runde machte, dass Gert kein gläubiger Christ mehr sei, sondern jemand, der seine Einsatzbereitschaft mehr oder weniger aus den Schriften der Existenzphilosophen beziehe, wurde Cyrus genötigt, Gert aus seiner Gemeinde auszuschließen. Auf sich selbst gestellt saß er nun um Mitternacht vor einer Kirchenfassade auf seinem Fahrrad. Ein Fuß auf dem Pedal, den anderen auf dem Geländer, mit dem die Kirche umzäunt war. Nein, das war kein Verrat, das war ein Hinauswurf. Es muss also neben dem christlichen Gott noch einen anderen Gott geben, den Gott der Hinausgeworfenen. Gert hatte den ganzen Tag über versucht, Mitglieder der Gemeinde zu erreichen, um sie zu bitten, den Ausschluss rückgängig zu machen. Aber wie es Gott oder der Teufel wollte, traf er an diesem Tag niemanden an.

Vielleicht ist Henrietta zu Hause, dachte er, aber es war unmöglich, um diese Zeit bei ihr zu läuten. Einsam, allein, das war der neue Gott. Er ist jetzt dreiunddreißig Jahre alt, genauso alt wie Jesus, als ihn die Schächer im Garten Gethsemane gefangen nahmen. Aber ist er ein Gefangener? Genau genommen ist er jetzt frei. Keine Verpflichtungen mehr, keine Aufgaben, keine Kinder. Jetzt sieh‘ zu, wie du alleine weiterkommst. Man hat ihn zum Ungläubigen erklärt. Die Lieder, die er komponierte und mit den Leuten einstudierte, waren kein Lobpreis Gottes mehr, sondern nur noch Makulatur. Die Tänze, die er in den letzten Jahren mit der Gemeinde einübte und die dann auch an Ostern und Pfingsten stattfanden, hatten letztlich zur Folge, dass sich eine Meute von Spießbürgern in ihrem Existenzschlaf gestört fühlte.

Doch jetzt ist er im Niemandsland. Aber ist das nicht ein Wink der Evolution, dieses einsam Sein? Jeder Mensch ist eine Welt für sich. Genauso wie unser Kosmos im Vergleich mit seinen Paralleluni­versen seine Eigenständigkeit hat. Wenn das Für-sich-sein die oberste Prämisse aller irdischen Vorgänge ist, dann geschieht in diesen Augenblicken ein Prozess der radikalsten Umwandlungen, der gründlicher ist als alle Weisheiten Zarathustras. Niemand kann in das Hirn eines anderen Menschen blicken. Niemand kann durch fromme Sprüche die Gesinnung eines anderen Menschen ändern. Die Zugehörigkeit zur irdischen Gesellschaft wird aufge­hoben. Gert brauchte keine Religionszugehörigkeit mehr, er brauchte keine Mitgliedschaft in einer Partei und keine Tradition seiner Vorfah­ren.

Das alltägliche Leben ist ein Theater, es folgt eine Szene auf die andere. Ohne den Menschen gibt es keine Szenen. Der Planet Erde wird in erdgeschichtliche Epochen eingeteilt. Im Augenblick leben wir in einer für den Menschen günstigen Epoche. Die Sonne bewegt sich in einem Arm ihrer Galaxie, die frei von kosmischen Aktivitäten zu sein scheint. Das Hauptziel der modernen Astronomie ist, herauszufinden, ob es außerhalb unserer Erde noch andere Lebewesen gibt. Die Aliens, die Außerirdischen, das sind wir! Wir befinden uns ja gerade auf einer Weltraumreise und zwar in dem bequemsten uns vorstellbaren Raumschiff, nämlich der Erde. Wir sausen mit dreißigtausend Kilometer pro Sekunde im Fauteuil und einem Glas Rotwein durchs Universum.

Anderntags, nach der Schule, versuchte Gert Henrietta in ihrer Wohnung zu erreichen, aber sie war nicht da. Beim dritten Versuch kam jemand an die Türe.

„Ach, du bist es.“

„Ja, kann ich dich bitte mal sprechen?“

„Ist es wichtig?“

„Ja, schon.“

„Dann komm‘ herein.“

Henrietta stellte Salzgebäck und Sprudelwasser auf den Tisch.

„Also, wo drückt der Schuh?“

„Man hat mich aus der Gemeinde hinausgeschmissen.“

„Nein, das gibt es nicht. Du hast doch dort alles Mögliche gemacht.“

„Ja, gerade deswegen. Ich sei zu forsch vorgegangen, sagte Cyrus.“

„Forsch?“

„Ja, die Lieder mit dem Tritonus, die Tänze während des Gottesdienstes, das war den Leuten zu viel.“

„Zu viel, wenn etwas Lebendiges geschehen soll?“

Im Laufe der Zeit kam Gert dahinter, welchen Machenschaften er zum Opfer gefallen war. Die Gemeinde war ein wunderbares soziologisches Gebilde. Die Gemeindemitglieder waren aus allen Schichten der Bevölkerung. Jung und alt, Unzufrie­dene, Suchende und freudig Mitmachende. Es spielte keine Rolle, ob jemand katholisch, evange­lisch, Jude, Atheist oder Grenzgänger war. Doch wenn es um die Zugehörigkeit zur Kirche ging, war selbst Cyrus wie verblendet.

„Und was willst du jetzt machen?“ fragte mich Henrietta.

„Ich weiß es nicht.“

„Traust du dir zu, dass wir zusammen ein paar Tage wegfahren und du mir deine Situation schilderst?“

„Ja, sicher. Und wohin?“

„Nach Wackersberg, das ist bei Bad Tölz. Ich habe dort ein nettes Retiro und wir könnten dort in Ruhe die ganze Geschichte besprechen.“

„Ich bin gerade in einem Scheidungsprozess. Ich war fest entschlossen, mit Sylvia das ganze Leben zu verbringen, aber sie hatte einen neuen Freund gefunden und erwartet von ihm ein Kind.“

In ihrem Landhaus angekommen, forderte Henrietta Gert auf, ein Kaminfeuer anzumachen. Henrietta legte eine Mozartplatte auf.

„Bist du damit einverstanden?“ fragte sie. „Ich mache uns ein kleines Abendbrot.“

„Ja, natürlich. Weißt du, dieser Hinauswurf war mehr als ein Hinauswurf. Da ist man voll da, setzt sich mit allen Kräften für die Sache ein und dann wird man an die frische Luft gesetzt. Für mich ist das Christentum erledigt. Was soll dieses Preisen eines Gottes, den es gar nicht gibt? Der Jahwe-gedanke der Juden, die Allahfiktion des Islam und das Dreieinigkeitsgebilde der Christen sind alles, so wie es Feuerbach herausgefunden hat, vom Men­schen erfundene Hirnkon­strukte, um das Geheimnis der Unerklärbarkeit alles Seins zu erklären. Kannst du dir vorstellen, dass das Christentum nun endgül­tig ausgedient hat?“

„Ich habe da noch den Punkt Omega von Teilhard de Chardin und kenne den Pater Michels in Salzburg. Er ist der Leiter eines Internationalen For­schungszentrums. Soll ich da vielleicht einmal anfragen, ob er für dich noch eine Assistentenstelle frei hat?“

„O Gott, nein. Dann geht der ganze Zauber wieder von vorne los. Für mich ist es ein für allemal Schluss mit der Fata Morgana der Schriftgelehrten und der infantilen Wahrheitsverkündigung der Pfaf­fen.“

„Aber Moment mal, du hast mir doch erzählt, wie instruktiv und aufhellend dein exegetisches Studium gewesen ist.“

„Ja, das war es auch. Da wird in der ‚Theologie des Neuen Testaments‘ von Rudolf Bultmann klipp und klar gesagt, dass Jesus lediglich, wie andere auch, ein Wanderprediger war, der das Ende der Welt verkündete. Er war also ein Apokalyptiker. Er sagt: ‚Jetzt ist die Zeit gekommen! Die Gottes­herrschaft bricht herein. Das Ende ist da‘. – ‚Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja die Gottesherrschaft zu euch gelangt‘. – Ich habe das immer gut gefunden, sich so zu verhalten, als gehe morgen die Welt unter. Das ist im Grunde die richtige Voraussetzung der gesamten Existenz­philosophie. Es ist der von Kierkegaard ins Blickfeld gebrachte Augenblick. Aber dann gerät der Apoka­­lyp­tiker Jesus in den verhängnisvollen Wahn, dass dies alles nur durch den Glauben an seine Person geschieht. Jedenfalls sagen das alle seine Anhän­ger. Und was ist daraus geworden? Ein verheeren­der Personenkult. Jesus wurde zum Gott gemacht. Alles geschieht nur durch ihn. Alle Menschen sollen ihn imitieren. Das ist das größte Verdikt, das man über die Menschheit aussprechen kann. Wie soll da der Mensch noch zum ‚gottgewollten Einzelnen‘ wer­den?“

„Aber das hast du doch alles schon gewusst, als du dich dem Cyruskreis angeschlossen hast.“

„Nein. Ich bin nicht über den Glauben in den Cyruskreis gekommen, sondern über die Liturgie. In den Jahren, in denen der Cyruskreis entstanden ist, waren die Mitglieder ausschließlich damit beschäf­tigt, die vorgegebenen kirchlichen Feste neu zu gestalten. Alles in deutscher Sprache, den Kanon, die Gebete, die Akklamationen. Das Abendmahl mit einem Humpen, den Johannes Dumanski eigens dafür aus Silber gegossen hatte. Das Brot dadurch wieder zur Geltung gebracht, indem man die Hostie und selbst die sauerteiglosen Matzen abschaffte und durch normales Brot ersetzte. Und vor allem durch selbst ausgedachte Tänze zum gemeinsamen Mahl.“

„Da habt ihr aber ziemlich gewütet.“

„Das schon. Aber genau dadurch ist auch alles lockerer, verständiger und fröhlicher geworden. Mit einem Schlag war die ganze frömmelnde Stimmung verschwunden. Alles Symbolische wurde einfach weggelassen. Zum Beispiel die Fußwaschung am Gründonnerstag. Früher hatte man sich die Füße gereinigt, wenn man in ein Haus trat. Heute macht das kein Mensch mehr. Schade, dass du nie in Urfeld bei solchen Feiern dabei warst. Dann hättest du das alles selbst erfahren.“

„O, nein, mit so einer Masse Menschen hab‘ ich nie etwas anfangen können. Wie viele seid ihr denn da gewesen?“

„Achtzig bis hundert.“

„O Gott, das ist ja schon eine gewaltige Mas­se.“

„Tja, das Problem der Masse. Wenn zwei Milliarden Menschen auf der Welt das gleiche machen, das gleiche glauben und das gleiche denken sollen, dann ist das wohl die größte denk­bare Vergewaltigung des Menschen. Soziologisch gesehen war das in der Vergangenheit aber nie anders.“

„Und jetzt stehst du ganz alleine da.“

„Ich hab‘ ja dich.“

„Meine Güte, da hast du aber nichts anderes, als ein armes, planlos in der Welt herumstocherndes Würstchen.“

„Lieber ein armes, planlos herumstocherndes Würstchen in dieser Welt, als hundert Jungfrauen im Jenseits.“

Henrietta brachte Wurst, Käse, Brot und Wein und ich legte Holz im Kaminfeuer nach.

„Ich hoffe, dass du mir nicht verhungerst.“

„O, nein, das ist wunderbar. Für mich ist das jetzt eine Eucharistiefeier.“

„Eucharistiefeier – da rumort es aber noch ganz gewaltig in dir. – Aber sag doch mal, dass du da eine Entwicklung vorangetrieben hast, das kann doch nicht der Grund gewesen sein, warum man dir den Laufpass gegeben hat.“

„Natürlich nicht. Ich habe Cyrus vorgeschlagen eine oder zwei der vorgeschriebenen Lesungen wegzulassen und dafür einen modernen Text herzunehmen, zum Beispiel von Samuel Beckett. Wenn er gesagt hätte, dass das nicht geht, hätte ich das natürlich akzeptiert. Aber es wurde daraus gleich ein heftiges Tamtam gemacht. Ich glaube nicht mehr. Ich bin kein Christ mehr. Ich habe vor nichts mehr Respekt. Eine Frau­ Zins­bichler, die eine völlig andere Vorstellung von einer christlichen Gemeinde hatte und die alle Abstimmungen in der Gemeinde gegen mich verloren hatte, packte diese Gelegen­heit sofort am Schopf, warf sich an die Brust von Cyrus und verlangte unter Schluchzen mich aus der Gemeinde auszuschließen. ‚Du wirst sehen, Gert ist derjenige, der die ganze Gemeinde zerstören wird. Dieser Kerl wird vom Teufel getrieben‘. Dass sie es war, die vom Teufel getrieben wurde, kam ihr nicht in den Sinn. Nach ein paar Jahren hatte Frau Zinsbichler einen jungen Theologen kennen gelernt, der, so glaubte sie, eine bessere und modernere Theologie als Cyrus vertrat. Dieser Theologe und jetziger Professor Weimer ist Lehrstuhlinhaber der Theologie des Volkes Gottes an der Universität des Vatikans. Da Frau Zinsbichler mit Ratzinger, dem damaligen Papst, befreundet war, gelang es ihr, einen solchen über­flüs­sigen Lehrstuhl zu etablieren. Cäcilie Zinsbichler spielte im alltäglichen Ablauf des Gemeindelebens lediglich eine Nebenrolle. Sie spendete Geld für die Heizung des von den Gemeindemitgliedern erbauten Gemeindezentrums in Urfeld am Wal­chen­see. Ansonsten erschien sie entweder über­haupt nicht zu den Feiern oder kam zu spät und stand dann mit einer Stola um den Hals wie jemand, der sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen konnte, was da gerade geschah. Aber es geschah sehr viel. Im Christentum hat sich über Jahrtausende hinweg ein Vollzug der menschlichen Existenz gebildet, der jetzt durch die Gruppe Cyrus zum ersten Mal als wirklicher Lebensvollzug verstanden werden konnte. Frau Zinsbichler aber wollte etwas, wo sie ihre Kinder unterbringen konnte, wo sich jeder der katholischen Hierarchie bedingungslos zu unterwerfen habe und wo sie im Mittelpunkt der Aktivitäten steht. Doch die eigentliche Triebfeder ihres Handelns war die Vorstellung durch Gründung verschiedenster religi­ö­ser Vereine, Institutionen und Vortragsreihen den Schlüssel für eine Gesamtreform der Kirche gefunden zu haben. Dazu gehörte auch die Gründung von Wohngemeinschaften. Ungeachtet, dass es in der ganzen Welt bereits unzählige sogenannte Pfingstgemeinden gibt, suggerierte sie den Leuten, dass sie die Erste sei, die in unserer Zeit wieder das wahre Christentum entdeckt habe. Endlich konnte sie sich im Kreis ihrer Verehrer auf die Schulter klopfen und, der Erlösung sicher, entspannt Kaffee trinken und Erdbeerkuchen essen. Doch dadurch war ihr Hunger nach öffentlicher Anerkennung noch lange nicht gestillt. In ge­schichtsfälscherischer Unverschämtheit wurde den Leuten mitgeteilt, dass die Gründung des Cyruskreises vom Erzbischof von Paderborn, Herrn Degenhardt, vollzogen worden sei. Herr Degenhardt war kein einziges Mal bei einer Feier in Urfeld mit dabei. Aber da Frau Zinsbichler hierarchiehörig war, musste der Gründer ihrer Gemeinde ein Erzbischof gewesen sein. Solche Leute gehören, wie Nietzsche es ausdrückte, in die Kategorie der Hanswürste Gottes. Um die Bewunderung ihres Gotteswerkes einzuheimsen, baute sie eine Anerkennungslegende um die andere von sich auf. Während meiner ganzen Mitgliedsdauer im Cyruskreis wurde kein einziges Mal über das Verhältnis von Juden- und Christentum gesprochen. Und was behauptete sie? Sie behauptete, dass sie die Spaltung von Juden und Christen als einen Zustand empfindet, der unerträglich ist und dass sie dafür sorgen wird, dass dieser Zustand überwunden wird. Da sie ein paar Semester Psychologie gehört hatte und für Kriegsverwundete als Krankenpflegerin eigesetzt war, schrie sie laut, wie grässlich und ungerecht es in der Welt zugehe und dass sie auch in diesem Falle dafür sorgen werde, die Ungerechtigkeit auszurotten. Kurzum, sie legte sich ein Weltbild zurecht, das durch Gottes Ratschluss sie zu einer Heiligen machte, die dafür zu sorgen hat, dass alle Menschen in Wohngemeinschaften leben, jeder das tut, was sein Vorgesetzter von ihm verlangt, Juden und Christen eine Einheit bilden und wo es keine Ungerechtigkeit mehr gibt, weil Gott der Vater seinen Sohn geschickt hat, um durch seinen Kreuzestod alle Sünden der Welt zu tilgen. In Tansania hat sie sich mit Blick zur Kirche eine Grab­stätte ausgesucht, die schon jetzt mit Blumen und Kränzen vollgepackt ist.“

Henrietta zündete sich eine Zigarette an.

„Historisch gesehen wird das Christentum noch tausend Jahre weiter bestehen, bis es von einer anderen Erlösungsideologie abgelöst wird. In der gleichen Zeit werden auch alle anderen Reli­gionen verschwunden sein. In meinem Fall ist das alles von einer Sekunde zur anderen geschehen. Nur der Einzelne ist in der Lage dieses tausendjährige Siechtum existentiell zu überwinden.“

„Du hast mir erzählt, dass ihr neben euren Feiern auch Theaterstücke aufgeführt habt, dass ihr eine klassische Musikgruppe hattet, dass ihr gute Gespräche führtet und dass ihr gute Literatur vorgelesen habt. Das kann man eigentlich nicht besser machen.“

„Nicht ganz. Du hast ja gesehen, dass ich versuchte, moderne Texte in die Liturgie einzuführen.“

„Hast du meine Bibliothek schon gesehen?“

„Ja, ich habe mich umgeschaut. Du hast den Teilhard de Chardin, die aperspektive Welt des Jean Gebser, den Grund des Bewusstseins von Erich Neumann. Das ist doch schon etwas. Es ist nicht die Bibel allein, die beseligende Gefühle erzeugen kann. Die Bibel ist letztlich ein Buch wie jedes andere. Die Bibelfanatiker müssen sich Kritik gefallen lassen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Bibel eine Welt von vor zweitausend Jahren schildert und dass ihr Gottesbild eine Chimäre ist.“

„Schüttest du da nicht das Kind mit dem Bad aus?“

„Nein, im Gegenteil. Erst ein solches Wissen öffnet den Menschen Augen und Ohren für sein Existieren. Es kann alles weiter und größer werden. Diese Einstellung lässt sich auf alles anwenden. Auf die Geschichte, auf die Philosophie, auf jedwedes kulturelle Geschehen und auf einen selbst erarbei­teten inneren Standpunkt.“

„Vielleicht hast du Lust, mich morgen nach Salzburg zu begleiten. Ich habe dort im ‚Salzburger Hof‘ ein Treffen mit Pater Michels.“

„Ja, das geht. Ich habe morgen schulfrei.“

Das Treffen sollte um zehn Uhr stattfinden.

„Vielleicht treffen wir uns beim ‚Moser‘ wieder. Wir können dort dann zusammen Mittag essen.“

Ich spazierte zum ‚Moser‘ und bestellte mir ein Bier. Plötzlich stand Henrietta vor mir.

„Was, du bist schon wieder da?“

Sie bestellte eine Portion Kaffee und fing wie wild zu rauchen an.

„Na, was ist los?“

„Es ist nicht zu glauben, es ist nicht zu glauben. Dieser alte Bär hatte nichts Besseres zu tun, als mir seinen Kinderglauben aufzutischen. Eines steht fest, sagte er, mein Heini ist in den Himmel gekommen und wartet dort oben sehnlichst auf mich. Um ihn schweben die Erzengel und Gott streichelt ihm das Haar.“

„Hast du ihm nicht gesagt, dass du eine aufgeklärte Christin bist?“

„Wollte ich, aber er hat mich nicht zu Wort kommen lassen. Ihr seliger Mann wird einer der Ersten sein, der dem Fegefeuer entsteigen darf. Sein Aufstieg in den Himmel wird eine Apotheose sein wie die von Jesus und Maria. – Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten. Ich stand auf und ging.“

„Hier geht es schlicht und einfach um das Chri­stentum als Ganzes. Die Misere beginnt beim Got­tesbegriff. Eigentlich sollte es endlich klar sein, dass die Evolution des Menschen, seine Verwicklung in die Geschichte und sein jeweiliges persönliches Schicksal durch alles Mögliche bestimmt wird, nur nicht durch einen persönlichen Gott. Diesen Gott, der die Welt lenkt, die Menschen zu Königen und Kaisern kürt, gibt es nicht. Alle Götter der Welt, und dazu gehören auch der jüdische, der christliche und der mohammedanische Gott, sind, wie es Feuer­bach bereits formulierte, nichts anderes als Pro­dukte menschlicher Reflexionen, um eine Antwort auf die Unerklärbarkeit unseres Daseins zu geben. Wir wissen nicht, was ein Elektron ist. Wir haben keine Ahnung in welche kosmischen Prozesse das Menschengeschlecht in Zukunft geraten wird. Alle diese Fragen haben mit den von den Menschen geglaubten Göttern nichts zu tun. Endlich ist es Zeit Nietzsches Feststellung, ‚Gott ist tot‘, als Tatsache zu begreifen. Es gibt kein persönlich, überirdisch handelndes Wesen. Was uns vorantreibt, ist der in der Evolution uns zugebilligte Drang, existieren zu wollen. Wir werden geboren, wir existieren und wir werden sterben. An Stelle des traditionellen Gottesbegriffs tritt das Staunen über unser Dasein. Ich bin, weil ich staune! Ich staune, dass ich nichts erklären kann. So treten wir frisch und munter in eine Welt ohne einem von beweihräuchernden Gebetssklaven umflorten bärbeißigen Übervater zu begegnen. Und diese Welt glaubt, die Welt begrif­fen zu haben, wenn sie ihr Leben lang über ihre Unzulänglichkeit und Ungerechtigkeit meckert. Eine fast noch schlimmere Zerfleischung fügen sich die Christen zu, wenn sie die Bibel als von Gott ins­piriert, absolut wahr und durch kein Jota veränderbar erklären. Für sie ist alles andere an geistiger Äußerung ohne Wert. Glaube an die Bibel und du bist erlöst! Wie kann man angesichts der ständigen Veränderungen in der Welt in eine solche Starrheit verfallen? Alle Heiligen Schriften sind nicht heilig, sie sind alt. Das Imitieren solcher Schriften ist ein Krebsgeschwür. Nur Lebensmüde entscheiden sich zur Nachfolge Christi. Hier steht es geschrieben. Hier hast du in die Knie zu gehen und hier hast du, so wie es die Inquisiteure von den Angeklagten forderten, dein eigenes Denken zu begraben. Schwöre auf das Kreuz und die Bibel und du bist sündenfrei.“

„Ich glaube Pater Michels würde der Schlag treffen, wenn er das jetzt gehört hätte.“

„Im Übrigen wird ein ehrliches exegetisches Bemühen immer dazu führen, den historischen Sachverhalt zur Zeit Jesus synkretistisch zu bewerten und nicht als Offenbarung eines persönlich in der Geschichte wirkenden Gottes. Aus dem historisch-legendenhaften Material, den Bibelinterpretationen und den Geschichten der Heiligen hat sich ein riesiges Mythenkonglomerat gebildet. Die ganze Welt ist voll von Mythen. In Asien wimmelt es nur so von Mythen und die Antike macht da keine Ausnahme. Endlich sind wir in der Lage, auch das Christentum als geistigen Eintopf eines Mythen-Bündels zu begreifen. Jetzt hast auch du erlebt, was ein Mythenbündel ist. Das Jüngste Gericht, wenn alle Menschen wieder vom Tod auferstehen, die Gerechten, die nun ins Paradies geführt werden. Der Glückwunsch an Heini und an dich zum ewigen Leben. Das Rauschen der Engel, die um dieses Glück herumflattern. Die schnelle Läuterung Heinis im Fegefeuer, weil er doch eine so bewundernswerte Tat vollbracht hatte. Wenn du dann noch deine bevorstehende eigene Erlösung durch den Kreu­zestod Christi hinzunimmst, dann weißt du, was ein Mythenbündel ist.“

Der Ober brachte die bestellten Wiener Schnit­zel.

„Das war höchste Zeit“, sagte Henrietta, „mir wurde fast schon schwarz vor den Augen vor Hun­ger.“

„Aber dafür weißt du jetzt auch, was ein Mythos ist. Der Mythos beginnt mit Adam und Eva und mit Hilfe des masochistischen Archetyps wird der Mensch zum Leben im Sündenpfuhl erklärt. Doch Sünde ist eine Erfindung des Menschen. Sie, die ewig Gestrigen, wollen den Menschen Angst einjagen. Hat er dann genügend Angst, muss er natürlich davon befreit werden. Dazu nimmt man einen am römischen Gericht unschuldig Angeklagten, lässt die Meute jaulen ‚ans Kreuz mit ihm‘ und verkündet dann im Rausch des Irrsinns, dass durch diesen Tod alle Sünden der Welt hinweg genommen sind. So weit, so gut. Es hätte dieser Zaubertrick schnell wieder im Orkus der Geschichte verschwinden können, aber er war so verlockend, dass sich alsbald ganze Völkerschaften diesem grandiosen Spitzenproduckt der Mythenerfindung unterworfen haben. Erst wenn wir diese unfassbare Mythenverirrung in den Ofen geworfen haben, so wie wir es mit Zeus und seiner olympischen Gesellschaft gemacht haben, sind wir wirklich frei. Es gibt keine Erbsünde- Die Welt ist so, wie sie ist. Eine komikstripartige Zusammenfassung des christlichen Mythenbündels ist der von Josef Ratzinger am 28. Juni 2005 vom Vatikan herausgegebene Neue Katechismus der katholischen Kirche. Eine der perversesten Begründungen des Dogmas von der jungfräulichen Empfängnis Jesu wird durch die Stelle aus dem Lukasevangelium angeführt, wo es heißt: ‚Der Heilige Geist wird über dich kommen‘. Auf ähnliche Weise werden auch alle anderen sogenannten Glaubenswahrheiten aus den biblischen Texten heraus interpretiert. Versteh mich nicht falsch. Ich habe nicht, wie ein strohdürrer Positivist, die Absicht, das Mythische schlechtweg als Aberglaube zu abzutun. Ganz im Gegenteil. Aber wir müssen das Terrain so bearbeiten, dass das Fragen nach dem Mythos sich als Quelle für ein Existieren ohne das Christentum ergibt.“

„So langsam geht mir ein Licht auf. Aber wenn wir das ganze Christentum einfach wegnehmen, stehen wir dann nicht vor dem totalen Nichts?“

„Stimmt. Letztlich war es das auch, was in den letzten zwei Jahrhunderten die Geister der abendländischen Welt so aufgescheucht hatte und Nietzsche das Fass zum Überlaufen brachte.“

„Ja, du hast mir da schon öfter davon erzählt. Aber was sollen wir tun?“

„Ohne Mythos geht es nicht. Wir müssen einen neuen Mythos schaffen.“

„Wir kleinen Würstchen?“

„Du wirst schon sehen. Es gibt darauf eine ganz interessante Antwort.“

„Da bin ich aber gespannt.“

„Weil das Verschwinden des Christentums kein Pappenstiel ist, will ich dir noch ein paar Beispiele zu diesem Mythenbündel geben. Das geht schon bei den Babys los.“

Sie hatten ihre Schnitzel gegessen und der Ober brachte als Nachtisch ‚Salzburger Nockerl‘.

„Sie müssen unbedingt getauft werden.“

„Die Nockerl?“

„Die Babys. Was soll denn mit der Taufe eines Kleinkindes erreicht werden? Es soll ein für allemal gezeigt werden, dass durch die Stellvertretung der Eltern, die sagen, dass es dem Teufel widersagt, ab jetzt ein Leben lang ein Christ ist. Aber was geschieht in Wirklichkeit? Durch die Kindertaufe wird schlicht und einfach dem neuen Wunderwesen Mensch seine wichtigste Eigenschaft geraubt. Es ist die Selbstbestimmung und damit die Freiheit. Erst der erwachsene Mensch kann entscheiden, zu welcher Weltanschauung er sich bekennt. Durch die physischen und psychischen Gesetze wissen wir, dass der Aberglaube ein falscher Bewusstseins-Zustand ist und die überlieferten Mythen in das Reich der Fabeln gehören. Noch schlimmer als das Christentum treiben es die anderen Religionen mit den Kindern. Durch Beschneidung der Knaben und Geschlechtsverstümmelungen bei Mädchen wird dem neuen Wesen Mensch nicht nur die Entscheidungs-Freiheit genommen, sondern er ist sein Leben lang ein Stigmatisierter. Wir verurteilen die den Häftlingen eingebrannten KZ-Nummern, aber verstümmeln weiter unsere Babys. Das ekelhafteste Beispiel ist der von 14 Städten behauptete Besitz der Vorhaut Jesu Christi. Durch diese Misshand­lungen wird der Mensch seiner Würde beraubt. Bezeichnenderweise berufen sich die Anhänger solcher Praktiken auf Jahrtausende alte Traditionen. Sie sind die wirklichen Verräter am Leben. Alle diese Kindsmisshandler sind nichts anderes als Ehrabschneider. Warum schreitet da die UNO nicht ein?“

„Ich glaube, ist es jetzt genug. Du ver­dirbst mir noch die ganzen ‚Salzburger Nockerl‘.“

„Diese Religionsfanatiker haben noch einen letzten vergifteten Pfeil unter ihrer Kutte. Sie sagen: ‚Die Taufe ist unauslöschlich. Wer sie empfangen hat, bleibt auf ewige Zeit Christ‘. Ein raffinierter Spruch, aber ein existentieller Schwach­sinn. Alles, was der Mensch in seinem Leben erfahren hat, ist unauslöschlich. Ich werde immer daran denken, wie mir ein Lehrer eine Ohrfeige versetzte, obgleich ich in diesem Fall nicht die geringste Schuld hatte. – Lass‘ mich noch ein letztes Beispiel über die Vertraktheit des Christentums sagen.“

„Ja, gerne. Jetzt werden wir aber erst einmal zahlen. Dann auf der Autobahn kannst du mir dein letztes Beispiel erzählen.“

„So, was wolltest du mir noch sagen?“

„Das sogenannte Vermächtnis Jesu: Das Abendmahl, die heilige Messe der Katholiken, ist nichts anderes als ein gemeinsames Essen von Jesus mit seinen Jüngern. Man prostet sich zu, bringt Trinksprüche aus und behält den Abend als friedliches Beisammensein in guter Erinnerung. Das ist alles, was mythenfrei aus den überlieferten Texten herausgelesen werden kann. Die Vertreter des Christentums haben dann über die Jahrtau­sende hinweg dieses Abendessen zur Eucha­ristiefeier hochstilisiert. In Wirklichkeit ist jede Nahrungs- und Getränkeaufnahme eine Eucharistie-Feier. Alle Picknicks sind Eucharistiefeiern. Der Gipfel der Hyperstrophierung geschah durch Juliane von Lüttich. Juliane war so verknallt in den Apokalyptiker Jesu, dass sie das Fleisch Jesus in Form der Hostie nicht nur essen, sondern ihr ganzes Leben lang auch noch anbeten wollte. Sie organisierte Prozessionen, in der sie die Hostie über Berg und Tal tragen ließ. Urban IV. erhob diesen infantilen Brauch 1264 zum Festtag für die gesamte Christenheit. Die Menschen, die an Christus glauben, sollen sein Blut trinken und sein Fleisch essen und das alles nicht nur symbolisch, sondern durch den von den Hanswürsten Gottes erfundenen Transsubstantiationstrick. Hier ist Wein. Ich hebe die Hand, mache ein Kreuzzeichen und jetzt ist es das Blut Christi. Da ist eine Hostie. Ich nehme sie in die Hand, segne sie und sie ist das Fleisch Christi. – Ich trinke kein Blut und bin kein Men­schenfresser. Doch für die Leute ist das die größtmögliche heilige Handlung. Die gleiche Mythenspinnerei betreiben alle Ideologen. Sie packen eine Handvoll unreflektierter Begriffe, erklären sie zum Hintergrund allen Weltgeschehens und verlangen von allen andern, diesen Mischmasch als der Weisheit letzten Schluss zu verstehen. Das gilt für alle Religionen, für die Sozialisten, für die Politiker und für die Philosophen. Wir sind aber nicht auf der Welt, um die Mythen anderer auswendig zu lernen und zu verwirklichen. Das von uns propagierte andere Existieren besteht darin, dass wir das ganze Durcheinander unseres eigenen Innenlebens als Grund für ein neues Mythenverständnis hernehmen. Bisher war alles, was der Einzelne dachte, tat und als Meinung vertrat lediglich seine persönliche Meinung. Sie ist subjektiv, unwissenschaftlich, ichbezogen und für die Massenmeinung, den Mainstream, unbedeutend. Ab jetzt ist aber nur noch die Meinung des Einzelnen maßgebend. Dieser Mythos des Einzelnen wird jeden Tag durch das jeweilige Tagesgeschehen in Frage gestellt und durch neue Eindrücke und Überlegungen ergänzt. Jeder Mensch errichtet durch sein Leben einen Mythos. Letztendlich wird dieser Mythos zu einem gewaltigen Universum. Da jeder Mensch ein Mythenträger ist, gibt es in der gegenwärtigen Welt Milliarden von Mythengebilden. Mythen sind also wie Sterne. Es ist vergebliche Mühe, andere von seiner Wahrheit zu überzeugen. Um mit dem neuen Gefühl für den Mythos frei umgehen zu können, lassen wir nach nominalistischer Erkenntnis alle Begriffe zu, die zum Phänomen unseres Existierens gehören. Der neue Mythos ist dasselbe wie die Persönlichkeit, der Charakter, der Einzelne, die Seele, die Ausstrahlung, das Selbstbewusstsein, das Selbst, die eigene Meinung, die gelebte Unfassbarkeit des Daseins, die Erlösung, die Antwort auf die Frage, warum wir existieren. In der Stringtheorie werden für den Kosmos 10 hoch 500 Universen ausgerechnet, die spielend in der Lage sind, alle durch holographische Projektionen in uns angesammelten Informationen zu speichern. Haben wir also keine Angst. Unser Ich geht nicht verloren.“

„Eine neue Unsterblichkeit?“

„Wenn du so willst, ja.“

 

Ich hatte mit einigen Schülern meiner Mathematik­klassen einen Philosophiekreis gegründet. Man traf sich jeden Donnerstag um zwanzig Uhr in meiner Wohnung. Ich wollte den jungen Leuten zeigen, dass der menschliche Geist eine Entwicklung durchmacht, die über die verschiedensten Standpunkte hinweg sich immer näher an das Ichsein des Menschen heranwagt. Es begann mit Protagoras, der Mensch ist das Maß aller Dinge, und schließlich über die großartige Befreiungstat der Nominalisten zu Descartes cogito ergo sum, zu Kants autonomen Menschen, zu Nietzsches Übermensch und schließlich zu den Philosophen der Existenz, zu Heidegger und Sartre. Als ich der Runde mitteilte, dass jeder Einzelne Träger des gesamten Universums ist, brach Willi in Verzückung aus.

„Ja, dann brauch‘ ich mich ja nicht mehr als kleiner Knirps zwischen all den aus der Geschichte uns vorgesetzten Koryphäen zu fühlen.“

“Ganz recht. Du bist der Mittelpunkt deiner Welt.“

„Wirklich?“

„Sieh‘ dich doch um. Alles was du siehst, bist du. Natürlich gilt das auch für die andern. – Die Philosophiegeschichte ist ein Konglomerat der verschiedensten Denkmöglichkeiten. Es scheint so, als ob alles nach allen Seiten hin seine Richtigkeit hat. Doch der evolutive Drang ist stärker als alles Denken. Er ist es, der uns zeigt, was Natur ist. Kein Gott, keine leblose Materie, keine Rechthaberei und kein dogmatischer Sprachsalat. Ganz langsam zeigen sich die Knospen dieser Überlegungen. Das unbewusste Hindernis bei diesen Überlegungen war und ist noch heute, dass die Menschheit als Ganzes als eine von Gott gegebene Tatsache hinzunehmen ist und jedwede Philosophie die Aufgabe hat, dafür verbindliche Regeln und Gesetze zu erarbeiten. Bis zur Neuzeit hatte der Einzelne keine Möglichkeit, aus diesem unreflektierten Gemeinschaftsdenken auszusche­ren. Entweder du bist Christ oder ein Heide und vogelfrei. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich und gehört auf den Scheiterhaufen. Willst du zu einer Gemeinschaft gehören, musst du schwören ihr immer und ewig treu zu sein. Als Deutscher, als Lehrer in einem Lehrerkollegium, als Schüler in der Klasse, als Sozialist, als Humanist, als Familienmitglied. Weil dieses archetypische Phänomen kaum gesehen wird, haben wir immer Angst unterzugehen. Allein sind wir nichts wert, gemeinsam sind wir unbesiegbar. Aber ob wir zu einer Gemeinschaft gehören oder in einem undefinierbaren Zustand leben, der Tod ist allgegenwärtig. Was ist der Tod? Die Vergänglichkeit alles Lebendigen. Und alle Wirs sind, genau wie die Einzelnen, vergänglich. Die griechische Kultur, die sozialistische oder kapitalistische Weltanschauung, irgendein religiöser Glaube und der heutige Tag werden vergehen. Und bald wird sich die Sonne durch Aufblähen und Zusammensacken in einen kleinen Schwarzen Zwerg verwandeln. Aber bleiben wir beim Gedanken der Einheitsbildung. Die Evolution des Menschen ist so weit fortgeschritten, dass sich der Einzelne für sich als Einheit begreifen kann. Mag die Natur auch noch so viele Milliarden Menschen gebären, das angestrebte Einheitsverständnis verwirklicht sich nicht in den Milliarden Menschen, sondern im Einzelnen.“

„Puh, da wird mir aber ziemlich mulmig zu Mute“, sagte Marlene.

„Verständlich. Aber es geht einfach darum, das Ziel der Evolution zu erkennen und dann natürlich darum, wie wir auf Grund dieser Erkenntnis unser Leben ausrichten wollen.“

„Aber isolieren wir uns da nicht?“

„Ja, schon. Du bist in der großen Einsamkeit gelandet. Doch das Wissen um das Alleinsein hilft uns stärker bei unserer Selbsterfahrung als alle gemeinschaftlichen Kuschelangebote.“

„Sag‘ doch mal ein Beispiel.“

Willi war schon ganz ungeduldig.

„Du bist nicht mehr abhängig vom Schicksal der Umwelt. Lass‘ doch denen die Religion, die religiös sein wollen. Lass‘ sie sich einfach missio­narisch austoben. Du selbst hast damit nichts mehr zu tun.“

„Und ist das nicht auch missionarisch, wenn wir uns hier mit Philosophie vollstopfen?“

“Es kommt immer darauf an, welches Grundverständnis wir von uns haben. Das Beste ist, sich über das Dasein zu wundern. Dabei fallen uns die angelernten Verhaltensweisen wie Schuppen von den Augen. Alles erscheint dir neu und unverbraucht. ´Du hast dich ja ganz verändert, sagen die andern und: ‚Jetzt ist er ein Eigenbrötler gewor­den‘. Doch was die andern nicht wissen, ist dass du ab jetzt alles was geschieht selbst bestimmen kannst. Du bist kein Vertreter der Tradition, des Brauchtums und der weisen Ratschläge mehr. Ab jetzt entscheidest du, wie die Dinge um dich herum pos­tiert werden, welche Sätze du äußerst und welche du für dich behältst, weil du keinen Ärger erzeugen willst“

„Dann müssen wir aber über den ganzen Tag nachdenken.“

„Probier’s einfach mal.

 

 

 

 

Dermanshausen

 

 

Man wird in die Welt geworfen, nicht nur durch seine Eltern, sondern auch durch das Umfeld in dem man groß wird. Und dieses Geworfenwerden hat kein Ende. Man lernt Freunde kennen, findet eine Frau oder einen Mann, die Kinder wachsen heran und ehe man sich versieht, ist man Mitglied einer Kameradschaft oder eines Vereins, der sich für eine bessere Menschheit engagiert. Können diese soziologischen Umstände gesteuert werden? Streng genommen hatte ich nie die Wahl, mich so oder so zu entscheiden. Es packte mich und, schwupps, war es geschehen. Ich hatte Glück. Ein gottesfürchtiger Priester, zu allen Taten bereit, die ein solches Bekenntnis nach sich zieht, nahm mich bereitwillig in die von ihm gegründete Gemeinschaft auf und ich durfte erleben, wie sich, fast aus dem Nichts heraus, eine Gruppe von Menschen zusammenfand, die freudig und mit nie erlahmendem Reformeifer die Feste der katholischen Kirche feierte. Diese Hundertschaft bestand aus Halbgläubigen, Glaubenslosen, Suchenden, Grenzgängern, von der Welt Enttäuschten und Leuten, die neugierig fragten, was es sonst noch auf der Welt außer ihrer Verlorenheit gibt. Kurzum, ich war dabei, wie sich das wichtigste Kreativitäts-Geschehen des Menschen vollzog. Der Einzelne wird zum Gesellschaftsmitglied. Die Gesellschaft repräsentiert die Menschheit. Wer gemeinschaftlich gut vernetzt ist, hat für sein Leben ausgesorgt. Obwohl wir den Einzelnen als die wichtigste Substanz im Kosmos verstehen, brechen wir plötzlich eine Lanze für das Miteinander der Menschen. Solange wir diesen Widerspruch als Widerspruch empfinden, bleibt uns der Zugang zur Lösung dieses Rätsels versperrt. Der Einzelne, der seiner Selbst Bewusste, ist das Rückgrat unseres Existierens. Doch es gibt eben mehrere Menschen auf der Welt und mit denen gilt es, ein Fait accomplit zu treffen, das das Phänomen des Einzelnen mit dem, dass es andere Menschen gibt, zu einer Symbiose werden lässt. Durch dieses Fait accomplit muss der Einzelne in das Reich der Kulmination gelangen. Das alles habe ich bis zur Neige in der Gruppe bei Cyrus erfahren. Soll dieser Traum nicht zu Ende sein, muss also wieder in die Hände gespuckt und eine neue Gruppe ins Leben gerufen werden. Doch dieses Mal war ich mir im Klaren, was ein solches Unternehmen bedeutet.

Ich schrieb einen Rundbrief und schickte ihn an ca. fünfzig Personen. Am kommenden Sonntag sollte man sich bei mir in der Wohnung treffen und eine neue Gruppe auf den Weg bringen. Was sollte das geistige Konzept dieser Gruppe sein? Kein christliches Bekenntnis mehr, aber inspiriert von allen Schriftstellern, die eine brauchbare Aussage zum Geheimnis des Existierens anbieten. Ich hatte drei Stapel Bücher neben mir aufgebaut. Sollte das Gespräch ins Stocken geraten, wollte ich den Aphorismus 663 aus Nietzsches ‚Der Wille zur Macht‘ vortragen. Er lautet: ‚Alles Geschehen aus Absicht ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht‘. Natürlich würde dann sofort gefragt werden, was ein so kleines Grüppchen Menschen an einem Sonntagvormittag um zehn Uhr machen kann, um seine Macht zu mehren. Aber man hätte dann zumindest ein gutes Gesprächsthema. Es klingelte. Paul und Waldtraud kamen. Nun besteht die Gruppe schon aus vier Personen, dachte ich. Beim nächsten Klingeln erschien Liz.

„Schon Leute da?“ fragte sie spitzbübisch.

Dann ging es Schlag auf Schlag.

„Lass‘ doch die Türe einfach auf“, schlug Hannes vor.

Es kamen Klaus und Howey und hatten noch zwei Schulkameraden mitgebracht. Ein Oliver Behnsen stellte sich vor.

„Sie sind mit Hannes bekannt?“ fragte ich.

„Nein, nein. Information in der Akademie.“

„Professor Kirchner?“

„Ja, indirekt.“

Mit Behnsen kam ein Gibbi Klein.

„Auch indirekt?“

„Ne, ne, Gespräche im Stadtrat. Ich bin Kulturreferent.“

“Herzlich willkommen. Aber Sie wissen schon, dass heute nichts Besonderes passiert. Man muss sich erst einmal etablieren.“

Der Salon war voller Leute. Violetta brachte Bier und belegte Brote. Dann nahm man Platz und ich begann:

„Meine lieben Gäste, meine lieben Freunde“, hörte ich mich sagen, „ich möchte hiermit unser Treffen eröffnen und versuchen, ein paar Aspekte dieses Treffens zu beschreiben. Unsere Gäste können natürlich nicht den konkreten Anlass unseres Treffens wissen. Vielleicht darf ich für sie kurz zusammenfassen, was geschehen ist. Die meisten hier kennen sich gut. Sie waren lange Zeit Mitglieder des Cyrus-Kreises. Monsignore Cyrus ist ein engagierter katholischer Geistlicher. Sein Hauptinteresse besteht darin, mit Gleichgesinnten ein Christentum zu leben, das den Erfordernissen der heutigen Zeit entspricht. Alle, die bei diesen Versuchen dabei waren, haben sehr viel erlebt und gelernt.“ Zustimmendes Nicken. „Wie ihr selbst aber alle wisst, scheint eine Zeit gekommen zu sein, die nicht einfach dadurch bewältigt wird, dass man sagt, Christus ist der Erlöser der Welt. Wenn Nietzsche sagt, Gott ist tot, dann meint er, dass es kurzsichtig ist, sich für das, was man nicht erklären kann, einen Gott zu konstruieren oder dafür einen Menschen verantwortlich zu machen. Die Welt ist viel geheimnisvoller, als dass es damit getan ist, einfach zu glauben, da gibt es schon jemanden und der hat die Welt erlöst. Was heißt erlösen? Ist es die in uns tobende Drangsal? Was ist Drangsal? Die Angst vor dem Tod? Die Angst, es im

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8618-6

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