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Deadline

1.Kapitel

 

Ich weiß noch genau, dass ich alles weggeräumt hatte, bevor ich Feierabend machte. Wie immer ging ich noch ins Büro und verabschiedete mich, dann holte ich meine Sachen und verließ die Werkstatt. Draußen vor der Türe standen die Jungs und rauchten ihre Feierabendzigarette. Auch ihnen wünschte ich einen schönen Abend und machte mich dann auf den Weg nach Hause. Neuerdings musste ich immer nach Hause laufen, da meine Mutter der Meinung war, dass 'der Luxus einem nicht einfach so in den Schoß fällt'.

Der Weg zwischen Zuhause und Arbeit war einerseits anstrengend, andererseits entspannend. Ich hatte meine Ruhe, von allem, vor jedem. Morgens mit Inlineskates den Berg runter war bequem, einfach rollen lassen. Aber Nachmittags wieder rauf und dann noch die verdammten Dinger mitschleppen, weil rauf fahren einfach nicht mehr drin war, war echt scheiße.

Trotz allem hatte ich irgendwie Spaß daran. Wenigstens hier konnte ich die Skates noch irgendwie verwenden und später hatte ich wenigstens ein bisschen Zeit für mich.

Wie auch immer, der springende Punkt ist ein anderer.

Wie immer kam ich nachhause und sie saßen schon am Tisch. Es war ja nicht so, dass sie wusste das ich jeden Tag zur selben Zeit nachhause kam. Anstatt die zwei Minuten noch zu warten, nein, sie deckt trotzdem den Tisch und fängt mit ihm einfach an zu essen. Das war der erste Punkt, bei dem ich schon schlechte Laune entwickelte. Meistens beschwerte sie sich dann noch über irgendwelche Dinge, da war mein Tag dann schon so gut wie gelaufen. Wenn ich Glück hatte, kam meine bessere Hälfte vorbei, sie lenkte mich immer ab, von all dem um mich herum.

Dies war genau einer dieser Tage gewesen. Ich freute mich immer so dermaßen dass sie vorbei kam, hätte ich das irgendwem erzählt, man hätte mich vermutlich einfach nur komisch angesehen und wäre dann gegangen.

Ich erinnere mich noch daran, dass ich einen Film im Internet gesucht hatte. Einen den wir uns ansehen wollten, wenn sie kam. Plötzlich klingelte mein Handy. Natürlich war es sie. Ich wusste genau was sie sagen würde.

„Hey Leo, du ich hab doch keine Zeit, tut mir wirklich Leid.“

„Jo, okay. Kein Ding.“

Sie entschuldigte sich noch ein paar mal, was ich immer leichtfertig hin nahm. Was sie jedoch nicht wusste war, dass es mich doch irgendwie störte. Ich will nicht sagen das ich verletzt war, aber gejuckt hat es mich doch, auch wenn ich das nicht zu gab. Schließlich legten wir auf und ich feuerte das Handy aufs Bett. Erschöpft ließ ich den Kopf auf die Rückenlehne meines Stuhls sinken und atmete tief durch. Die ganze Zeit schon tat mir die Brust weh, mittlerweile zog sich der Schmerz bis in den Ellenbogen meines linken Arms. Langsam aber sicher bekam ich das Gefühl, dass die Zeit immer knapper wurde. Zum Glück hatte ich mir vor ein paar Tagen fest vorgenommen endlich zum Arzt zu gehen, die anderen sagten es zwar schon die ganze Zeit, aber nun war selbst ich der Meinung mal da hin zu gehen. Übermorgen.

Zu allem Überfluss stellten sich nun auch noch Kopfschmerzen ein. Ich hatte echt keinen Bock mir das auch noch an tun zu müssen, also ging ich runter und holte mir eine Kopfschmerztablette. Ohne Rücksicht auf Verluste schluckte ich das verdammte Ding und ging wieder hoch. Ziemlich fertig ließ ich mich einfach in meinen Stuhl fallen und klickte auf den Play-button um den Film zu starten, den ich schon mal vorher hatte laden lassen wollen.

Einfach nur da zu sitzen und auf den Bildschirm zu schauen tat richtig gut. Einfach nichts tun. Ich konnte spüren wie die Tablette wirkte. Die Kopfschmerzen ließen endlich wieder nach, ich konnte noch ein wenig mehr zur Ruhe kommen. Wenn ich mich so mit dem Kopf auf die Hand stützte, konnte ich fühlen wie heiß meine Wange war. Ich dachte erst, ich würde wieder krank werden. Jetzt weiß ich es besser.

Eine ganze Weile saß ich bewegungslos da und schaute den Film, bis ich schließlich ziemlich müde wurde. Anfangs fand ich das normal, doch ein paar Minuten später knallte es plötzlich in meiner Brust, es fühlte sich an, als hätte mir jemand direkt aufs Herz geschlagen, doch das hätte ich ja wohl gesehen. Ebenso schnell wie der Schlag gekommen war, blieb mir die Luft weg. Es war zwar nur einen halben Atemzug lang, dennoch genug um mich husten zu lassen. Sobald ich mich beruhigt hatte, schnappte ich nach Luft, atmete mehrfach tief ein um mich zu vergewissern, dass alles wieder so funktionierte wie es sollte. Tatsächlich war alles wieder normal, bis auf einen leicht erhöhten Pulsschlag, den ich der Aufregung zu verdanken hatte.

Kurzerhand hatte ich mich dazu entschlossen ins Bett zu gehen. Das war einfach zu viel für einen Tag. Ich kann mich daran erinnern mich gefühlt zu haben, als hätte ich drei Tage durch gearbeitet.

Ich hatte einfach den PC aus gemacht, war trotz allen Streits noch mal runter gegangen und hab gute Nacht gewünscht, nur um mich direkt darauf im Bett wieder zu finden. Die Kopfschmerzen waren wieder da und ich verfluchte sie dafür, wollte aber trotzdem keine weitere Schmerztablette nehmen.

Innerhalb von wenigen Minuten war ich soweit weg getreten, dass ich erschrak, wenn ich die Musik wieder wahr nahm die ich meistens an gemacht hatte um einschlafen zu können. Wie gewohnt kam meine Katze und legte sich auf meinem Rücken. Ihr schnurren entspannte meine Nerven, sodass ich irgendwann einfach ein schlief.

 

Als ich das nächste mal wach wurde, war es helllichter Tag. Als mir das dann richtig bewusst wurde, schreckte ich mit einem Schrei hoch. Mit noch einem Schrei bemerkte ich den Fremden, der in meinem Stuhl saß. Ich starrte ihn an, bis ich meine Worte wieder fand, er hingegen beobachtete mich einfach nur.

„Wer bist du? Und wer hat dich rein gelassen?“

Beinahe dachte ich, da Säße eine Puppe, doch dann bewegte er sich doch und ich erschrak schon wieder.

„Ich habe mich selber rein gelassen.“

„Und was ist mit der anderen Frage?“

„Das erfährst du noch früh genug.“

In dem Moment dachte ich, ich träume. Das war wie in einem dieser Filme, gleich würde er mich auf eine geheime Mission mitnehmen oder so was.

„Und was willst du hier?“

„Ich komme dich abholen.“

Was hatte ich gesagt?

„Aha und wohin geht’s wenn ich fragen darf?“

„Das erfährst du noch früh genug.“

Okay, jetzt kam ich mir etwas verarscht vor.

„Ziemlich wortkarg was?“

„Man du gehst mir auf den Senkel mit deiner Scheiß Fragerei. Da versucht man einen coolen Auftritt hin zu legen und es ist doch jedes mal dasselbe. Bei meinem Glück fängt sie auch gleich noch an zu heulen.“

Den letzten Satz sprach er eher zu sich selbst.

„Oho, doch nicht so wortkarg wie zuerst gedacht. Verrätst du mir denn was du von mir willst?“

„Verdammte Scheiße, sei endlich ruhig. Um es kurz zu fassen. Du bist tot.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

Jetzt war ich echt baff. So wie er das sagte, hätte ich es ihm beinahe wirklich geglaubt.

„Na klar. Deswegen sitze ich auch hier und rede mit dir. Weil ich tot bin.“

Nachsichtig seufzte mein ungebetener Gast und beobachtete mich kurz ergiebig, bevor er sich die Stirn rieb.

„Du glaubst das wirklich nicht, oder?“

„Nein, wieso sollte ich? Ich werde wach und dann sitzt du hier, wer immer du auch bist, und erzählst mir, ich wäre tot. Du musst zugeben, dass klingt etwas abwegig.“

„Ja und ich denke ich weiß wieso das alles hier so kommt. Normalerweise nehmen die, die hier landen, es einfach hin und wir können sie einfach von hier aus weiter leiten, aber du bist eine von denen. Du klammerst dich an dein Leben, so scheiße es auch gewesen ist.“

„Woher willst du wissen wie mein Leben gewesen ist? Jeder daher gelaufene kann so etwas behaupten, beweisen kann es keiner außer mir.“

Da dachte ich, ich hätte ihn dran gekriegt und dann legte er noch einen drauf.

„Ich weiß mehr als du vermutlich selbst noch über dich weißt. Leonie Caine, zwanzig Jahre alt. Am vierten Juni geboren. Mit drei in den Kindergarten gekommen, mit sechs in die Schule. In der dritten Klasse ist dein Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Während der Bauarbeiten ist er vom Gerüst zwanzig Meter in die tiefe gestürzt, er war auf der Stelle tot. Danach hat man dich in eine Therapiegruppe gesteckt, viel geholfen hat es nicht, aber in all den Jahren kannst du mittlerweile damit umgehen. Nach der vierten Klasse ging es für dich zur Realschule. Dort bist du auf Grund der Umstände völlig abgesackt und man hat dich auf eine Schule für schwer zu handhabende Kinder geschickt. Dort hast du niemanden an dich heran gelassen, das machte es nicht nur für dich, sondern auch für alle anderen noch schwerer. Deine Mutter selbst wusste irgendwann nicht mehr mit dir um zu gehen, sie hielt sich für unfähig, daraufhin hat sie sich von der nächstbesten Brücke fallen lassen. Sie hatte nicht mal den Mut, wirklich zu springen. Nach dieser Aktion warst du ein Wrack und du kamst in ein Heim. Soll ich weiter machen?“

Mit einem mal kam mir alles hoch. Ich war so wütend, frustriert und aufgelöst zugleich, ich sprang einfach aus dem Bett, auf den Typen zu und packte ihn mit beiden Händen am Kragen.

„Du hältst dich wohl für toll, weil du das alles weißt, was? Das zeugt nur davon, dass man Akten über mich hat, die du dir durchgelesen hast. Das beweist rein gar nichts!“

Mit einem Lächeln, dass ich jetzt schon nicht leiden konnte, sah er mich entschlossen an.

„Du willst das ich persönlicher werde? Okay, kannst du haben. Dein Vater war damals dein bester Freund. Ihr habt an den Wochenenden immer viel zusammen unternommen. Du warst ohnehin immer ein ruhiges Kind, daher war es dir egal, dass du nie Zeit für jemand anderen hattest. Jedes Wochenende war für dich wie Urlaub. Dein Vater hat dir alles gegeben was du wolltest, auch wenn es nicht viel war. Du hast die Zeit einfach genossen, ebenso wie er. Sonntags Abends seid ihr immer Eis essen gegangen, sogar im Winter. Das war bei euch eine Art Ritual, um das Wochenende ab zu schließen und auf das nächste zu warten. Deine Mutter hat jeden Sonntag auf ein neues gemeckert, er solle dich nicht so verwöhnen und trotzdem tat er es jedes Wochenende wieder.

Einmal seid ihr in einem Streichelzoo gewesen. Ihr hattet Spaß, bis eine der braunen Ziegen deine Tüte mit Futter aufriss. Dein Vater musste dich auf seinen Schultern heraus tragen, weil du panische Angst hattest. Jeder weitere Versuch von ihm, dich wieder in diesen Zoo herein zu bekommen ist gescheitert.

Ein anderes Mal...“

„Ist ja gut! Es reicht! Ich weiß nicht woher du das alles weißt, aber das ist nicht normal.“

Mit einem Ruck stieß ich ihn zurück in meinen Stuhl und ließ mich zurück auf mein Bett fallen.

„Es ist wie ein offenes Buch. Alle Erinnerungen die dich oder dein Leben betreffen können wir ungehindert aus deiner Seele lesen. Ist nicht nur bei dir so, keine Sorge.“

Das hier war alles nur ein beschissener Traum, anders konnte es gar nicht sein. Gleich würde ich aufwachen, ich musste nur warten.

Stumm starrte ich zur Decke hoch, wartete darauf, dass die Zeit verging, bis schließlich unten die Haustüre ging. Meinem Gast entfuhr ein kurzes „Oh.“, welches ich geflissentlich ignorierte und aufsprang. Schneller als jeder andere war ich die Treppe runter gestürmt und eilte ins Wohnzimmer, wo ich meine Stiefeltern und meine beste Freundin vorfand. Alle sahen sie zutiefst aufgelöst aus. Meiner Mum liefen Tränen über das Gesicht, sie hielt Jess im Arm, die noch viel schlimmer aussah als sie. Ihre Augen leuchteten knallrot, sie waren geschwollen und immer noch liefen ihr Ströme die Wangen hinab. Mein Dad saß ihnen mit ausdruckslosem Gesicht gegenüber und starrte nur ins Leere.

Vorsichtig ging ich auf sie zu, wollte sie trösten, aber irgendetwas stimmte nicht.

„Was ist denn hier los? Ist irgendwer gestorben?“

Bei meinen eigenen Worten kam ich mir irgendwie doof vor, auch wenn ich versuchte nicht daran zu glauben was ein daher gelaufener Einbrecher sagte.

„Sie hören dich nicht. Aber ich antworte dir gerne nochmal auf deine Frage. DU bist gestorben. Oder zumindest so gut wie.“

„Was soll das heißen? Verdammte Scheiße wenn ich dir schon glauben soll, dann erklär mir das gefälligst!“

Mit Schwung drehte ich mich um und packte ihn wieder am Kragen, diesmal war ich echt sauer.

„Du wirst ganz schön schnell handgreiflich.“

„Tja, du wirst ja wissen wieso. Und jetzt fang an zu erklären sonst passiert was.“

Mit einer fließenden Bewegung hatte er meine Handgelenke gepackt und sie mir auf dem Rücken zusammengebunden.

„Du nervst.“

„Das liegt in meiner Natur.“

Ohne eine ersichtliche Vorwarnung drehte ich mich wieder zu ihm um und trat nach ihm, doch auch das parierte er, indem er mir einfach den Fuß fest hielt.

„Hör endlich auf zu nerven verdammt!“

„Ich denk gar nicht dran!“

Mit einem Ruck befreite ich meinen Fuß und trat direkt wieder zu, wieder parierte er und warf mich dann zu Boden. Mit einem lauten Knall schlug ich mit dem Kinn auf den Fliesen vor dem Kamin auf und musste erschreckend feststellen, dass das ganz schön weh getan hatte.

„Blöder Dreckskerl! Das tat weh!“

„Ich hab dich vorgewarnt.“

„Zu sagen, dass ich aufhören soll zu nerven kannst du doch nicht ernsthaft als vorgewarnt bezeichnen. Du hast doch ne Schraube locker!“

„Wenigstens hab ich noch Schrauben, du nicht mehr. Jetzt mach es mir nicht so schwer und gib endlich Ruhe. Alles wäre schön einfach gewesen, wenn du dich nicht so an das alles hier geklammert hättest. Wenn du einfach gegangen wärst, so wie du es zuerst getan hast, wäre alles friedlich. Aber du musstest dich ja zurück holen lassen. Es war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Deine Ziehmutter hat dich heute Morgen gefunden, als du nicht zur Arbeit aufgestanden bist. Du warst schon tot, dein Herz hatte ausgesetzt. Sie hat den Notarzt gerufen und als der eintraf sagte er, du seist schon tot. Sie haben dich sofort in einen Krankenwagen gepackt und alles mögliche versucht, auf dem Weg ins Krankenhaus hast du immer wieder Anstalten gemacht, hast ihnen quasi einen Wink gegeben nicht auf zu geben. Im Krankenhaus haben sie dann die großen Geschütze aufgefahren und da bist du blöde Kuh dann einfach zurück gekommen. Das war der Moment vorhin, in dem du wach geworden bist. Deinen Körper haben sie zwar mitgenommen, aber du bist immer noch hier. So gesehen blockiert also eine leere Hülle eins der Krankenbetten, welches ein anderer dringender braucht als du. Ihr nennt das Koma, bei uns heißt das Spaltung von Körper und Seele. Wie du weißt schaffen es manche zurück, dennoch ist es unter den Umständen wie sie bei dir herrschen, ziemlich schwer. Bei dir würde ich fast sagen, du bist eine der Kandidaten, die es schaffen könnte, aber es ist eine Frage der Entscheidung. Ich schätze du weißt was dich erwarten könnte, wenn du wieder 'aufwachst'.“

Natürlich war mir das bewusst. Lähmung, Schäden am Gehirn und was sonst alles dazu gehören konnte.

„Schätze, wenn ich zurück gehe, kann man eh nichts mehr mit mir anfangen. Wenn ich wirklich so lange schon weg war.“

„Seh ich wohl auch so. es ist für alle leichter, wenn du einfach verschwindest.“

Immer noch am Boden liegend, drehte ich mich um und sah ihn böse an.

„Das hättest du gerne. Rein aus Prinzip lass ich mir Zeit mit der Entscheidung, nur um dir weiter auf den Sack gehen zu können.“

„Wieso hab ich mir so was gedacht?“

„Weil du in meinem Kopf rum spukst und meine Art kennst und weil du selber Schuld bist. Wie du mir, so ich dir. Eigentor würde ich sagen.“

Freudig beobachtete ich, wie sich sein Gesicht zu einer verzerrten Grimasse verzog, trotzdem spiegelte sich die Einsicht an seinen eigenen Fehler. Punkt für mich.

„Nennst du mir einen Namen, mit dem ich dich anreden kann, oder reicht dir Depp? Nein warte, blödes Arschloch ist besser.“

„Es reicht wenn du 'großer Meister' zu mir sagst. Oder Samuel reicht auch.“

„Sehr gut Blödmann, gibst du mir jetzt meine Bewegungsfreiheit wieder?“

„Wieso sollte ich? Du bist doch so cool und tough, kannst du das da nicht selber?“

„Arschloch.“

Da ich eh schon auf dem Boden lag, stieg ich mit den Beinen durch die zusammengebundenen Arme, sodass ich die Hände nun vor dem Körper hatte und zerrte dann mit den Zähnen an dem Seil. Sehr fest war es nicht, es war beinahe leicht den Knoten zu öffnen. Sobald sich die Schlaufe weit genug geöffnet hatte, schlüpfte ich heraus, warf es beiseite und rieb mir kurz die Handgelenke. Abschätzend sah ich zu ihm herüber, wurde dann aber in meinem Gedankengang gleich unterbrochen.

„Wenn du wieder vor hast nach mir zu treten, lass es lieber. Oder hast du vor, weiter Erdkunde zu betreiben?“

„Nein.“

Der Gedanke nochmal Kaminasche zu lutschen war nicht sehr verlockend, auch wenn es der, der Gegenwehr umso mehr war. Schließlich ließ ich es doch bleiben und ging langsam rüber zur Couch. Der Anblick der drei rief mir wieder ins Gedächtnis, wie ernst die Lage eigentlich war. Vorsichtig ging ich vor Jess auf die Knie, setzte mich auf meine Hacken und legte meine Hände auf ihre Knie. Es tat weh sie alle so zu sehen, wobei ich es von meinen Pflegeeltern nicht wirklich erwartet hatte. Ich hatte ihnen so viel Ärger gemacht und jetzt trauerten sie trotzdem um mich.

„Wenn ich mich dafür entscheiden würde zurück zu gehen und das Risiko auf mich zu nehmen. Was müsste ich machen?“

„Gleiche Antwort wie immer. Das wirst du noch früh genug erfahren und bevor du jetzt wieder an die Decke gehst. Das wirst du wirklich, dabei kann ich dir nicht helfen. Jeder findet da seinen eigenen Weg und eigentlich triffst du keine Entscheidung diesbezüglich. Wenn der Zeitpunkt kommt, weißt du einfach ob du zurück gehst oder nicht.“

Etwas stutzig dachte ich kurz darüber nach und musste dann Einspruch erheben.

„Wenn ich da kein Mitspracherecht habe, wieso klärst du mich dann über die Risiken auf? Das ergibt keinen Sinn.“

„Erklär das nicht mir, ich hab mir die Regeln nicht ausgedacht. Wir sollen euch lediglich darüber informieren, angeblich sollt ihr den Lauf beeinflussen können. Ob das stimmt oder nicht kann ich dir allerdings nicht sagen.“

Selbst der Tod hatte unfaire Spielregeln. Langsam fragte ich mich wirklich, ob überhaupt irgendwo etwas fair war.

Schweren Herzens kämpfte ich mich auf die Beine, bei diesem Anblick spürte ich wie Tränen in mir aufstiegen, trotzdem kamen keine, dass machte das Gefühl umso schlimmer. Vorsichtig legte ich Jessica eine Hand an die Wange, wollte ihr die Tränen fort wischen, doch es ging nicht. Stattdessen tat sie es selber, sie legte die Hand an die Wange die ich berührt hatte und schloss sie dann, als wollte sie nach der meinen greifen. Mein Blick wanderte von ihr zu dem Typen und dann wieder zurück zu ihr.

„Spürt sie das?“

„Offensichtlich. Wobei sie es nicht sollte. Eure Bindung scheint sehr stark zu sein, auch jetzt noch. Das kommt schon mal vor, auch wenn es selten ist. Ich lehne mich jetzt mal sehr weit aus dem Fenster und behaupte, dass sie ein Grund ist, wieso du noch hier bist.“

Nachdenklich beobachtete ich sie eine Weile. Wenn ich jetzt so darüber nach dachte, hatte sie mir wirklich viel bedeutet. Zu allen Zeiten hatte sie zu mir gestanden. Sie hatte mich so akzeptiert wie ich war und das war wirklich eine Meisterleistung, so verkorkst wie ich war. Dafür war ich ihr mehr als dankbar. In diesem Moment bereute ich es mehr als alles andere, ihr das nie so gesagt zu haben. Wenn ich je wieder unter den Lebenden weilen und dazu im Stande sein sollte, würde ich das nachholen und das nicht nur einmal.

„Was mache ich jetzt am besten? Gibt es irgendetwas bestimmtes was ich tun muss?“

„Nur das, was du tun willst. Es steht dir alles offen, hier ist fast alles möglich.“

„Ich denke es hat keinen Sinn wenn ich sage, dass ich raus und frische Luft schnappen will. Ich spüre, dass das Herz nicht schlägt, also werde ich wohl keinen Sauerstoff brauchen. Trotzdem will ich raus, geht das? Oder bin ich hier an das Haus gebunden?“

Ich wusste nicht wieso, aber auf diese Frage musste er lachen.

„Wieso solltest du hier gebunden sein? Das ist die dümmste Frage seit langem.“

„Tut mir Leid, ich wusste nicht, dass das so lustig ist. Ich bin grade mal seit einer Stunde... hier? Kann ich das so sagen?“

„Ja.“

„Ich bin grade seit einer guten Stunde hier, woher soll ich das also wissen? Idiot.“

Das brachte mir wieder einen dieser Blicke ein, die ich nicht leiden konnte. Gleichzeitig dumm und nachsichtig und dabei immer schön lächeln. Davon bekam ich Brechreiz.

„Natürlich kannst du raus. Wie gesagt, dir stehen alle Türen offen. Im übertragenen Sinne versteht sich.“

Bei dem Stichwort Tür, ging mein Blick direkt in Richtung der Haustüre.

„Ich schätze es würde auffallen wenn die Türe geht aber es keiner gewesen sein kann, richtig? Wie kommen wir raus?“

„Richtig. Du kannst hier nichts bewegen, was zur anderen Seite gehört. Hierbei gehst du einfach hindurch, als wäre sie gar nicht da. Probiere es aus, es ist Kinderleicht. Vorher solltest du dich allerdings umziehen. Trotz allem nimmst du die meisten Dinge noch genauso wahr, so wie den Schmerz eben. Das schließt also auch Temperaturen ein.“

Ein Blick an mir herab zeigte Schlafshorts und ein Top. Nicht grade das ideale um raus zu gehen, da hatte er Recht. Und auch wenn es eh keiner sah, ich wollte nicht unbedingt in Schlafsachen draußen rum rennen.

„Und wie zieh ich mich um, wenn ich nichts anfassen kann?“

„Du tust es einfach. Pass auf.“

Vom einen Moment auf den anderen, trug er anstatt des Hemds und der Jeans, einen enganliegenden, schwarzen Pullover und eine dazu passende schwarze Hose, ebenso wie schwarze Schuhe. Ich war total perplex und hatte nicht die blasseste Ahnung, wie er das gemacht hatte. Ich muss ein ziemlich komisches Gesicht gemacht haben, denn er seufzte nur und deutete dann mit einer Hand auf mich.

„Da. Kostet dieses mal nichts extra.“

Verblüfft sah ich erneut an mir runter, nur das ich jetzt einen dunklen Rollkragenpullover und darüber eine Daunenweste trug, dazu eine nicht allzu enge Jeans und bequeme Turnschuhe.

„Nicht ganz mein Style, aber trotzdem danke.“

„Sieht trotzdem gut aus und keine Ursache. Wie gesagt, kostet nichts extra und jetzt komm endlich.“

Ich hätte ihm auch eine geklebt, wenn er dafür etwas verlangt hätte.

Zögernd folgte ich ihm, warf im Türrahmen noch mal einen, tief im inneren schmerzenden, Blick zurück zu den anderen und blieb schließlich neben ihm vor der Haustüre stehen.

„Und nun?“

„Wie gesagt, einfach durch gehen.“

Ohne weiter auch nur irgendetwas zu erklären ging er auf die Türe zu und glitt einfach durch sie hindurch. Ich wusste genau das ich große Augen machte und das mir der Mund offen stand. Einfach hindurch gehen klang anfangs lustig, wenn man es dann jetzt so sah, war es einfach nur merkwürdig. Jetzt wusste ich zumindest wie er rein gekommen war.

Skeptisch inspizierte ich die Türe, in der Hoffnung auf irgendeinen versteckten Trick zu stoßen, aber bevor ich auch nur irgendetwas tun konnte, packte mich eine Hand am Handgelenk und zog mich durch die Tür. Etwas unbeholfen stolperte ich daher und stand plötzlich draußen auf der Straße.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Kapitel

 

Auf der Straße herrschte reges treiben, alles war wie immer. Es war ein komisches Gefühl, ich dachte alle Augen seien auf mich gerichtet, dabei sah mich gar niemand. Die Tatsache, dass mich keiner sah, zog mich auf eine komische Art und weise runter, obwohl es noch nie anders gewesen war.

„Gibt es irgendeine Möglichkeit hier Motorrad zu fahren?“

Irgendwie brachte mir diese Frage einen komischen Blick ein.

„Klar. Wir können zwar nichts von der anderen Seite benutzen, aber das was hier ist, können wir frei verwenden.“

Vage deutete der Fremde auf ein Motorrad, welches am Straßenrand stand. Dabei war ich mir sicher, dass es grade noch nicht da gestanden hatte. Zudem war es die gleiche Maschine, die eigentlich in unserer Garage stehen sollte.

„Ich dachte wir können nichts von der anderen Seite benutzen?“

„Das ist nicht deins, es sieht nur genauso aus.“

Da hatte er Recht, es sah genauso aus. Sogar der lange Kratzer an der rechten Seite war dort.

Zielstrebig ging ich auf die Maschine zu und setzte den Helm auf, der am Lenker hing.

„Und wo willst du jetzt hin?“

Einen Moment dachte ich über die Frage nach und zuckte dann mit den Schultern.

„Erstmal an einen ruhigen Ort. Es ist mehr als offensichtlich, dass sich eine Menge verändert hat. Ich muss erst mal über alles nachdenken, bevor ich überlege was ich als nächstes mache.“

Selbstsicher setzte ich mich auf das schwarze Motorrad und startete den Motor. Es klang sogar genau wie meins.

Ohne weiter zu warten fuhr ich vom Straßenrand ab und fädelte mich in den Verkehr ein. Ich wusste zwar nicht, ob ich durch den Verkehr ging wie durch die Haustüre, aber trotzdem wich ich vorsichtshalber den Autos aus.

Mein erster Gedanke war, erst mal raus aus der Stadt. Bei all denen, die einfach an mit vorbei zogen, litten meine Nerven erheblich. Es war eines, einfach übergangen zu werden, aber etwas anderes, wirklich nicht da zu sein.

Außerhalb der Stadt zog es mich sofort ins Naturschutzgebiet, welches sich ein paar Kilometer entfernt von aller Zivilisation befand. Ich hatte praktisch mein halbes Leben dort verbracht. Es war traumhaft ruhig, es gab niemanden, der einem auf den Keks ging und was das wichtigste war: Man konnte einfach abschalten.

Wie schon tausend Male zuvor, stellte ich das Motorrad auf dem kleinen, abgelegenen Wandererparkplatz ab und folgte dem kleinen Weg, tiefer in den Wald hinein. Ich achtete genau darauf wo ich her lief, aus Angst, den selbst getrampelten Pfad zu übersehen. Ich war schon eine Weile nicht mehr dort gewesen und auf die Gefahr hin, daran vorbei zu laufen, gab ich lieber doppelt acht.

Schlussendlich war der Pfad dann doch nicht zu übersehen. Knapp zehn Minuten wanderte ich zwischen Büschen und Bäumen hindurch, bis ich schließlich an einem kleinen Bachufer ankam. Meine provisorische Bank, die ich vor Jahren selber aufgestellt hatte, moderte einfach vor sich her. Mich störte es nicht, ich ignorierte das Moos einfach und setzte mich hin.

Mit dem Kopf in die Hände gestützt starrte ich auf die Wasseroberfläche, beobachtete die Tiere darin bei ihrem stetigen treiben und verlor mich beinahe dabei.

Irgendwie ging es mir nicht in den Kopf, dass ich wirklich tot sein sollte. Ich wollte und konnte es irgendwie nicht glauben. Ich hatte mir noch nie Gedanken dazu gemacht, was nach dem Tod kam, aber das hier schien mir doch ziemlich widersinnig. Es konnte doch einfach nur ein Traum sein, anders ging es gar nicht. Aber wieso wachte ich dann nicht auf?

Vielleicht lag ich auch wirklich im Koma und träumte einfach nur einen langen Traum. Es hieß ja immer wieder, dass das Unterbewusstsein die Dinge aufnahm, bevor man es selber wusste. Vermutlich verarbeitete ich diese Tatsache einfach in diesem Traum. Wenn es so war, konnte ich wirklich nur abwarten. Allerdings, war es dann normal, dass ich an sich bei vollem Bewusstsein war, auch wenn es nur hier war? Träume konnte man nicht beeinflussen, auch wenn manche das behaupteten.

Und was war mit den Menschen aus meinem Leben? Alle die, die ich gekannt hatte und die, die mich gekannt hatten. Alle denen, denen ich etwas bedeutet hatte. Es nagte so unglaublich stark an mir, dass sie jetzt alle litten. Ich hatte ihnen nie zur Last fallen wollen und nun hatte ich ihnen gleich das schwerste auf gebürgt. Es war alles so schnell gegangen, es hatte wohl niemand, nicht einmal ich selbst, damit gerechnet, dass ich nicht mehr aufwachen würde. Und selbst wenn es jemand gewusst hätte, was hätte das geändert? An Tatsachen kann man nichts ändern, oder?

Einerseits freute ich mich ja, dass ich ihnen doch nicht so egal war. Aber das erst so etwas passieren musste, damit sie es auch zeigten, machte es nicht besser. Im Gegenteil, irgendwie machte es mich sauer. Irgendwie kam ich mir verarscht vor, hätten sie gleich gezeigt, das ich ihnen nicht egal war, wäre vermutlich alles anders gelaufen.

„Sei ihnen nicht böse deswegen.“

Erschrocken drehte ich mich ruckartig zu Ihm um.

„Wie hast du mich gefunden? Spionierst du mir etwa nach? Und verschwinde aus meinem Kopf.“

„Ich bin für dich verantwortlich, solange du dich hier aufhältst, da weiß ich wo du bist. Darf ich mich setzen?“

Er konnte ja richtig nett sein und höflich fragen. Ich wusste, dass ich ein verwundertes Gesicht deswegen machte. Wieso er mich dafür allerdings so belächelte, wusste ich nicht.

Mit einem Schulterzucken rückte ich ein Stück zur Seite und las dabei ein paar Steine vom Boden auf. Einen nach dem anderen warf ich ins Wasser, während er zu mir rüber kam, sich setzte und mich beobachtete.

„Ich habe wohl allen Grund, es ihnen zu verübeln. Jess nicht, das stimmt. Aber Maik und Vanessa. Die ganze Zeit über habe ich geglaubt, dass ich ihnen nichts mehr bedeute und jetzt, wo ich weg bin, heulen sie sich die Augen aus. Das ist nicht fair.“

„Sie wussten einfach nicht mehr mit dir um zu gehen. Du weißt selber am besten, dass du ein schwieriger Charakter bist. Das kannst du ihnen nicht zum Vorwurf machen.“

Stur wie ich war, warf ich stumm einfach weiter Steine ins Wasser, bis mir etwas einfiel.

„Wieso kann ich die Steine hier aufheben?“

„Weil sie von dieser Seite sind. Du glaubst du hebst sie auf, aber im Grunde tust du das gar nicht, siehst du?“

Um es zu demonstrieren bückte er sich und nahm ein paar Steine auf und er hatte Recht. Bei genauerem hinsehen war zu erkennen, dass die Steine am Boden liegen blieben, trotzdem hatte er welche in der Hand.

„Es ist genauso wie mit dem umziehen und allem anderem. Du tust es nicht wirklich, aber trotzdem passiert es. Du bräuchtest dich nicht einmal für die Steine zu bücken. Niemand auf der anderen Seite würde überhaupt sehen, dass hier etwas passiert, weder dass sich die Steine bewegen, noch dass das Wasser ungewöhnlich spritzt.“

Vom einen Moment zum anderen hatte er auch die zweite Hand voller Steine. Allerdings konnte ich nicht sagen, wie er das gemacht hatte. Glücklicherweise brauchte ich nicht zu fragen, damit er es erklärte.

„Du hast es genauso gemacht, nur hast du es mit einer Geste verbunden, die auf der anderen Seite eigentlich dafür nötig gewesen wäre, um an die Steine zu kommen. Hier musst du die Dinge eigentlich nur wollen und sie passieren. Wenn man es so betrachtet, ist diese Seite hier eigentlich perfekt für extrem faule Leute wie mich.“

Als ich zu ihm rüber sah konnte ich ihn grinsen sehen. Ich selbst musste mich schon bei meinem lächeln bemühen.

„Ja, eigentlich sollte es das Paradies sein. Aber was bringt einem all das, wenn man dafür erst alles, was einem etwas bedeutet, verlieren muss?“

„Den meisten ist es gleichgültig. Anfangs leiden sie unter ihrer Anwesenheit hier, aber sobald sie erfahren, was hier alles möglich ist, sind ihnen ihre menschlichen Bindungen egal. Deswegen dürfen wir es eigentlich auch nicht erklären. Unsere Aufgabe ist es, alle einfach so schnell wie möglich wieder von hier fort zu schicken, damit die Seele irgendwann wiedergeboren werden kann. Da brauchen wir keine Irren die meinen, sie müssten sich hier wie Gott aufführen.“

Das ergab Sinn, allerdings passte es für mich nicht wirklich zusammen.

„Wieso erzählst du mir das dann? Was ist, wenn ich gefallen hieran finden sollte? Damit hast du dir ja wohl schon wieder selbst in den Fuß geschossen.“

„Ich hab da so meine Gründe.“

Wie er mir auf den Wecker fiel.

„Das du einen auf super geheim machst geht mir ganz schön gegen den Strich, hab ich das schon erwähnt?“

„Ja, mehr als einmal.“

„Hör auf ständig in meinem Kopf rum zu wühlen, das ist pervers.“

„Tu ich doch gar nicht.“

So wie er mich ansah wusste ich, dass er entweder log, oder etwas verheimlichte. Weder die eine, noch die andere Aussicht gefiel mir.

„Runter von meiner Bank.“

Ohne Vorwarnung stieß ich ihn vom Rand der Bank und machte mich demonstrativ breit.

„So dankt sie es mir also. Aber okay, dann bleib ich eben auf dem Boden sitzen.“

„Sehr gut.“

Eine ganze Weile blieb ich sitzen und starrte einfach Löcher in die Luft. Irgendwann rang ich mich dann dazu durch, einfach zu fragen, was mir durch den Kopf ging.

„Das hier ist wirklich nicht einfach nur ein schlechter Traum, oder? Einfach aufwachen und alles ist beim alten ist wohl nicht drin, was?“

„Nein, ist es nicht. Da muss ich dich leider enttäuschen, du sitzt wirklich hier fest. Wenn das ganze hier ein Traum wäre, müsste ich sagen, du hast ganz schön abgefahrene Vorstellungen, aber das hier ist echt. Gut. Dass es nicht von dir kommt macht es nicht weniger abgefahren.“

Ich schätze, er wollte damit sagen, dass ich nicht bescheuert war. Jetzt konnte ich sogar ehrlich lächeln, denn irgendwie klang es, als meinte er es Ernst. Einer der wenigen der wusste wie ich ticke und mich trotzdem nicht für verrückt hielt. Allerdings, er tickte ja auch nicht sauber, konnte er da überhaupt von mir denken ich hätte sie nicht alle? Wie auch immer.

„Hast du eigentlich die Bank hier aufgebaut, oder war das jemand anders?“

Auf diese Frage war ich irgendwie nicht vorbereitet, also starrte ich ihn erst nur an. Als er dann eine Augenbraue hob, musste ich mich räuspern.

„Ja, das war ich. Mit vierzehn etwa bin ich mal durch Zufall hier gelandet. Wir waren alle zum wandern nach hier gekommen, ich hatte von Anfang an keine Lust gehabt und bin irgendwann heimlich abgehauen. Vollkommen fertig vom laufen hab ich mich dann einfach hier fallen lassen und hab mich ausgeruht. Dass sich alle Sorgen um mich machten war mir egal. Ich bin einfach hier geblieben, bis es schließlich begann zu dämmern. Als es immer dunkler wurde, bin ich dann einfach dem Bachverlauf gefolgt und irgendwann auf ein paar Polizisten gestoßen, die mich sofort mitgenommen habe. Wie sich raus stellte, haben Maik und Vanessa sofort die Polizei benachrichtigt und die sind sofort mit Suchtrupps ausgerückt. Die waren alle davon ausgegangen ich wäre entführt worden oder so was, deswegen hab ich ziemlich Ärger gekriegt als ich erzählt hab, das ich einfach keine Lust mehr auf wandern hatte.

Danach bin ich immer wieder mit Karte und Stift durch den Wald gewandert, bis ich beim ungefähr zwanzigsten Mal dann endlich die Stelle hier wieder gefunden hatte.“

Die Erinnerung an die ganzen Wochenenden die ich damit verbracht hatte, diesen Ort hier wieder zu finden, ließen mich den Kopf schütteln.

„Ich bin von Morgens bis Abends durch den Wald gelaufen und hab genau diese Stelle hier gesucht, es war so verdammt anstrengend.

Für die Bank hab ich mir irgendwann mal Maik's Axt geklaut. Das war auch ein Kunststück, das Ding auf dem Fahrrad nach hier und wieder zurück zu bekommen, ohne das es jemand bemerkt. Trotzdem hab ich es geschafft, zumindest bis nach hause zurück. Da hat Maik mich dann erwischt und es gab wieder Ärger. Eigentlich war es mir egal, ich war einfach nur fertig vom hacken. Wobei ich zuerst mal einen Baum finden musste, den ich nicht vorher noch umhauen musste. Alles in allem war es ziemlich viel Arbeit für so ne mickrige Bank, aber ich hatte meinen Spaß. Im nach hinein bereue ich es nicht. Ich bin gerne hier. Das hier ist mein persönlicher Zufluchtsort.“

Anstatt mich in Erinnerungen versinken zu lassen, fragte er ohne Skrupel einfach weiter.

„Und wieso? Was ist an anderen Stellen so anders?“

Ich hatte schon Luft geholt und wollte antworten, als mir etwas bewusst wurde und ich die Luft für einen blöden Kommentar verwendete.

„Wieso fragst du das alles? Du weißt es doch so wie so und wenn nicht kannst du einfach schnüffeln. Das ergibt keinen Sinn.“

„Ergibt überhaupt irgendetwas Sinn?“

Na er auf jeden Fall nicht.

„Na egal. Unter uns wird behauptet, dass es euch hilft, wenn ihr über diese Dinge redet. Dass ihr dann besser mit allem abschließen könnt. Ich dachte es würde dir vielleicht auch helfen.“

„Du glaubst also ich wollte mit allem abschließen? Herzlichen Dank auch, aber ich hänge an den Dingen die mir lieb und teuer sind. So was vergisst man nicht einfach.“

„So war das gar nicht gemeint, ich... Ach scheiße, ich sag doch nicht das du alles vergessen sollst, du sollst nur loslassen und dich nicht daran festklammern. Denn, egal wie es ausgeht, es wird nicht mehr wie früher, darauf solltest du dich einstellen, es ist eben nichts einfach.“

Jetzt hatte er die Grenze überschritten und seinem Gesichtsausdruck nach, wusste er das auch. Wütend stand ich auf und trat vor ihn, dass er zu mir aufsehen musste war mir da grade recht.

„Muss ich dir ins Gedächtnis rufen, dass ich das zu genüge weiß? Ich weiß, dass alles anders wird, dass schon alles anders IST. Stochre auch noch in der Wunde rum, Arschloch.“

Im vorbei laufen trat ich ihm in die Seite und stapfte dann den Weg zurück zu meinem Motorrad. Es war nicht zu überhören, dass er mir folgte. Die ganze Zeit fluchte er vor sich her oder versuchte mich zum stehen bleiben zu überreden. Ich ignorierte ihn einfach, sollte er doch dort hin gehen wo der Pfeffer wuchs. Im Endeffekt lief es darauf hinaus, dass wir auf dem Parkplatz ankamen und er mich am Arm packte. Rein aus Reflex drehte ich mich zu ihm um und holte aus. Zu meiner Überraschung landete die Faust direkt in seinem Gesicht. Natürlich hatte ich bemerkt, dass er sich einfach hatte schlagen lassen, es war deutlich zu sehen gewesen, dass er es hatte kommen sehen. Umso mehr war ich überrascht, dass er sich dann auch noch entschuldigte.

„Es tut mir Leid.“

„Ist mir Scheißegal. Du weißt ja wie oft ich das zu hören gekriegt habe und jedes mal war es gelogen. Verschwinde einfach.“

Da ich seine Hand durch meinen Schlag abgeschüttelt hatte, konnte ich ungehindert auf das Motorrad steigen und den Helm aufsetzen.

„Wo willst du hin?“

„Als müsstest du das wirklich fragen.“

Als der Motor lief, zeigte ich ihm zum Abschied den Mittelfinger und wendete dann die Maschine. Staub und Steine aufwirbelnd verließ ich den Parkplatz. Schneller als es hier erlaubt war, flog ich die Straße entlang und obwohl es warm war, wurde es ziemlich kalt. Sowohl auf der Haut, als auch im inneren.

Rein aus Neugierde versuchte ich mit meinem neuerworbenen Wissen etwas aus und es funktionierte. Mit einem mal war die dünne Weste verschwunden und wurde von einer Lederjacke ersetzt. Dazu trug ich nun ein Paar schwarzer Lederhandschuhe. Es war gleich viel angenehmer, außerdem ein gewohntes Gefühl, gegen die innere Kälte half es allerdings nicht. Glücklich über das gewohnte und gleichzeitig traurig darüber, zog ich den Gashahn an und erhöhte einfach die Geschwindigkeit. Ich ließ es einfach darauf ankommen, zu verlieren gab es eh nichts mehr, also fuhr ich mit knapp zweihundert Sachen auf ein einsam auf der Landstraße fahrendes Auto zu. Erst knapp drei Meter vor dem anderen Fahrzeug kniff ich die Augen zu.

Da Knall und Schmerz aus blieben, öffnete ich augenblicklich die Augen und sah zurück. Das Auto fuhr einfach seelenruhig weiter. In dem Moment ärgerte ich mich unheimlich über mich selber. Bei dem was ich wusste war es klar, das nichts passieren konnte. Für die lebenden war ich gar nicht da. Ich war noch nicht mal Luft, die man hätte wahr nehmen können. Das einzige was von mir noch übrig war, war ein leerer Körper in einem Krankenhausbett, vermutlich angeschlossen an sämtliche Maschinen, um ihn am Leben zu erhalten.

So wie ich mich kannte, hätte ich bei dem Gedanken angefangen zu heulen. Die anderen saßen trauernd vor diesem Bett und ich konnte nichts tun. Ich spürte sogar, wie dieses drückende Gefühl in mir aufkam, doch trotzdem blieb mein Gesicht trocken und die Sicht verschwamm kein bisschen. Ich hatte wohl noch nie so sehr gelitten wie jetzt.

Frustriert schaltete ich einfach noch einen Gang höher und zog das Gas bis zum Anschlag. Wäre ich erwischt worden, wäre ich meinen Führerschein sofort los gewesen. Stattdessen schoss ich einfach nur die Straße lang, für niemanden sichtbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Kapitel

 

Wie eine geisteskranke war ich durch die Straßen gefahren, wie durch einen Hindernissparkur. Es hätte vermutlich Spaß gemacht, wenn wirklich Hindernisse dort gewesen wären, aber wenn man einfach durch jedes Auto durch rasen konnte, war es schon wieder langweilig, bevor es hätte lustig werden können.

Das versuchte ich mir zumindest ein zu reden. Denn das wirklich traurige daran war nicht die Langeweile, sondern der Gedanke, nie wieder wirklich an dieser Welt teil haben zu können, ob ich nun zurück ging oder nicht. Er hatte Recht, es würde nichts so sein wie früher.

Stundenlang fuhr ich durch die Stadt, einfach nur um nicht anhalten zu müssen. Ich hatte Angst, dass wenn ich stehen bliebe, alles plötzlich verschwand. All die Gefühle die ich je gespürt hatte, alle Empfindungen die ich mit jedem Schritt gemacht hatte. Jeden Schmerz den ich im laufe der Jahre hatte ertragen müssen und die entgegen gestellten guten Erinnerungen. Es gab so vieles, was mich stark gemacht hatte, sowohl das gute als auch das schlechte. Das wollte ich nicht einfach hinter mir lassen, das war ich den anderen schuldig. Solange sie mich nicht vergessen würden, würde ich es ebenso wenig tun.

 

Schon seit Stunden war ich unterwegs, war von Stadt zu Stadt gefahren, mehrere hundert Kilometer weit. Ich musste zugeben, was den Sprit anging, war es ein Vorteil hier zu sein, aber das war auch der einzige.

Obwohl ich die ganze Zeit über durch gefahren war, fühlte ich mich kein bisschen erschöpft. Im Gegenteil, ich hatte mich lange nicht so gut gefühlt. Körperlich zumindest. Seelisch war ich das reinst Wrack. Das, was ich sonst als Auszeit zu allen anderen genutzt hatte, brachte jetzt nur Schmerz mit sich. Was brachte es, wenn man fahren konnte, aber man nichts mehr hatte, vor dem man flüchten wollte? Wenn es nun das genaue Gegenteil mit sich brachte? Von jetzt auf gleich bekam alles eine andere Bedeutung, alles brachte nur noch Leid mit sich.

Fast den gesamten Tag hatte ich damit verbracht vor etwas zu fliehen, vor dem man nicht entkommen konnte. Schlussendlich hatte ich es dann aufgegeben und war im großen Bogen zurück nach hause gefahren. Oder zumindest zurück in die Stadt. Pünktlich zum Feierabend stand ich vor unserer Werkstatt. Wie immer standen sie vor der Türe, allerdings hatte niemand auch nur eine Zigarette in der Hand. Sie standen einfach da und starrten zu Boden.

Einen Moment überlegte ich, ob ich zu ihnen rüber gehen sollte. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich vom Motorrad stieg und die paar Meter hinter mir ließ, die zwischen uns gelegen hatten. Als wäre nie etwas gewesen, stand ich bei ihnen, trotzdem ließen sie die Köpfe hängen und zeigten mir, dass etwas fehlte. Das es sie mitnahm, dass ich nicht da war. Vielleicht interpretierte ich aber auch zu viel da hinein. Natürlich, ich hatte es niemandem von ihnen erzählt was mit mir los gewesen war, es hatte keiner gewusst, das nahm sie vermutlich mit. Ich würde sogar sagen, das wir nicht wirklich Freunde waren, so hart das auch in diesem Moment, auch für mich selber, klingen mochte. Klar, wir hatten uns gut verstanden, aber wir waren eben nur gute Kollegen. Wobei es unter ihnen doch eine Ausnahme gab. Einem von ihnen hatte ich alles erzählen können, auch wenn ich wusste, das es ihn manchmal gar nicht interessiert hatte. Zudem hatten wir uns immer gut verstanden. Selbst solche Kleinigkeiten schienen jetzt, wo man darüber nach dachte, doch größer als man sie eingeschätzt hatte.

Nach ein paar Minuten des Schweigens hob einer von ihnen den Kopf und klopfte diesem einen auf die Schulter.

„Lasst uns Feierabend machen. Davon, dass wir hier rum stehen, kommt sie auch nicht zurück.“

Diese Worte versetzten mir einen gewaltigen Stich, obwohl er Recht hatte. Es brachte rein gar nichts, wenn sie nur hier rum standen, sie konnten gar nichts tun. Die Wortwahl allerdings war etwas ungünstig. Einer nach dem anderen verabschiedeten sie sich, bis Flo schließlich alleine da stand. Er starrte weiter zu Boden, ihn hatten die Worte wohl genauso mitgenommen wie mich. Das ihn diese ganze Sache aber so traf, verwunderte mich ein wenig.

Wieder kam dieses drückende Gefühl in mir auf. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, einfach aus einem Impuls heraus. Ich hatte sogar schon einen Schritt auf ihn zu gemacht, bis ich erschrocken stehen blieb. Was tat ich hier? Selbst wenn ich wirklich dort gewesen wäre, ich kannte ihn doch kaum? Ich war froh, dass ich grade seinen Nachnamen kannte und das ich wusste wo er wohnte war auch mehr Zufall als Absicht. Wieso also hatte ich das Bedürfnis ihn trösten zu müssen? Ich verstand es nicht, und bevor ich doch darüber nachdenken konnte, wandte ich mich um und ging zurück zu meiner Maschine. Binnen eines Augenblicks saß ich auf und hatte schon den Helm an, als ich das Visier noch einmal hoch klappte. Erst blieben mir die Worte in der Kehle stecken und dann konnte ich nichts mehr sagen. Egal was ich gesagt hätte, es wäre garantiert das falsche gewesen, davon abgesehen, dass er es ohnehin nicht gehört hätte. Stattdessen winkte ich kurz zum Abschied, ließ den Blick noch einmal über das gesamte Gebäude gleiten und fuhr dann vom Hof.

Noch bevor ich es registrierte, fuhr ich den gewohnten Weg und innerhalb von zwei Minuten stand ich vor unserem Haus. Nach der Arbeit nach hause zu fahren war Alltag für mich gewesen, dass es jetzt ohne Belang war, konnte ich mir nicht wirklich vorstellen.

Leicht zögerlich ging ich hinein. Alles war dunkel, es roch nicht im geringsten nach essen. Man hätte denken können, es sei keiner Zuhause, wäre da nicht der leise klang des Fernsehers im Wohnzimmer gewesen. Ich ging gar nicht erst nachsehen. Vanessa war wahrscheinlich vor Erschöpfung auf dem Sofa eingeschlafen und Maik starrte in den Fernseher, ohne zu registrieren, was überhaupt lief. So war es doch immer, oder nicht?

Ohne den Typischen Umweg durch die Küche, schleppte ich mich nach oben und warf mich auf das Bett, mit dem Gesicht zum Rest des Zimmers. Auch hier war alles aus. Es wirkte einfach nur verlassen. Man merkte sofort das etwas fehlte, auch wenn alles so aussah wie immer. Hier und dort lagen ein paar Sachen herum, ich war noch nie die ordentlichste gewesen. Und trotzdem kam es einem leer vor. Es war so unglaublich ruhig, solche Ruhe herrschte sonst nur, wenn ich schlief oder nicht da war. Für die anderen musste es wohl schlimmer sein als für mich. Ich konnte wenigstens behaupten, dass ich noch existierte, sie wussten nicht mal das ich überhaupt hier war, dass ich sie sehen konnte, sie am liebsten in den Arm genommen und mich für alles entschuldigt hätte. Für alles, was sie wegen mir hatten durchmachen müssen. Und ich hätte mich bei ihnen bedankt. Sie hatten mich bei ihnen aufgenommen, für mich gesorgt. Sie waren immer für mich da egal was ich angestellt hatte. Sie haben mich bei ihnen aufgenommen, als wäre es selbstverständlich und ich hatte ihnen nur das Leben schwer gemacht.

Leise, kaum hörbar, klopfte es an der halb geschlossenen Türe. Ich hatte schon geahnt das er hier war, seine ruhige Stimme bestätigte es nur.

„Leonie, darf ich rein kommen?“

„Was willst du?“

Allen Anscheins schien er dies als Ja gewertet zu haben, denn er kam einfach herein und setzte sich neben mir auf das Bett, rutschte dann an die Wand und streckte seine Beine einfach über meinen aus.

„Ich passe auf dich auf, so wie ich es versprochen habe.“

„Wem willst du schon was versprochen haben, hier ist niemand außer mir.“

„Deinem Vater.“

Jetzt wurde ich hellhörig. Diese ganze Sache entwickelte sich zu einem schlechten Witz, einer von dieser Sorte, bei dem man dem Erzähler gleich auf die Schnauze hauen wollte.

Ich schätzte, dass er mit einer Reaktion gerechnet hatte, denn er schwieg erst, wartete ab, bevor er weiter redete.

„Sein letzter Wunsch war, dass einfach nur jemand auf sein kleines Mädchen aufpasst. Mehr wollte er nicht.“

„Was weißt du schon über meinen Vater?“

„Nicht viel, da hast du Recht. Aber das was ich weiß, reicht aus um sagen zu können, das er ein guter Vater war. Er kam hier an und das erste wonach er fragte warst du. Ob es dir gut ginge und ob du sicher seist. Ich sagte ihm, du wärst in besten Händen und da war er erleichtert. Ich zeigte es ihm sogar, du warst glücklich, also war er es auch. Er nahm mir das Versprechen ab, an seiner Stelle auf seine Leo, seine kleine Löwin, acht zu geben. Ich gewährte ihm diese Bitte sofort, denn ich wusste was folgen würde. Den Anruf der dein Leben veränderte, die Nachricht das er tot sei, bekam er glücklicherweise nicht mehr mit. Fast sofort, nachdem er mir dieses Versprechen abgenommen hatte, war er mit einem dankenden Lächeln gegangen.

Er hatte gesagt, dass die Zeit, die er mit dir verbringen durfte zwar kurz war, aber er hatte jede Minute genossen. Keine einzelne wäre ersetzbar und er würde es wieder genau so machen. Außerdem sollte ich dir sagen, dass es ihm Leid tut, dass er so unachtsam war und das er dich über alles liebt.“

Langsam wurde das alles zu viel. Ich drückte einfach nur das Gesicht in mein Kissen und wollte los heulen, aber es ging nicht. Wie schon die male zuvor blieb alles trocken, das hinderte mich allerdings nicht daran die Fäuste ins Kissen zu krallen und mich schlecht zu fühlen.

„Musst du eigentlich alles wieder aufwirbeln?“

„Es ist nicht meine Absicht dir weh zu tun, falls du das denkst. Ich versuche nur dir dabei zu helfen, deine Erinnerungen zu wahren.“

„Hör endlich auf ständig in meinem Kopf zu wühlen du perverser Spanner!“

Eigentlich versuchte ich einen Überraschungsangriff, aber mich vom Bauch auf den Rücken drehen, das Kissen greifen und es ihm dann ins Gesicht zu werfen, dauerte länger als es sollte. Trotz allem bekam ich es aber hin, auch wenn das Kissen nicht ganz wie geplant landete.

„Tu ich doch gar nicht! Und glaub mir, ich habe schon ganz anderes gesehen! Du würdest mich töten wenn das hier möglich wäre!“

Damit kam das Kissen zurück geflogen. Ich schaffte es grade noch ihm aus zu weichen, bekam dann aber ein zweites ins Gesicht. Natürlich schummelte er was das Zeug hielt.

„Ey! Das ist nicht fair!“

„Bei dir ist alles entweder nicht fair oder es ergibt keinen Sinn. Leg mal eine andere Haltung an den Tag, ansonsten wird es ganz schön anstrengend auf Dauer.“

Und wieder kam ein Kissen geflogen.
„Lass das!“

„Wieso, das ist lustig.“

Ruckartig richtete ich mich auf und wich einem weiteren aus.

„Lass es endlich, das nervt. Du bist wie ein kleines Kind!“

„Du bist auch nicht besser.“

Anstatt weiter auf das Thema ein zu gehen, nahm ich mir eines der Kissen und schlug ihm damit ins Gesicht.

„Ey!“

„Reg dich nicht auf, das ist doch lustig.“

Dafür, das ich ihn mit seinen eigenen Worten auf den Arm nahm, schaute er mich böse an. Ich konnte es mir nicht verkneifen eine Braue hoch zu ziehen und überlegen zu grinsen. Dafür bekam ich dann auch wieder ein Kissen ab.

„Das reicht, jetzt gibt es Krieg.“

Mit einem Kissen in jeder Hand richtete ich mich auf die Knie auf und schlug ohne Unterlass zu. Zufrieden stellte ich fest, dass er sich immer kleiner machte um in Deckung zu gehen, allerdings zu Recht, denn ich machte einfach meinem ganzen Frust etwas Luft, daher schlug ich immer fester auf ihn ein, auch wenn es nur mit Kissen war. Irgendwann hielt er einfach die Kissen fest, anstatt weiter zurück zu weichen, das überraschte mich.

„Ey, lass los.“

„Ich denk gar nicht dran.“

Und das tat er wirklich nicht, denn anstatt einfach los zu lassen, warf er mich nach hinten über und baute sich über mir auf. Es ging so schnell, ich war wirklich überrascht. Die Art wie er mich ansah gefiel mir allerdings gar nicht. Ich hatte das schon so oft gesehen, in Filmen und bei all den vor Glück tropfenden Pärchen die man an jeder Straßenecke fand. Und das mir kein lässiger Spruch dazu einfiel, passte mir noch weniger. Mir fehlten einfach die Worte und ich wusste nicht wieso. Diese ganze Sache machte mich wahnsinnig. Nicht nur, dass mir die plötzliche Veränderung vollständig den Boden unter den Füßen weg gezogen hatte, es drehte auch noch alles um und jetzt passierte das hier. Ich wusste einfach nicht mehr was ich denken sollte, sofern ich dann dazu im Stande war.

Ich wollte mir schon wieder ein Kissen schnappen und ihm damit eins über ziehen, ihn fragen wieso er mich so ansah. Ihm an den Kopf werfen, dass das wieder keinen Sinn ergab, nur um sein Gesicht zu sehen. Das wurde allerdings vorzeitig von einem leisen Miauen vereitelt. Sofort flog mein Blick in die Richtung aus der es gekommen war und fand meine Katze, die vor dem Bett saß. Ein hoch auf die Katze dafür, dass sie im richtigen Moment auftauchte. Als sie dann erneut in meine Richtung maunzte warf dies sofort eine Frage auf.

„Sie weiß das ich hier bin. Sieht sie uns?“

„Ja sie sieht uns. Ich kann dir aber nicht sagen in wie weit. Ob sie nur Umrisse oder Schatten sieht, oder ob sie uns vollständig sieht oder uns einfach nur spürt, keine Ahnung tut mir Leid.“

Das sie überhaupt wusste, das ich da war genügte mir. Sofort rutschte ich ein Stück zur Wand, bis ich gegen seinen Arm stieß, mit dem er sich neben mir ab stützte. Ich versuchte so zu tun als störte mich das nicht und klopfte einfach mit der Hand auf das Bett. Ohne sich ein zweites mal bitten lassen zu müssen kam sie herauf und setzte sich neben mich. Mit bedauern wurde mir aber wieder ins Gedächtnis gerufen, das ich sie nicht berühren konnte. Wie bei allem anderen glitt meine Hand einfach durch sie hindurch und ich ließ die Hand aufs Bett fallen.

„Wenigstens weiß sie das ich hier bin.“

„Ja sie hat da ein Gespür für, wenn etwas da ist was sonst niemand sehen kann, genauso wie du. Du hast auch ständig hin gesehen, ich dachte immer du siehst mich.“

„Du warst das immer? Dieses Gefühl, dass ich beobachtet werde. Und ich dachte immer ich wäre Paranoid!“

Augenblicklich setzte ich mich auf und stieß ihn dabei von mir fort. Ohne ihn wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben setze er sich einfach auf die Hacken und warf die Hände kapitulierend in die Luft.

„Ich habe nur ein Versprechen gehalten und auf dich aufgepasst. Ich schwöre dir, ich habe mich umgedreht oder weg gesehen wenn es persönlich wurde. Oder ich war gar nicht hier, je nachdem.“

„Deswegen sagtest du auch ich würde dich umbringen wenn es möglich wäre. Verarschen kann ich mich selber!“

Ich war erst versucht ihn rücklings vom Bett zu stoßen, das ließ ich dann aber bleiben und klebte ihm stattdessen eine. Ich ließ noch einmal die Hand dicht am Fell meiner Katze entlang gleiten, in der Hoffnung das sie es irgendwie spürte und schwang mich dann vom Bett. Während ich das Zimmer verließ konnte ich ihn im Hintergrund noch etwas sagen hören.

„Ich schätze das hab ich jetzt verdient.“

„Und wie du das verdient hast! Ihr Typen seid doch alle gleich.“

Noch bevor ich ganz aus der Haustüre raus war, war er schon wieder hinter mir.

„Jetzt hab ich es versaut, das sehe ich ein. Bin ich jetzt unten durch, oder hat der arme Hund hier noch eine Chance verdient?“

So wie ich das sah, schien er es wirklich Ernst zu meinen. Allerdings konnte ich nichts anderes als mir da einen Spaß draus zu machen.

„Es war doch ohnehin nur ein halbherziger Versuch oder nicht? Mal davon abgesehen, gab es je einen Zeitpunkt an dem du nicht unten durch warst?“

Eigentlich war das noch nicht mal wirklich gelogen gewesen. Der erste Eindruck den ich von ihm hatte war nicht wirklich gut gewesen und er hatte sich nicht wirklich Mühe damit gegeben das zu ändern. Wieso sollte ich es ihm also durchgehen lassen, dass er mich erst vergraulte und dann anfing mir auf die Pelle zu rücken? Nicht das ich mich nicht geschmeichelt gefühlt hätte, aber das war nun wirklich der schlechteste Anfang gewesen.

Ich hatte es zumindest geschafft, dass er nicht zu wissen schien was er antworten sollte. Diese Gelegenheit nutzte ich einfach schamlos aus, um noch weiter in der Wunde herum zu stochern.

„Jetzt hat es dir die Sprache verschlagen was? Ich wäre auch sprachlos wenn man mich so abservieren würde. Glücklicherweise hatte ich nie Probleme damit wie du vermutlich weißt. Nimm es nicht so schwer, es sterben mit Sicherheit noch mehr Mädchen die du angraben kannst. Ist das hier überhaupt erlaubt? Soweit ich mich erinnere hast du gesagt, dass ihr alle so schnell wie möglich weiter schicken solltet. Was hat es da für einen Sinn, wenn du dich an mich ran machst, wenn ich eh nicht hier bleibe?“

„War klar, dass das für dich wieder keinen Sinn ergibt, wie auch.“

„Ach aber für dich, oder wie soll ich das verstehen? Dann versuch doch es so dar zu stellen, dass es für mich auch Sinn ergibt.“

Mittlerweile standen wir draußen vor dem Haus. Herausfordernd sah ich ihn an und zwang ihn praktisch zu einer Antwort. Er seinerseits nahm die Herausforderung an und sah nicht weniger selbstsicher aus als vorher.

„Das werde ich schon noch, keine Sorge. Wolltest du jetzt nicht wieder davon laufen?“

„Glaubst du wirklich ich laufe vor dir davon? Ich versuche nur dich los zu werden, weil du mir so tierisch auf den Wecker fällst.“

„Klar, hätte ich fast vergessen, du hast ja keine Angst, vor niemandem.“

„Ganz genau und vor allem nicht vor einem Idioten wie dir. Wenn du mich dann jetzt entschuldigst.“

„Natürlich. Geh dich von dem überzeugen, was du mir ja nicht glaubst. Dann kann ich dich wieder vor deinen üblichen Dummheiten bewahren.“

„Klar das du wieder in meinem Kopf herum wühlst. Andere Trickst scheinst du wohl nicht drauf zu haben, da muss man ja mit dem prahlen was man kann, auch wenn es nur das eine ist.“

„Hast du eine Ahnung.“

„Zumindest mehr Ahnung mit mir um zu gehen als du und dabei hast du mich ja offensichtlich die ganzen Jahre über beobachtet. Schwache Leistung, ehrlich. Mach den Mund zu, sonst verschluckst du noch ne Fliege oder so was.“

Mit seinem offenen Mund ließ ich ihn stehen und ging einfach zu meinem Motorrad. Das machte dann wohl einen Punkt für mich. Ich hatte den Helm schon auf, den Motor schon laufen, als ich mich noch einmal zu ihm umdrehte und ihm provokativ extrem Ladylike zuwinkte. Als ich los fuhr konnte ich im Rückspiegel sehen wie er sich erst mit der Hand durch seine Haare fuhr und dann sich ärgernd verschwand. Wer weiß wo er hin war, aber das war nicht das letzte mal das ich ihn sah. Machte aber trotzdem einen weiteren Punkt für mich. Mal sehen wie lange er es durchhalten würde, aber er war selber Schuld, wenn er sich mit mir anlegte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5. Kapitel

 

Die ganze fahrt bis zum Krankenhaus hatte ich mich über mich selbst geärgert. Ich hatte mal wieder schneller gehandelt als darüber nach gedacht was ich tat. Natürlich, jetzt im nach hinein hatte ich bemerkt, dass ich mir selbst auf den Leim ging. Ich hatte noch nie normal auf eine dieser üblichen Anmachen reagiert, ich hatte da meine ganz eigene Art. Dummerweise hatte ich genau hier vergessen, dass dieser Mistkerl das wusste und war deswegen voll auf sein Spielchen eingegangen. Und nun kam ich nicht mehr weg, stattdessen musste ich mich jetzt mit ihm herum schlagen und aufpassen, dass ich nicht verlor. Immer und immer wieder kreisten meine Gedanken um ein und die selbe Frage: Wie konnte ich ihm am besten aus dem Weg gehen? Ich hätte mir noch Stundenlang darüber den Kopf zerbrechen können, hätte meine Ankunft vor dem riesigen Krankenhausgebäude nicht schon die nächste Frage aufgeworfen.

Draußen vor den Türen hatte ich mir noch Gedanken darum gemacht, wie ich diesen Raum finden sollte, wenn ich niemanden fragen konnte. Im Grunde war es aber nicht schwer gewesen, es gab nicht viele Möglichkeiten wo sie jemanden im Komazustand unter brachten. Letzten Endes hatte ich ihn also relativ schnell gefunden und stand jetzt bestimmt schon eine viertel Stunde vor der Türe und rang mit mir, ob ich nun rein gehen oder wieder nach hause fahren sollte.

Hätte es noch geschlagen, hätte ich gesagt, mir schlug das Herz bis zum Hals. In diesem Fall fiel dies allerdings flach, also beließ ich es einfach bei Nervosität. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich vermutlich Furchen im Boden hinterlassen vom ständigen hin und her laufen. Nachdem mir das dann aber zu doof wurde, bog ich einfach ab und glitt in den Raum hinein, bevor ich umdrehen konnte. Am liebsten wäre ich gleich wieder nach draußen geflohen, aber ich schaffte es, mich zusammen zu reißen und weiter in den kleinen Raum hinein zu gehen.

Überall standen Geräte von denen unzählige Schläuche und Kabel bis hin zum Bett reichten, in dem ein Körper lag, der beinahe gar nicht auffiel. Das bisschen Haut was zu sehen war, glich sich beinahe vollständig an das helle beige der Bettwäsche an und der Kopf mit den kurzen hellbraunen Haaren versank fast vollends im Kopfkissen. Auf den ersten Blick hätte man sagen können, das Bett sei leer. Ausschließlich der regelmäßige Piepton zeugte davon, das etwas in diesem Bett lag, was unter Gewalt am Leben gehalten wurde. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, dass der Körper nur ein mittel zum Zweck war. Worauf es ankam, war die Seele, das was ich jetzt war, denn daran hingen sowohl die Empfindungen als auch die Erinnerungen.

In dem Moment wäre sogar ich beinahe zusammen gebrochen. Diesen Anblick wollte ich niemandem wünschen, ich verstand vollkommen wieso sie alle so aufgelöst waren. Ich hätte nicht gedacht, dass mir mein eigener Anblick so die Sprache verschlagen würde, aber mir blieb einfach alles weg. Sowohl die Luft als auch jegliches Gefühl. Ich fühlte mich einfach leer, vermutlich so, wie der Körper der dort im Bett lag. Hätte ich gewusst, dass mich das so umhauen würde, hätte ich mich vermutlich dazu entschieden nicht her zu kommen.

Andererseits war es doch unausweichlich. Jetzt, wo ich dies so sah, war es wie ein Schalter. Mein Bewusstsein konnte akzeptieren, was meine Ohren schon längst gehört hatten, was meine Augen bereits gesehen hatten. Was mir bis jetzt wie ein Albtraum erschienen war, war nun so klar, als hätte es nie anders sein können.

Ich konnte nur da stehen und das Bett anstarren. Klar wusste ich, dass Er auch wieder dort war. Ich wusste nicht wieso, ich wusste es einfach. Ich hätte es als den Tod beschreiben können. Bekanntlich spürte man ja, wenn es mit einem zu Ende ging, aber es wäre falsch gewesen. Es war einfach diese Gewissheit, die niemand mit den richtigen Worten zu beschreiben wusste. Ich war in diesem Moment einfach nur froh, nicht alleine zu sein und ich war ihm dankbar dafür, das er mir meine Zeit ließ die ich brauchte.

 

Ich weiß nicht wie lange ich gebraucht hatte, um mich wieder zu bewegen. Irgendwann war ich einfach auf das Bett zu gegangen. Der Blick in mein eigenes Gesicht war wie ein Schlag. Die Haut war heller als es je hätte gesund sein können, selbst die Lippen enthielten kaum noch Farbe und ich hätte mich selbst darauf verwettet, dass meine Augen unter den Liedern nur noch ein blasser Abklatsch von dem klaren Blau waren, das mal darin gelebt hatte.

„Sieht denn niemand außer mir, dass in diesem Gesicht nicht der geringste Hauch von Leben herrscht?“

„Sie können es nicht sehen. Viel mehr, sie wollen das offensichtliche nicht akzeptieren. So sind Menschen nun mal. Das, was sie lieben, wollen sie um keinen Preis hergeben.“

„Man muss es ihnen erst mit Gewalt entreißen.“

„Und selbst dann wollen sie noch nicht loslassen, ja.“

„Bei einem dauert es Monate um über einen Verlust hinweg zu kommen, bei einem anderen Jahre und eine Hand voll haben ihr Leben lang darunter zu leiden.“

„Du sprichst aus Erfahrung.“

Mit einem traurig verzerrten Gesicht sah ich zu ihm zurück und rang mir ein halbherziges Lächeln ab, welches mir nicht zu gelingen schien. Stattdessen schloss ich einfach die Augen und ließ den Kopf hängen.

„Natürlich. Wäre es nicht so, wäre ich nicht ich.“

Als ich den Kopf wieder hob und ihn ansah um zu schauen, wieso er keinen blöden Kommentar abgab, sah ich nur wie er lächelte.

„Wusstest du, dass Maik und Vanessa außer dir nie ein anderes Kind wollten?“

„Bei einem Kotzbrocken wie mir, hätte ich auch Angst, dass die kommenden genauso missraten. Ich hab ihnen nur Ärger gemacht, da ist es klar...“

„Sie wollten nicht, dass du dir wie die zweite Geige vorkommst. Sie wollten immer nur für dich da sein, deswegen haben sie auf ein zweites Kind verzichtet, auch wenn viele ihnen dazu geraten haben. Sie wussten zu jeder Zeit genau wie es um dich stand, deswegen wollten sie dir ihre volle Aufmerksamkeit zukommen lassen, damit du dich nicht noch mehr in dich zurück ziehst. Das taten sie allein deinetwegen.“

Im ersten Moment dachte ich, er log. Aber sein Gesicht sah so Ernst aus, dass ich beschloss, das es nie im Leben hätte gelogen sein können.

„Wieso haben sie dann nie etwas gesagt? Sie haben es ja nicht einmal angedeutet! Ich dachte immer sie bemuttern mich so, weil ich ihnen Leid täte,...“

„So war es auch, aber du hast sie falsch verstanden.“

„... da war es doch klar, das ich mich immer weiter zurück ziehe, oder nicht?!“

„Es fehlte einfach die nötige Kommunikation. Du hast auf Teufel komm raus den Mund nicht auf gemacht und sie hatten einfach Angst etwas falsch zu machen.“

„Heißt das jetzt, du gibst mir die Schuld daran?“

„Das sage ich doch gar nicht, aber du bist auf alle Fälle mit daran beteiligt. Wie würdest du mit einem Kind umgehen, das eine Vergangenheit wie deine vorzeigen kann?“

Auf diese Frage konnte ich nichts sagen. Ich hatte schon zum sprechen angesetzt, aber ich wusste nicht, was ich hätte Antworten sollen. Stattdessen drehte ich mich einfach um und beobachtete das Bett, mich, wie sich die Decke unter der ich lag minimal hob und wieder senkte.

„Keine Antwort ist auch eine Antwort.“

„Wie wärst du denn mit mir umgegangen? Versetz dich in meine oder ihre Lage und sag mir, was du anders gemacht hättest, wenn du es doch besser weißt.“

Als es ruhig blieb dachte ich erst, dass er nicht antworten würde. Ich wollte mich schon wieder zu ihm umdrehen und weiter bohren, als er dann schließlich doch sprach.

„Ich hatte nie Kinder. Ich bin genauso wie du in jungen Jahren hier her gekommen, ich hatte also nie das Vergnügen. Aber bei all dem, was ich schon gesehen habe, bei all dem was ich in der Zeit hier miterlebt habe, wüsste ich, was ich besser machen würde. Und wenn ich mich irgendwann dazu entschließen sollte wieder rüber zu gehen, dann werde ich es auch besser machen.“

Das kam jetzt unerwartet. Mir war noch nicht im entferntesten der Gedanke gekommen, dass er auch mal auf der anderen Seite gestanden haben konnte oder wie er nach hier gekommen war. Das machte die Sache gleich unangenehmer.

„Tut mir Leid, ich hab nicht darüber nachgedacht.“

„Halb so wild. Du bist die erste die mir begegnet, die so auf all das hier reagiert wie du es tust. Ich meine, du bist die erste die hier ankommt und wegen allem durch dreht. Die Übrigen die ich hier in Empfang genommen habe, haben es einfach so hin genommen, wenn ich ihnen gesagt habe, das sie den Löffel abgegeben haben.“

„Macht das einen Unterschied? Bin ich jetzt etwas besonderes deswegen? Wohl eher nicht, ich bin schon immer aus der Menge hervor getreten.“

„Nicht nur in dem unterscheidest du dich von anderen, ich zähle dir bei Gelegenheit gerne noch mehr auf. Und es gibt Seelen, für die warst du schon immer besonders.“

Ich wusste das er vermutlich Recht hatte, aber bei dem Unterton in seiner Stimme, mit dem er sich dazu zu zählen schien, ließ mich sofort gegen seine Aussage angehen. Um meine Worte noch zu unterstreichen wandte ich mich ihm zu und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Das glaubst du doch selber nicht. Als nächstes erzählst du mir etwas davon, dass zwei Seelen von Anfang an für einander geschaffen sind und sie sich immer wieder finden. Bla bla.“

„Wo hast du deine offene Art gelassen? Du probierst doch sonst auch alles aus?“

„Vielleicht habe ich genau diese Ader grade jetzt ganz tief vergraben, nur weil ich dir begegnet bin. Irgendwo, wo du sie nicht findest um sie wieder aus zu graben und mir doch noch einen Knopf an die Backe zu labern.“

„Ich möchte ja wetten, dass du deine Wange gemeint hast und nicht deine Backe, aber okay. Wir werden ja sehen.“

„Nein, werden wir nicht, weil du nie eine Gelegenheit dazu bekommen wirst.“

Jetzt war es an ihm die Brauen zu heben.

„Wir werden ja sehen.“

Das er sich nur wiederholte trieb mich auf die Palme.

„Glaub doch was du willst.“

„Hab ich bisher immer getan, werd ich also jetzt auch. Darf ich dich jetzt raus geleiten, oder brauchst du noch Zeit?“

Wieder sprang er von jetzt auf gleich im Ton um. Und nicht nur im Ton, ich hatte schon zum kontern angesetzt, da wechselte er einfach das Thema. Im einen Moment war ich vollkommen auf einen Schlagabtausch eingestellt und im nächsten war alles wieder so Ernst, dass es mir die Brust zu schnürte. Ich hätte fast behauptet, dass er mich manipulierte, aber er wusste einfach wie er die Dinge angehen musste.

Erneut wanderte mein Blick zu mir selbst. Ohne das ich es bemerkt hatte, war ich neben das Bett getreten und nun streckte ich meine Hand nach meinem eigenen Gesicht aus, nur um von Ihm daran gehindert zu werden. Bevor ich etwas dagegen tun konnte, hatte er meine Hand gegriffen und sie weg gezogen, ohne sie los zu lassen.

„Mach das bitte nicht, du würdest es nur bereuen.“

„Wieso? Gehe ich sonst hoch oder löse ich mich einfach in Luft auf?“

„Nein, das nicht. Aber beim letzten der das getan hat, sind sämtliche Maschinen ausgefallen. Er hat sich selber die Chance genommen, noch einmal zurück zu gehen und ich schätze, dass er nicht sonderlich glücklich war als er gegangen ist.“

„Ah, verstehe. Du willst dass ich noch mal zurück gehe damit ich irgendwann noch mal nach hier komme, damit du es noch mal probieren kannst. Schlauer Fuchs.“

Mein Sarkasmus war nicht zu überhören, allerdings wurde er dadurch nur noch ernster als er eh schon war.

„Ich will nicht, dass du dir etwas versaust. Du hättest die Gelegenheit zurück zu gehen, viele würden dich darum beneiden. Willst du das einfach so aufs Spiel setzen? Willst du deine Familie und deine Freunde einfach so aufgeben?“

Da sein Druck fester wurde, sah ich hinunter zu unseren Händen und entzog ihm dann vorsichtig die meine, und um ihm noch weiter aus dem Weg zu gehen, sah ich einfach zur Seite aus dem Fenster.

„Meine Familie ist tot und meine einzige Freundin ist meistens ohne mich besser dran.“

Ohne mich dagegen wehren zu können, nahm er mein Gesicht in beide Hände und zwang mich dazu, ihn an zu sehen. Klar, ich hätte ihn einfach abschütteln können, aber es ging nicht.

„Natürlich hast du eine Familie. Wer hat denn die ganzen Jahre für dich gesorgt? Und Jessica wäre wohl nicht deine Freundin wenn sie wirklich unter dir leiden würde, oder?“

„Du verstehst das nicht.“

„Und ob ich das tue. Du willst ihnen nicht zur Last fallen, aber wieso glaubst du, dass du ihnen eine Last wärst? Wer sagt denn, dass nicht wieder alles in Ordnung kommt? Und selbst wenn, du siehst doch selber wie sie darunter leiden. Glaubst du nicht, sie wären nur froh, wenn du wieder bei ihnen wärst?“

„Du verstehst das einfach nicht.“

„Dann erklär es mir. Ist es wieder nicht fair, oder ergibt es keinen Sinn?“

War klar, dass er wieder einen blöden Spruch daraus machte. Ich hätte ihm am liebsten eine dafür geklebt, dass er sich über mich lustig machte, aber ich tat es nicht. Stattdessen musste ich mir mein Prusten verkneifen.

„Mach dich nur über mich lustig. Du verstehst etwas davon mit den Gefühlen anderer zu spielen, wie lange machst du das schon beruflich?“

„Geschätzt oder möchtest du eine genau Zahl, in Jahren, Monaten oder Tagen? In Minuten müsste ich erst umrechnen, das könnte etwas dauern. Ich war noch nie der schnellste in Mathe.“

„Blödmann.“

„Ich weiß. Können wir dann?“

„Wenn du mich los lässt, ohne das ich Gewalt anwenden muss.“

Als er mich einfach ohne Reaktion weiter fest hielt wäre es beinahe mit mir durch gegangen. Ich mochte es nicht, wenn man mich einfach ohne jede Regung oder Anzeichen auf etwas ansah, das brachte mich aus dem Konzept. Genauso wie jetzt und ich verfluchte ihn dafür, dass er das ausnutzte.

„Lass das, hör auf damit.“

„Ich mache doch gar nichts.“

Die gespielte Unschuld war mehr als offensichtlich und sein verdammtes Lächeln ging mir tierisch auf den Zwirn.

„Eben genau damit sollst du aufhören. Lass mich endlich los, tu irgendwas. Es ist schamlos, erst andere Leute aus zu spionieren und das Wissen dann gegen sie zu verwenden.“

Wieder ließ er sich Zeit und doch ging es so schnell, dass man es kaum mitbekam. Es war einer dieser Momente, in dem die Zeit still zu stehen schien und dann, im nächsten Moment stand man sich so nahe, dass man jedes Detail des anderen wahr nahm. Herzschlag, Atem, die Nähe, einfach alles. Und wieder zögerte er es hinaus. Er stand einfach da und sah mich an. Ich hätte schwören können, etwas in seinen Augen gesehen zu haben, aber als ich darüber nach dachte, tat ich es einfach ab. So wie so kam es mir bei dem Gedanken daran ziemlich kitschig vor und hätte ich gekonnt, hätte ich wieder angefangen zu heulen.

„Gleich 'nicht fair' und 'kein Sinn' gleichzeitig.“

„Mein Leben war die Hölle, dann sterbe ich ganz plötzlich und stehe auf der anderen Seite, um dort elendig vor die Hunde zu gehen. Und um die Qualen perfekt zu gestalten, soll ich hier die große Liebe finden die ich im Leben nie erleben durfte, nur um gleich wieder gehen zu müssen. Wobei letzteres rein hypothetisch ist, du bist der reinste Idiot, also bilde dir nichts darauf ein. Siehst du einen Sinn darin, oder würdest du das fair finden?“

„Ich denke, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert.“

Das war alles was er dazu sagte.

„Na klar, du bist also der Meinung, der Grund wieso ich so früh gestorben bin ist der, dass wir uns sonst vermutlich nie getroffen hätten und das alle, die mich kannten darüber nachdenken, das von Heute auf Morgen alles vorbei sein kann.“

„Das habe ich nie behauptet, aber es freut mich wenn du der Ansicht bist.“

„Das mit den anderen, ja, irgendwie schon. Aber das mit dir? Nie im Leben, ich kann dich nicht ausstehen.“

„Dann hat es ja etwas gutes, dass du nicht mehr lebst. Damit ist hier wohl alles wieder offen.“

„Nein, du weißt wie das gemeint war und jetzt lass uns verschwinden, ich muss hier weg, ich halte das hier drinnen keine Minute länger aus.“

Wir wussten beide, das es nicht am Ort lag, sondern an dem, was grade passierte. Alleine das ich sagte 'uns' zeigte, dass an allem, was man sagte, etwas dran war. Ich war mir darüber im klaren, dass er wusste, dass ich einen Rückzieher machte, aber es war mir so was von egal. Sollte er mich für feige halten, aber ich redete mir trotzdem weiter ein, dass ich ihn nicht leiden konnte. Bei ihm hatte es zwar keinen Sinn, aber ich konnte mich immer noch selbst belügen. Es war einfacher mit dem Wissen zu gehen, das ich ihn nicht mochte, als es nur noch schlimmer zu machen, indem ich auf ihn ein ging. In diesem Punkt reichte es mir, dass er wusste wie es war.

Glücklicherweise verzichtete er darauf, seinen Standpunkt mir gegenüber noch weiter zu vertiefen. Nachdem er mich mit seinem nichts tun erst in dem glauben gelassen hatte, dass er die restlichen Zentimeter, die noch zwischen uns lagen, überbrücken würde, hatte er mich doch einfach so gehen lassen und ich war ihm dankbar dafür, dass er es nicht noch schlimmer gemacht hatte. Auch wenn ich bei meinem Schritt zurück, von ihm fort, nicht nur Erleichterung gespürt hatte. Um ihm noch weiter aus dem Weg zu gehen, sah ich wieder zum Bett, als ich ihn fragte.

„Und wo gehen wir hin? Du schuldest mir noch Antworten.“

„Nenne mir einen Ort und ich bring dich hin.“

„Weiß nicht, irgendwo wo es ruhig ist. Hauptsache hier weg.“

„Okay. Nach dir.“

Damit deutete er Richtung Tür. Mein Blick blieb noch einen Moment an meinem leblosen Körper haften, bevor er Ihn streifte und ich das Zimmer verließ. Schweigend folgte er mir einfach nach draußen, wo wir schließlich stehen blieben.

„Ich schätze du willst mit dem Motorrad fahren.“

„Hatte ich vor, das hilft ungemein beim nachdenken.“

„Okay, ich fahre.“

Noch bevor ich Einspruch erheben konnte, hatte er sich auf die Maschine gesetzt, die ich praktisch direkt vor der Tür hatte stehen lassen, und warf mir den Helm zu.

„Stell dich nicht so an. Du weißt nicht wo hin, ich schon. Jetzt steig auf.“

Im Hand umdrehen hatte er einen zweiten Helm den er selbst auf setzte und dann auf mich wartete. Ich hatte erst daran gedacht einfach dort zu bleiben, schließlich stieg ich dann doch auf. Nachdem er dann ohne Vorwarnung einfach los gefahren war und ich beinahe nach hinten runter gefallen war, hatte ich mich widerwillig bei ihm festgehalten. Natürlich hatte er das extra gemacht. Eben im Zimmer hatte ich geglaubt, das er doch nicht so übel war, aber er machte es bewusst nur noch schlimmer und die Gewissheit, dass er es mit Absicht tat, ließ in mir wieder das Verlangen aufkommen ihm gewaltig in den Arsch zu treten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6. Kapitel

 

Die Richtung in die wir fuhren kam mir verdächtig bekannt vor. Als wir dann an dem Wandererparkplatz vorbei schossen, wusste ich wo wir waren. Das wir allerdings nicht anhielten, kam mir merkwürdig vor, wer weiß wo er mit mir hin wollte. Als wir dann gute fünfzig Kilometer weiter immer noch nicht stehen blieben bereute ich es, mit ihm mit gefahren zu sein. Ich hätte doch darauf bestehen sollen alleine zu fahren, immerhin wäre es keine große Kunst für ihn gewesen, einfach ein zweites Motorrad herbei zu zaubern. Ich hatte es sogar schon in Erwägung gezogen einfach ab zu springen. Ich war mir eigentlich sicher, dass mir nicht sonderlich viel passieren konnte, allerdings hatte der Sturz heute Morgen ziemlich weh getan und ich wollte es nicht darauf ankommen lassen.

Ich hatte schon die Vermutung angestellt, dass er vorhatte weiter weg zu fahren, auf Abstand von alle dem, was mich in dieser Stadt halten würde, als er schließlich von der Hauptstraße ab fuhr, weiter in den Wald hinein. Von dort wo wir abgebogen waren, entlang einer kleinen Nebenstraße die irgendwann in einem Schotterweg endete, waren es geschätzt eine viertel Stunde fahrt. Wenn ich mich nicht irrte und mein Orientierungssinn mich nicht im Stich ließ, hatten wir das Waldstück umfahren und näherten uns dem See, der vom Parkplatz aus gesehen auf der anderen Seite des Waldes lag. Das glaubte ich zumindest, das letzte mal, dass wir dort hin gewandert waren, war schon eine Weile her, ich konnte mich also genauso gut irren.

Auf menschlicher Basis wäre es also nur logisch gewesen, dass er außen rum fuhr. Für seine Verhältnisse war es wieder unlogisch, da es sich nicht auswirkte, wenn wir mit dem Motorrad auf den Wanderwegen fuhren. Ich kam für mich zu dem Schluss, dass er es einfach ausnutze, dass ich von ihm abhängig war.

Als ich an Ihm vorbei sah, konnte ich zwischen den Bäumen schon etwas schimmern sehen und je näher wir kamen, desto weiter erstreckte sich die Wasseroberfläche. Nur wenige Atemzüge später lichtete sich der Wald und wir standen drei Meter vom Ufer entfernt und der Anblick verschlug mir die Sprache. Es war ein Ausblick wie aus dem Bilderbuch. Das, wovon ich grade noch gedacht hatte, dass es der See sei, war eigentlich nur eine kleine Ecke von diesem. Eine kleine Nische, die doch ziemlich groß war. In der Breite fasste sie geschätzt einen Kilometer und nach hinten erstreckte diese sich ein paar weitere Kilometer, wo sie sich dann in den riesigen See öffnete. Ringsum fand man Wald, Sträucher, ein kleines aber wunderschönes Strandhaus und ein paar vereinzelte kleine Klippen, alle höchstens drei oder vier Meter hoch. Jetzt, wo die Nachmittagssonne einen warmen Ton auf dieses Bild warf, sah es einfach nur traumhaft aus.

Hätte mir jemand von diesem Ort erzählt, ich glaube, ich hätte ihn für einen Träumer gehalten. Da ich es nun aber mit eigenen Augen sah, war ich einfach nur baff.

„Wow, das ist unglaublich.“

Wie von selbst zog ich den Helm aus und stieg ab. Vollkommen fasziniert ging ich auf den See zu, bis ich schließlich mit den Füßen im Wasser stand. Am liebsten hätte ich diesen Augenblick eingefangen, damit er nicht verging, aber die Zeit ließ sich leider weder anhalten, noch zurück drehen, auch wenn ich das liebend gerne getan hätte.

„Man kann nur nach vorne schauen.“

Als Er neben mich trat, stimmte er mir zu und fasste gleich die zweite Bedeutung meiner Worte auf.

„Mhm. Wenn alles so wäre, wie man es gerne hätte, würde es nicht lange dauern, bis es langweilig würde.“

„Tja, die Leute, die mit mir zu tun hatten, hatten auf jeden Fall keine Langeweile, aber Spaß hatten sie auch nicht.“

„Das steht auf einem anderen Blatt Papier. Komm, gehen wir rein.“

Mit einem Kopfnicken deutete Er in Richtung des Hauses und machte sich dann auf den Weg, ohne zu warten. Ich hätte aus trotz einfach stehen bleiben können, aber ich war schon immer neugierig gewesen, außerdem schuldete er mir noch Antworten.

In wenigen Sätzen war ich neben ihm, ging neben ihm her ohne etwas zu sagen. Den ganzen Tag über hatte ich versucht vor etwas davon zu laufen, wovor ich nicht fliehen konnte. Ich hoffte immer noch, dass ich einfach nur schlief, aber langsam holte es mich ein, diese Gewissheit. Es war alles viel zu real, als das es anders hätte sein können. Wenn ich so darüber nach dachte fragte ich mich, was sie alle taten. Maik und Vanessa, Jess. Wie würde es jetzt weiter gehen? Wie lange würde ich noch hier sein?

In wenigen Metern hatten wir das Haus erreicht und mir drängte sich die Frage auf, ob es dieser, oder der anderen Seite angehörte. Nach wenigen Schritten standen wir vor der Türe des Hauses, welches auf dem Land begannt und sich dann weiter auf das Wasser hinaus erstreckte. Ganz nach Manier öffnete er die Tür und bedeutete mir voraus zu gehen. Damit hatte sich meine Frage dann beantwortet.

„Ist das hier einer deiner persönlichen Rückzugsorte? Wie lange steht das Haus schon hier?“

Während ich fragte, ging ich weiter hinein, durch den Flur, der in einem riesigen Wohnzimmer mit Panoramaausblick endete. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er neben mir stehen blieb.

„Genau genommen, steht das Haus erst seit ein paar Minuten hier.“

Das überraschte mich etwas, dennoch ließ ich mich einfach auf eines der großen Sofas fallen und machte mich breit.

„Aha und wozu der ganze Aufwand?“

Mit einem plumpen Aufprall landete Er zu meinen Füßen auf dem Sofa.

„Du wolltest dort weg, an einen ruhigen Ort. Den hast du hier.“

„Ich weiß, dass ich mich wiederhole aber, wozu der ganze Aufwand?“

„Du glaubst, ich täte das hier mit einem Hintergedanken.“

„Ich weiß das es so ist.“

„Diese Typen mit denen du zusammen warst, haben einen echt miesen Eindruck hinterlassen. Wir Kerle sind nicht alle so, weißt du.“

„Ach ja, und das soll ich dir glauben.“

„Ja solltest du, du bist einfach an die falschen geraten. Sieh mich an, ich wollte immer nur dein bestes.“

„Als ob du von hier aus etwas hättest tun können.“

Als er nicht antwortete, hob ich den Kopf, den ich einfach auf die Armlehne hatte sinken lassen, und sah ihn aus zugekniffenen Augen an.

„Was hast du gemacht?“

„Nichts, wofür du mich so böse angucken müsstest. Wie gesagt, ich wollte immer nur dein bestes.“

„Was hast du gemacht?“

„Ein ganz krasses Beispiel?“

„Was hast du gemacht?!“

„Du musst ja nicht gleich laut werden.“

„Wenn du nicht gleich anfängst zu erzählen, werd ich noch ganz anders.“

Mittlerweile saß ich Ihm zugewandt im Schneidersitz auf dem Sofa. Er sah aus, als würde er überlegen, was er mir erzählte und was nicht. Schließlich drehte er sich dann zu mir um und fing an zu grinsen.

„Erinnerst du dich daran, wie du Jessica kennen gelernt hast?“

Natürlich tat ich das, ich würde mich zur Hölle schicken, würde ich das vergessen.

„Vor acht Jahren. Ich war wieder abgehauen und saß in einer Eisdiele in der Stadt. Bewusst nicht in der, zu der mein Dad und ich immer gegangen waren. Ich wollte nicht das es wieder weh tat, außerdem wollte ich nicht, dass sie mich gleich fanden. Ich bestellte und als das Eis kam, hatte ich gleich einen Grund mich zu beschweren. Der Kellner hatte meins mit dem von Jess vertauscht. Wir saßen praktisch Rücken an Rücken und als wir gleichzeitig protestierten, kamen wir aus dem lachen nicht mehr raus. Wir haben uns sofort verstanden und ich bin mit zu ihr gegangen. Aber was solltest du damit zu tun gehabt haben?“

Wieder grinste er.

„Ich war dieser Kellner.“

Ich hätte darauf schwören können, dass es aussah, als würden mir gleich die Augen aus dem Kopf fallen.

„Was?!“

„Ich war der Kellner.“

„Das hatte ich schon beim ersten mal verstanden. Ich frage besser: Wie?!“

Wieder sah es aus, als überlegte er.

„In seltenen Fällen ist es uns möglich, in das Geschehen der anderen Seite ein zu greifen. Wenn wir dies tun, sehen uns die Leute in diesem Moment so, wie sie uns sehen wollen und danach vergessen sie in der Regel sofort wieder. Das Ereignis an sich nicht, aber wie wir genau aussahen. So in etwa ist es auch hier, wenn jemand nach hier kommt. Man sieht die Person, die man sehen will, meistens jemanden, der einem am Herzen liegt. Hier bist du auch wieder eine Ausnahme. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du deinen Vater oder deine Mutter sehen würdest, aber das war ja nicht der Fall.“

Beinahe wäre mir die Kinnlade herunter gefallen, aber ich konnte mich grade noch beherrschen.

„Ihr gaukelt den Verstorbenen also auch noch etwas vor, ganz klasse. Wie oft hast du gesagt, hast du in meinem Leben rum gepfuscht? Macht es dir Spaß andere Leute zu manipulieren?“

„Klar dass du es wieder so siehst. Ich schwöre dir bei dem, was da draußen unser aller Schicksal lenkt, ich habe nie etwas getan, was dir geschadet hätte. Es war wie mit Jessica, ich habe dir nur einen Schubs in die richtige Richtung gegeben.“

„Ach, so nennt man das also. Ein Schubs.“

„Ja, eben genau so. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, glaubst du dein Leben wäre so verlaufen wie es den Lauf genommen hat?“

„Na dann danke ich dir, du ach so kluger und heldenhafter Ritter.“

Stinksauer schwang ich mich vom Sofa und machte mich auf, raus auf die Terrasse zu gehen. Dummerweise musste ich dazu an ihm vorbei und als ich das versuchte, hielt er mich am Handgelenk zurück.

„Leo, du läufst schon wieder davon.“

„Na und? Es kriegt doch eh niemand mit und jetzt, Pfoten weg.“

Ohne das ich noch mal nach setzen musste ließ er mich los, ich ging nach draußen und lehnte mich dort auf das Stahlgeländer. Wieder konnte ich bei dem sich mir bietenden Anblick nur staunen und wieder ließ Er mich nicht in Frieden. Stattdessen lehnte Er direkt neben mir ebenfalls auf dem Geländer.

„Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“

„Nein, ich bin immer noch für dich verantwortlich.“

„Ich brauche keinen Babysitter.“

„Ganz offensichtlich ja doch.“

„Dann hol jemand anderen, du redest doch immer von „wir“, irgendwo müssen ja noch andere wie du sein. Andere, die besser sind als du.“

„Tut mir Leid, die haben alle zu tun. Außerdem glaube ich nicht, dass sie den Preis in kauf nehmen würden, für das was ich hier tue.“

Diese Antwort ließ mich ins stocken geraten, ich versuchte noch zurück zu feuern, aber die Verzögerung nahm dem die Wirkung.

„Du hast hier doch eh nichts zu verlieren, wovor also Angst haben.“

„Das vielleicht nicht, aber es beeinflusst das nächste Leben. Beim jetzigen Stand, lande ich vermutlich in der Gosse.“

Das war im Grunde ein witziger Gedanke. Mit hoch gezogener Augenbraue sah ich zu ihm rüber.

„Geschieht dir Recht, wenn du ständig in anderer Leute Leben mogelst.“

„Erstens mal war es nur bei dir, und so oft war das gar nicht. Zweitens, hör endlich auf darauf herum zu reiten, es tut mir Leid okay, ich wollte dir nur helfen.“

Klar, wer es glaubt. Misstrauisch stieß ich mich vom Geländer ab und verschränkte die Arme, als ich mich ihm zu wandte.

„Du wärst vermutlich auch nicht einverstanden wenn man in deinem Leben pfuschen würde, also reite ich so lange darauf herum, wie es mir passt.“

Er stieß sich ebenfalls ab und bezog mir ähnlich vor mir Stellung.

„Ich könnte auch ständig deine Fehler breit treten, mal sehen was du davon hältst.“

„Das kannst du auch sein lassen. Außerdem gehe ich mal davon aus, dass du nicht noch tiefer sinken willst.“

„Seit wann interessierst du dich für andere? Das sind ja ganz neue Seiten.“

„Ich interessiere mich schon für andere, nur eben nicht für dich.“

Sein verwundertes Gesicht ließ darauf schließen, dass er wieder wusste was in meinem Kopf vor sich ging, aber er sprach es nicht an.

„Ach so, dann tut es mir Leid, dass ich etwas anderes gedacht habe. Wenn das so ist, kannst du ja gehen.“

So wie er an mir herab sah wusste ich, dass er etwas getan hatte. Ich brauchte auch nicht an mir runter zu sehen um zu wissen, dass ich nicht mehr viel trug und ich wusste, dass ich stinksauer war. Er ließ sich aber davon nicht beirren und grinste nur böse.

„Du solltest dich vielleicht eine Runde abkühlen.“

Er kam so schnell auf mich zu und packte mich an den Armen, dass ich nicht mehr viel ausrichten konnte. Ich versuchte noch mich zu wehren, aber es half alles nichts. Innerhalb von wenigen Schritten stand ich mit dem Rücken zum See und ein Blick hinter mich zeigte, das plötzlich das Geländer fehlte. Als ich ihn ansah drohte ich ihm mit Blicken, schüttelte wortlos den Kopf, aber er grinste nur triumphierend und dann fiel ich knapp einen Meter hinunter ins Wasser. Ich hatte erwartet, dass es kalt war, aber beim eintauchen war es lange nicht so kalt wie ich gedacht hatte. Zudem war es ein merkwürdiges Gefühl, nicht die Luft anhalten zu müssen, ich konnte einfach unter Wasser ausharren und mich umsehen, ohne Sauerstoff nach tanken zu müssen. Nur blöd, dass ich im Moment mehr auf Rache gesinnt war, als meine Umgebung zu erkunden. Somit tauchte ich wieder auf und sah zu ihm auf, er hockte einfach geduldig dort und beobachtete mich.

„Ich weiß, das war nicht fair, aber ich konnte einfach nicht anders.“

„Du weißt doch nicht mal wie Fairness geschrieben wird. Hat dir noch nie jemand gesagt, dass man von Dingen, von denen man keine Ahnung hat, einfach die Finger lassen sollte?“

„Ja, davon hab ich schon mal gehört. Komm, ich helfe dir hoch.“

Bereitwillig streckte Er mir die Hand entgegen und wollte mich hoch ziehen. Zumindest sah es danach aus, als hätte er das vor. Ich schätzte ja, dass er sich darüber im klaren war, dass er mir die perfekte Vorlage gab, ich konnte gar nicht anders, als seine Hand ergreifen und daran ziehen.

Sobald ich das getan hatte, flog er mit einem überraschten Laut auf mich zu und ich schloss die Augen, machte mich darauf gefasst, dass er auf mir landete. Das wäre es mir Wert gewesen, aber irgendwie hatte er es geschafft, über mich drüber zu hechten. Als er dann knapp zwei Meter von mir entfernt wieder an die Oberfläche kam, sah er tatsächlich überrascht aus.

„Du bist auch nicht grade fair.“

Das er diese Tatsache aussprach, ließ mich dieses mal böse grinsen.

„Rache ist süß.“

„Aber die Rächerin ist noch süßer.“

„Ach halt doch die Klappe.“

Er hatte sich grade das Wasser aus den Augen gewischt, als ich vor ihm ankam und ihn ein weiteres mal unter Wasser stieß. Ich nutzte diese Chance und schwamm einfach davon, weiter auf das offene Wasser hinaus. Ich schwamm einfach kraulend ein paar hundert Meter weit, bis ich schließlich halt machte und mich um sah. Es war eben nicht nur Einbildung gewesen, dass es so leise war, es war tatsächlich so. Nirgendwo war Er auch nur ansatzweise zu sehen, die Wasseroberfläche bewegte sich kein bisschen. Ich glaubte zwar nicht wirklich daran, dennoch hoffte ich, dass er mir wenigstens ein paar Minuten Ruhe gönnte.

Ein letztes mal sah ich mich um, um auf Nummer sicher zu gehen und ließ mich dann einfach, mit dem Gesicht nach oben, treiben. Über mir erstreckte sich der Himmel, welcher bereits dunkler zu werden schien, die vereinzelten Wolken bekamen schon einen leicht rosa angehauchten Farbton. Nicht mehr lange und man würde die ersten Sterne sehen können. Die Erinnerung daran, wie ich Abends oft im Garten gelegen und in den Himmel gesehen hatte, ließ gleich wieder dieses drückende Gefühl in mir aufkommen. Es war einfach nicht gut, wenn ich Zeit zum nachdenken hatte, das war noch nie gut gewesen und so wie es aussah, würde sich das auch nie ändern.

Ich hätte es mir auch denken können, trotzdem zuckte ich kurz zusammen, als Er wie auf ein Stichwort kam, um mich vom denken ab zu halten. Unerwarteterweise und doch so logisch, das ich mir am liebsten vor die Stirn geschlagen hätte, schlangen sich zwei Arme von unten um meine Taille und ich spürte, wie er sein Kinn auf meiner Schulter ablegte. Aus den Augenwinkeln versuchte ich zu ihm rüber zu schielen, was nicht sonderlich gut klappte, ohne den gesamten Kopf drehen zu müssen.

„Du bist wie die Pest, die wird man auch nicht mehr los, wenn sie einmal da ist.“

„Das nehme ich jetzt mal als Kompliment.“

„Was sollte daran als Kompliment durch gehen?“

„Um ein paar Ecken gedacht bedeutet das, dass du dich bis zu deinem Tod nicht von mir trennen kannst.“

„Nur doof, dass ich schon tot bin, nicht wahr?“

„Bis zum Tod im übertragenen Sinne, so besser?“

„Es ist in keiner Version gut. Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich das alles vielleicht gar nicht will?“

„Wir haben wohl beide bemerkt, dass das nicht der Fall ist.“

„Oh nein, da verstehst du was falsch. Ich will das nicht. Selbst wenn es anders wäre.“

„Was wäre so schlimm daran? Wieso nicht einfach darauf ein gehen und es probieren?“

„Es gibt Dinge die man einfach sein lassen sollte, das hier gehört dazu.“

„Es gibt viele Dinge die man nicht tun sollte und genau deswegen macht man sie dann.“

Ich wusste genau wovon er sprach. Das, was er sagte, war quasi mein Lebensmotto und genau das wusste er ebenfalls, nur wunderte es mich, dass er diese Ansicht teilte, oder zumindest hörte es sich in diesem Moment danach an. Um mich zu vergewissern, drehte ich ihm also das Gesicht zu, um zu sehen, ob er nur bluffte. So wie er aussah, war es ihm in diesem Moment jedoch ziemlich Ernst, auch wenn er wieder dieses verdammte Lächeln aufgesetzt hatte. Deswegen wunderte es mich, wenn überhaupt, nur ein wenig, dass er dieses mal die restliche Distanz, die zwischen uns herrschte, tilgte.

Ich wusste ja, das es so hatte kommen müssen. Dennoch hatte ich gehofft, dass ich wieder weg sein würde, bevor es soweit kommen konnte. Doch das schlimmste war, dass Er es wieder so extrem in die Länge zog, sodass es beinahe weh tat. Es dauerte eine geschätzte Ewigkeit, bis ich seine Lippen auf meinen spüren konnte, aber als es passierte, war das Gefühl, das ich innerlich zerriss, nicht zu verkennen. Ich wusste nicht im geringsten was es gewesen war, aber ich wusste, dass es wichtig war. Allerdings rückte dies ziemlich schnell in den Hintergrund, es drehte sich alles nur um das, was grade geschah. Es war eines dieser Dinge, eines, bei dem man erst wusste wie sehr man etwas wollte, wenn man wusste, dass man es haben konnte.

Ich wusste genau, dass ich mich viel zu sehr hineinsteigerte, daher war ich nur dankbar, als er anfing zu lachen und so den Kuss beendete. Ich ließ mich einfach weiter treiben, blieb bewegungslos, bis auf das wegdrehen des Kopfes und das schließen der Augen, um die herrschende Szenerie aus zu blenden.

„Das ist eines dieser Dinge, die nie passieren dürften.“

„Jetzt ist es zu spät und du kannst nicht sagen, dass es dich gestört hat, dann wäre deine Reaktion anders ausgefallen.“

„Das weiß ich selber. Trotzdem müsste ich dich dafür umbringen, dass du es trotz allem gemacht hast.“

„Ich könnte sagen, dass es mir Leid tut, aber das wäre gelogen und da ich bisher immer mit offenen Karten gespielt habe, lasse ich das also bleiben.“

„Was hast du noch mal gesagt wie du heißt? Vollidiot?“

„Samuel. So hieß ich zumindest im letzten Leben.“

„Oh ich dachte das wäre ein Witz gewesen.“

„Du darfst dir gerne was neues einfallen lassen.“

„Nein, Sam ist in Ordnung, wobei du ja weißt das ich den Namen kaum verwenden werde. Es ist viel einfacher dich mit Blödmann oder Depp an zu sprechen, das passt einfach besser.“

„Ich wusste, dass du so etwas in der Art sagen würdest.“

„Kein Wunder, du hast mich fast mein ganzes Leben lang ausspioniert, quasi erforscht. Wer wüsste da nicht Bescheid.“

„Das hältst du mir jetzt auf ewig vor, oder?“

„Ich habe wohl jedes Recht dazu.“

Eine ganze Weile blieb es einfach ruhig, ich spürte nur wie sich die Arme um mich herum noch ein wenig fester schlossen. Zu meinem missfallen musste ich allerdings feststellen, dass ich es genoss. Es war eine geschätzte Ewigkeit her, seitdem mich jemand so festgehalten hatte, es war beinahe traurig, wie sehr ich das brauchte. In schweren Zeiten hatte ich mich immer dabei erwischt, wie ich versuchte mich selbst zu trösten, dummerweise wusste er dies und jetzt nutzte er genau das aus. Aber wer würde sich nicht fallen lassen, wenn er wusste das dort jemand war, der ihn auffing? Ich hatte schon viel zu lange darauf verzichtet, mich einfach gehen zu lassen.

Es dauerte bedauerlicherweise nicht lange, bis ich Trottel mir die Ruhe selbst zunichte machte. Ohne etwas dagegen tun zu können dachte ich nach, nur das diesmal Er das Thema war, um das meine Gedanken kreisten und direkt wie ich war, sprach ich die Fragen einfach aus.

„Du hast gesagt, du hättest keine Gelegenheit für Kinder gehabt. Wieso? War die Zeit zu knapp, oder hast du einfach keine Freundin ab gekriegt?“

Hätte ich es besser gewusst hätte ich gesagt, sein kurzes lachen klang leicht traurig. Vielleicht war es ja auch wirklich so, was wusste ich schon.

„Wohl etwas von beidem. Ich war grade sechzehn oder siebzehn als sie mich für den Krieg orderten. Ich wollte eigentlich gar nicht dort hin, ich wollte lieber bei meiner Familie bleiben, in dem kleinen Laden aushelfen den meine Eltern betrieben, aber mir blieb keine Wahl. Trotz dem ich keine Ahnung hatte haben sie mich los geschickt. Alles in allem lief es sogar gut, dafür das ich nicht wusste was ich tun sollte, hatte ich knapp drei Jahre durch gehalten. Dann haben sie mich doch erwischt und ich bin mir sicher, es dauerte keine zehn Minuten, dann fand ich mich hier wieder, auf dieser Seite. Wie du siehst, hatte ich weder Zeit eine Frau zu finden, noch eine Familie zu gründen. Nicht das ich nicht Freundinnen gehabt hätte.“

Das wäre das letzte gewesen, was ich mir vorgestellt hätte, trotzdem passte es irgendwie zu ihm.

„Wieso fragst du, ich dachte ich interessiere dich nicht.“

„Nur so. Wieso bist du hier geblieben und wie?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“

„Wieso nicht? Ich werde dich schon nicht dafür verklagen.“

„Nein, ich kann es dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß.“

„Wieso weißt du das nicht? Gib es zu, du willst es mir nur nicht sagen.“

„Doch würde ich, wenn ich es wüsste, aber ich bin nicht allwissend tut mir Leid.“

„Als würde dir das wirklich Leid tun.“

„Doch das tut es, denn wenn ich alles wüsste, könnte ich dir die Frage beantworten, um die du so geschickt versuchst herum zu Fragen.“

„Ach ja? Und was will ich eigentlich fragen, du Möchtegern Allwissender?“

„Deine eigentliche Frage ist, ob du auch hier bleiben kannst. Ich kann nur spekulieren, aber ich denke du willst nicht zurück, um ihnen keine Last zu sein, aber du willst auch nicht gehen, weil du sie nicht vollends verlieren oder alleine lassen willst, hab ich Recht?“

Wenn er das jetzt so sagte, klang das ziemlich logisch und wenn ich so darüber nach dachte, hatte ich das zwar gar nicht fragen wollen, aber er hatte Recht, genau so war es. Und bei meinem Glück, würde es nicht so kommen.

 

 

 

 

 

7. Kapitel

 

Das ich schwieg, war wohl Antwort genug. Ich wäre am liebsten geflohen, aber ich blieb dort und ließ mich lieber von meinen Gedanken hin und her reißen. Das die Möglichkeit, dort zu bleiben, nun zu den Optionen zählte, machte es um einiges leichter, gleichzeitig aber auch schwieriger.

Während ich in meinen Gedanken versank und das Für und Wider abwog, zerrann die Zeit, ohne das ich es bemerkte. Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht bemerkt hatte, dass wir in eine bestimmte Richtung trieben. Erst als Sam sich aufsetzte und mich mit sich hoch zog, flogen meine Augen auf und ich sah mich um. Wir waren zurück am Haus, dort wo vorher die Lücke im Geländer gewesen war, reichte nun eine Treppe ins Wasser. Er saß auf einer der Stufen, zur Hälfte noch im Wasser und ich selbst saß eine Stufe tiefer zwischen seinen Beinen. Ich wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn fragend an, stellte ihm schweigend die Frage, wie wir ohne Strömung hierher zurück getrieben waren. Wäre er es gewesen, hätte ich das ja wohl bemerkt. Er seinerseits lächelte nur und zog die Schultern hoch, doch es war deutlich, das er etwas verschwieg. Ich wollte schon protestieren, beließ es dann aber bei einem Kopfschütteln und drehte mich wieder dem See zu. Seufzend ließ ich mich gegen ihn sinken und ich wusste, dass ich das vermutlich bereuen würde, aber ich wollte nicht wieder alleine sein, auch wenn ich das oft behauptete.

Ich spürte mehr, als das ich es sah, dass er mir die Arme um die Schultern legte. Ebenso, wie er seinen Kopf an meinen lehnte. Es fiel mir für meinen Geschmack eindeutig zu leicht, einfach los zu lassen und zu entspannen, deswegen war ich froh darüber, als er mir einen Grund gab, um meinen Verstand wieder ein zu schalten.

„Ist dir nicht kalt?“

Über diese Frage musste ich erst einmal, wenn nicht sogar zwei mal nachdenken bis ich mir sicher war, dass ich ihn richtig verstanden hatte.

„Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht spürbar. Oder mir ist schon so kalt, dass ich es nicht mehr spüre.“

„In jedem anderen Fall wäre letzteres schlecht, aber da dir hier nichts passieren kann.“

„Du stellst das dar, als wäre es etwas gutes, tot zu sein.“

„Nein, das wollte ich eigentlich nicht damit sagen. Nur, dass dir hier nichts passieren kann. Weiter nichts.“

Fürs erste ließ ich dieses Thema fallen, dennoch ließ ich die Unterhaltung nicht abreißen.

„Wieso fragst du?“

„Was?“
„Wieso fragst du, ob mir kalt ist?“

„Ach so. nur so.“

„Du musst doch einen Grund haben.“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Eigentlich? Ach komm, du verheimlichst doch was. Man fragt nur, wenn man etwas wissen will, wenn man einen Hintergedanken hat.“

„Ja, ich wollte wissen wie es dir geht. Wieso hast du denn gefragt?“

„Ich wollte wissen, welchen Hintergedanken du hast und bin zu dem Schluss gekommen, dass du lügst.“

„So so. ich lüge aber nicht. Ehrlich nicht.“

„Okay, dann verbirgst du eben etwas. Du sagst mir nicht alles.“

„Ja, das kommt schon eher hin.“

Wegen seinem Kommentar drehte ich mich kurz zu ihm um und sah ihn wieder nur lächeln.

„Auf Grund deiner direkten Art gehe ich mal davon aus, das du dir zu Lebzeiten nicht sehr viele Freunde damit gemacht hast.“

„Ich hatte kaum Zeit um mir Feinde zu machen. Aber ich weiß es zu schätzen, dass du dich für meine Vergangenheit interessierst.“

Dass er das annahm, war zu erwarten gewesen.

„Nein, tue ich gar nicht. Wenn überhaupt, wollte ich dich damit fertig machen.“

„Das ist dir aber nicht sehr gut gelungen. Oder wolltest du das vielleicht gar nicht? Man munkelt noch.“

„Da gibt es nichts zu munkeln, ich wollte dich richtig leiden lassen.“

Ich hörte mich nicht mal ansatzweise danach an, als meinte ich das wirklich ernst. Heute Morgen hätte ich das vermutlich noch, aber jetzt schenkte ich nichts von dem, was ich über ihn dachte, noch glauben. Dafür war ich mir viel zu unsicher geworden in den letzten Stunden.

„Natürlich willst du das. Genauso wie ich will, dass du gehst. Egal ob zurück oder einfach weiter, Hauptsache du verschwindest.“

So wie er klang, hätte ich schwören können, dass ihn diese Worte einige Überwindung gekostet hatten. Vermutlich traf das sogar zu, ich wollte gar nicht wissen wieso. Obwohl es ein paar Stunden zuvor noch nicht annähernd danach aus gesehen hatte, dass er wollte dass ich blieb.

Um das drückende Gefühl, das dieser Gedanke verursachte, zu überspielen, verfolgte ich das Gespräch einfach im gleichen ironischen Ton weiter.

„Gut, dann sag mir endlich wie ich von hier weg komme, dann bin ich schneller weg als du gucken kannst.“

„Du läufst einfach zurück zur Hauptstraße, dann links, bis in die nächste Stadt und fragst nach Merlin, der zaubert dich dann zurück. Noch fragen?“

„Ja. Weißt du ob er mich auf die andere Seite begleiten würde? Ich würde gern ein paar seiner Tricks lernen, die sind mit Sicherheit praktisch im alltäglichen Leben.“

„Ich weiß nicht, aber fragen kostet ja nichts. Aber lass dir eins gesagt sein, wenn er dich angräbt finde ich einen Weg um ihn kalt zu machen.“

„Das klingt leicht besitzergreifend. Vergiss nicht, dass ich nicht dir gehöre.“

„Das lässt sich vermutlich irgendwie ändern.“

„Und du weißt, dass ich mir das nicht gefallen lassen würde. Also überlege dir besser zweimal was du tun und lassen würdest.“

„Ja, da hast du Recht.“
Das war das einzige, was er noch dazu sagte. Während wir schwiegen, brach vollends die Nacht über uns herein, aus allen Richtungen war das nächtliche treiben zu vernehmen. Es dauerte eine ganze Weile bis ich bemerkte, dass er mich fester als zuvor umarmte. Bevor ich etwas sagen konnte, seufze er und ergriff das Wort.

„Willst du wirklich so dringend zurück?“

Diese Frage stellte ich mir schon den ganzen Tag und ich hatte bisher noch keine Antwort darauf gefunden.

„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich meine, natürlich will ich zurück, aber was hätte das für einen Nutzen? Ich will sie nicht gehen lassen, aber ich will ihnen auch keine Mühe machen. Ich habe gesehen wie aufgelöst sie waren und ich bin mir sicher das sie sich freuen würden, wenn ich wieder da wäre. Aber wäre es wirklich so toll? Die Chancen stehen gut, das ich als Pflegefall ende. Damit würde ich ihnen ihr Leben versauen.“

„Du gehst immer vom schlimmsten aus. Du bist doch sonst so selbstbewusst, das habe ich immer an dir bewundert.“

„Und du bist ein riesengroßer Schleimer.“

„Das ist nicht geschleimt, das ist eine Tatsache.“

„Hör auf damit, ich will das nicht hören.“

„Ich finde das süß, dass es dir nicht gefällt, wenn andere dich mögen.“

„Ich hab gesagt du sollt damit aufhören.“

„Und was, wenn nicht? Machst du mir dann die Hölle heiß?“

„Genau das. Und noch viel mehr, du wirst nie wieder glücklich, das verspreche ich dir.“
„Uhh, jetzt habe ich aber Angst. Bitte tu das nicht.“

„Du nimmst mich nicht Ernst, das gefällt mir nicht.“

„Ich kann dich grade eben nicht Ernst nehmen, tut mir Leid.“

„Das tut dir nicht Leid, also hör auf zu lügen.“

Ich bemerkte erst, dass er mich an den Handgelenken gepackt hatte, als meine Arme Richtung Himmel flogen.

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht lüge. Also schreib dir das hinter die Ohren Fräulein.“

Ich versuchte mich erneut zu ihm um zu drehen, was sich mit den Armen in der Luft ziemlich schwer gestaltete, also musste es auch ohne gehen.

„Ach ja? Diese Meinung vertrittst du dann aber erst seit heute. Heute Morgen hat das nämlich noch ganz danach ausgesehen, als könntest du mich nicht leiden. Da hast du ja wohl ganz offensichtlich gelogen. Oder willst du mir jetzt erzählen, dass du ganz plötzlich deine Meinung geändert hast?“

Ich hatte erwartet, dass er schweigen würde. Dass er nicht wusste was er sagen sollte, weil ich ihn erwischt hatte. Aber seine Antwort kam so schnell, als hätte er sie sich schon zurecht gelegt gehabt.

„Ich habe gedacht, du gehst wieder und da hat es keine Bedeutung. Also besser, du kannst mich nicht leiden, als das es alles nur schwerer macht. Du kennst diese Einstellung zu genüge.“

Ja, genau das hatte ich mir schon unzählige male vorgenommen, ebenso für ihn jetzt, aber irgendwie fiel es mir grade ziemlich schwer, daran fest zu halten.

„Glaubst du das also? Nein, warte. Ich weiß das du es weißt, spar dir die Luft. Erkläre lieber wieso du dich doch für diese Vorgehensweise entschieden hast.“

„Du warst von Anfang an anders. Mein Gefühl hat mir gesagt es wäre wichtiger, es dich wissen zu lassen, dich mit diesem Wissen gehen zu lassen. Außerdem war ich etwas egoistisch. Ich wollte diese kurze Zeit wenigstens so mit dir verbringen, wie ich es wollte, ohne mich verstellen zu müssen.“

Ich brauchte einen Moment um darauf kontern zu können.

„Das klingt total kitschig.“

„Ich weiß, aber du hörst dich trotzdem an, als müsstest du gleich heulen.“

„Stimmt ja gar nicht, deine Fantasie geht mit dir durch. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich hier gar nicht heulen kann.“

„Natürlich, und wenn wir jetzt nicht hier wären, würde ich dir auch nicht die Tränen aus dem Gesicht wischen.“

„Ganz genau, weil selbst auf der anderen Seite alles trocken bliebe.“

Das war vermutlich gelogen, aber das konnte ja jetzt glücklicherweise niemand bezeugen.

„Na gut. Wie du meinst.“

Damit beließ er es dabei, ließ einfach meine Arme wieder sinken und legte seine dabei um meine Taille. Stillschweigend dankte ich ihm für seine Anwesenheit und ließ einfach rücklings den Kopf auf seine Schulter sinken. Wäre ich alleine hier gewesen, wäre ich vermutlich durchgedreht.

„Worüber denkst du nach?“

Wieder musste ich überlegen, bevor ich antwortete, wobei ich es in gewisser weise albern fand, dass er fragte.

„Ich dachte du weißt was ich denke.“

„Was? Das habe ich nie behauptet.“

„Doch, du sagtest ich wäre ein offenes Buch, das sei bei jedem so.“

„Ach, das. Ja das habe ich gesagt, aber damit meinte ich nicht, dass ich deine Gedanken lesen kann. Die meiste Zeit verbringen wir hier mit beobachten, da weiß man viel über andere.“

„Und wieso hast du dann die ganze Zeit so getan als ob? Verdammt, ich dachte du geisterst die ganze Zeit in meinem Kopf rum und du hast dir deinen Spaß daraus gemacht! Hör auf zu lachen, das ist nicht witzig!“

„Entschuldige, aber das konnte ich mir nicht verkneifen. Aber du musst zugeben, du hättest das selbe getan. Leo, ich kenne dich schon ziemlich lange, ich weiß wie du tickst. Wäre es anders herum, hätte ich vermutlich das gleiche geschlussfolgert und du hättest genau so die Chance ergriffen um mir eins aus zu wischen. Also zieh nicht so ein Gesicht.“

Das er mir mit jeweils einem Zeigefinger die Mundwinkel nach oben zog, war nur mehr der Gipfel des Eisberges. Klar, er hatte vermutlich Recht, ich hätte ihn höchst wahrscheinlich genau so auf die Schippe genommen. Das änderte aber nichts daran, dass ich mir selber in den Arsch dafür hätte treten können, dass ich ihm die Sache so leichtgläubig abgenommen hatte.

„Und ich habe eben noch gedacht, dass ich froh bin, dass du hier bist und ich nicht alleine da stehe. Aber grade beschleicht mich das Gefühl, dass ich ohne dich doch besser dran wäre.“

Als ich gestellt dramatisch seine Hände beiseite schob und aufstand, warf ich ihm einen bösen Seitenblick zu und ging zurück auf die Veranda. Ich musste mich nicht umdrehen um zu sehen, dass er mir folgte. Er verriet sich von selbst, da musste ich nicht groß vermuten.

„Ich weiß, dass du nicht wirklich sauer bist. Vergiss nicht..“

„Ja ich weiß. Du kennst mich schon fast mein ganzes Leben lang. Weißt du eigentlich, dass das ziemlich nerven kann? Hör einfach auf mit dem, was du tust, hör auf mir immer einen Schritt voraus zu sein. Ich bin es nicht gewohnt das mich jemand so gut kennt, also schalte mal einen Gang zurück.“

Schlussendlich war ich doch aufgebracht und erschrak daher leicht, als ich mich umdrehte und Er direkt vor mir stand. Dementsprechend fuhr ich ihn dann an, um mir Freiraum zu verschaffen.

„Verdammt! Lass das gefälligst! Du rückst mir grade ziemlich auf die Pelle, du müsstest wissen, dass ich das nicht leiden kann.“

„Ich weiß. Ich versuche nur heraus zu finden wie weit ich persönlich bei dir gehen kann.“

„Für dich ist das doch nur ein Spiel, oder? Ich verrate dir jetzt was. Das Maß ist gleich voll und dann bist du unten durch, für sehr, sehr lange Zeit, also pass besser auf was du tust.“

„Ja ich merke schon. Darf ich anmerken, dass du launischer bist als sonst? Ich würde sagen, ich bringe dich auf die eine oder andere Art aus der Fassung, aber dann reißt du mir dafür den Kopf ab.“

„Ich bin mir grade nicht sicher, ob ich mir nicht wünschen sollte, dir niemals begegnet zu sein. Du hältst mich grade davon ab etwas zu tun, was mir ziemlich wichtig ist.“

„Ich fand dein bluffen noch nie wirklich überzeugend, ich weiß gar nicht wieso so viele Angst vor dir haben konnten.“

„Du scheinst nicht zu wissen was Bluff und was mein voller Ernst ist, das kann dir zum Verhängnis werden.“

„Und als nächstes drohst du mir mit Gewalt. Ich kenne deine Strategie, das zieht bei mir nicht.“

„Ein Versuch war es Wert. Trotzdem. Lass mir gefälligst meinen Freiraum, du hast die Grenze erreicht.“

„Hm. Bist du dir sicher, dass wir sie nicht noch ein wenig ausreizen können? Dein Aufenthalt hier könnte ziemlich lang sein.“

„Ja genau, der könnte lang sein, also hör auf zu spielen. Ich hätte nämlich genau so viel Zeit um stinksauer auf dich zu sein.“

„Okay, das ist ein gutes Argument. Eins zu Null für die Löwin. Verrätst du mir trotzdem worüber du grade eben nach gegrübelt hast? Du hast ziemlich nachdenklich ausgesehen.“

„Oh man Sam, du nervst. Wieso interessiert dich das überhaupt?“

Man konnte den Wechsel von Spaß in Erstaunen genau in seinem Gesicht beobachten, bis er schließlich skeptisch tat.

„Leo? Du bist wirklich Leonie? Habe ich irgendwas nicht mitgekriegt, wann hast du dir den Kopf an gehauen?“

Langsam aber sicher wurde er anstrengend. Als er mir die Hand an die Stirn legte, vermutlich um zu sehen ob ich Fieber hatte, nahm ich sie leicht genervt fort und sah ihn mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht an, der sagte: Lass das, du hast sie ja nicht alle.

„Was habe ich jetzt schon wieder gemacht?“

„Du hast meinen Namen benutzt. Bisher hast du mich nur immer mit Beleidigungen angesprochen. Was ist passiert?“

„Du wirst grade ziemlich Nervenaufreibend, ich hab einfach keinen Bock mehr auf deine Spielchen. Sieh es als freundliche Bitte an, aber gewöhn dich nicht dran.“

„Wieso, weil du ohnehin gehst? Das lasse ich nicht gelten.“

„Selbst wenn, es kommt nicht mehr vor. Du würdest nur vergebens warten.“

„Ich würde lieber warten, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Außerdem würde ich dich schon noch umpolen, dann wärst du schon von alleine etwas freundlicher.“

„Willst du damit sagen, ich wäre nicht freundlich? Man müsste meinen, dass grade du das besser wissen müsstest.“

„So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte, dass du dann mir gegenüber etwas handzahmer wärst.“

„Jetzt vergleichst du mich mit einem Tier? Das wird ja immer besser.“

Um ihm ein schlechtes Gewissen zu verschaffen drehte ich mich beleidigt um und wollte ins Haus. Auf halbem Weg dorthin kleidete ich mich wieder Straßentauglich ein und musste dann wieder halt machen, weil er mir in den Weg trat.

„Es ist egal was ich sage, es ist im Moment alles falsch, oder?“

„Das hast du verdammt richtig erkannt.“

„Und es bringt dich nichts davon ab, jetzt zu Jessica auf zu brechen, richtig?“

Einen Moment war ich wirklich überrascht, bis mich sein lächeln beinahe wieder aus der Bahn warf.

„Leo, ich kenne dich vermutlich besser als jeder andere, dich eingeschlossen. Jessica bedeutet dir mit am meisten, außerdem hast du gesagt ich würde dich von etwas wichtigem abhalten.“

„Gut geschlussfolgert, Holmes. Darf ich jetzt gehen, oder zwingst du mich dazu, hier zu bleiben?“

„Ich komme mit. Die ganze Sache ist noch zu frisch, als das du das alleine schaffst. Ich lass dich nicht alleine gehen.“

Da mein böser Blick nicht reichte, trat ich ihm auf die Füße und stieß ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. Um dann noch den Effekt zu steigern rückte ich so nahe, das sich unsere Nasenspitzen fast berührten und sah ihm in die Augen.

„Du bleibst hier. Keine Diskussion.“

„Versuchst du jetzt mich zu hypnotisieren? Ich enttäusche dich nur höchst ungern, aber das funktioniert irgendwie nicht.“

„Dann muss ich mir etwas anderen einfallen lassen. Gibt es irgendetwas, womit man dich ablenken kann, während ich mich davon schleiche?“

„Wenn es etwas gäbe, würde ich dir das mit Sicherheit nicht verraten. Weißt du was, ich komme mit und warte draußen. Das ist mein erstes und letztes Angebot. Ich bin für dich verantwortlich.“

„Du hast doch ohnehin schon gegen vieles verstoßen, da macht diese eine Sache mehr oder weniger auch nichts mehr aus.“

„Gut, ich lasse dich eben einfach ungern gehen. Klingt die volle Wahrheit besser, oder wäre dir nur die halbe doch lieber gewesen?“

„Mir wäre es am liebsten, wenn du einfach hier bleiben und mich gehen lassen würdest.“

„Diese Option ist aber nicht möglich, also finde dich damit ab, dass ich irgendwo in der Nähe bleibe.“

„Ich werde dich schon noch irgendwie los. Ich fahre alleine, sieh zu wie du an mir dran bleibst.“

Ohne die Absicht, weiter zu diskutieren, trat ich rückwärts ein paar Schritte zurück. Zum ersten mal beäugte ich ihn mit einem flüchtigen Blick von oben bis unten und stellte fest, dass er mir tatsächlich bekannt vorkam. Ich hatte den ganzen Tag versucht ihn ab zu wimmeln und mir war gar nicht aufgefallen, dass er tatsächlich Ähnlichkeit mit einigen meiner flüchtigen Begegnungen hatte. Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, hätte ich mich selbst dafür treten können.

„Wenn ich wollte, wäre ich sogar noch vor dir da, also glaube nicht, du könntest mich abschütteln.“

„Das glaubst du doch selber nicht.“

„Willst du es darauf ankommen lassen? Du wirst schon sehen was du davon hättest.“

„Ich dachte du kennst mich? Du müsstest wissen wie ich fahre und ich kann hier fahren wie ich will.“

„Ja, aber du weißt nicht was ich dir nicht erzählen darf. Daher kann ich dir nur ans Herz legen, mich nicht zu unterschätzen.“

Ich war mir nicht sicher ob er nur versuchte mich ein zu schüchtern oder nicht, aber irgendetwas ließ mich ziemlich sicher sein, dass er nicht bluffte.

„Ich unterschätze dich nicht, das ist eine Tatsache.“

„Gut, ich lasse dir sogar noch Vorsprung. Du wirst schon sehen.“

So selbstsicher wie er dort stehen blieb, war ich mir für einen kurzen Moment nicht mehr sicher. Erst als er fragend die Brauen hob, zuckte ich mit den Schultern und wand mich zum gehen, blieb aber an der Tür noch mal stehen und drehte mich um, um zu sehen, ob er wirklich stehen blieb. Er bewegte sich wirklich nicht. Entweder war er ein Idiot, oder er spielte unfair. Ich tendierte ja dank seiner Aussage zu zweitem.

Kopfschüttelnd begab ich mich zu meinem Motorrad, nahm mir meinen Helm, stieg auf und innerhalb von wenigen Augenblicken jagte ich mit Vollgas durch den Wald.

 

So wie ich fuhr, dauerte es nur halb so lang wie es gedauert hatte, vom Krankenhaus aus zum See zu kommen. Ohne Rücksicht auf Verluste durchfuhr ich einfach das Gelänge, bis ich schließlich wieder in die Stadt kam. Dort hielt ich mich dann einigermaßen an den Straßenverlauf, allerdings nahm ich jede mögliche Gasse und Fußgängerzone. Und die ganze Zeit über war Sam nirgends zu sehen. Ich wollte mir gerne einreden, dass ich ihm wirklich voraus war, aber er konnte genauso gut einen anderen Weg genommen haben. Dementsprechend fielen mir beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich ihn vor Jessica's Haus vorfand. Ich musste echt ein ziemlich schräges Gesicht gezogen haben, das ließ zumindest sein übermütiges Grinsen vermuten.

„Ich hab dir ja gesagt, ich wäre vor dir hier.“
„Das geht gar nicht, du hättest mich irgendwo überholen müssen.“

„Das hab ich, aber ich habe auch den kürzesten Weg genommen.“

„Du hast doch gemogelt, wo auch immer du her gefahren bist, ich hätte dich wenigstens sehen müssen. Spätestens nachdem du an mir vorbei warst. Das ist überhaupt nicht möglich.“

„Jetzt halt mal die Luft an. Vielleicht verrate ich dir später wie ich das gemacht habe. Ich denke du willst erst mal hoch. Sie ist auf der Dachterrasse.“

Natürlich war sie dort oben. Sie war noch viel rührseliger als ich, es gab keinen anderen Ort, an dem sie grade sonst sein konnte.

Und ich sollte Recht behalten. Nachdem ich die Treppen von drei Stockwerken hinter mich gebracht hatte, fand ich sie auf der Terrasse wieder. Sie lag eingerollt auf einer der Liegen und starrte vor sich hin. Im schwachen Schein der alten Außenbeleuchtung konnte man trotz allem sehen, dass sie ziemlich erschöpft aussah. Ich versuchte auf Abstand zu bleiben und ging stattdessen rüber ans Geländer. Ein Blick nach unten zeigte, dass Samuel wirklich verschwunden war. Erst nachdem ich mich davon überzeugt hatte, wand ich mich wirklich Jess zu.

Ich trat von hinten an sie heran, hockte mich neben ihre Liege und erst da fiel mir auf, dass sie weinte. Es war kaum wahrnehmbar, aber ich konnte sie trotzdem leise schluchzen hören. Außerdem sah ich, wie sie zitterte, obwohl ich nicht sagen konnte ob ihr nicht doch einfach kalt war, da ich es selbst nicht wahr nahm.

In diesem Moment wollte ich so sehr für sie da sein, wobei dies, wäre ich dort gewesen, nicht einmal nötig gewesen wäre. Hätte ich gekonnt, hätte ich bei diesem Gedanken ebenso wie sie angefangen zu heulen. Mir blieb einzig dieses Gefühl, dass ich zerriss, ich hätte am liebsten laut geschrien, aber stattdessen legte ich ihr nur tröstend die Hand auf die Schulter, in der Hoffnung ihr irgendwie damit zu helfen.

„Jess, hör auf zu weinen.“

Sie hatte sich so schnell aufgesetzt, dass ich vor Schreck einfach nur nach hinten umgekippt war. In ihrem Gesicht jagte eine Emotion die nächste und im ersten Moment war ich mir nicht sicher, ob sie wusste dass ich hier war. Als sie sich dann jedoch wieder fasste, räumte sie meine stumme Frage aus.

„Leo.“

Es war mehr gewispert als geflüstert und es war ihr deutlich an zu sehen, dass sie gleich wieder in Tränen ausbrechen würde. Ich selbst konnte für meinen Teil nur lächeln und ihr zu nicken. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, mischte sich jemand ein.

„Die Entscheidung ist gefallen Leo. Du bleibst hier.“

Augenblicklich flog mein Blick an Jessica vorbei und traf auf Sam, wobei mir bei seinem Anblick die Luft weg geblieben wäre, hätte ich noch geatmet. Er stand einfach nur da und lächelte, aber das war auch nicht der Grund, wieso es mich fast vom Hocker haute. Ausschlaggebend waren eher die grauen Schwingen die er plötzlich trug.

„Überrascht? Dann erschreck dich nicht, wenn du dich nach deinen eigenen umdrehst.“

Es dauerte einen Moment bis seine Worte wirklich zu mir durch drangen. Erst als er mir das gesagte mit einer Geste bedeutete, sah ich mich hektisch nach meinem Rücken um. Als ich dort ebenfalls ein Paar reinweiße Flügel wieder fand, fehlten mir endgültig die Worte. Sofort flog mein Blick wieder zu Jess, die mich nur fragend ansah. Sie schien nichts zu verstehen, schien weder Ihn, noch meine neuen Anhängsel wahr zu nehmen und in diesem Moment wurde mir einiges klar. Ganz oben eines vorweg.

Man konnte Engel nicht sehen. Aber man konnte ihnen begegnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8. Kapitel

 

„Leo, ist alles in Ordnung mit dir?“

Mit einem mal hatte Jess mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah, ebenso wie ich nicht begriff, dass sie es NICHT sah. Trotzdem konnte sie mich sehen. Ich verstand es nicht und ich befürchtete, dass mein Verstand nun endgültig mit mir durch ging.

Dennoch schaffte ich es mich zusammen zu reißen und auf zu stehen. Allerdings hielt ich mich zuerst an Sam und nicht an sie.

„Verschwinde. Ich wollte von Anfang an nicht, dass du hier bist.“

„Tut mir Leid, irgendwie kam es über mich als es fest stand, dass du auf meiner Seite bleibst.“

„Das ist mir egal. Hau einfach ab.“

„Leo ich weiß nicht wie viel Zeit dir auf ihrer Seite bleibt, aber ich schätze es ist nicht viel.“

„Noch ein Grund mehr für dich, endlich Leine zu ziehen. Lass mir wenigstens das hier.“

Überrascht wand ich mich an Jess, als sie mich unterbrach.

„Mit wem redest du?“

Bevor ich ihr antwortete, sah ich wieder zu Ihm rüber, aber er war verschwunden.

„Du hast ihn wirklich weder gesehen noch gehört, oder?“

„Wen meist du?“

Mit einem Kopfschütteln und einem traurigen Lächeln tat ich es ab.

„Nicht so wichtig. Er ist ein Idiot. Außerdem ist er weg.“

„Wer denn? Da war niemand. Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Wieso bist du überhaupt hier, du solltest im Krankenhaus sein, oder zumindest im Bett liegen.“

„Ehrlich gesagt, ich bin so fit wie lange nicht, aber die Sachlage zerrt mir an den Nerven.“

„Was ist denn? Willst du drüber reden?“

„Ich weiß nicht, wieso das hier alles passiert und ich habe nicht die geringste Ahnung, ob und was ich dir überhaupt erzählen darf.“

Wieder sah sie mich ziemlich verwirrt an und ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. Ich verstand mich grade selbst ja kaum.

„Leo wovon redest du?“

„Sorry Jess, ich bin grade ziemlich durcheinander.“

Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder geordnet hatte und mir wieder einfiel, was Sam gesagt hatte. Schließlich fasste ich mir nur an den Hinterkopf und lächelte ihr beschwichtigend zu.

„Weißt du Jessica, ich denke ich kann ehrlich zu dir sein, du würdest dich ohnehin nicht mehr dran erinnern. Es klingt wirklich verrückt und ich kann es eigentlich selbst nicht wirklich glauben, aber ich bin eigentlich gar nicht hier. Eigentlich dürftest du mich gar nicht sehen, du wüsstest vermutlich nicht einmal, dass ich hier bin.“

Es war mehr als offensichtlich, dass sie glaubte ich wäre verrückt. Sie musste denken, dass der morgendliche Unfall seine Spuren hinterlassen hatte. Ich würde ja selbst nichts anderes annehmen.

So wie sie mich ansah, tat es beinahe weh. Das Mitleid in ihrem Blick brannte sich förmlich ein, dabei wollte ich das gar nicht. Ich hatte noch nie Mitleid gewollt, weder jetzt noch sonst wann und weder von ihr, noch von sonst jemandem. Trotzdem ließ ich sie einfach gewähren und ging auf sie zu, bis ich schließlich direkt vor ihr stand.

„Ich sagte ja, es klingt verrückt. Aber es stimmt. Gib mir deine Hand.“

Abwartend streckte ich ihr meine Hand entgegen, wartete darauf, dass sie mir ihre reichte und hielt ihren Blick fest, bis sie schließlich tat, worum ich sie gebeten hatte. Vorsichtig nahm ich ihre Hand und legte sie dort auf meine Brust, wo eigentlich mein Herz hätte schlagen müssen und konnte beobachten, wie sich der Unglauben in ihrem Gesicht breit machte.

„Ich weiß nicht wie es möglich ist, aber ich, oder vielmehr das, was ich als meine Seele betiteln würde, bin hier und mein Körper liegt in diesem Bett im Krankenhaus. Allerdings befürchte ich, dass ich nicht viel Zeit habe, zumindest sagte Er das.“

Ich wartete einen Moment auf ihre Reaktion, doch als diese ausblieb, oder ich vielmehr ungeduldig wurde, griff ich wieder das Wort auf.

„Jess sag bitte was, sonst dreh ich durch.“

„Soll das bedeuten, dass du ein Geist bist? Das kann doch gar nicht sein.“

Es war ihr deutlich an zu sehen, dass sie überhaupt nicht begriff, was hier geschah. Sie tat mir Leid dafür, dass ich ihr das hier antat.

„Mir ist das ebenso unerklärlich wie dir. Ich weiß nur, dass ich so verdammt dankbar bin, noch mal mit dir zu reden. Ob du es glaubst oder nicht, aber zum ersten mal in meinem Leben würde ich am liebsten einfach drauf los heulen.“

Trotz dem, das alles so unglaublich klang, schien die Tatsache doch zu ihrem Unterbewusstsein durch zu dringen, denn ich konnte beobachten, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen stiegen und kurz darauf über ihre Wangen liefen.

„Ja, du warst schon immer die stärkere von uns beiden. Du hattest dich schon immer besser unter Kontrolle als ich.“

Das traf in manchen Punkten vermutlich sogar zu, aber wieder konnte ich nur lächeln und zustimmend nicken.

„Nur liegt es dieses mal nicht daran, dass ich es nicht will. Ich kann es schlichtweg einfach nicht. Ich bin nicht mehr an die körperlichen Bedürfnisse gebunden. Mir war heute so oft zum heulen zumute, aber es ging einfach nicht. Kannst du dir vorstellen wie erdrückend es sein kann, wenn man es will, aber es einfach nicht funktioniert?“

Bevor ich es verhindern konnte, fand ich mich in Jessica's Armen wieder. Sie hatte mich einfach überrumpelt, aber es tat gut zu wissen, dass es ihr nicht egal zu sein schien, obwohl sie mich für verrückt halten musste.

„Wieso solltest du das wollen, bist du krank? Du warst noch nie diejenige, die für alles in Tränen ausbricht.“

„Ich wollte mich nicht damit abfinden euch einfach gehen zu lassen. Ich würde viel lieber bei euch sein und so weiter machen wie bisher, auch wenn das eine Menge Stress bedeutet. Ich kann mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, euch nie wieder ärgern zu können.“

Mein Kommentar entlockte ihr zwischen ihren ganzen Tränen ein kurzes Lachen, was mich unweigerlich ein Stück weit tröstete.

„Hör zu Jess. Ich weiß, ich verlange da jetzt viel von dir, aber du musst mir einen Gefallen tun. Du musst Maik und Vanessa davon überzeugen, dass sie mich gehen lassen.“

Ich hatte eigentlich noch weiter reden wollen, aber sie ging so schnell auf Abstand, dass ich sie gar nicht davon abhalten konnte, mir ins Wort zu fallen.

„Das kann ich nicht Leo.“

„Du musst es aber. Ich will ehrlich zu dir sein, das bin ich dir schuldig.

Jess ich komme nicht mehr zurück. Und es ist einfacher, wenn ihr mich aus freien Stücken ziehen lasst. Ich bitte dich nur um diese eine Sache. Zwing mich bitte nicht, es selbst zu tun, ich will dich und die anderen nicht unnötig leiden sehen. Bitte Jess, versprich mir das.“

Völlig erstarrt stand sie da und starrte mich einfach an. Es war klar, dass sie sich weigerte. Ich verlangte von ihr, mich endgültig sterben zu lassen. Wäre es umgekehrt, hätte ich genau so reagiert.

„Bitte Jessi. Ich kann nicht mehr zurück. Du würdest es an meiner Stelle genauso machen.“

„Und was soll ich den beiden deiner Meinung nach sagen? Hört mal, Leonie ist mir letzte Nacht erschienen und sie will, dass wir sie einfach aufgeben? Das kann ich nicht.“

„Das verlange ich auch nicht. Ich will doch nur, dass du ihnen begreiflich machst, dass es keinen Sinn hätte, die Maschinen für nichts und wieder nichts laufen zu lassen. Genauso wie ich es dir versuche begreiflich zu machen.“

Auf jeden anderen hätte sie vermutlich ruhig gewirkt, aber ich wusste, dass sie innerlich mit sich selbst rang. Erst als sie nach ihrem kurzen auf und ab Gelaufe wieder stehen blieb, schien es aus ihr heraus zu brechen. Über ihre Wangen rannen immer noch die Tränen und ihr Gesicht wirkte schmerzverzerrt.

„Ich kann das nicht. Leo ich kann dich nicht einfach gehen lassen, du bist meine Freundin. Was du da verlangst ist Wahnsinn.“

„Ich weiß. Mir tut es mindestens ebenso weh, aber es geht nicht anders. Meine Zeit ist um Jessica. Du weißt nicht, was ich dafür geben würde, um das geschehene rückgängig zu machen, aber es geht nicht. Bitte. Sieh es als meinen letzten Willen an.“

Mit einem bekümmerten Lächeln sah Jess mir ins Gesicht und schüttelte mit dem Kopf. Es tat weh sie so zu sehen, dass ich so etwas von ihr verlangte, setzte dem dann nur noch die Krone auf.

„Ich wusste schon immer, dass du außergewöhnlich bist. Dass grade das dein letzter Wunsch sein würde, hätte mir klar sein müssen. Maik und Vanessa werden mich dafür hassen, dass ich sie darum bitte.“

Beinahe hätte ich ihre Zustimmung überhört. Ich musste erst kurz inne halten um mir ihrer Worte bewusst zu werden. Als mir dann die Bedeutung dieser bewusst wurde spürte ich, wie mir eine gewaltige Last von den Schultern genommen wurde.

Dankend seufzte ich auf, trat wieder auf sie zu und schlang ihr dann wieder die Arme um den Hals.

„Du bist und bleibst die beste.“

„Ich kann mich irgendwie nicht mit dem Gedanken anfreunden dass das, was du sagst, wirklich stimmt. Wenn ich gleich etwas runter gekühlt bin und ich darüber nach denke, lasse ich mich vermutlich einweisen. Dafür bist du mir etwas schuldig, wenn sich dann die Gelegenheit ergibt.“

Bei dem Gedanken an das Bild, dass sie beim verrückt werden abgeben würde, begann ich los zu prusten, als mir dann allerdings die Lage bewusst wurde, verstummte ich wieder. Dass sie sich nicht an diese Sache erinnern würde, ließ ich hier gutgläubig unter den Tisch fallen.

„Ich bin dir viel mehr schuldig, als du in Erinnerung hast. Du hast so viel für mich getan, Dinge bei denen du nur abwinken würdest, Dinge, für die ich dir gerne etwas zurück gegeben hätte. Aber jetzt hab ich keine Zeit mehr dazu. Jetzt kann ich nur noch von hier aus bei euch sein und auf euch aufpassen.“

Einen Moment blieb es ruhig, bis ich sie schließlich ansah und ich das zaghafte Lächeln bemerkte.

„Dann ist es wohl doch nicht gelogen, wenn man sich damit hinweg tröstet, dass die Lieben immer bei einem bleiben.“

Bei der Äußerung blieb mir die Sprache weg, aber was hätte ich auch sagen sollen? Das stimmt nicht ganz, ich bin einfach nur ein Sonderfall, jeder andere verschwindet einfach?

Ich hätte zuerst von Glück gesprochen, dass Sam mich daran hinderte, Jess darauf antworten zu müssen. Allerdings gefiel mir nicht, was er diesmal von mir wollte. Es passte mir schon nicht, dass er überhaupt wieder hier war.

Sobald er den Mund auf machte, flog mein Blick, an Jessica vorbei, in seine Richtung. Jess selbst bemerkte dies und beobachtete mich bei meinem, für sie wohl Selbstgespräch.

„Leo, ich glaube du solltest langsam besser zum Ende kommen. Dir läuft die Zeit davon.“

„Was machst du schon wieder hier? Und wie kommst du darauf? Es ist alles bestens.“

„Ich will nur vermeiden, dass ihr den richtigen Zeitpunkt verpasst und alles ein abruptes Ende nimmt. Vertrau mir, es ist einfacher, wenn ihr euch wirklich Auf Wiedersehen sagen könnt, als dass es von jetzt auf gleich zu Ende ist.“

„Ich habe im laufe des Tages des öfteren versucht dir zu vertrauen, aber das ist meines Erachtens nach ziemlich nach hinten los gegangen.“

Es überraschte mich selbst, als ich feststellte, dass das sogar stimmte. Ich hatte ihm ziemlich schnell glauben geschenkt, sonst hätte ich nicht hier gestanden. Und auch bei der Sache am See hatte ich mich dazu hinreißen lassen, mich einfach blindlings fallen zu lassen.

„Ich weiß, das ist mir nicht entgangen. Deswegen hoffe ich auch, dass du das auch hier tust. Komm schon, vertrau mir. Ich hab dich trotz mancher Patzer nie hängen lassen, oder?“

Ich holte tief Luft um zu widersprechen, hielt sie dann aber an und ließ sie erst einen Augenblick später wieder entweichen, nur um sprachlos einfach stehen zu bleiben. Ich hätte ihn wieder als Lügner dar gestellt hätte ich gekontert und er hatte bewiesen, dass er das nicht war.

Erst als ich Jess leise lachen hörte, wandte ich mich ihr zu und sah, wie sie mich kopfschüttelnd beobachtete. Ich hatte mich wirklich gefragt, was sie so lustig fand, bis ich schließlich protestierend dort stand und versuchte alles ab zu streiten. Man sah es mir zwar nicht an, aber mir wäre dabei ziemlich warm geworden. Zu meinem Glück war mein Gesichtsausdruck alles, was sie bemerkte.

„Ist es wirklich so lustig an zu sehen, wie ich Streitgespräche mit mir selber führe? Du kannst ihn zwar nicht sehen, aber da drüben steht der größte Spinner, der mir je untergekommen ist.“

„Es hat noch niemand fertig gebracht, dich so schnell Sprachlos da stehen zu lassen. Meine Hochachtung an ihn, das kannst du ihm ruhig sagen.“

„Was? Nein! Erstens kann er dich gut hören und zweitens, ich weiß was du denkst und so ist das nicht.“

Ich hätte es am liebsten unterbunden, aber ich konnte sie nicht daran hindern sich in seine vage Richtung zu drehen und mit einem für sie imaginären Kerl zu reden.

„Na dann, meinen Glückwunsch. Ich weiß nicht wer du bist, aber du verdienst meinen vollen Respekt. Das hat noch niemand geschafft.“

„Jess, ob du es glaubst oder nicht, aber er weiß das und er bildet sich unheimlich etwas darauf ein. Also unterstütze ihn nicht noch dabei.“

„Süße, ob du es willst oder nicht, es ist wie es ist. Da kannst du niemandem etwas vormachen.“

„Du sagst das so einfach. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du ihn nicht kennst. Würdest du ihn irgendwo auf der Straße sehen, würdest du denken er hat sie nicht alle. Im übrigen ist er der dämliche Kellner aus der Eisdiele in der wir uns kennengelernt haben.“

Damit hatte ich sie überrascht, genauso wie mich selbst. Grade deswegen, weil es mir nur so nebenbei heraus gerutscht war.

„Danke, der dämliche Kellner ist direkt hier drüben.“

Da seine Stimme näher als zuvor klang, sah ich zu ihm rüber und deutete dann mit dem Zeigefinger auf ihn als er näher kam, bevor ich dann zurück zu Jessica kam.

„Und er bleibt genau da stehen, sonst kriegt der dämliche Kellner gewaltig Ärger. Und du hör auf so selbstgefällig vor dich hin zu grinsen.“

„Ihm verdanken wir es also, dass wir uns so lieben gelernt haben? Das ganze wird langsam echt unglaublich.“

„Findest du nicht, dass es das ohnehin schon ist?“

„Doch, da ist was dran. Morgen glaube ich mit Sicherheit, dass das alles nur ein Traum war.“

Wenn sie das überhaupt tat.

„Siehst du? Und jetzt hör bitte auf hier solche Behauptungen in den Raum zu werfen.“

„Ich hab doch überhaupt nichts behauptet. Aber du hast selbst bestätigt, was ich nur vermutet habe.“

„Niemals. Du spinnst doch. Das glaubst du doch selber nicht.“

Der Zug war schon abgefahren, bevor ich überhaupt angefangen hatte zu protestieren. Ich wusste, dass ich ihr nichts vormachen konnte. Dass ich es dennoch versuchte, war nur eine automatische Reaktion. Ebenso wie ich wusste, das jetzt selbst ich Rot geworden wäre. Alles was mir jedoch davon blieb, war ein Gefühl, das dem des kribbelns im Bauch ziemlich nahe kam, was ich glücklicherweise für mich behalten konnte.

„Es ist wohl für jeden offensichtlich, wie es ist. Ich kenne ihn zwar nicht, aber dafür kenne ich dich umso besser Leo. Ich weiß, dass du der größte Wildfang bist, den es gibt und er hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft, dich zu bändigen. Ich finde, dafür hat er sich dein Vertrauen verdient, egal um was es geht, oder nicht?“

Auch Jessica besaß dieses Talent, mich alleine mit Worten zum schweigen zu bringen. Dies hielt nur nicht lange an und als ich sie um zu stimmen versuchte, verwandelte sich das warmherzige, in ein trauriges Lächeln und auch ich kehrte zum Ernst zurück.

„Er ist der Meinung, es ist Zeit. Ich soll Lebe Wohl sagen.“

Schlagartig wechselte die Stimmung. Grade war sie noch vergleichsweise glücklich und jetzt, auch wenn sie versuchte nach außen hin stark zu wirken, sah man ihr doch an, das es sie traurig stimmte. Daher wirkte auch ihr Lächeln regelrecht verzerrt.

Ich wollte schon auf sie zu gehen um sie in den Arm zu nehmen, um sie darüber hinweg zu trösten, aber ich musste feststellen, dass Sam mich von hinten festhielt. Mit seiner linken Hand hielt er die meine fest, wobei er den rechten Arm um meine Taille gelegt hatte. Ich selbst war überrascht, und das lag nicht nur daran, dass ich mich so leicht zurück halten ließ, sondern auch daran, dass Jess dies ebenso bemerkte und ihr Lächeln wieder ein Stück weit aufrichtiger wurde. Ich bemerkte allerdings auch, dass die Tränen wieder begannen in ihre Augen zu steigen.

„Gib dir einen Ruck Leo. Vertrau ihm einfach, du bist doch ohne hin schon nicht mehr weit davon entfernt.“

„Du scheinst nicht zu wissen, was das bedeutet, wenn ich jetzt gehe. Denk doch mal nach.“

„Das weiß ich sehr wohl. Ich komm schon irgendwie damit klar. Aber ich mache mir eher Gedanken darum, ob du das schaffst.“

„Wieso sollte ich nicht? Hast du jemals erlebt, dass ich etwas nicht geschafft habe?“

Spätestens jetzt wären mir, ebenso wie ihr, die Tränen übers Gesicht gelaufen.

Sie bot ein merkwürdiges Bild, mit Tränen in den Augen, einem leichten Lächeln auf den Lippen, während sie seufzte.

„In vielen Augenblicken in denen du dich unbeobachtet gefühlt hast, warst du nicht immer wirklich alleine. Ich habe dich oft genug weinen sehen, Leo. Du versuchst immer stark zu sein und darüber vergisst du völlig, das da Menschen sind, die dich auffangen würden, wenn du sie nur lassen würden.

Gib dir endlich mal einen Ruck und gib wenigstens diesen einen Kampf auf, lass dich einfach fallen und du wirst feststellen, dass er dich nicht fallen lässt.“

Über ihre Worte nachdenkend blickte ich zu Boden, darüber entging mir nicht, das Sam mich zur Bestätigung dichter an sich zog. Ich hoffte, dass Jess das nicht bemerkte und setzte mich weiter über ihre Meinung hinweg, an der sie sich so fest gebissen hatte.

„Woher willst du das wissen, du kennst ihn doch gar nicht? Ich kenne ihn doch selbst nicht.“

„Ich will mich jetzt nicht mit dir darüber streiten, nicht jetzt. Ich weiß nur, was ich sehe und ich bin bereit zu glauben, dass er jetzt an meiner Stelle auf dich aufpasst. Und ich bin mir sicher, dass er das ganz gut hin kriegt, du musst ihn nur lassen. Versprich mir einfach, dass du ihm nicht die kalte Schulter zeigst.“

„Wie soll ich das machen Jessi? Du weißt, ich kann das nicht.“

„Versuch es einfach Leo. Erst dann kann ich dich mit reinem Gewissen gehen lassen.“

Während ihre Stimme immer stärker zu beben begann sah ich auf und sah, wie sich ihr Lächeln wieder zu einer verzerrten Grimasse verzog und die Tränen flossen ihr in Strömen über die Wangen. Bei ihrem Anblick musste ich nicht darüber nachdenken, bevor ich ihr zu nickte, auch wenn ich mir noch nicht genau sicher war, ob ich sie damit nicht doch anlog.

„Aber nur wenn du mir im Gegenzug versprichst, nicht wegen mir zu weinen. Du weißt, ich mag das nicht wenn du weinst und ich bin es weiß Gott nicht Wert.“

Trotz dem sie mit dem Kopf schüttelte, wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Nässe aus den Augen. Ich vermochte nicht darüber nach zu denken, wieso genau sie mit dem Kopf schüttelte. Hätte ich dies getan, hätten wir vermutlich doch noch angefangen zu zanken. Stattdessen schwiegen wir uns an, bis Jess schließlich mit nüchterner Miene meinen Blick auffing. Ich wollte etwas sagen, um die drückende Stille zu überdecken, aber sie kam mir zuvor.

„Du wirst hier fehlen.“

Als ich nur nickte, fügte sie dem noch etwas bei.

„Nicht nur mir. Auch allen anderen. Es war zwar oft schwierig, aber sie haben dich trotzdem geliebt, und das tun sich noch.“

Wieder nickte ich nur, blickte aber dieses mal dabei zu Boden. Als Jessica allerdings ein weiteres mal nach einem kurzen Schweigen sprach, blickte ich doch ein wenig überrascht wieder auf, obwohl ich so etwas schon geahnt hatte.

„Wusstest du das Vanessa schwanger ist?“

„Ich habe mir so etwas gedacht. Ihr waren oft aus Versehen Andeutungen raus gerutscht. Außerdem hat man es ihr irgendwie angesehen. Aber es wundert mich, dass sie es dir erzählt hat.“

„Sie hat mich gebeten zu schweigen. Sie und Maik wollten dich überraschen. Sie dachten, Zuwachs in der Familie würde dich vielleicht aus der Reserve locken.“

Natürlich hatten sie das. Nachdem ich hatte fallen lassen, dass ich schon hatte Geschwister haben wollen, im Endeffekt aber froh war keine zu haben, sodass sie nicht das selbe durchmachen mussten wie ich. Allerdings war es dafür jetzt wohl eindeutig zu spät.

„Schade eigentlich. Jetzt kann die große Schwester nur von hier aus die schützende Hand über den Zwerg halten.“

„Ich hätte gerne gesehen wie du Windeln wechselst.“

„Mit Gasmaske und Handschuhen natürlich.“

Die Vorstellung daran, ließ uns beide grinsen. Es war so einfach, einfach dort weiter zu machen, wo wir aufgehört hatten, als wir uns das letzte mal gegenüber gestanden hatten. Ich hatte Sam darüber völlig vergessen und bemerkte ihn erst jetzt wieder, als er sich mit leiser Stimme hinter mir bemerkbar machte.

„Leo die Zeit ist um. Du musst zum Ende kommen.“

Ich hatte mich erst zu ihm umdrehen wollen, hielt dann aber in der Bewegung inne und schwieg mich stattdessen aus. Ich sollte nun einen Schlussstrich ziehen, wusste aber nicht wie ich das anstellen sollte. Da kam es mir nur Recht, das mich der rauschende Wind in den Baumkronen erst ablenkte, mich dann aber auf eine Idee brachte.

„Ist dir nicht kalt? Du solltest vielleicht rein gehen, sonst wirst du krank.“

Selbst ich hörte, dass ich nicht sonderlich überzeugend klang. Ich versuchte noch, mir nichts anmerken zu lassen, was bei Jess allerdings noch nie sonderlich gut funktioniert hatte.

„Ich soll alleine rein? Dieser Egoist will dich für sich haben. Kann ich verstehen, wer will das nicht.“

Ich spürte ihn in meinem Rücken lachen, mehr als das ich es hörte. Aber statt mir Gedanken darum zu machen, zuckte ich nur leicht mit den Schultern.

„Da werde ich wohl zwangsläufig mit gehen müssen. Du solltest aber trotzdem rein gehen, ich will nicht das du dich erkältest.“

Erst nickte sie nur zustimmend, dann sah sie aus als wolle sie ohne ein weiteres Wort gehen, blieb dann aber doch stehen und neigte den Kopf leicht zur Seite.

„Du bist mir aber noch eine Antwort schuldig.“

Als ich sie nur verwirrt ansah, zeichnete sich dieser neckende Ausdruck auf ihrem Gesicht ab. Natürlich nahm sich mich auf den Arm und als sie sah, dass auch ich das begriffen hatte, grinste sie nur warm zu mir rüber.

„Du hast mir gar nicht verraten wie er heißt.“

Ich wollte sie erst fragen, was es für einen Unterschied machte, wenn sie wusste wie er hieß. Ich sparte mir dann aber meine Bemerkung und musste selber schmunzeln.

„Sam. Er heißt Samuel.“

„'Gott hat erhört'. Dann hat das Beten wenigstens etwas gebracht.“

Wieder nickte ich nur zustimmend, den Blick gen Boden gerichtet. Wir hatten uns oft über Namen und deren Bedeutung unterhalten, ob es nun Zufall oder doch Schicksal war, dass er ausgerechnet diesen Namen trug, wusste ich nicht.

Bevor ich anfangen konnte groß darüber nach zu denken, sah ich aufgrund ihrer nächsten Fragen wieder überrascht auf.

„Ist es in Ordnung, wenn ich ihnen erzähle, dass meine beste Freundin jetzt unser Schutzengel ist?“

Bei der Frage verschlug es mir die Sprache, deswegen konnte ich erst nur nicken, bis ich schließlich mit einem Lächeln ein kurzes „Klar.“ raus brachte.

„Aber tu mir den Gefallen und pass trotzdem ein wenig selber auf dich auf. Wir wollen mich ja nicht überanstrengen.“

Wieder mussten wir beide lachen, auch wenn es lange nicht mehr so unbeschwert klang. Und ich musste mich ehrlich zusammen reißen, nicht im nächsten Moment schon wieder eine Trauermiene auf zu setzen, als ich mich schlussendlich von Sam löste und einen Schritt auf Jess zu trat.

„Dann heißt es jetzt wohl Abschied nehmen.“

Bei meinen Worten sah sie sofort zu Boden und ich wusste, dass sie wieder mit den Tränen rang. Deshalb schritt ich weiter auf sie zu, bis ich direkt vor ihr stand.

„Denk dran, nicht weinen. Wir sehen uns irgendwann wieder, versprochen.“

Um sie an zu schauen, beugte ich mich etwas hinunter und sah von unten in ihr gesenktes Gesicht. Daraufhin sah sie schnell auf und wischte sich erneut mit dem Ärmel über die Augen. Während sie das tat nickte sie nur zaghaft und ich setzte noch etwas an.

„Aber lass dir bitte etwas Zeit mit dem sterben. Ich will wenigstens deine Kinder kennenlernen, wenn ich schon nicht selber Patentante werden kann.“

„Ich werd ihnen auf jeden Fall von dir erzählen.“

Diese Aussage nahm mir auf gewisse weise einen Stein vom Herzen. Der Gedanke, dass ich nicht einfach vergessen würde, beruhigte mich ungemein. Trotzdem fiel es mir unheimlich schwer den letzten Schritt zu tun und Jessica in den Arm zu nehmen.

Und sobald ich sie erreichen konnte, wusste ich auch wieso. Anstatt ihr die Arme um den Hals zu legen, glitt ich einfach durch sie hindurch. Ich kam mir vor wie Nebel, einfach nur leer, so wie ich eben durch sie hindurch geglitten war.

Ebenso schnell wie Jess drehte ich mich um und sah ihr in die weit aufgerissenen Augen. Mehr als offensichtlich hatte sie es bis jetzt verdrängt, daher schockte es sie nun umso mehr, dass sie feststellte, das ich allmählich verschwand. So wie ihr Blick an mir auf und ab flog, musste Sie mittlerweile nicht einmal mehr einen verschwommenen Schatten sehen, deswegen hoffte ich inständig, das sie wenigstens noch hören konnte was ich sagte. Ich verfluchte mich nur dafür, dass mir nichts besseres über die Lippen kam, als ein unterdrückt jammerndes „Lebe wohl.“

Sobald sie sich auf der gesamten Terrasse umsah wusste ich, das ich für sie nicht mehr dort war. Als mir das bewusst wurde, beschlich mich das Gefühl, etwas wichtiges verloren zu haben. Was im Grunde ja noch nicht einmal falsch war. Ich hatte mein ganzes Leben, so wie es war, zurück gelassen, ob nun freiwillig oder nicht, blieb erst mal außen vor.

Selbst jetzt noch, wo ich wusste, dass sie mich nicht mehr sah, versuchte ich ihren Blick auf zu fangen. In der Hoffnung, sie würde mich sehen, versuchte ich immer wieder in ihr Blickfeld zu treten und bemerkte nur nebenbei, wie Sam versuchte mich davon ab zu bringen. Erst als Jessica rein ging und er mich am Arm zu fassen bekam und mich dazu zwang ihn an zu sehen, sah ich, wie er leicht bekümmert mit dem Kopf schüttelte. Alleine diese Geste traf mich wie ein Schlag in die Magengrube und sie tat mindestens genauso weh. Wie betäubt sank ich schweigend auf die Knie und Samuel mit mir. Bevor ich mich versah, hatte er die Arme um mich gelegt und mich zu sich heran gezogen und ich ergriff gleich sein Angebot und klammerte mich an seinem Pullover fest. In diesem Moment kam es mir vor, als würde ich unter gehen, wenn ich ihn los lassen würde. Und bei meiner Seele, hätte ich ihn auch nur aus irgendeinem Grund wieder los gelassen, ich wäre mehr als nur unter gegangen.

Und trotz der Tatsache, dass er bei mir war und trotz dem, was alleine seine Anwesenheit bei mir bewirkte, wollte ich nicht länger hier sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

9. Kapitel

 

„Bitte Sam. Schick mich zurück auf ihre Seite.“

„Wenn ich könnte, sofort.“

„Du würdest mich also einfach so gehen lassen?“

„Ich würde dich eher glücklich auf der anderen Seite sehen wollen, als unglücklich auf dieser hier.“

Da fehlten mir wieder einmal die Worte. Ich hatte eigentlich mit einem blöden Spruch gerechnet, stattdessen warf es mich so aus der Bahn, dass ich nicht wusste, was ich hätte entgegen feuern sollen. So blieb mir nur, den Kopf auf seine Schulter zu legen und nicht zu kontern.

„Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“

„Aber es ist wahr. Ich verzichte lieber und sehe, dass es dir gut geht, als das ich beobachte, wie es dich hier zerfrisst.“

„Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest mich nicht gehen lassen.“

„Mal davon abgesehen, dass ich dich nicht auf die andere Seite zurück bringen kann. Was sollte ich deiner Meinung nach tun? Da du jetzt hier bleibst, zeige ich dir wie du zurecht kommst und dann bin ich nicht mehr für dich verantwortlich. Und ich werde den Teufel tun und dich dazu zwingen bei mir zu bleiben.“

Und wieder ein Schlag, wieder wusste ich nicht wie ich hätte kontern sollen.

„Ich dachte eigentlich... Ja ich weiß gar nicht was ich gedacht habe, aber das auf jeden Fall nicht. Dafür, dass du bisher so hartnäckig gewesen bist, willst du es jetzt einfach so aufgeben?“

„Na ja, eigentlich versuche ich nur, dich auf andere Gedanken zu bringen. Und so wie du förmlich darum bettelst, dass ich bleibe, scheint das wohl ganz gut zu funktionieren.“

Jetzt kam ich überhaupt nicht mehr mit. Wenn ich mich schon bemüht hatte sein komisches Verhalten zu verstehen, dann begriff ich nun gar nichts mehr. Bis er schließlich grinste als ich ihn ansah und er mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen drückte.

„Ziel erreicht, würde ich sagen.“

Erst blieb ich stumm, bis mich dann die Ernüchterung einholte und ich nur den Kopf schüttelte.

„Du bist so ein Blödmann. Ich hab Jess versprochen mich auf dich zu verlassen. Wie soll ich das machen, wenn du solche Nummern abziehst?“

„Ist es dir lieber, wenn du wimmernd auf dem Boden hockst und ich dir den Kopf tätschle und dir sage wie unendlich Leid mir das alles tut?“

Schon nur bei dem Gedanken daran, wie die ganze Situation mit Jessica hätte enden können, löste ich mich leicht peinlich berührt von seinem Pullover und rückte ein Stück ab, immer darauf bedacht den Augenkontakt zu vermeiden. Plötzlich kam ich mir ziemlich dämlich vor, wie das kleine Mädchen, dass ich nie gewesen war und das ich auch nicht werden wollte.

Ich hatte kaum bemerkt, dass Samuel sich bewegt hatte, noch weniger, dass er aufgestanden war und ich hatte eigentlich nicht das Bedürfnis es ihm gleich zu tun. Trotzdem ergriff ich die Hand die er mir entgegen hielt und ließ mich von ihm hoch ziehen, fand mich sogleich in seinen Armen wieder und versuchte dabei so lässig wie möglich zu klingen.

„Und was nun? Da ich ja wohl hier bleibe, wirst du es eine Weile mit mir aushalten müssen.“

„Damit komme ich klar. Ich hoffe nur, dass du genügend Ausdauer mitgebracht hast.“

„Ich denke du kennst die Antwort darauf.“

„Schwer zu sagen, aber ich weiß, dass du mich gleich wieder verwünschen wirst.“

Bevor ich fragen konnte wieso, ging mir der Boden unter den Füßen weg. Nicht etwa, weil ich zu Boden ging, sondern es ging genau in die andere Richtung. Ich sah nur aus den Augenwinkeln wie es aufwärts ging, dann kniff ich die Augen zu und krallte mich in Sam's Pulli fest. Und er behielt recht. Ich wünschte in wirklich zur Hölle.

„Sam! Sam, bitte nicht. Du hast doch wohl nicht vergessen, dass ich Höhenangst habe? Bitte, lass mich wieder runter.“

„Das wirst du hier wohl ganz schnell ablegen. Komm schon, mach die Augen auf, so schlimm ist das gar nicht.“

„Lass mich sofort runter.“

Trotz der Panik die mir grade durch den Kopf schoss, zwang ich mich dazu die Augen einen Spalt breit zu öffnen und bereute es gleich wieder. Mehr noch als zuvor klammerte ich die Arme um seinen Hals, als hinge mein Leben davon ab.

„Ich hab's mir anders überlegt, lass mich bloß nicht los!“

Ich merkte sofort, dass er sich sein Lachen verkniff, ich blickte nur mehr in die Ferne und versuchte die Aussicht zu genießen. Dazu musste ich allerdings sehr weit in die Ferne schauen, um nicht daran zu denken, wie weit wir nun vom Boden entfernt waren.

„Ist doch halb so wild. Und je schneller du es hinter dir hast, desto besser.“

Das klang mir viel zu sehr danach, als käme es noch schlimmer. Und hätte er mich nicht mit seinem geflüsterten „Nicht erschrecken.“ vorgewarnt, hätte ich ihn entweder vor Panik in meinem Klammergriff zerquetscht, oder ihm das Trommelfell aus den Ohren geschrien. So versuchte ich mich auf was auch immer vor zu bereiten, indem ich einfach stur in die Landschaft schaute und musste dann erschrocken feststellen, dass es in hoher Geschwindigkeit in die Tiefe ging. Zu meiner Überraschung war es aber nicht das typische Gefühl des Falles, sonder eher ein gleiten, wie durch Wasser.

Trotz der Gewissheit, dass nichts passieren konnte, kniff ich die Augen zu, nur um sie dann wieder überrascht zu öffnet, als wir plötzlich Halt machten. Wir hingen immer noch weit oben in der Luft, aber es war ohnehin Sam gewesen, weswegen ich die Augen wieder geöffnet hatte. Er hatte gelacht und ich wusste nicht wieso. Aber ich brachte es auch nicht zustande über den Grund nach zu denken, ich war viel zu verwirrt darüber, dass es nicht mehr er war, der uns in der Luft hielt.

„Siehst du, es kann gar nichts passieren. Das ist reiner Reflex. Aber du solltest dich jetzt drauf konzentrieren, sobald der erste Schock überwunden ist, geht es wieder abwärts.“

Über diese ernüchternde Tatsache konnte ich nur schweigen und tun wie mir geheißen. Und entweder funktionierte es wirklich, oder ich hatte den Schock noch nicht überwunden. Ich wollte aber auch nicht heraus finden, was von beidem nun zutraf.

„Und jetzt? Ich will wieder festen Boden unter den Füßen, ich fühl mich hier oben nicht wohl.“

„Wie gesagt, das wirst du dir schnell abgewöhnen. Du solltest damit anfangen, uns runter zu bringen. Je sicherer du dich dabei fühlst, umso schneller kommen wir vorwärts.“

„Ich glaube das erwähntest du bereits. So oder so ähnlich. Aber verrätst du mir auch wie ich das anstellen soll du Schlaumeier?“

„Hab ich doch gesagt. Du musst dich konzentrieren. Es ist genau wie mit allem anderen hier. Das dürfte also kein Problem für dich darstellen.“

„Das sagst du so leicht, du bist auch schon eine Ewigkeit hier.“

„So lange nun auch wieder nicht. Und ich weiß dass du das kannst, ich hab mehr als einmal beobachtet wie du dich hier zurecht findest. Also konzentriere dich und lass dich nicht ablenken.“

So wie er mit meinen Haaren spielte, fiel es mir schon schwer genug, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen und mich zu konzentrieren. Das schlimme an dieser Situation? Mir fiel grade auf wie leicht es war, mich aus einer Panikreaktion her an ihm fest zu klammern wie ein Ertrinkender am Rettungsring. Aber jetzt, wo er auf mich zu kam, wollte ich nur so schnell wie möglich auf Abstand gehen. Problem? Ich wusste nicht wie. Ohne mich darauf konzentrieren zu können, kam ich nicht weg. Dadurch, dass ich nicht weg kam, brachte Er mich irgendwie aus der Fassung. Es war ein Teufelskreis. Mir blieb also nur der Absturz, oder Bestechung.

Und da ich die Bestechung dem Absturz eindeutig vor zog, setzte ich sie sofort in die Tat um.

„Bring mich bitte wieder runter Sam.“

Ich sah ihm noch einen Moment lang in die Augen und als seine Reaktion aus blieb, konnte ich seine Überraschung förmlich spüren, als ich in die Offensive ging und ihn küsste. Er schien genauso von mir überrascht, wie ich selbst. Für meinen Geschmack fiel es mir viel zu einfach. Und ich hätte mich selbst verwünscht, wenn ich es auf eine gewisse weise nicht genossen hätte. Das Gefühl seiner Nähe brachte solch eine Vertrautheit mit sich, als wäre es nie anders gewesen. Und dass ich weder das Gefühl verdrängen, noch den Kuss beenden konnte als ich es wollte, schien das nur zu unterstreichen. Ebenso wie die Tatsache, dass ich nur nebenbei wahr nahm, dass es wieder viel zu schnell Richtung Erdboden ging und ich plötzlich, aber dennoch sanft wieder Boden unter den Füßen spürte.

Selbst dann noch dauerte es einen Moment lang, bevor ich mich von ihm lösen konnte und das auch nur, weil er begann zu lachen.

„Sie war unerwartet, aber ich mag deine Art der Bestechung.“

„Gewöhn dich nicht dran.“

Wenn ich versucht hatte, trotz Umarmung auf Abstand zu gehen, hatte er diesen nun wieder überbrückt, indem er wieder so nahe kam, dass sich unsere Nasen beinahe wieder berührten.

„Ich bestimmt nicht, aber wie sieht es mit dir aus?“

Millimeter für Millimeter brachte Sam sein Gesicht noch dichter an meines heran. Hätte ich es nicht ohne hin schon gewusst, hätte ich gesagt er wolle mich provozieren.

„Du weißt, dass ich das gar nicht will.“

„Wir beide wissen, dass das eine glatte Lüge ist.“

„Selbst wenn, es kommt nicht mehr vor.“

„Ach ja?“

„Ja.“

Der folgende war nur ein kurzer Kuss, aber er machte mehr als deutlich, dass Sam damit das Gegenteil zu meiner Aussage bestätigen wollte. Es war klar, dass er das tun würde. Ich hatte es ja herausgefordert. Dementsprechend musste ich noch etwas beifügen.

„Zumindest nicht von meiner Seite aus nicht.“

„Du weißt hoffentlich, dass das grade praktisch eine Einladung war?“

„Ich weiß gar nicht wieso ich mich überhaupt mit dir unterhalte, du hörst doch sowieso immer nur das raus was du gerne hättest.“

„Was ich gerne hätte? Das war dieses mal wohl eher das was du gern hättest.“

„Träum weiter.“

„Wenn ich jetzt kitschig klingen wollte, würde ich sagen, ich brauche nicht weiter träumen, denn das hier ist besser als jeder Traum, aber das erspare ich dir jetzt, weil ich so nett zu dir bin.“

„Welch edle Tat von einem Vollidioten wie dir.“

„Da ist sie wieder, die Kratzbürste. Und weißt du was? Weil ich dich so gern habe, erspare ich dir auch weitere Streitereien und lass dich gehen.“

„Ach, jetzt willst du mich plötzlich los werden? Keine Lust auf Zankerei? Du hast ja nicht grade viel Ausdauer was das angeht.“

„Du hast ja gar keine Ahnung. Ich will nur nicht noch weiter trödeln. Eigentlich ist es meine Aufgabe dir sofort zu sagen was Sache ist, aber das hat vom Timing ja nicht gepasst.“

„Uhh, jetzt fühl ich mich gleich wie was besonderes.“

Darauf grinste er nur. Ich wusste was er sagen würde, also wartete ich gar nicht auf seinen Konter und löste mich sofort von ihm, wobei mir beim umsehen auffiel, dass wir gar nicht auf Jessica's Dachterrasse gelandet waren, sondern am anderen Ende der Stadt.

„Habe ich schon mal erwähnt, dass ich es überhaupt nicht ab kann, dass wir uns auf Anhieb so verstehen?“

„Nein, aber das war von Anfang an klar.“

„Sehr gut, dann brauch ich es ja nicht wiederholen und wir können direkt zum nächsten Punkt über gehen. Was sollte ich tun oder lassen, um hier nicht gleich wieder raus geschmissen zu werden?“

Mit einem mal war Sam so ernst, als hätte es die Spielereien von grade nie gegeben.

„Im Grunde ist es einfach, aber dafür eine Menge Arbeit. Wir sind in etwa das, was auf der anderen Seite unter den Begriff Schutzengel fällt. Allerdings besteht unsere Hauptaufgabe darin, auf die auf zu passen, die hier ankommen und nicht direkt die, die noch auf der anderen Seite verweilen. Natürlich können wir das Geschehen anhand unserer vagen Vorahnungen ein wenig in bestimmte Richtungen drücken, aber es ist nie hundert prozentig abgesichert, weswegen wir nicht oft eingreifen.“

Bevor er fortfahren konnte, bedeutete ich ihm mit einem Wink, mal die Luft an zu halten.

„Vorahnungen? Soll das heißen, dass wir hellsehen können oder so was? Und wie sollen wir etwas beeinflussen, wenn wir gar nicht da sind?“

„Na ja, Hellsehen würde ich es nicht nennen, es sind wirklich nur Ahnungen, vage Vermutungen die manchmal nicht einmal eintreffen. Die Dinge können, müssen aber nicht so kommen.

Und was das nicht vorhanden sein auf der anderen Seite angeht. Was meinst du denn, wie der Mythos über Engel, oder Schutzpatronen entstanden ist?“

„Woher soll ich denn das wissen? Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich das erste mal hier bin, ich war sicherlich schon mal hier und kann mich einfach nicht dran erinnern, aber ich hab keine Ahnung wie, wo, was, warum so ist wie es ist. Also entweder verrätst du mir jetzt wie, wo, was warum so ist, oder ich bleibe für immer dumm.“

Bei seinem überlegenen Lächeln hätte ich schon wieder ausflippen können und das nicht nur, weil ich mir wirklich ziemlich dumm vorkam.

„Wir sind nicht ganz geistesabwesend, manchmal nehmen die Leute eine Präsenz wahr, so wie du es des öfteren hattest. Dementsprechend sind wir nicht, nicht da. Manche spüren das sehr stark und andere bemerken uns gar nicht, aber das wirst du mit der Zeit alles schon selber feststellen.“

„Du lässt mich also einfach ins Messer laufen, hab ich das richtig verstanden?“

„So hätte ich das jetzt nicht formuliert, aber ja. Ich lass dich selbst deine Erfahrungen machen und unterstütze dich wenn es nötig ist.“

Jetzt widersprach er sich schon selber.

„Und was erzählst du mir dann von wegen, du würdest mir alles zeigen? Das funktioniert doch wohl nicht, wenn du mich hier alles alleine machen lässt.“

„Ich hab doch nie behauptet, dass ich dir vorher alles zeige. Es war nie die Rede davon, dass ich dir die Arbeit abnehme, wobei ich dir wenigstens einen Teil ersparen würde, wenn ich könnte. Aber da muss leider jeder durch, da bildest du keine Ausnahme.“

Für seine übliche Ungenauigkeit trat ich ihm gleich entgegen und schlug ihm mit der flachen Hand vor die Brust.

„Du bist so ein bescheuerter Blödmann. Ich frag mich schon die ganze Zeit, wieso ich dich überhaupt mag. Ich muss mir irgendwo den Kopf an gehauen haben, bevor ich nach hier kam.“

Das er bei meinen Worten begann zu grinsen, hatte ich erwartet.

„Du gibst es also endlich zu. Das wäre auch nicht lange gut gegangen, wenn du dich weiter dagegen gesträubt hättest. Und dafür, dass du vorhin noch behauptet hast, von deiner Seite aus würde diesbezüglich nichts mehr kommen, hast du deine Meinung aber ziemlich schnell geändert.“

„Du weißt ja, dass ich sehr launisch sein kann. Außerdem hab ich es Jessica versprochen und auch wenn sie es nicht mitbekommen würde, werde ich das nicht gleich wieder verbocken. Zudem ist es mir zu anstrengend auf ewig so zu tun, als könnte ich dich nicht ausstehen, wieso sollte ich also erst damit anfangen und es dann irgendwann aufgeben. Dann müsste ich nur dir gegenüber wieder eine Niederlage eingestehen und dein doofes Grinsen möchte ich mir sparen.“

Er wusste, dass ich das, was er hören wollte, nicht offen zugeben würde, sein warmherziges Lächeln machte das mehr als deutlich. Und ich schätzte, es war auch mehr als offensichtlich, dass er mich nicht wirklich so kalt ließ, wie ich die ganze Zeit über behauptete.

„Natürlich. Sollen wir dann, oder wolltest du noch länger hier bleiben und ich bring dich in noch mehr Situationen, in denen es dir schwer fällt dich ein zu Igeln?“
„So gern ich auch die Chance nutzen würde, um dir noch mehr böse Dinge an den Kopf zu werfen, aber ich glaube, da haben wir später auch noch Zeit für.“

„Das hast du sehr gut erkannt und weil du so clever bist, darfst du auch aussuchen, ob wir auf dem Boden bleiben, oder ob wir den Luftweg nehmen.“
Da musste ich nicht lange drüber nachdenken.

„Bloß nicht wieder in die höheren Regionen, es sei denn, du willst das ich dir deinen schicken Pulli vollkotze.“

„Gut, dass das hier nicht möglich ist.“

„Ich kann hier tun und lassen was ich will. Willst du es drauf ankommen lassen?“

„Nein, besser nicht. Ich weiß, dass du ziemlich kreativ sein kannst, also lehne ich dankend ab.

Darf es denn ein Auto, oder dein Motorrad sein, oder gleich was ganz anderes?“

„Ich glaube fürs erste reicht es mir, einfach zu Fuß zu gehen.“

Mehr sagte ich nicht, ich steckte nur die Hände in die Hosentaschen und ging los. Dummerweise stellten sich in der aufkommenden Stille gleich wieder die wehmütigen Gedanken ein. Einfach alles hinter mir gelassen zu haben und nicht mehr am Leben der anderen teil zu haben. Dieser Gedanke, diese Tatsache schnürte mir nach wie vor den Hals zu. Im Gegenzug dazu, ließ mich das Gefühl, welches Sam auslöste, als er beim gehen den Arm um meine Taille legte, beinahe abheben. Mit diesem Hochgefühl versuchte ich das Tief zu verdrängen und lehnte mich leicht gegen seine Schulter. Allerdings war ich mir relativ sicher, das mich dieses Gefühlschaos noch eine ganze Weile begleiten würde. Aber ich würde anfangen müssen, damit zurecht zu kommen, und dies, waren die ersten Schritte, in eine neue Richtung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10. Kapitel

 

Es war ein merkwürdiges Gefühl. Es war gewöhnungsbedürftig, aber es war gut. Sobald man den ersten Schock überwunden hatte, war es einfach nur gut.

Zu Lebzeiten hatte ich immer geglaubt, nach dem Tod käme nichts, doch jetzt hatte man mich eines besseren belehrt. Es ist nicht so, wie viele behaupten, das Ende. Mit dem Tod schließt sich nur der Kreis. Zwar bleibt der Körper zurück, der zentrale Punkt, die Seele, das Wesen, aber entschwindet ins Jenseits. Wobei die Bezeichnungen Diesseits und Jenseits immer davon abhängt, auf welcher Seite man sich befindet.

Momentan ist das übliche Jenseits mein Diesseits, aber das spielt im Endeffekt keine Rolle, da man mit jedem neu begonnenen Leben vergisst, je hier gewesen zu sein. Wobei ich fest der Überzeugung bin, dass man es irgendwo doch noch weiß. Woher kommt sonst der glaube an das Jenseits? Wie auch immer.

Klar ist, dass der Lebensfaden nicht mit dem Tod abreißt. Man hat nur den Knotenpunkt erreicht, von dem aus alles von vorne beginnt.

Im Grunde wird man geboren um zu Leben. Man lebt, um am Ende zu sterben und man stirbt, um wiedergeboren zu werden. Worin da allerdings der Sinn besteht, kann ich mir nicht erklären. Aber es ergibt ja nicht alles einen Sinn.

Ich kann lediglich spekulieren, dass es auf die Zeit ankommt, die Erlebnisse, die Erfahrungen, die die Seele prägen und sie zu dem machen, was sie ist. Aber wofür das ganze? Ich hab keine Ahnung.

Aber man hat von so vielem keine Ahnung. Zum Beispiel, wieso ich überhaupt hier verweile. Nicht, das es mir nicht gefällt, ich habe mich nie freier gefühlt, leichter, unbeschwerter. Aber es fordert auch seinen Tribut. Ich bin zwar nicht alleine, trotzdem fühle ich mich manchmal noch einsam. Man lässt alles hinter sich, Freunde, Familie, sein Leben eben und auch wenn man sie jeden Tag sehen kann, kann man doch nicht mehr dort sein. Ebenso wie es schmerzt zu sehen, wie die Hinterbliebenen um mich trauern. Und das schlimme daran ist, ich weiß nicht ob oder wann dieser Schmerz vergeht. Gleich der immer wiederkehrenden Gedanken, die ich mir immer wieder mache und die mich daran erinnern, was ich zurück lassen musste.

Ich saß jetzt schon eine ganze Weile in einiger Entfernung in einem der Bäume und beobachtete. Bei meiner Ankunft hatte mir dieser Ort schon einen Stich versetzt, aber jetzt, wo sie alle betrübt das Gebäude betraten, riss es die grade erst heilenden Wunden wieder auf. Ich hatte es erst nicht verstanden, wieso Sam mich von allem und jedem, was mit meinem Leben zu tun hatte, fern hielt, aber jetzt wusste ich, wieso. Es dauerte seine Zeit, bis man sich daran gewöhnt hatte, nicht gesehen zu werden. Und die Lieben nicht einfach in den Arm nehmen zu können, für sie Luft zu sein, bereitete mehr Kummer, als es gut für jemanden wie mich war. Das mein Tod erst ein paar Tage her war, machte es da nicht einfacher. Ganz im Gegenteil.

Langsam aber sicher füllte sich der Parkplatz mit Autos, ich hätte nie gedacht, dass so viele Leute wegen mir kommen würden. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass kaum jemand kam, deswegen überraschte es mich, als nicht nur die kamen, mit denen ich zu tun hatte. Ich sah eine Menge Gesichter, die zu den Familien meiner Eltern gehörten. Meinen leiblichen Eltern. Und auch sie weinten, und das, obwohl ich immer versucht hatte, den Kontakt so knapp wie möglich zu halten.

Ich wusste, dass es gleich los gehen würde und als Sam mich fragte, ob ich wirklich rein gehen wollte, war ich mir immer noch nicht sicher. Meine Unschlüssigkeit dauerte auch noch eine ganze weile an, schlussendlich entschied ich mich dann dafür, rein zu gehen, obwohl sie schon angefangen hatten.

Schon als wir die Kirche betraten blieb ich gleich stocksteif wieder stehen. Mich überkam plötzlich das Bedürfnis zu verschwinden, ebenso wie leise zu sein, damit sie mich nicht bemerkten, aber das taten sie ohnehin nicht. Zwischen all den Menschen die um mich trauerten fühlte ich mich eindeutig unwohl. Und wäre Sam nicht da gewesen, der mir seinen Arm um die Taille gelegt und mir den Rücken gestärkt hätte, ich wäre einfach davon gelaufen. So ließ ich mich einfach an die Wand, links vom Altar, führen, wo wir stehen blieben und einfach nur die Situation beobachteten. Ich ließ meinen Blick durch die Menge gleiten und es erschreckte, wie viele hier in den Reihen saßen. Ebenso wie es weh tat, sie alle mit feuchten Gesichtern dort sitzen zu sehen, vor allem die in den ersten Reihen. Allerdings wunderte es mich, dass Jessica sich so unter Kontrolle zu haben schien. Ich sah ihr die roten Augen an, aber im Moment blieb alles trocken. Ich wusste nicht, ob mich das freute oder nicht.

Es dauerte nicht lange, da hielt ich es schon nicht mehr aus, sie alle an zu sehen, daher lehnte ich mich einfach bei Sam an, ließ mich von ihm in den Arm nehmen und schloss einfach nur die Augen. Es hatte mich einiges an Überwindung gekostet mir endlich ein zu gestehen, dass ich ohne ihn aufgeschmissen war. Er hatte mich in den letzten Tagen mehrfach aus ungemütlichen Situationen heraus geholt, das ließ sich nicht bestreiten. Außerdem war er mir wirklich wichtig, auch wenn ich ihm das noch nicht gesagt hatte, aber das würde ich vermutlich auch nie. Glücklicherweise brauchte ich das auch nicht, denn er wusste es schon, noch bevor mir das klar geworden war. Selbst Jess hatte es in dieser kurzen Zeit bemerkt.

„Wir können gehen, wenn du möchtest. Es findet sich immer irgendwo Arbeit.“

„Nein, schon okay. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, auf seine eigene Beerdigung zu gehen?“

„Es hat aber keinen Sinn, wenn wir dich im nachhinein nicht nur auf der anderen Seite beerdigen können. Was mach ich denn, wenn du dann weg bist?“

„Hm, deine Arbeit vielleicht, du lässt dich so wie so viel zu leicht ablenken. Oder du könntest mir einfach ins nächste Leben folgen.“

„Auf die Gefahr hin, das ich dich nie wieder finde? Nein danke, dann warte ich lieber, bis du das nächste mal hier vorbei kommst.“

„Das kann dann aber eine weile dauern, also überleg dir schon mal, was du in der Zwischenzeit so machst.“

„Ich hab ja Zeit, da wird sich schon irgendwas finden. Außerdem muss ich dich ja dann erst mal auf der anderen Seite ausfindig machen, bevor du wieder hier rüber kommst, das nimmt auch etwas Zeit in Anspruch. Peilsender funktionieren leider nicht über diesen Prozess hinaus.“

Als ich ihn ansah, grinste er mich nur an. Dafür, das er mir wie jedes mal die Synapsen durcheinander warf, stieß ich ihm die Faust in die Seite und streckte ihm die Zunge raus.

„Blödmann.“

„Ey, Zunge raus strecken macht man nicht, weil das heißt 'Ich...“

„AH! Wehe du sagst das jetzt. Bilde dir ein, was du willst, deine Gedanken stehen dir frei, aber wehe du sprichst sie aus.“

„Natürlich. Wie konnte ich das vergessen. Alles Einbildung.“

So ernst wie es mir möglich war sah ich ihn an und schüttelte tadelnd den Kopf, musste mich dann aber geschlagen geben und lachen, als er übertrieben unschuldig drein blickte. Erst als ich aufhörte zu lachen, wies er mich mit einem nicken darauf hin, zum Rednerpult zu schauen, wo ich Jess sah, bzw. sie reden hörte.

„... ihnen danken, dass sie so zahlreich erschienen sind. Leo wäre vermutlich erschrocken, wie viele sie hier antreffen würde, aber im Endeffekt wäre sie vermutlich glücklich darüber. Es ist kein schöner Anlass, für den wir hier zusammen kamen, das ist eine Beerdigung nie. Vor allem nicht, wenn es wieder einmal jemanden viel zu früh aus dem Leben gerissen hat, zudem so plötzlich.

Ich weiß, für viele war Leonie schwierig. Nicht zuletzt, weil sie alles und jeden auf Abstand gehalten hat. Ich hatte nie Probleme damit, ich habe sie erst nach bestimmten Ereignissen der Vergangenheit kennen gelernt. Und ich muss zugeben, es war schwer, sie wirklich richtig kennen zu lernen. Sie war immer sehr launisch, in der einen Sekunde war sie richtig nett und in der nächsten, da hat sie komplett dicht gemacht. Aber mit der Zeit habe ich gelernt damit um zu gehen, mir war bewusst, dass sie Dinge durchgemacht hatte, die sich niemand zu träumen wagt, die man nicht einmal denen wünscht, die man auf's Blut nicht ausstehen kann.

Ich hab sie immer dafür bewundert, dass sie das alles so gut kaschieren konnte. Sie hat immer versucht es zu verstecken, sodass man es ihr nicht immer angesehen hat. Trotzdem hat man in vielen Situationen bemerkt, wie schlecht es ihr in Wirklichkeit ging. Ich kann mir nicht vorstellen, was man durchleidet, wenn man ein Leben wie ihres durchlebt und ich bedauere, dass es grade jetzt, wo alles besser zu werden schien, so enden musste. Sie hatte noch so viel vor sich, noch so viel vor, wir wollten noch so viel zusammen unternehmen. Aber jetzt ist Leo weg und sie wird nicht mehr zurück kommen, wir werden sie nicht mehr sehen, nie mehr mit ihr reden, sie nie wieder hören, sie berühren. Alles was bleibt, ist die Erinnerung an ein Mädchen, dass sich selbst für unwichtig hielt und deswegen jedem anderen half, nur sich selbst nicht. Sie war immer für einen da, hat geholfen, wo sie nur konnte und sich dabei selbst immer in den hintersten Hintergrund gestellt.“

Bei ihren Worten packte mich eine Bitterkeit, eine, bei der ich das Bedürfnis verspürte, mir selbst Leid zu zu fügen. Dafür, dass ich sie alle zurück gelassen hatte. Mir wäre jetzt vermutlich ein bitterer, säuerlicher Geschmack die Kehle hinauf gekrochen, aber es blieb nur bei den elenden Gefühlen, die mich überkamen. Ich wäre am liebsten gestorben, aber das war keine Option mehr. Stattdessen musste ich mich mit diesem bedrückenden Gefühl abringen und darauf hoffen, dass ich nicht vor Schmerz auseinander fiel.

Aber auch dies war wieder eine dieser Situationen, in denen ich mehr als dankbar war, dass Samuel bei mir war. Er hielt mich wie so oft einfach nur fest, wobei auch dass nur mildernd half. Ich versuchte mein bestes, versuchte, nicht einfach unter zugehen. Ebenso wie ich versuchte, mich dagegen zu sträuben, mich von ihm dazu bewegen zu lassen, weiter zu zu hören und wieder auf zu sehen. Was mir nicht gelang, da ich bei ihren folgenden Worten automatisch wieder hoch schaute.

„Sie wird mich dafür hassen, dass ich wegen ihr weine. Sie sagte, sie wäre es nicht Wert, aber, Gott, sie ist jede einzelne Träne Wert. Ich habe sie geliebt wie meine Schwester und es tut so furchtbar weh zu wissen, dass sie nicht mehr bei uns ist. Aber ich weiß auch, dass sie auch jetzt in guten Händen ist und dass sie auf eine gewisse Art und Weise immer hier sein wird. Sie passt auf uns auf und deswegen will ich nicht um sie trauern, ich will sie immer so in Erinnerung behalten, wie sie war. Sie hat mir gezeigt, dass das Leben kurz sein kann, trotzdem hat sie versucht, das beste daraus zu machen.

Ich habe es immer für übertrieben gehalten, wenn sie sich auch mitten in der Nacht auf gemacht hat um zu mir zu kommen, obwohl wir Kilometerweit von einander entfernt waren, nur um mich zu trösten, wenn es mir schlecht ging. Ich bereue es, dass ich ihr nie dafür gedankt habe, denn so etwas würde nicht jeder tun. Und es ist nicht nur das, sie hat viele solcher Dinge getan, bei denen ich im nach hinein dachte, was bewegt jemanden dazu, so etwas zu tun.

Heute weiß ich, dass sie einfach getan hat, was sie für richtig hielt, was für sie wichtig war. Dass sie einfach nur gelebt hat. Sie war schon immer der Meinung, das Leben sei viel zu kurz, man sollte das tun, wozu man Lust hat. Ich hab das bis Dato immer nur für einen Spruch gehalten, immer nur für ein Motto, aber sie hat bewiesen, dass es in der Tat so ist.

Deswegen will ich einfach nur Danke sagen. Für die Zeit, die ich mit dir verbringen durfte. Für die Dinge, die du mir versucht hast zu zeigen, diese, die ich jetzt erst begriffen habe. Ich hab es immer für selbstverständlich gehalten, dass du immer da warst, ich hab so vieles für selbstverständlich gehalten, aber jetzt vermisse ich dich einfach nur. Ich würde jetzt sagen, ich hoffe, dass es nicht allzu lange dauert, bis wir uns wiedersehen, aber du hast mir ja verboten, dir so bald zu folgen. Deswegen belasse ich es bei, 'Ich bin dir so dankbar für alles, Leo.' und, 'Irgendwann sehen wir uns wieder, ganz sicher.'. Deswegen werd ich auch nicht Lebe wohl sagen, sondern einfach nur, bis bald. Und mach nicht zu viel Mist, solange ich nicht da bin.“

Als sie angefangen hatte zu weinen, hatte sie direkt zu uns herüber gesehen. Und sie tat es jetzt noch. Aber sie hatte nie aufgehört zu lächeln, auch wenn es zugegeben etwas absurd aussah. Aber was mich wirklich sprachlos werden ließ, waren ihre Worte. Sie sprach von Dingen, die sie nie hätte wissen sollen, dass gab mir das Gefühl, dass sie mich sah oder dass sie zumindest wusste, dass ich hier war. Ich konnte es mir nicht erklären, bis mir schließlich unwillkürlich Sam's Worte durch den Kopf schossen.

Manche nahmen uns gar nicht wahr, manche nur wenig und wieder andere spürten uns deutlicher. Irgendwie mussten ja die Märchen und Sagen über Schutzengel entstanden sein.

Ich wusste nicht, wie lange ich versteinert und in Gedanken dort verharrt war, aber die Gäste begannen langsam sich auf zu lösen. Jessica stand schon wieder, oder noch immer vorne, ich wusste es nicht. Allerdings stand sie jetzt nicht am Pult, sondern an dem aufgestellten Sarg. Nach längerem zögern trat ich hinter sie und legte, nicht ganz schlüssig was passieren würde, die Hände auf ihre Schultern. Ich wusste zwar, dass mich außer ihr vermutlich ohne hin niemand hören würde, trotzdem hielt ich mich im Flüsterton.

„Ich muss dir danken, nicht umgekehrt.“

„Sagen wir, wir sind quitt.“

„Du siehst mich also doch.“

„Nicht ganz. Ich spüre deine Anwesenheit, aber nicht so deutlich wie beim letzten mal. Aber ich weiß, dass du da bist, das reicht mir.“

„Die Leute würden dich für verrückt oder für ein Medium halten, wenn du ihnen davon erzählst.“

„Sollen die doch denken was sie wollen. Solange sie nicht versuchen, Geld mit mir zu machen. Außerdem werde ich das niemandem direkt auf die Nase binden.“

„Funktioniert das nur mit mir, oder auch mit anderen 'Geistern'?“

„Du wirst schon wieder leiser, ich versteh dich kaum noch.“

Um den Kontakt nicht sofort wieder zu verlieren, sprach ich etwas lauter als zuvor.

„Wir müssen ohnehin los, denke ich. Du weißt ja, das ich hier bin.“

„Er ist also auch hier.“

„Ja, er weicht mir nicht von der Seite. Er hält sein Wort und da bin ich dankbar für.“

Ich wusste nicht, ob sie mich noch hörte, da sie sich ohne weiter darauf ein zu gehen zu mir um wandte und in meine Richtung sah, wobei sie sichtlich überrascht aussah, was aber nur für den Bruchteil eines Moments zu erkennen war. Vermutlich hatte sie damit gerechnet mich zu sehen. Der verblüffte Gesichtsausdruck machte schnell einem schiefen Lächeln Platz, welches mal mehr mal weniger durch ihre gespielt beherrschte Fassade schien, welches aber zunehmend gezwungener aussah. Sie zeigte sich stark nach außen, aber sie hatte grade ihre beste Freundin verloren, das zog nicht einfach so an jemandem vorbei. Selbst an mir zog diese Veränderung nicht einfach so vorbei, wobei ich mich langsam damit abfand. Was blieb mir auch anderes übrig.

Mit und mit konnte ich beobachten, wie Jessica's Blick immer weitreichender suchte und sie es irgendwann aufgab. Zögernd drehte sie sich noch einmal zu meinem Sarg um und verließ dann stillschweigend die Kirche. Alles was mir blieb, war ihr hinterher zu sehen, mich Trost suchend an Sam an zu lehnen und ihn stumm zu bitten, meine Last wenigstens für eine Weile mit mir zu tragen. Bereitwillig legte er mir den Arm um die Taille, zog mich näher an sich heran und strich mir dann sanft mit den Fingern über die Wange.

„Versteif dich bitte nicht darauf, dass das ein Dauerzustand ist. Beim ersten mal ging es von dir aus, dieses mal ging es auf ihr Konto. Das Schicksal ist sehr launisch und ich weiß nicht, ob ihr überhaupt noch mal Kontakt aufnehmen könnt.“

„So etwas ähnliches hast du schon beim ersten mal gesagt.“

„Ja und ich versuche dir damit klar zu machen, dass du dich da nicht rein steigern sollst. Ich kenne dich, wenn du dir das in den Kopf setzen solltest, kann ich dich nicht davon abbringen, deswegen versuche ich, dich gleich davon ab zu bringen, bevor dieser Gedanke überhaupt Zeit hat um zu keimen.“

„Vielleicht solltest du bei deiner ersten Taktik bleiben, wenn es doch mal irgendwann so weit ist. Ich meine, sieh mich an. Ich stehe hier, angelehnt an einen Typen der vom Himmel gefallen zu sein scheint, und der hat es ganz gut hin bekommen, mich davon zu überzeugen, dass ich ihn trotz Protest irgendwie gern habe. Also wenn du mich fragst, wenn dieser Kerl das einmal geschafft hat, dann schafft er das auch wieder.“

Dass er nicht antwortete, ließ mich zu ihm umdrehen, bis ich ihn verschmitzt lächeln sah.

„Mir gefällt es, dass wir uns so gut ergänzen. Im übrigen fasse ich deine Aussage als heimliches Geständnis auf.“

Dass ich ihn einfach küsste, um ihn zum schweigen zu bringen, schien ihn nicht wirklich zu überraschen. Ganz im Gegenteil.

„Das bestärkt mich nur in meiner Annahme.“

„Glaub was du willst. Ich bleibe dabei und sage, dass es nicht so ist.“

„Dann wollen wir doch mal sehen, wie lange du an deiner Meinung fest hältst. Immerhin hast du behauptet, wenn dieser Kerl es einmal schafft dich zu überzeugen, dann schafft er das auch wieder.“

Natürlich spielte er mich gegen mich selber aus, aber ich ließ ihn nicht gewinnen. Statt wieder darauf ein zu gehen schüttelte ich nur den Kopf und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Bauch.

„Komm schon, irgendwo wartet mit Sicherheit Arbeit auf uns.“

Aus den Augenwinkeln warf ich dem Sarg hinter uns noch einen letzten Blick zu, bevor ich mich von Samuel löste und mich Richtung Ausgang auf machte. Das ich nur ein paar Schritte weit kam, bevor Sam mich von hinten packte, ärgerte mich nicht sonderlich, dass er mich aber mit in die Höhe riss, störte mich schon eher. Trotz dem er das schon mehrfach zuvor getan hatte, musste ich mich erst noch daran gewöhnen, vor allem, wenn er so wie jetzt, direkt mit mir auf die Decke zu steuerte und wir durch sie hindurch glitten, wie durch eine Wasseroberfläche.

„Du verrückter Spinner!“

Mit nicht allzu viel Mühe, wie noch vor ein paar Tagen, drehte ich mich zu ihm um und sah ihn grinsen.

„Sei lieber vorsichtig mit dem, was du sagst. Womöglich lasse ich dich noch fallen, weil du so gemein zu mir bist.“

Ohne zu zögern, stieß ich mich mit einem Stoß von seiner Brust ab und breitete die Flügel aus. Nichts desto trotz, ich genoss einfach das Gefühl der Freiheit, als ich nach dem freien Fall durch die Lüfte zog. Es war lange nicht so, wie mit dem Motorrad zu fahren. Auf gewisse Art und weise zog die Luft an mir entlang, jedoch nicht so, wie sie es auf der anderen Seite getan hatte, wenn der Wind mir durch die Haare strich, wenn ich wieder ohne Helm unterwegs war. Dieses Gefühl war nicht wie die Art von Kick, die ich immer gesucht und nur selten gefunden hatte, es war eher eine sicherere Methode, eine Art von Ausgeglichenheit, die mir nie vergönnt gewesen war. Und auch jetzt musste ich mich erst daran gewöhnen, sie zu genießen, denn bisher plagt mich immer noch mein schlechtes Gewissen und straft mich lügen, wenn ich versuche bedenkenlos vorwärts zu gehen. Aber ich habe mir, und auch Sam, geschworen, dass ich mich nicht so hängen lassen würde, wie in den ersten zwei Tagen. Und für den Fall, dass es doch so kommen sollte, habe ich vorsichtshalber einen Deal mit Sam geschlossen, der besagt, dass er alles ihm mögliche versuchen darf, um mich wieder zur Besinnung zu rufen. Allerdings will ich es nicht so weit kommen lassen, wer weiß, was er dann tut. Wobei, der Gedanke ihn strampeln zu sehen sehr verlockend ist, aber das würde ich auch so schon irgendwie hin kriegen. Immerhin hab ich jetzt eine Menge Zeit und mit der Gewissheit, dass ich ihn nicht mehr los werde, lässt sich eine Menge anstellen.

Aber wer weiß schon, was die Zeit mit sich bringt.

Und vor allem kommt ja bekanntlich immer alles anders, als man denkt.

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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2013

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