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Kapitel 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schon als Kinder werden wir von Einflüssen der Umgebung und anderer Menschen geformt und geprägt. Bedauerlicherweise behalten alle das vorgegebene Muster bei. Nur die wenigsten besitzen den Mut, sich selber zu erschaffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit tief ins Gesicht gezogener Kappe und darüber gezogener Kapuze schlich Ich ins Schulgebäude. Es hatte vor gut zehn Minuten geklingelt, die Gänge waren menschenleer. So leise wie möglich eilte Ich zu meinem Spind, nahm meine Bücher heraus und verstaute mein Skateboard. Mit einem leisen Klicken ließ Ich die Türe meines Schrankes wieder zu schnappen und verschloss ihn, bevor Ich mich auf leisen Sohlen auf den Weg zu meinem Klassenraum machte. Dort angekommen verriet Mir ein Blick durch das kleine Fenster in der Tür, dass alle saßen und Mr Dunsten vorne an der Tafel einige Dinge notierte. Ohne ein Geräusch zu verursachen ergriff Ich den Türknauf und drehte ihn, stieß die Türe ohne Laut auf und schloss sie ebenso lautlos wieder hinter mir. In der hintersten Reihe begann ein Mitschüler zu Husten, woraufhin Ich mich schleunigst daran machte, zu meinem Platz zu finden. Sobald Ich saß, hörte der plötzliche Hustenanfall meines Sitznachbarn wieder auf. Ein Blick zu ihm herüber zeigte mir das skeptische Gesicht meines Freundes, welches Ich mit einem Kopfschütteln quittierte.

„Mr Sullivan, sie sind zu spät.“

Schuldbewusst zuckte Ich zusammen und richtete den Blick zur Tafel, von der aus Ich einen tadelnden Blick zugeworfen bekam. „Tut mir Leid, Mr Dunsten. Der Bus war voll.“

„Mal wieder. Ich will sie nach dem Unterricht sprechen, verschwinden sie nicht wieder.“

Mit den Worten widmete er sich wieder der Tafel und fügte dann an. „Und nehmen sie die Mütze ab.“

Mit einem stummen Seufzer packte Ich meinen Notizblock und einen Kugelschreiber aus, bevor Ich die Kapuze herunter nahm, die Kappe beiseite legte und damit ein ordentliches blaues Auge enthüllte. Von David, der rechts auf Seiten des Veilchens saß, kam ein kurzes „Ouh.“, das von meiner anderen Seite mit neugierigen Stößen verfolgt wurde. Entnervt drehte Ich das Gesicht zur anderen Seite, sodass Malcolm und auch die, die sich zu mir um gewandt hatten, es sehen konnten, bevor Ich den Blick starr auf die Tafel heftete.

„Hat er dich schon wieder geschlagen?“

Ich wollte nicht auf die geflüsterte Frage meines Freundes zur linken antworten, also tat Ich es nicht. Das hielt diesen allerdings nicht davon ab, weiter zu bohren.

„Du musst ihn endlich anzeigen. Du kannst dir doch nicht alles von ihm gefallen lassen. Er mag dein Vater...“

Bevor Malcolm seinen Satz beenden konnte, fiel Ich ihm ins Wort.

„Lass gut sein Mal, ich bin vom Board geflogen, weiter nichts. Und jetzt lass mich die Aufgaben machen, ich bin eh schon angeschissen.“

„Vom Board geflogen, ja klar. Luc du musst dich endlich wehren, er hat kein Recht dazu, dich in Grund und Boden zu stampfen.“

Ich hatte mich meinem Freund zu gewandt und schon Luft geholt, schon zum sprechen angesetzt, da flog ein Stück Kreide zwischen uns beiden her, gefolgt von einer Verwarnung.

„Ruhe da hinten, sonst schreiben sie mir bis Morgen einen zehnseitigen Aufsatz über den Fall der Kasematten von La Ferté im Jahre 1940.“

„Was? Was soll das denn sein?“

„Das werden sie dann heraus finden, Mr Fitzek, wenn sie sich an diese Aufgabe machen.“

Mr Dunsten hatte sich schon wieder seinen Notizen gewidmet, doch Malcolm grummelte immer noch vor sich hin.

„Sehe ich etwa aus wie ein Geschichtsbuch? Der hat sie doch nicht alle.“

Um ihn endlich zum schweigen zu bringen, trat Ich meinem Freund gegen das Beim, der darauf hin ein kurzes „Au!“ ausstieß, sich das Schienbein rieb und schlussendlich anfing, sich um die Aufgaben zu kümmern. Sobald ich mir sicher war, dass es auch dabei bleiben würde, machte ich mich daran, die Notizen an der Tafel weiter in meinen Block zu übertragen. Dabei entging mir nicht, dass eines der Mädchen aus den vorderen Reihen mich beobachtete. Nur kurz flackerte Mitleid im Blick der Blonden auf. So schnell wie es aufgekeimt war, verschwand diese Regung aus ihrem Gesicht und machte neutraler Haltung platz. Gleich darauf wurde sie von ihrer Platznachbarin angestoßen, ein Mädchen, das ihr ähnlich, aber doch ganz anders aus zu sehen schien und sie still drauf hin wies, sie solle sich lieber ebenfalls auf den Unterricht konzentrieren. Aeria, die die mich beobachtet hatte, wandte sich wieder nach vorne, woraufhin ihre Nachbarin einen verstohlenen Blick zu mir zurück warf. Ihre Augen ließen Vorsicht erkennen, aber auch eine Stille Warnung. Wovor, konnte ich allerdings nicht erkennen. Sofort wandte auch sie sich wieder nach vorn und ging ihren eigenen Dingen nach.

Frustriert ließ ich den Kopf hängen und kämmte mir meinen Pony vor das zerschlagene Auge. Dummerweise war er nicht ansatzweise lang genug, um die Verunstaltung komplett zu verdecken. Für den Rest der Stunde hielt ich mich strickt an meine Aufgaben, hob den Blick nur so selten wie nötig und ließ alles schweigend über mich ergehen.

 

 

Als die Schulglocke die ersten vier Stunden beendete, war ich erleichtert. Mit schnellen Bewegungen sammelte ich meine Sachen zusammen, ließ sie in meinem Rucksack verschwinden und griff mir meine Kappe um sie gleich darauf auf zu setzen. Mit eiligen Schritten drängte ich mich an einigen meiner Mitschüler vorbei um schnellstmöglich die Türe zu erreichen, allerdings vergebens.

„Nicht so schnell Mr Sullivan.“

Mitten in der Bewegung hielt ich inne, um mich dann langsam auf der Hacke um zu drehen und meinem Lehrer gegenüber zu stehen. Dieser hielt mich so lange im Blick, bis alle das Zimmer verlassen hatten, bevor er das Wort ergriff.

„Sie sind diese Woche drei mal zu spät zum Unterricht erschienen Lucas.“

Erst als Mr Dunsten keine Antwort erhielt, fuhr er fort. „Die Woche hatte erst vier Tage.“

Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen und kratzte mich dann am Hinterkopf.

„Ich weiß, tut mir Leid. Kommt nicht wieder vor.“

„Versprechen sie nichts, was sie nicht halten können Lucas, das bringt sie nur unnötig in Schwierigkeiten.“ Wieder entstand eine kurze Pause, bis der ältere Mann weiter sprach. „Wenn sie etwas haben, dass ihnen auf dem Herzen liegt, können sie jederzeit mit mir darüber reden.“

„Ich weiß Sir, aber es ist nichts.“

Prüfend sah mein Lehrer mir ins Gesicht und begutachtete mein Auge bevor er seufzte. „Ihr Freund hat Recht, sie sollten sich so etwas nicht gefallen lassen. Von niemandem. Das ist unter ihrer Würde.“

„Wenn Sie schon lauschen, sollten sie auch richtig zuhören. Es war ein Unfall, bin vom Skateboard gefallen und hab eine Laterne geknutscht. So was kommt vor.“

Auf die offensichtliche Lüge antwortete Mr Dunsten mit einem Schnauben und Nicken und sprach dann weiter. „Interessante Laterne.“

Da Ich dies nur mit hochgezogenen Schultern und Augenbrauen quittierte, beendete Mr Dunsten das Gespräch.

„Na gut. Wenn sie keine Probleme haben, dann können sie gehen. Aber lassen sie sich gesagt sein, dass ihr Unfall, wie sie es nennen, keine schlechten Noten entschuldigt.“

Das beantwortete ich meinerseits mit einem hastigen Nicken, drehte mich um und verließ das Klassenzimmer.

Draußen vor der Türe warteten David und Malcolm bereits und stellten mit Blicken die Frage, was vorgefallen sei. Als sie darauf von mir nur ein Kopfschütteln erhielten, hakte David nach.

„Was wollte er von dir?“

„Gar nichts.“

„Komm schon, wieso wollte er mit dir reden? Schmeißt er dich raus?“

„Ich sag doch, es war nichts.“

Plötzlich blieben die beiden anderen stehen, verschränkten praktisch synchron die Arme und sahen mich erwartungsvoll an. Ich wollte erst einfach weiter gehen, konnte sie dann aber doch nicht einfach stehen lassen und klärte sie auf.

„Er hat mich nach meinem Auge gefragt, nichts weiter. Ehrlich nicht.“

Auf diese Erklärung hin fing Malcolm an zu nicken, kam dann auf mich zu und legte mir die Hände auf die Schultern.

„Das ist auch eine Interessante Frage wie ich finde. Hör zu Alter, ich weiß er ist dein Dad, aber das geht echt zu weit. Er kann dich nicht einfach als Sandsack verwenden, wenn er sich abreagieren muss. Das ist Körperverletzung und strafbar.“

„Ich weiß, aber ich kann ihn nicht einfach ans Messer liefern. Er ist..“

Mitten im Satz verstummte ich und sah zu Aeria herüber, die mir den Rücken zugewandt an ihrem Schrank stand. Malcolm verstand dies als Aufforderung, weiter auf mich ein zu reden.

„Er ist dein Dad, ja klar, kenn ich schon. Verdammt du bist wie ein Hund. Du lässt dich treten und würdest dann noch den Boden sauber lecken auf dem Er geht und steht. Das ist total krank Mann. Du musst da raus, ganz dringend. Hast du schon angefangen dir eine eigene Wohnung zu suchen?“

Erst als Malcolm keine Antwort auf seine Frage erhielt fiel ihm auf, das ich ihm gar nicht zu hörte. Daraufhin folgte er meinem Blick und stieß mich dann an.

„Komm schon Luc, hör auf mich zu ignorieren und hör vor allem auf, dem Mädchen hinterher zu sabbern. Die ist ne Nummer zu groß für dich mein Freund.“

Ich hatte die Worte meines Freundes kaum zur Kenntnis genommen. Dass sie allerdings ihren Spind schloss und sich in meine Richtung drehte, ließ mich aus meiner Trance erwachen und zur Seite schauen. Sobald sie an mir vorbei war, schaute ich ihr Hinterher und ließ meine Aufmerksamkeit schlussendlich wieder meinen Freunden zukommen.

„Schönen Dank.“

Verwirrt und unwissend sah ich Malcolm an und fragte ihn schließlich, für was er sich bedankte.

„Dafür, dass du mir deine Aufmerksamkeit schenkst. Ich wäre schon glücklich, wenn du mich nur halb so viel beachten würdest, wie die Kleine da.“

Damit legte Malcolm mir einen Arm um die Schultern und schaute demonstrativ der davongehenden Aeria hinterher. Erst als sie hinter der nächsten Ecke verschwand, richtete Malcolm sich wieder an mich.

„Du solltest sie ansprechen, alles andere ist unhöflich. Immerhin starrst du ihr in regelmäßigen Abständen auf den Hintern.“

Erschrocken riss ich den Kopf zu meinem Freund herum und starrte ihn böse an.

„Ich starre ihr überhaupt nicht auf den Hintern. Hör auf solche Lügen zu verbreiten.“

„Ich erzähle nur, was ich beobachte. Und jetzt komm, die Pause dauert leider nicht ewig und du musst noch deine Sachen holen.“

Ohne weiter auf meine Proteste zu achten, führte Malcolm mich zu meinem Schrank, öffnete diesen für mich, woraufhin er sich einen skeptischen Blick einfing, und nahm mein Sportzeug heraus.

„Hier und jetzt Los. Ich hab Hunger und bin nicht bereit noch länger zu warten.“

„Ja, schon gut.“

Ich winkte ab, bevor er wieder damit anfangen konnte, mich vor sich her zu schieben. Mein Sportzeug warf er mir eher entgegen, als dass er es mir gab. Überrascht fing ich es eher ungeschickt als alles andere auf und hing es mir über die Schulter, bevor ich den Weg zur Cafeteria einschlug.

Dort angekommen stand wie immer David bereits in der Schlange und wartete auf uns. Und wie immer fing er sich von den anderen Wartenden eine Kopfnuss ein, als er uns vor ließ. Wie jedes mal klopfte ich ihm dankend auf die Schulter, was er wie jeden Tag mit einem Schulterzucken und einem „Kein Ding“ einfach abtat. Es war beinahe traurig wie monoton ein Tag dem anderen glich. Aber was sollte man machen, wir waren gefangen in einem Trott, den uns unsere Vorväter vor gelebt hatten.

Stumm holten wir uns unsere Tabletts, luden sie voll und setzten uns dann an unseren Tisch. UNSER Tisch, liebevoll verziert und dekoriert von allen, die uns für die letzten Deppen hielten. Er war von oben bis unten voll geschmiert mit Beleidigungen, Parolen und anderem, was den Leuten so einfiel. Hier und dort klebte ein Kaugummi auf der Fläche und unzählige weitere darunter. Eine der Tischecken war heraus gebrochen und mitten in der Fläche hatte wohl mal jemand aus Langeweile mit einem Taschenmesser ein Loch hinein gehackt, aber alles in allem war er ganz passabel. Eigentlich konnten wir uns nicht beschweren, immerhin wurde unser Tisch jeden Tag gewischt. Es gab Tische die viel schlimmer aussahen, zum Beispiel der der Streber. Irgendjemand machte sich jeden Tag die Mühe und belud ihren Tisch mit Dreck, Müll und anderen undefinierbaren Dingen. Einerseits taten mir die armen Freaks Leid, man sollte meinen Intelligenz war etwas gutes, doch auf dieser Schule waren sie definitiv damit gestraft. Andererseits war ich allerdings froh, dass sie die Opfer der vermeintlich Unterbelichteten waren und nicht wir.

Wie froh ich darüber war, wurde mir grade vor Augen geführt, da sich einer dazu gezwungen sah, sein Mittagessen kopfüber und direkt mit dem Gesicht voran vom Fußboden zu essen.

Kopfschüttelnd wandte ich den Blick auf mein eigenes Tablett.

„Es ist abartig.“

David, der mir gegenüber saß konnte den Blick nicht abwenden.

„Ich finde es beeindruckend. Ich meine, wo nimmt Stephan die Kraft her um den armen Tropf so lange kopfüber in die Luft zu halten?“

Wieder zuckte mein Blick für einen kurzen Moment zu dem Schauspiel, dem mittlerweile die ganze Cafeteria beiwohnte.

„Was bei ihm an Hirn fehlt, macht er an Muskelkraft wett.“

„Sehr zum Leidwesen aller, die sich nicht gegen ihn durchsetzen können.“

Malcolm wusste wovon er sprach. Bevor er mit dem skaten angefangen hatte und somit in die Kategorie 'Skaterfreaks' gerutscht war, hatte er zur Gruppe der 'Wir-werden-gemobbt-weil-wir-Schwarz-sind' gezählt. Dass seine Adoptiveltern und deren Vorfahren aus Schottland kamen, hatte nicht unbedingt zum sozialen Erfolg an unserer Schule beigetragen.

Grade als Stephan den Jungen Kopfüber in die Mülltonne stecken wollte, langte es mir. Ich schob mein Tablett zur Seite, wandte mich ihm zu und warf ihm meine leere Wasserflasche an den Kopf.

„Stephan lass den Jungen runter. Hast du ihn nicht schon genug schikaniert?“

Wie ein Grizzlybär dessen Aufmerksamkeit erregt worden war drehte er sich um, nahm mich in Augenschein und ich stellte mir die Frage, ob es wirklich so klug gewesen war den Helden spielen zu wollen. Aber ich hatte schon ein blaues Auge, viel schlimmer konnte es nicht mehr werden, zumindest nicht nach seinen Maßstäben und solange er den Jungen runter ließ, was er grade auf sehr unbequeme Art getan hatte, hatte ich mein Ziel erreicht.

„Ganz schön mutig, hast du sonst noch was zu sagen?“

„Ein bisschen.“

Ich musste völlig wahnsinnig sein, oder suizidgefährdet. Vielleicht musste ich mich aber auch selbst einfach mal abreagieren. Auf jeden Fall konnte ich mich selber nicht mehr bremsen und bevor David oder Malcolm es tun konnten, waren mir meine Worte schon raus gerutscht.

„Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man sich nicht an kleineren vergreift, oder hast du einfach Angst gegen jemanden in deiner Größe zu verlieren? Und ich weiß ja, dass es schwer ist sich mit so vielen Pickeln im Gesicht zu rasieren, aber dein Bart gespickt mit Eiterbeulen sieht irgendwie ziemlich eklig aus.“

Für einen kurzen Moment kniff ich die Augen zu, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und wünschte mir selber Glück, griff mir dann meine Tasche und gab Fersengeld. Ich hatte den Ausgang der Cafeteria schon erreicht und eine der Flügeltüren im vorbeilaufen als Hindernis zu geschlagen, als ich die Lok der Wut und Gewalt hinter mir mit einem lauten „Na warte!“ anfahren hörte. Hätte ich vorher von meinem Himmelfahrtskommando gewusst, hätte ich mein Board aus dem Spind mitgebracht, die glatten Schulflure eigneten sich bestens zum Skaten und in diesem Fall wäre es zur Flucht Ideal gewesen. Dummerweise hatte ich mich ausgerechnet heute spontan dafür entschieden, den ewigen Alltag hinter mir zu lassen. So musste ich jetzt mit den Konsequenzen leben und um mein Leben laufen.

Ich war bereits um zwei Ecken gebogen, eine linke eine rechte, als ich hinter mir hörte, wie Stephan die Flügeltüre auf stieß und diese lautstark vor die Wand flog. Zusammen mit einem wutentbrannten „Komm her du einäugiges Wiesel, dich mache ich zum Waschbär!“ hörte ich laute Schritte hinter mir her eilen. Sollte er mich in die Finger kriegen, war ich Geschichte.

Mit einem Blick nach hinten lief ich um die nächste Ecke und prompt, wie sollte es auch anders sein, stieß ich mit jemandem zusammen. Ich schaffte es grade noch mich zu fangen, nicht zu stürzen und besaß sogar die Geistesgegenwertigkeit meinen Gegenüber auf zu fangen und hatte plötzlich eine ziemlich überraschte Aeria in den Armen. Der Moment der Erkenntnis war der Moment, in dem mein Hirn aussetzte, glücklicherweise besaß dieses mal Sie den Verstand und drängte mich in die angrenzende Mädchentoilette. Durch die Pendeltüre konnte ich immer wieder Stephan hören, der laut meinen Namen schreiend durch die Gänge walzte. Als die Türe ein letztes mal auf schlug, konnte ich ihn sogar vorbei rennen sehen, woraufhin ich mich an die Wand presste, die Augen zu kniff und betete, dass er mich nicht gesehen hatte. Mit steigender Erleichterung stellte ich fest, das er nicht zurück kehrte um meinem jungen und vor allem langweiligen Leben ein Ende zu bereiten. Fürs erste. Stellte sich die Frage was er tun würde, wenn ich die Toilette verließ und er mich früher oder später doch fand. Und das würde er auf jeden Fall.

Als Aeria mich mit ihren Worten in die Wirklichkeit zurück holte, war mir die ganze Sache mehr als unangenehm.

„Er ist weg, du kannst die Augen wieder auf machen. Oder hast du Angst hier im Mädchenklo etwas zu sehen, das dir deine Fantasien zerstört?“

zögernd öffnete ich erst das eine, dann das andere Auge und sah sie an. „Hey.“ war alles was ich unter ihrem fragenden Blick heraus brachte. Kopfschüttelnd schloss ich die Augen wieder, nur um sie dann wieder zu öffnen und schaute mich dann im Waschraum um, um sie dieses mal nicht ansehen zu müssen. Und anstatt mich gescheit zu erklären, sprach ich das erste aus, was mir in den Sinn kam und machte es vermutlich nur noch schlimmer.

„Hier sieht es genauso aus wie bei uns nebenan. Abgesehen von den... Ach vergiss es.“

Ich kam mir total dämlich vor, senkte daher den Blick zu meinen Füßen und als wäre es eine Fügung des Schicksals klingelte es genau in dem Moment, sodass mir eine gestotterte Erklärung erspart blieb. Ebenso wie sie mich davon abhielt zu reden, da sie selbst zu Worte griff.

„Du solltest besser hier verschwinden. Ich glaube es ist schlimmer, wenn sie sehen wie du aus der Mädchentoilette kommst, anstelle von Stephan's Spezialbehandlung.“

Das Wort Spezialbehandlung betonte sie mit angedeuteten Anführungszeichen und schielte dann wieder zur Pendeltüre heraus in den Flur.

„Die Luft ist rein. Mach das du weg kommst, sonst fang ich an zu schreien, weil du hier drin bist.“

Damit hielt sie mir die Tür auf und deutete nach draußen. Als ich Aeria ins Gesicht sah, meinte ich ein verschmitztes Lächeln gesehen zu haben, aber es war so schnell wieder weg, dass ich es mir auch nur hätte einbilden können. Als ich dann an ihr vorbei eilte ließ ich ein kurzes „Danke.“ fallen, und verließ die Toilette.

 

 

Auf dem Weg zur Turnhalle hatte ich mich gefühlte Millionen mal umgesehen, um nicht doch noch Stephan in die Hände zu fallen. Dort angekommen hatten sich ungefähr genauso viele Fragen angesammelt, die ich alle nicht beantworten konnte. Die Top drei?

Wie schlimm stand es um mich, dass ich mich mit dem größten, ältesten und dümmsten Typen mit den meisten Pickeln im Gesicht anlegte?

Wie viel Zeit hatte ich noch, bis dieser mich fand und mir alle Lichter aus blies?

Und wieso musste es ausgerechnet Aeria sein, die mich vor diesem Neandertaler in der Mädchentoilette versteckte?

Ich meine, wie stand ich denn da? Sie musste mich für das dümmste Brot der Weltgeschichte halten. Wobei der IQ von Brot noch höher sein musste, denn im Gegensatz zu mir, konnte Brot wenigstens noch schimmeln. Ich schien nichts selber auf die Reihe zu kriegen. Und das schlimmste an alledem? Wir hatten ziemlich viele Kurse gemeinsam, seit neuestem unter anderem auch Sport. Sie würde mich jeden Tag sehen und sah in mir immer 'den Jungen den sie auf dem Klo verstecken musste'. Hatte ich vorhin noch behauptet verprügelt zu werden wäre das schlimmste was mir widerfahren konnte, so wurde ich jetzt eines besseren belehrt.

Dummerweise brachten einem solche Erkenntnisse im Nachhinein nicht mehr viel.

Ziemlich plötzlich aber auch glücklicherweise wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, indem man mir an den Hinterkopf schlug und mich verbal zusammen zu falten versuchte.

„Bist du Lebensmüde?! Hast du den Verstand verloren?! Was hast du dir bei dieser Aktion gedacht?! Alter, der Typ macht dich kalt! Du wirst dich auf ewig verstecken müssen, damit er dir nicht den Kopf von den Schultern reißt!“

Mit Mühe schaffte ich es, Malcolm, der von hinten gekommen war und jetzt vor mir stand, auf Armeslänge Abstand zu halten, damit er mir nicht ins Gesicht sprang.

„Mal ich versteh dich auch so ganz gut, schraub mal die Lautstärke runter.“

Ganz beruhigen ließ er sich nicht, aber zumindest dämpfte er seine Stimme etwas ab. Er schrie zwar nicht mehr, zischte mich allerdings immer noch an.

„Du musst total gestört sein. Wie kommt man auf die hirnrissige Idee, sich mit diesem Typen an zu legen? Du kannst doch nicht einfach den barmherzigen Samariter spielen. Ist dir bewusst, dass du jetzt für den Rest deines Lebens verdammt bist?“

„Oh komm schon, mach es nicht so dramatisch. Morgen hat er das schon wieder vergessen.“

„Na wenn du meinst. Wenn er dich morgen gekillt hat, erinnere ich dich daran, dass du das gesagt hast.“

Damit drehte Malcolm sich um und verschwand in der Sammelumkleide. David stand neben mir, sah mich an und zuckte nur mit der Schulter, bevor auch er in der Umkleide verschwand. Schweigend folgte ich den beiden, nur um gleich an der Tür ein nasses, gefletschtes Handtuch ins Gesicht zu bekommen. Ziemlich hart. Es riss mir den Kopf zur Seite und zwei Sekunden später setzte der brennende Schmerz ein. Abgesehen von dem Rauschen in meinen Ohren, konnte ich schallendes Gelächter und erstaunte Rufe hören.

„Tja da hat es Sullivan wohl doch noch erwischt!“

Ich hätte schwören können, dass es Kelleth war, der da das Handtuch schwang, aber wirklich sicher war ich mir nicht, da ich alles doppelt und verschwommen sah. Allerdings sollte ich das auch nicht heraus finden, denn bevor ich mich versah, tauchte eine schwarze Wand vor mir auf. Bis ich realisiert hatte, dass es Malcolm gewesen war, der ohne Shirt vor mir stand und mich auffing, saß ich auch schon auf der Bank.

„War das wirklich nötig, Kelleth?“

Als Malcolm vor mir in die Hocke ging hielt er eine Hand hoch und sah mir in die Augen.

„Wie viele Finger siehst du?“

Ich versuchte meinen Blick zu fokussieren, aber es war zwecklos, stattdessen schüttelte ich träge den Kopf.

„Dreizehn. Aber Mann, du solltest nicht so vor mir knien, das sieht ziemlich unvorteilhaft für uns beide aus.“

Unwillkürlich musste ich grinsen, wobei Malcolm selbst lachen musste. Dann wandte er sich dem Rest der Jungs zu.

„Es geht ihm gut. Geht ihm gut. Kann jemand was zum kühlen holen, wir kommen dann gleich nach.“

Der Großteil der Gruppe verließ den Raum, nur ein paar einzelne blieben zurück und zogen sich zu ende um. Kurz darauf kam David mit dem Sportlehrer zurück. Mr Mallum nahm Malcolm's Platz vor mir ein und kontrollierte meine Augen, bevor er mir ein Kühlpack auf die linke Gesichtshälfte drückte.

„Wie fühlst du dich?“

Ich war mir nicht ganz sicher ob es gut war, dass ich erst darüber nachdenken musste, was ich sagen wollte, bevor ich die Worte dafür fand.

„Alles ein bisschen verschwommen, aber der Kopf ist noch dran denke ich.“

Mit einem prüfenden Blick sah Mr Mallum mir noch mal ins Gesicht, schlug mir dann auf die Schulter und erhob sich.

„Sehr gut. Glaubst du, du kannst später am Unterricht teilnehmen, oder soll ich dich für den Rest des Tages freistellen?“

Stellte er mir grade die Frage ob ich lieber nach Hause wollte, anstatt am Unterricht teil zu nehmen? Wenn ja, die Frage war schnell beantwortet.

„Es geht schon, aber ich denke, ich sollte das noch einen Moment kühlen. Danach würde ich gerne am Unterricht teilnehmen.“

Mit den Worten deutete ich auf meine linke Wange. Wenn ich sie nicht Kühlte, würde sie später genauso wie mein Auge in allen Regenbogenfarben leuchten. Außerdem wollte ich unter keinen Umständen nach hause. Ich war mir nicht ganz sicher, ob mein Vater schon wieder nüchtern war, das Risiko wollte ich nicht eingehen. Und wie viel schlimmer konnte der Tag schon noch werden?

„Alles klar. Zieh dich um und dann komm in die Halle mit deinem Kühlpack. Wir bauen in der Zwischenzeit alles auf.“

Mit diesen Anweisungen verließ der Trainer die Umkleide und ließ mich alleine mit Malcolm und David zurück. Letzterer hockte sich vor mir hin und sah mich zweifelnd an.

„Bist du dir sicher, dass du das wirklich machen willst? Ich meine, es geht hier manchmal ziemlich rabiat zu und so angeschlagen wie du ohnehin schon bist.“

Anstelle den Satz zu beenden, zuckte er mit den Schultern. Ich konnte mit dieser Information grade nichts anfangen, also ließ ich es dabei bewenden und stand auf, um mich umzuziehen. Was mir ziemlich gut gelang wenn man bedachte, dass ich grade einen ziemlich harten Schlag mit einem nassen Handtuch eingesteckt hatte. Es hätte genauso gut eine Faust sein können, zumindest hatte es sich so angefühlt. Ich war zwar nicht so schnell wie sonst, schaffte es aber, mich nicht auf die Schnauze zu legen und folgte Malcolm und David schlussendlich in die Halle.

Die Gruppe hatte bereits angefangen sich unter Anweisung des Co-Trainers auf zu wärmen. Malcolm und David gesellten sich dazu und ich verzog mich auf die Bank am Hallenrand. Ich hatte es mir grade auf der harten Holzbank gemütlich gemacht als ich beobachtete, wie Kelleth vom Mr Mallum aus der Gruppe gerufen wurde. Als er einige Momente später wieder dazu stieß, flogen mir von ihm ein paar extrem feindselige Blicke zu. Ich hätte gerne genau gewusst, was Mr Mallum von ihm gewollt hatte, da ich das Gefühl nicht los wurde, dass es um mich gegangen war. Zu wissen, worüber ich verhandeln musste wenn Kelleth auf mich los ging, würde ungemein helfen.

Aber was auch immer es war, ich hatte nicht länger das Bedürfnis weiter darüber nach zu denken, da es viel interessanter war, den Mädchen beim aufwärmen zu zu sehen. Ich muss gestehen, ich bin ein sehr Hormon gesteuertes Wesen, aber ich bin achtzehn, was sollte ich denn machen, man kann sich nicht dagegen wehren. Außerdem hatte es einen gewissen Reiz, ungestört aus der Entfernung die sich bietende Schönheit zu genießen. Eine blonde Schönheit, die Haare zu einem schulterlangen Zopf zusammengefasst und schlank wie sie war, in einem roten hautengen Shirt und dazu passender siebenachtel Trainingshose. Ich wusste ja, dass es bescheuert war, jemandem so hinterher zu schmachten, aber ich konnte einfach nicht anders. Ebenso wie ich nicht wusste, wieso es unbedingt Aeria sein musste. Ihre Schwestern hatten auch ihren Reiz, aber Sie... Wenn ich sie ansah hatte sie eine Anziehungskraft, von der ich mich nicht losreißen konnte.

Seufzend und frustriert schloss ich die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Ich war wirklich erbärmlich. Ich war heute Morgen mit einem Veilchen aufgewacht, weil ich den Schlag den ich abbekommen hatte nicht hatte kühlen können, war um mein Leben gerannt, hatte mich in der Mädchentoilette verstecken lassen und trauerte jetzt einem Mädchen hinterher, dass, laut meines besten Freundes, unerreichbar war und ich zu feige war es an zu sprechen. Dabei gingen wir schon seit Jahren auf dieselbe Schule. Traurig. Traurig aber Wahr. Wie schon gesagt, ich war erbärmlich.

Bevor ich vollends in Selbstmitleid versinken konnte, ließ Malcolm sich neben mir auf die Bank fallen und stieß mich an.

„Hey Mann. Wie geht es deinem Gesicht?“

Schulterzuckend nahm ich das Kühlpack runter und drehte ihm meine Wange hin.

„Weiß nicht, sag du es mir. Müssen wir was raus schneiden?“

Trügerisch verwegen inspizierte Malcolm mein Gesicht und schüttelte dann den Kopf.

„Hoffnungslos verloren. Das schreit nach einer Grunderneuerung. Warte hier, ich hol mein Werkzeug.“

Ich war mir bewusst, dass wir nur scherzten, trotzdem hielt ich ihn auf, als er aufsprang. Gleich darauf ließ Malcolm sich wieder fallen.

„Okay okay. Und wie geht es dem Kopf? Muss ziemlich schlimm sein wenn du der Meinung bist, damit hier mit halten zu können.“

Wieder zuckte ich mit der Schulter und legte den mittlerweile nicht mehr ganz so kalten Beutel wieder an meine Wange.

„Denke, ich bequatsche gleich Mr Mallum, damit er mir eine Schmerztablette gibt. Ich hab keine Lust jetzt vier Stunden hier rum zu sitzen.“

„Ach komm, Langeweile hättest du keine und jetzt versuch nicht es ab zu streiten, ich hab gesehen wie du sie angestarrt hast.“

Nach einer kurzen Pause entschied Malcolm sich allerdings für einen Sinneswandel.

„Obwohl, eigentlich hast du recht. Du bist jetzt im gleichen Sportkurs wie sie, greif die Gelegenheit beim Schopf und reih dich ein, die Wahrscheinlichkeit liegt bei eins zu vier, dass du im glichen Team landest wie sie.“

Ohne Vorwarnung sprang er auf und riss mir quasi den Kühlbeutel aus der Hand.

„Komm schon, los geht’s. Zeit um in den Angriff über zu gehen, ein bisschen zu baggern, wenn du verstehst, was ich meine.“

So wie er da auf und ab hüpfte und mit den Augenbrauen zuckte, konnte ich nur über ihn lachen und im Anbetracht der Tatsache, dass unsere Mitschüler grade Volleyballnetze aufstellten, konnte man seine Andeutung doppeldeutig interpretieren. Trotzdem wusste ich worauf er hinaus wollte, verkniff mir mein Grinsen und stand auf.

„Gib mir das Kühlpack zurück.“

Demonstrativ schwenkte er damit herum, warf es in die Luft und fing es wieder auf.

„Damit du dich wieder auf deine Bank trollst? Kommt gar nicht in die Tüte.“

„Gib es her Malcolm, ich muss es zumindest zurück geben.“

„Dann komm her und hol es dir.“

Damit machte Malcolm sich rückwärts tänzelnd an seinen Abgang und stieß mit Mr Mallum zusammen, der auf dem Weg zu uns war.

„Meinen sie nicht, ihre Kameraden könnten ihre Hilfe gebrauchen Malcolm?“

Erschrocken und sich entschuldigend drehte Malcolm sich um und drückte Mr Mallum das Kühlpack in die Hand.

„Tut mir Leid. Natürlich, bin schon weg.“

Mit verschränkten Armen sah der Trainer dem verschwindenden Malcolm hinterher, drehte sich dann um, kam auf mich zu und inspizierte noch mal mein Gesicht. Nachdem er dieses für akzeptabel befunden hatte, schaute er sich in der Halle um und wandte sich schließlich wieder zurück an mich.

„Da haben sie noch mal Glück gehabt. Das hätte schlimmer aus gehen können. Brauchen sie das noch?“

Als er die Frage stellte, hielt er mir das Pack hin und nahm es wieder runter, als ich mit einem Kopfschütteln verneinte. Mit einem Nicken nahm er das zur Kenntnis und wollte sich schon zum gehen wenden, doch ich hielt ihn mit einer Frage zurück.

„Haben sie vielleicht stattdessen eine Schmerztablette?“

„Ich darf an Schüler nichts austeilen, das wissen sie Lucas.“

„Ja sicher weiß ich das, aber ich würde gerne am Unterricht teilnehmen und nicht einfach nur zusehen. Immerhin haben sie mir diesen Kurs empfohlen Mr Mallum, jetzt bin ich hier und soll nur auf der Bank sitzen. Da hätte ich genauso gut weiter bei den Schulgärtnern bleiben können.“

Stumm bedachte der Trainer mich mit einem prüfenden Blick, bevor er nickte.

„Ich hole ihnen etwas pflanzliches, aber ich will für sie hoffen, dass sie nicht allergisch darauf reagieren, oder anderen Unfug damit treiben.“

Mehr sagte er nicht, stattdessen drehte er sich um und verschwand in der Trainerkabine, nur um kurz darauf mit einer Tablette in der einen Hand und einer Flasche Wasser in der anderen wieder zu erscheinen.

„Hier. Nehmen Sie sie und dann will ich, dass sie sich einem Team anschließen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Ich nickte, nahm beides mit einem „Danke.“ entgegen und schluckte dann die Tablette. Die Flasche feuerte ich Richtung Bank in der Hoffnung, dass der Trainer es nicht gesehen hatte, was mir mein prüfender Blick bestätigte und gesellte mich dann zu meiner Gruppe die, wie sollte es anders sein, aus Malcolm, David und mir bestand. Zu uns gesellten sich noch zwei Typen Namens Miles und Christian. Außerdem bekamen wir Reena, die einzige, die nicht in einer der Mädchenmannschaften spielte, da der Kurs aus dreizehn Mädchen und elf Jungen bestand. Ich war nicht böse darum eine der Louga Schwestern im Team zu haben, zu denen auch Aeria, Gwynn und Fay zählten. Von denen Fay alleine in einem Team mit fünf anderen, gegen die anderen beiden und deren Team spielen musste. Die zwei einzelnen Mädchen schienen alleine ziemlich verloren aus zu sehen, im Gegensatz zu Aeria und Gwynn, und Kelleth und Cael, die beiden Brüder der Familie, gegen die wir unglücklicherweise spielen mussten. Na ja man konnte leider nicht alles haben.

Als Schiedsrichter erhielten wir Mr Mallum der nicht lange zu fackeln schien.

„Alle aufstellen! Also, ihr kennt die Spielregeln, hier kommen meine: Es wird fair gespielt. Schummeln und miese Tricks dulde ich hier nicht, ebenso wie Beleidigungen und Handgreiflichkeiten. Wenn es ein Problem gibt, kann man das in aller Ruhe verbal lösen. Wer sich nicht daran hält, fliegt aus dem Unterricht und schreibt stattdessen eine Strafarbeit. Haben wir uns verstanden?“

Als er auf seine Forderungen nur geschwiegenes Nicken erhielt schickte er uns auf das Feld und warf Malcolm hinter mir den Ball zu.

„Ihr spielt um den Aufschlag. Los!“

Ein lauter Pfiff aus Mr Mallum's Trillerpfeife erklang, Malcolm schlug auf und wir verloren den Aufschlag. Und wir verloren nicht nur den Aufschlag. Wir verloren das erste Spiel, die erste Hälfte des zweiten und allmählich verloren wir auch den Mut, dass wir überhaupt gewinnen konnten. Trotz mir, der ich mich dazu durchrang alles an zu nehmen was ich kriegen konnte, und Reena, an die ich immer versuchte ab zu spielen, damit sie den Ball zurück übers Netz schmettern konnte. Bedauerlicherweise waren die anderen vier in unserer Gruppe nur zum überbrücken gut, wenn ich mal nicht direkt auf Reena spielen konnte. Alles in allem standen wir ziemlich schlecht da, da Kelleth und sein Team uns regelrecht in den Boden stampften.

Wir waren grade mitten im Spiel, mitten im Zug, als ich es vom Nachbarfeld laut werden hörte. Ein Blick herüber zeigte, dass Fay und Aeria sich lautstark über den anscheinend schlafenden Co-Trainer aufregten. Er schien nicht richtig abgepfiffen zu haben und bevor ich heraus hören konnte um was es sich genau handelte, bekam ich den Ball mitten ins Gesicht. Mit voller Wucht geschmettert. Schon zum zweiten mal an diesem Tag riss es mir den Kopf weg und ich spürte, wie meine Lippe auf platzte. Ich sah nichts außer Sterne und konnte daher nur hören, wie Kelleth sich beschwerte.

„Hey du Verlierer, hier spielt die Musik! Oder willst du lieber rüber zu den Mädchen? Scheinst dich da ja ohnehin wohler zu fühlen!“

Ich brauchte einen Moment um mich wieder zu fangen und auch die Sterne verschwanden glücklicherweise schnell, daher konnte ich ihn noch böse grinsen sehen, bevor mein Blick zu Aeria glitt, die mich entschuldigend ansah. Und das war viel schlimmer, als meine blutende Lippe. Gleich darauf flog mein Blick wieder zum Coach, der Kelleth anschrie.

„Kelleth, das gibt einen Verweis! Runter vom Spielfeld, du setzt für das Spiel aus! Außerdem erwarte ich einen Aufsatz über Fairplay und welche Konsequenzen das fehlen eines solchen nach sich zieht!“

Diesen schien das nicht wirklich zu kümmern, man sah ihm die Befriedigung, mir erneut einen rein gedrückt zu haben, förmlich an. Mir selber war das grade herzlich egal, ich fühlte mich vielmehr verraten, als dass ich mir verletzt vorkam. Bedauerlicherweise wurde ich mit den Worten „Komm mit, das muss ich mir ansehen.“ ebenfalls vom Feld in die Trainerkabine gezerrt. Mit einem lauten Knall flog die Türe hinter uns ins Schloss und dann war es bis auf das rascheln, dass Mr Mallum im Verbandskasten verursachte, still. Ich saß grade drei Sekunden auf der behelfsmäßigen Liege, da wurde mir ein feuchtes Tuch in die Hand gedrückt.

„Hier, wisch dir das Blut ab, es läuft dir schon am Kinn runter.“

Gehorsam presste ich das Tuch auf die Lippe und stellte fest, dass es kein Wasser sondern eine klare, alkoholische Lösung war, die das Tuch befeuchtete und mir die Lippe brennen ließ. Während ich die Zähne zusammen biss, lehnte der Trainer mir gegenüber an der Wand und beobachtete mich aufmerksam.

„Sie scheinen es heute magisch an zu ziehen Lucas. Sind sie sicher, dass sie sich nicht lieber auf die Bank setzen wollen?“

Einen Moment dachte ich darüber nach und zuckte dann mit den Schultern.

„Lassen Sie mir wirklich die Wahl?“

Ich fragte trotzdem, obwohl ich wusste, dass er mit dem Kopf schütteln würde.

„Nicht wirklich. Ich klebe ihnen jetzt die Lippe und dann will ich, dass sie sich wieder mit dem Kühlkissen auf die Bank setzen.“

Er ließ seinen Worten gleich Taten folgen und prompt saß ich wieder auf der Bank und drückte mir das Kühlpack dieses mal auf die Lippe. Kelleth saß mit verschränkten Armen und ausgestreckten Beinen am anderen Ende der Bank und würdigte mich keines Blickes. Ich hörte kein einziges Wort der Entschuldigung, er schien nicht einmal Reue zu zeigen, aber das hatte ich ohnehin nicht erwartet da ich davon ausging, das er mir den Ball mit voller Absicht ins Gesicht gefeuert hatte. Allerdings konnte ich mir nicht erklären, wieso er heute so einen extremen Hass gegen mich hegte.

Statt mir weiter Gedanken darüber zu machen schaute ich den anderen beim spielen zu. Kelleth's Team gewann auch ohne ihn. Als die Mädchen ihr Spiel ebenfalls beendeten läutete Mallum eine Pause ein und beschloss danach, die Teams zu mischen. Nachdem er fertig war hatte Fay zwei von Kelleth's Jungs. Kelleth hatte ein Mädchen von Aeria und eins von Fay, ebenso wie Miles, der vorher in meinem Team gespielt hatte. Aeria hatte dafür je einen aus allen Teams bekommen, während sie selber mit einer aus ihrem Team in meins kamen. Da ich weg fiel, blieb das Team in dem ich gespielt hatte zu fünft, besetzt aus Aeria, Reena, Malcolm, David und Lisa, das Mädchen, das mit Aeria in unser Team gewechselt war. Kelleth kehrte in sein eigenes Team zurück und dann wurde erneut angepfiffen. Gleich in den ersten Zügen war in den Teams, so wie Mr Mallum sie erstellt hatte, eine Dynamik zu erkennen, die vorher nicht vorhanden gewesen war. Vor allem aber waren die Mannschaften nun ausgeglichen. Das Punktegleichgewicht schien nicht sofort auf eine Seite zu kippen, so wie es vorher der Fall gewesen war und die Züge in sich wurden länger. Wo sich vorher die Punkte durch Fehler verteilt hatten, wurden sie jetzt beiderseits hart erkämpft. Die ersten beiden Spiele schienen im Gegensatz zu den jetzigen nur die Aufwärmphase gewesen zu sein, denn in den beiden Partien nach der ersten Pause ging es durchaus ernster zu.

Nach dem zweiten Spiel läutete Mallum erneut eine Pause ein. Diese nutzte ich um in der Umkleide auf dem Klo zu verschwinden. Die Pinkelpause tat echt gut, vor allem weil ich es mir seit einer guten halben Stunde hatte verkneifen müssen. Dummerweise war ich nicht vorsichtig genug und wurde, nachdem ich mir die Hände gewaschen und Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, von Kelleth am Shirt gepackt und gegen die nächste Wand gestoßen.

„Ich gebe dir jetzt einen verdammt guten Rat, also hör gut zu, denn ich wiederhole mich unheimlich ungern. Pfoten weg von meiner Schwester, du bist nicht ansatzweise gut genug für sie.“

Ich wollte ihn erst Fragen, welche von den vieren er meinte, verkniff mir dann aber aus offensichtlichen Gründen meinen blöden Spruch.

„Ist das deine Meinung, oder traut sie sich selber nicht, mir das zu sagen?“

Gut, zugegeben, der Satz war auch nicht besser.

Ohne Vorwarnung und mit ziemlicher Wucht stieß Kelleth mich erneut gegen die Wand und er sah ziemlich sauer aus.

„Pass auf was du sagst. Jeder Volltrottel sieht, wie du sie schon seit Wochen angaffst. Ich rate dir, dass schleunigst sein zu lassen sonst nimmt unser kleines Match hier noch ganz andere Ausmaße an.“

Noch ein Ruck, dann hatte er mich los gelassen und verschwand, ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich konnte ihm nur hinterher sehen und starrte noch einen Moment durch die leere Türöffnung, während ich mir stumm die Frage stellte, was das für eine Aktion gewesen war. Im stillen war ich allerdings froh, dass ich nicht schon wieder hatte einstecken müssen. Wenn der Tag so weiter ging wie er angefangen hatte, wäre heute Abend nicht mehr viel von mir übrig.

Mehr gewollt als gekonnt strich ich mir mit hastigen Handgriffen das Shirt grade und machte, dass ich wieder raus zur Gruppe kam. Ich wollte nicht feige sein, aber ich wollte auch nicht riskieren, dass Kelleth wieder kam und seine Drohung wahr machte, ohne dass ich ihm einen Grund dafür geliefert hatte.

Als ich die Umkleide verließ hatte ich Sie nicht gesehen und hätte Sie nichts gesagt, wäre ich direkt an Ihr vorbei gelaufen.

„Lucas warte, können wir kurz reden?“

Überrascht drehte ich mich zu Aeria um, sah sie skeptisch an und verschränkte dann die Arme, während ich von einem Fuß auf den anderen trat.

„Aber beeil dich, ich muss mir noch ein passendes Kleid für die nächste Party raus suchen.“

Da ich ihr die Worte mit Nachdruck an den Kopf warf, sah sie für einen Moment betreten zur Seite, bevor sie das Kinn hob und eine grade Haltung annahm.

„Es tut mir Leid, ich wusste nicht das Kelleth gesehen hat, wie ich dich in die Mädchentoilette gezogen habe.“

Sie brach grade noch rechtzeitig ab, bevor die drei Jungs die in dem Moment an uns vorbei gingen, etwas hören konnten.

„Komm mit.“

Ohne auf mein Einverständnis zu warten nahm sie mich an der Hand und zog mich in den dunklen Geräteraum, wo sie die Türe anlehnte und mich dann wieder los ließ.

„Ich konnte es ihm nicht ausreden, es macht ihm viel mehr Spaß dich damit zu demütigen. Tut mir Leid, dass ich dich in diese Situation manövriert habe, aber ich hatte nicht wirklich viel Zeit um zu reagieren.“

Verwundert sah ich ihr ins Gesicht und konnte ehrliches Bedauern darin sehen. Es ließ sich aber leider nicht sagen ob sie nun bedauerte mir geholfen zu haben, oder aber mich dadurch in diese Lage gebracht zu haben. Egal welche der beiden Möglichkeiten auch zutraf, auch wenn ich insgeheim hoffte dass es letzteres war, wollte ich diesen unschönen Ausdruck in ihrem Gesicht nicht sehen. Deshalb zuckte ich die Schulter und steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Na ja, im Grunde war ich es selber Schuld, dass Stephan hinter mir her war. Dementsprechend hab ich mich selber in die Scheiße rein geritten. Du hast ja nur versucht zu helfen.“

„Schon, aber ich hätte dich nicht ins Mädchenklo drängen dürfen. Das war ein Fehler, wobei es nicht daran liegt, dass es das Mädchenklo war, sondern eher daran, dass Ich es gewesen bin, die es getan hat.“

„Macht das irgendeinen Unterschied?“

„Luc, meinem Bruder ist es doch egal wo du dich rum treibst, solange das nicht in meiner Nähe ist.“

Wäre das, was Aeria sagte nicht so extrem abweisend gewesen, hätte ich mich darüber gefreut wie toll es klang, wenn sie meinen Namen aussprach.

„Bestimmt er, mit welchen Leuten du dich umgibst oder versuchst du mir grade durch die Blume zu sagen, dass du eine einstweilige Verfügung aussprechen lässt, wenn ich nicht einen gewissen Mindestabstand einhalte?“

Ich war mir nicht ganz sicher, wieso sie das so lustig fand, aber mein Gefühl sagte mir, dass es etwas gutes zu sein schien. Bedauerlicherweise wurde sie viel zu schnell wieder ernst.

„Du hast keine Ahnung worum es hier wirklich geht Lucas. Ich kann Kelleth nicht ewig an der kurzen Leine halten, das konnte ich noch nie. Früher oder später reißt er sich immer los und wenn er das tut, fängt er erst wirklich an zu wüten. Du solltest dich vor ihm in acht nehmen, sonst gerätst du schneller in Schwierigkeiten als mir lieb ist.“

Hatte sie wirklich 'mir' gesagt, oder hatte ich mich verhört? Irgendwie ließ sich diese Sorgenfalte auf ihrer Stirn nicht vertreiben, das störte mich erheblich.

„Willst du damit sagen, ich kann nicht auf mich selber aufpassen? Nur weil ich dazu gezwungen bin vor Stephan davon zu laufen, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht wehren kann. Im Gegenteil, ich...“

Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, legte sie mir die Hand auf die Brust und ließ den Kopf hängen.

„Du hörst mir nicht zu Luc. Momentan bist du vor Kelleth sicher, weil du nicht in seiner Liga spielst. Bring ihn nicht dazu zu glauben, dass du mit ihm mit halten könntest. Das könnte dich deinen Kopf kosten. Oder schlimmeres.“

Dass ihre Hand immer noch auf meiner Brust lag, machte mich zunehmend konfuser. Ich hatte ihr kaum richtig zugehört und das schien ihr aufgefallen zu sein, zumindest nahm ich das an, da sie den Blick hob, mich damit fesselte und ihre Bitte, diesmal nachdrücklicher, wiederholte.

„Versprich mir, dass du ihn nicht provozierst Luc. Wir leben in schweren Zeiten und wir haben alle keinen Kopf für solch banale Streitigkeiten.“

Den Beisatz verstand ich nicht wirklich, aber ich konnte ihr dieses Versprechen nicht abschlagen, solange sie mich so flehend ansah. Deswegen nickte ich nur einwilligend, worauf hin sie ein erleichtertes „Danke“ seufzte, den Kopf kurz auf meiner Schulter ruhen ließ und ihn dann hob, um mich auf die leicht geschwollene Wange zu küssen. Mehr wie vom Schlag getroffen als von dem Mädchen geküsst, dass ich anhimmelte, blieb ich starr stehen und konnte nichts erwidern als sie ihre Wange an meine legte.

„Ich wusste nicht, dass er so weit gehen würde dich zu schlagen. Ich hätte ihn davon abgehalten, hätte ich es geahnt, tut mir Leid.“

Die Worte waren mehr geflüstert als gesprochen, aber es kam ja auch nur darauf an, dass sie gefallen waren, auch wenn ich nicht genau wusste, wie sie das gesagte bewerkstelligen wollte.

Ich wollte grade die Arme um sie legen und ihr sagen, dass sie nichts dafür konnte, dass ihr Bruder nun mal war, wie er war, da löste sie sich von mir. Für einen Bruchteil der Sekunde streifte sie meinen Blick mit ihrem, bevor sie sich der Türe zu wandte, die in die Halle führte.

„Wir sollten wieder zurück zu den anderen, sonst fangen sie an uns zu suchen.“

Ich hatte gar keine Zeit, um darauf etwas zu erwidern, da machte sie sich schon auf den Weg, ohne noch einmal zurück zu sehen. Ich folgte ihr im Abstand von zwei Schritten und blieb mit der Frage, was ich zuletzt in ihren Augen alles gesehen hatte, alleine. Ich hoffte inständig, dass Bedauern nicht darunter gewesen war.

Als ich in die Halle trat wurde mit bewusst, dass niemand nach uns suchte und auch keiner einen einzigen Gedanken an uns verschwendet hatte. Das beruhigte mich nicht sonderlich, da mich der Gedanke beschlich, dass Aeria nur einen Grund gesucht hatte, um mich stehen zu lassen. Viel Zeit um darüber nach zu denken blieb mir nicht, da Malcolm mich an die Seite zog, aufgeregt auf mich ein schlug und vor sich hin faselte.

„Was haben meine dunklen Adleraugen da grade beobachtet? Lucas Sullivan zusammen mit der bezaubernden Aeria Louga im Geräteraum! Alter du musst ein Gott sein, denn nur ein Gott schafft es, der Eisprinzessin eine Gefühlsregung zu entlocken. Mann, ich sag dir, die steht auf dich! Was hast du gemacht? Hast du sie einfach an gequatscht oder sie zum Essen eingeladen? Los ich will alle Einzelheiten wissen!“

Ich hatte sie umgerannt und auf dem Mädchenklo blödes Zeug gefaselt, aber das musste ich ihm nicht unbedingt erzählen.

„Kannst du vielleicht ein bisschen leiser sein. Erstens ist da drin überhaupt nichts gelaufen und zweitens, hör auf so über sie zu reden, sie ist ein Mensch wie jeder andere auch. Sie ist vermutlich einfach nur schüchtern.“

„Schüchtern, ja sicher doch. Luc, ich weiß was ich gesehen habe. Mann Alter sie hat dich geküsst. Willst du das abstreiten, jetzt wo du sie endlich weich geklopft hast?“

„Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber sie hat mich nicht geküsst.“

Zumindest versuchte ich ihm das grade einzureden. Leider ließ Malcolm sich das nicht weiß machen.

„Oh Mann das muss dir doch nicht peinlich sein. Natürlich hat sie dich geküsst, genau da, auf Luci's arme geschundene Wange.“

Mit kreisenden Bewegungen steuerte Malcolm's Zeigefinger auf meine Wange zu. Ich wehrte ihn ab und als ich Luft holte hob Malcolm die Hand um mir Einhalt zu gebieten und ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Egal. Ein Kuss ist ein Kuss, egal ob auf die Wange, die Hand, den Fuß oder sonst wo. Freu dich doch, du hast sie geknackt, ich kann mich nicht erinnern, dass das vor dir schon jemand geschafft hat.“

Ich auch nicht, allerdings kam dieser Erfolg viel zu plötzlich, als dass ich mich wirklich darüber freuen konnte. Ich hoffte, dass meine Bedenken nur paranoider Natur waren.

Beim ertönen der Trillerpfeife klopfte Malcolm mir auf die Schulter und stellte sich dann wieder auf dem Feld auf, während ich mich wieder auf die Bank setzte. Aber ob ich nun hier saß oder auf dem Feld stand, schien keinen Unterschied zu machen, da hin und wieder ein Ball in meine Richtung geflogen kam wenn Kelleth der Meinung war, dass ich Aeria beobachtete. Gut das tat ich ja auch, da ich das Spiel beobachtete, wobei mir aufgefallen war, dass zwischen Aeria und Kelleth eine noch stärkere Rivalität herrschte als gewöhnlich. Vielleicht hatte er aber auch mitbekommen was sich im Geräteraum abgespielt hatte, wobei er dann sicherlich nicht so milde geblieben wäre. Nach dem was ich wusste konnte ich mir allerdings vorstellen, dass er seine Wut anstaute und mir zum Schluss alles auf einmal zukommen ließ.

Ich stieß grade mit Kopf an die Wand und schaute Richtung Hallendecke, während ich mir die Frage stellte, wie ich den vermeintlichen Schaden begrenzen konnte, als auf dem Spielfeld abgepfiffen wurde und die Seiten gewechselt wurden. Als ich sehen wollte wie der erste Satz ausgegangen war, bemerkte ich wie Aeria etwas außer Atem in meine Richtung kam und vor mir stehen blieb. Mit einem zaghaften Lächeln begutachtete sie mich, strich sich dann eine Strähne die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte hinters Ohr und deutete dann zum Spielfeld.

„Wieso spielst du nicht mit? Uns fehlt ein Mann und du siehst aus, als hättest du Langeweile.“

Ausdruckslos sah ich an ihr vorbei aufs Feld, dann wieder zu ihr und zeigte schließlich mit dem Zeigefinger auf mich selbst.

„Ich? Bei euch Killermaschinen?“

Für den Bruchteil einer Sekunde huschte eine undefinierbare Emotion über ihre Züge, bevor sie wieder lächelte.

„Natürlich du. Oder siehst du hier sonst noch jemanden sitzen?“

Andeutungsweise schielte ich nach links, legte dann meinen Arm um eine imaginäre Person und hob die Augenbrauen.

„Jetzt sag nicht, dass du Kevin nicht sehen kannst. Du verletzt seine Gefühle.“

Das entlockte ihr ein Lachen, was mich grinsen ließ, trotzdem drängte sie mich weiter dazu aufzustehen.

„Komm jetzt, die anderen warten.“

„Ich glaube nicht, dass ich mich einfach so selbst aufstellen darf.“

„Alles schon geregelt.“

Mit dem Daumen deutete sie über ihre Schulter nach hinten was mich an ihr vorbei sehen ließ, wo ich Reena grade mit Mr Mallum reden sah, der erst zu uns rüber sah und mich dann zu ihm herüber zitierte. Mit einem triumphierenden „Siehst du.“ zog Aeria mich von der Bank, ließ mich dann los und nahm ihren Platz auf dem Feld vorne in der Mitte ein.

„Ja Mr Mallum?“

„Ich wurde gebeten sie am Spiel teilnehmen zu lassen. Stellen sie sich vorne rechts vor das Netz und lassen sie mich meine Nachsicht nicht bereuen Sullivan.“

Mit einem nicken nahm ich das zur Kenntnis, stellte mich neben Aeria vors Netz und wartete weitere Anweisungen ab. Sie verlor keine Zeit mich ein zu weisen.

„Du musst auf Kelleth und Cael aufpassen. Sie nehmen jeden Ball unter allen Umständen an und schicken ihn postwendend zurück. Wenn du siehst, dass sie zum Sprung ansetzen musst du dich darauf gefasst machen, dass sie schmettern und wie weh das tun kann, hast du ja leider schon heraus gefunden. Wenn das passiert, gehen wir drei ans Netz und versuchen zu blocken.“

Damit deutete sie auf mich, sich und Reena, die hinten in der Mitte stand.

„Ansonsten kannst du so weiter machen wie mit Reena vorhin. Spiel so oft es geht auf uns ab, dann haben die anderen so gut wie verloren. Noch Fragen?“

Ich überlegte kurz, aber mir viel nichts ein.

„Nope, alles klar.“

„Sehr gut und jetzt die Augen auf den Ball.“

„Immer doch.“

Ihr verschmitztes und wissendes Lächeln ließ mich beinahe rot werden, glücklicherweise konnte ich dem noch mit einem Grinsen vorbeugen.

Ohne Umschweife begann das Spiel. Malcolm hinter mir schlug auf, da unser Team den vorherigen Satz verloren hatte. In hohem Bogen flog der Ball über das Netz, was mit zwei mal Pritschen und einem Konter beantwortet wurde. Selbstverständlich kam der Ball direkt auf mich zu. Etwas ungeschickt nahm ich ihn baggernd an und schickte ihn mehr aus Versehen ins Mittelfeld, wo Reena ihn annahm und weiter vor zum Netz pritschte. Dort stand Aeria, die den Ball mit einem Drehsprung im gegnerischen Feld auf den Boden feuerte. Kelleth hatte keine Chance zu reagieren. Sein Blick sprach mehr als deutlich, dass ihm das nicht gefiel und ich wurde das Gefühl nicht los, dass das vor allem an mir lag. Auf jeden Fall sah er nicht sehr erfreut aus, als ich mit Aeria abschlug.

„Siehst du, so gehört sich das.“

Und an ihren Bruder, der auf der anderen Seite ebenfalls mittig vor dem Netz stand, gewandt schüttelte sie mit dem Kopf und lächelte überlegen.

„Ihr habt so gut wie verloren.“

Er seinerseits ließ die Schultern kreisen und lockerte den Hals.

„Das werden wir sehen.“

Was wir sahen war, wie er sich an meiner Anwesenheit störte und sich nicht auf das Spiel konzentrierte. Uns kam das sehr zu gute, da ich mich, ohne Angst vor weiteren Querschlägern haben zu müssen, ziemlich schnell in das Team einarbeiten konnte und wir mit acht Punkten Vorsprung gewannen. Mit dem einläuten des nächsten Satzes kündigte Mr Mallum an, dass das Gewinnerteam gegen die Gewinner des anderen Feldes spielte.

Angetrieben von seiner Niederlage schien Kelleth sich allerdings gefasst zu haben und war nicht bereit, ein weiteres mal gegen uns zu verlieren. Zu guter Letzt war es trotzdem unser Ball, der auf gegnerischem Boden auf schlug und der Schlusspfiff erklang. Dieses mal nur mit drei Punkte Vorsprung gewannen wir und die Freude darüber war mehr als deutlich zu sehen. Unter lachen und Lauten der Freude ließen Reena und Aeria einen ordentlichen Highfive sehen und stießen dann mit den Becken zusammen, Aeria legte mir den Arm um die Schulter und steckte Kelleth dann die Zunge raus.

„Tja Jungs, beim nächsten mal vielleicht. Aber nur vielleicht, also freut euch nicht zu früh.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich es mutig oder leichtsinnig finden sollte, dass Aeria ihren Bruder so provozierte, vor allem da sie mich gebeten hatte, das nicht zu tun. Deswegen nahm ich vorsichtig ihren Arm von meinen Schultern und ging einen Schritt auf Abstand. Hätte ich das nicht getan, hätte Kelleth mich laut seiner Blicke gleich zu Hackfleisch verarbeitet und da mir mein Leben dann doch ans Herz gewachsen war, wollte ich es nicht unbedingt verlieren. Auch wenn dass bedeutete, das ich mich von meinem Wunschtraum trennen musste, dieses Mädchen wieder näher kennen zu lernen.

„Alter, was schaust du so, als hätte jemand deinen Hund überfahren? Wir haben gewonnen, freu dich gefälligst!“

Mit etwas zu viel Wucht schlug Malcolm mir auf den Rücken und ich wusste gleich, er war sauer. Dass er die nächsten Sätze nur flüsterte, bestätigte mir dies.

„Mann, du hast mir nie erzählt, dass du so gut Volleyball spielen kannst. Und seit wann steckst du so tief in den royalen Angelegenheiten dieser Schule? Hast du sonst noch irgendetwas, dass du mir erzählen willst, bevor ich es selber heraus finde?“

„Mach mal halblang Mal. Wie lange kennen wir uns jetzt schon? So gut war ich gar nicht, die Mädchen haben doch die ganze Arbeit gemacht, ist dir das nicht aufgefallen?“

Damit ließ er sich nicht wirklich beruhigen, deswegen nahm ich ihn zur Seite und versuchte es erneut.

„Ich hab doch selber keine Ahnung was hier los ist. Bis gestern war ich noch Luft und heute fällt Aeria mir plötzlich um den Hals. Glaubst du echt, dass ich das nicht auch komisch finde?“

Mit einem verstohlenen Blick beäugte Malcolm die anderen, begann dann zu nicken und sah mich an.

„Du hattest recht Mann. Das war kein Kuss, das war ein Teufelsmal. Die Kleine hat dich als ihr Werkzeug des bösen gebrandmarkt. Sie liegt so in diesem Wettstreit mit ihrem Bruder. Ich sag dir, die benutzt dich, um ihn zu provozieren.“

Bedauerlicherweise ergab das Sinn, da es offensichtlich war, das Kelleth mich nicht leiden konnte. Es sprach wohl für sich selbst, dass mich diese Theorie nicht sonderlich aufbaute. Freundlicherweise versuchte Malcolm, seinen verursachten Schaden beiseite zu räumen.

„Kopf hoch, es gibt so viele Mädchen auf dieser Welt, sie ist es nicht Wert, dass du ihr hinterher trauerst. Vergeude deine Zeit nicht damit, ihr hinterher zu wimmern wie ein Welpe.“

„Kannst du dich vielleicht mal entscheiden? Erst sagst du, ich solle nicht so schmachten, dann sagst du, ich sollte Nägel mit Köpfen machen, jetzt sagst du wieder, ich solle ihr nicht hinterher trauern. Was soll ich denn jetzt machen.“

„Du solltest vielleicht mal die Scheuklappen ablegen, die Augen öffnen und dir eine eigene Meinung bilden.“

Das war leichter gesagt als getan, glücklicherweise kam ich nicht in Zugzwang, da die anderen grade ebenfalls ihr Spiel beendet hatten. Damit stand fest, dass wir gegen die Mannschaft zu der Gwynn gehörte spielten. Malcolm und ich gesellten uns zum Rest der Gruppe zurück, wo ich grade noch mitbekam, wie Kelleth Gwynn anfeuerte.

„Mach sie fertig Gwynn. Ich will nicht sehen wie sie gewinnen.“

Seine Stimmte tropfte beinahe vor Hass, allerdings war dieser alleine gegen mich gerichtet. Woher ich das wusste? Er hatte mich direkt dabei angesehen. Gwynn hingegen ließ sich von ihrem Bruder nicht beeindrucken, kehrte ihm den Rücken und begab sich aufs Feld.

„Dein Rachefeldzug kümmert mich nicht Kelleth. Wenn ihr was zu klären habt, macht das unter euch.“

Da gab ich ihr Recht, allerdings wollte ich nichts mit Kelleth klären, denn aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich ohne großen Aufwand den kürzeren ziehen würde. Vielleicht war es das beste, ihm im Umkreis von einem Kilometer aus dem Weg zu gehen. Vielleicht auch mehr.

Genauso wie Gwynn stellten wir uns auf, um keine Zeit zu verlieren. Da der Unterricht in einer guten halben Stunde um war, beschlossen wir nur einen Satz zu spielen, den wir relativ schnell und mit fünfundzwanzig zu neunzehn genauso eindeutig gewannen. Im Spiel Kelleth gegen Fay ging es noch deutlicher aus. Kelleth's Mannschaft hatte mit fünfundzwanzig zu elf gewonnen, dann hatten sie das erste Netz abgebaut und waren daher schon weg, als wir zum Schluss kamen. Mit schnellen Handgriffen bauten auch wir unser Netz ab und verschwanden. Alle außer mir zumindest. Ich wurde von Mr Mallum zurück gehalten bis sich alle in den Umkleiden befanden.

„Sie haben sich wacker geschlagen, dafür dass dies ihre ersten Stunden in meinem Kurs waren und sie so mitgenommen aussehen. Und sie waren gut, meinen Respekt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so schnell in die Gruppe eingliedert. Abgesehen von ihren Reibereien mit Kelleth natürlich.“

„Ich hatte wohl kaum eine andere Wahl, als mich zu beweisen. Und ich wollte ehrlich gesagt den ersten Tag vom Rest meines Lebens nicht damit verbringen, eine halbe Ewigkeit auf der Bank zu sitzen.“

Auch wenn ich das wohl getan hätte, wenn die Mädchen mich nicht in die Gruppe zurück gezerrt hätten.

„Der erste Tag vom Rest ihres Lebens? Klingt das nicht etwas dramatisch für ein Veilchen und eine aufgeplatzte Lippe?“

„Mag sein, aber es fühlt sich definitiv so an.“

„Ich gebe ihnen einen Tipp Lucas, weil ich Augen im Kopf habe und in gewisser weise für meine Schüler verantwortlich bin. Lehnen sie sich nicht zu weit aus dem Fenster. Legen sie sich nicht mit Kelleth an, wenn sie wissen, dass sie keine Chance haben. Sie sollten ihren Kopf für wichtigeres verwenden, anstatt mit ihm durch die Wand zu wollen.“

Das hatte ich heute schon mehrfach zu hören bekommen. Zwar nicht so nett ausgedrückt, aber der Sinn war der gleiche: Finger weg von Aeria und Kelleth. Wenn so viele der Meinung waren, ich sollte mich aus solcherlei Angelegenheiten heraus halten, schien da wohl etwas dran zu sein. Dumm nur, dass ich schon mal gerne eben nicht das tat, was andere mir sagten und Malcolm gesagt hatte, ich solle mir eine eigene Meinung zu der Sache bilden.

Nichts desto trotz, nickte ich zustimmend.

„Ich gebe mir Mühe.“

„Passen sie auf sich auf.“ war alles was er sagte, bevor er mich entließ und seiner eigenen Weg ging.

Als ich schlussendlich in der Umkleide ankam, waren nur noch ein paar andere Jungs da. Um noch vor dem Leuten der Glocke fertig zu werden, warf ich alle Klamotten einfach Richtung Tasche davon, schnappte mir mein Handtuch und mein Duschgel und verschwand im Duschraum. Das aufdrehen der Dusche bestätigte mir dann meine Befürchtung. Alles heiße Wasser aufgebraucht. Das was aus dem Duschkopf kam, waren zwar keine Eiswürfel, aber es war bestenfalls noch lauwarm. Deswegen und weil ich das ungute Gefühl hatte, wieder eingeschlossen zu werden, wenn ich zu lange brauchte, seifte ich mich zügig ein und duschte mich genauso schnell ab, bevor ich mir mein Handtuch griff und die Dusche verließ. Zurück in der Umkleide musste ich dann mit erschrecken feststellen, dass alle weg waren. Alle Jungs und alle Klamotten. Meine Klamotten eingeschlossen.

„Das darf jetzt nicht wahr sein.“

Ich schaute in jedem Winkel, jeder Ecke nach, aber fand nicht einmal meine Boxershorts. Alles was mir geblieben war, war mein Handtuch. Zurück in die Halle konnte ich nicht, da Mr Mallum die Türe hinter mir abgeschlossen hatte und einen dritten Ausgang gab es nicht. Mir blieb nur die Türe raus in den Flur. Wer wusste was mich dort erwartete. Bevor ich mich allerdings in die Verdammnis stürzte und raus ging, fing ich an in der Kabine auf und ab zu laufen und zu fluchen, was schlussendlich in einem lauten Schrei und einem Tritt gegen die Tür endete. Mit nackten Füßen tat das zwar etwas weh, aber danach ging es mir auf jeden Fall besser. Zu meiner Überraschung klopfte es sogar von außen an der Tür. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob es schlau wäre sie zu öffnen. Mit dem senken der Türklinke wurde mir diese Entscheidung abgenommen. Die Türe öffnete sich einen Spaltbreit und als ich Aeria's Stimme hörte, rutschte mir das Herz in die Hose oder besser gesagt ins Handtuch, das momentan das einzige war, was ich um die Hüften trug.

„Luc? Alles in Ordnung?“

Ich versuchte mich zu beherrschen, aber ich konnte mich leider nicht davon abhalten ziemlich angepisst und sarkastisch zu klingen als ich antwortete.

„Klar, alles bestens! Tut mir leid, dass dein Bruder der erste ist, der mir einfällt, aber er hat meine Klamotten geklaut! Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund hat er es auf mich abgesehen und will mich nieder machen und er scheint nicht aufhören zu wollen, bevor ich unterm Teppich Fallschirmspringen kann! Mein Gott, wie kann man so ein Arschloch sein?! Kann er nicht einfach sagen was sein Problem ist und sich dann verpissen?!“

Ich musste ein paar mal tief durchatmen bevor ich wieder runter kommen konnte. Erst als ich mich beruhigt hatte, meldete Aeria sich zu Wort.

„Geht es dir jetzt besser?“

„Ein wenig, aber das bringt mir meine Sachen leider auch nicht zurück.“

Erst blieb es ruhig, dann hörte ich ein räuspern und dann sprach sie wieder durch den Türspalt.

„Deswegen bin ich hier. Kann ich die Tür auf machen?“

Automatisch raffte ich das Handtuch fester um mich und schluckte, bevor ich antwortete. Was konnte schon passieren, tiefer konnte ich nicht sinken und wenn sie eine Lösung für mein momentanes Problem hatte, was hatte ich zu verlieren? Ich hatte ohnehin nur noch mein Handtuch.

„Wenn draußen niemand mit seinem Handy steht um Fotos zu machen, klar komm rein, ich hab grade eh nichts zu tun und außer mir ist keiner da.“

Erst nach kurzem zögern ging die Türe weiter auf und irgendwie erwartete ich doch jemanden, der Fotos machte, um sie überall in der Schule auf zu hängen. Zu meiner Erleichterung stand dort niemand außer Aeria, die, mit einem peinlich berührten Gesichtsausdruck, meine Sachen in den Händen hielt und sie mir entgegen streckte.

„Hier. Kelleth hatte sie. Er wollte sie auf dem Schulgelände verteilen. Ich hab sie ihm weg genommen, aber ich konnte leider nicht mehr verhindern, dass er sie ruiniert. Tut mir Leid.“

Schweigend nahm ich sie entgegen, nickte und rang mich dann doch zu einem „Danke“ durch, bevor ich die Türe schloss um mich anzuziehen.

Erst als ich die Klamotten auf die Bank warf und begann mich an zu kleiden bemerkte ich, was Aeria mit ruinieren gemeint hatte. Meine Boxershorts waren angesenkt, bei den Socken waren sowohl Zehen und Ferse raus geschnitten, die Hose wies erhebliche Löcher auf und an meinem Sweatshirt hatte man die Arme komplett abgerissen. Mein Shirt und die Schuhe waren so ziemlich das einzige, was verschont geblieben war. Dafür würde Kelleth definitiv aufkommen. Nichts desto trotz, musste ich sie erst mal anziehen, da ich nichts anderes hatte. Vollkommen angezogen sah ich aus wie ein Obdachloser und ich war davon überzeugt, dass das die Absicht der Aktion gewesen war. Meine Sportsachen waren ebenso zerstört, doch anstatt sie weg zu schmeißen stopfte ich sie in meine Tasche, zusammen mit den Schuhen und warf mir meine Tasche über die Schulter. Um auf Nummer sicher zu gehen, kontrollierte ich noch einmal, ob sie nicht irgendetwas mit der Tasche gemacht hatten. Zu meiner Überraschung fand ich weder Löcher, noch Stinkbomben noch sonst irgendwelchen Kram, der mich hätte in Schwierigkeiten bringen können. Noch mehr überraschte mich allerdings, dass Aeria immer noch vor der Kabinentüre stand, als ich diese verließ.

„Was machst du denn noch hier?“

Sie schenkte mir ein zaghaftes Lächeln und zuckte wage mit der Schulter.

„Auf dich warten? Man kann dich ja anscheinend nirgendwo mehr alleine hin gehen lassen.“

„Was soll das denn heißen?“

„Ich hab dir bei Stephan den Arsch gerettet und das letzte mal als ich dich alleine habe los laufen lassen, hast du ein Handtuch ins Gesicht bekommen. Dann einen Volleyball. Danach hast du in meinem Team gespielt und da war Ende mit der Pechsträhne. Wer weiß, vielleicht bin ich dein Schutzengel.“

„Du bist auf jeden Fall sehr selbstbewusst.“

Einen Moment schwieg ich und überlegte mir wie ich sie das fragen sollte, was mir auf der Seele brannte und dann sprach ich es einfach so aus, wie es mir durch den Kopf schoss, bevor mir die Worte wieder abhanden kommen konnten.

„Wenn ich dich etwas frage, würdest du ehrlich darauf antworten?“

Verwirrt sah Aeria mich an.

„Na ja, im Grunde ist das schon eine Frage, also...“

„Antworte einfach, bitte.“

Dass sie zögerte gefiel mir nicht, trotzdem vertraute ich ihr, als sie mit „Ja.“ antwortete.

„Benutzt du mich, um gegen deinen Bruder zu sticheln? Es ist offensichtlich, dass ihr beiden stark konkurriert und ebenso, dass er mich nicht leiden kann. Tut mir Leid, wenn ich das so sage, aber ich habe keine Lust unter euren Streitigkeiten, was auch immer das für welche sind, leiden zu müssen. Dein Bruder macht mich runter wo er nur kann und seine pausenlosen Schikanen gehen zu weit. Sieh mich an, ich sehe aus wie der letzte Penner, er hat meine Sachen kaputt gemacht und die werde ich ihm in Rechnung stellen. Wenn er nicht dafür aufkommt, zeige ich ihn an wegen Körperverletzung, Diebstahl und Sachbeschädigung. Ich werde mir das nicht länger gefallen lassen, also sei ehrlich. Was ist das für ein Spiel, bei dem ich so offensichtlich nicht gewinnen kann?“

Staunend, verwirrt und verletzt zugleich sah sie mich an und schüttelte dann ungläubig den Kopf.

„Eine solche Meinung hast du von mir? Entschuldige wenn das so...“

Ganz eindeutig gefiel ihr nicht was ich gesagt hatte, aber ich war auch nicht bereit mich herum schubsen zu lassen und bevor sie sich in Rage reden konnte unterbrach ich sie erneut. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, das ich urplötzlich bereinigen musste.

„Nein. Nein, das habe ich nie gesagt. Den Floh hat mir jemand anderes ins Ohr gesetzt, aber im Grunde habe ich gar keine Meinung von dir. Woher auch, du hast ja nie mit mir geredet. Du hast dich nie erklärt, hast mich nicht mal mehr beachtet und heute bin ich plötzlich wieder dein Freund, du hilfst mir und redest mit mir als würden wir uns ewig kennen. Betrachte das Bild von meiner Seite aus und sag mir, dass du das nicht auch komisch findest.“

Betretenes schweigen legte sich über den dunkel gelegenen Gang vor den Umkleiden, Aeria kniff die Lippen zusammen und sah zu Boden. Da wurde es mir zu viel.

„Hätte ich mir ja denken können, willst wohl doch nicht ehrlich sein. Warum auch, ich bin ja nur der Trottel der von allen einstecken muss. Vergiss einfach, dass ich gefragt habe. Mach's gut.“

Ich drehte mich um und war grade drei Schritte gegangen, da packte Aeria mich am Handgelenk und hinderte mich am gehen.

„Nein Luc, warte. Du verstehst das nicht.“

Jetzt war es an mir, verletzt und gekränkt zu sein und ich fand, dass ich da ein verdammt gutes Recht zu hatte. Trotzdem schaffte ich es nicht, mich von ihr los zu reißen.

„Nein tu ich auch nicht. Erklär's mir.“

„Luc bitte, ich kann nicht. Ich darf nicht, versteh das doch.“

Ich wartete schweigend darauf, dass sie weiter sprach. Erst nachdem sie meinem Blick auswich und nach unten sah, sprach sie mit leiser Stimme weiter.

„Man hat es mir verboten. Du warst verboten. Mir wurde eingeschärft du wärst nicht gut und ich hatte Pflichten denen ich nachkommen musste.“

„Und warum jetzt? Was ist jetzt anders?“

Entschlossen hob Aeria den Blick und ich meinte Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen.

„Ich habe keine Lust und keine Kraft mehr mich zurück zu nehmen. Ich bin es Leid in eine Form gepresst zu werden, in die ich gar nicht rein will und ich lasse mir nicht mehr vorschreiben was ich zu tun oder zu lassen habe.“

Das musste ich einen Moment sacken lassen. Was bedeutete das für mich? Ich hätte gerne gewusst, was es für sie bedeutete, da es für sie einen so erheblichen Druck darstellte. Schlussendlich war ich sauer.

„Macht dein Bruder dich so fertig? Ich hatte immer den Eindruck dass ihr euch respektiert, obwohl ihr so wetteifert.“

„Das ist es nicht.“

„Was ist es dann? Verdammt Aeria lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“

Durchatmend und deutlich um Fassung ringend nahm sie eine gradere Haltung ein.

„Nein, er ist nicht das Problem. Kelleth ist sehr... Er sieht die Leute als anders an, sie sind nicht wie er. Jeder der anders ist, ist für ihn eine Bedrohung, deswegen hält er alle auf Abstand.“

„Und du bist nicht anders? Weil du zur Familie gehörst?“

„Ja. Er hält jeden von uns fern, den er für eine Bedrohung hält und du bist ihm besonders ein Dorn im Auge.“

Und es war ihr mehr als deutlich anzusehen, wie Leid ihr das tat. Ich konnte natürlich auch blauäugig und leichtgläubig sein, aber ich war der Meinung, dass niemand so gut schauspielern konnte.

„Das heißt er ist Schuld, dass du seit dem sechsten Jahrgang nicht mehr mit mir gesprochen hast?“

„Nein, ich habe mir von Kelleth noch nie etwas sagen lassen.“

Mehr sagte sie nicht dazu.

„Was war es dann? Ich will es verstehen. Bitte lass mich nicht betteln müssen.“

Obwohl ich das schon tat, blöderweise schien das auf taube Ohren zu stoßen. Sie ließ sich eine Menge Zeit, schaute überall hin nur nicht zu mir und rang mit sich, während sie die richtigen Worte zu suchen schien.

Schlussendlich seufzte Aeria und fuhr sich durch die Haare, dann sah sie mich an, schien aber an einem anderen Ort zu sein.

„Kennst du das, wenn du jemandem begegnest und du kannst dich nicht los reißen? Es ist wie ein Zwang, du musst in der Nähe bleiben, weil du Angst hast, diese Person zu verlieren?“

Das kam mir vage bekannt vor.

„Kenne ich, ja, ist schon eine Weile her, seit dem letzten mal.“

Genau genommen, hatte es nie aufgehört, aber das wollte ich nicht unbedingt gestehen.

„Und dann wird dir gesagt, dass es nicht geht und du zwingst dich zu einem Abstand, damit es nicht so weh tut, aber eigentlich macht er es nur schlimmer.“

Es entstand wieder eine Pause, wieder sah Aeria in der Gegend umher, bis sie schließlich zu mir ins hier und jetzt zurück kehrte und mich lächelnd ansah.

„Da war dieser Junge, weißt du. Er war neu auf der Schule und er ist mir sofort ins Auge gefallen. Er trug immer viel zu große Klamotten, um zu verbergen, dass er so dünn war, oder weil er sie einfach zu groß gekauft hatte um hinein zu wachsen, wusste ich nicht. Er sah immer aus, als wäre er grade erst aufgestanden, sein Haar war total zerzaust und egal wo er hin wollte, er war immer auf seinem Skateboard unterwegs. Nachdem er mich auf dem Flur beinahe umgefahren hatte, freundeten wir uns an. Ich spürte sofort diese Anziehungskraft und ich fand ihn unheimlich süß, aber weißt du was mich am meisten beeindruckte? Er nahm mich so, wie ich war. Ich musste mich nicht verstellen, musste niemandem gefallen und ich musste mich nicht gegen fünf andere durchsetzen, weil sie keinerlei Interesse an ihm hegten. Ich konnte einfach sein, wie ich war, ein ganz normales Mädchen. Deswegen fühlte ich mich einfach wohl in seiner Nähe. So und nicht anders hab ich dich gesehen und deswegen tat es auch so furchtbar weh, als ich alle Brücken abbrach.“

Ich wusste nicht wann ich zurück getreten war, aber die Wand in meinem Rücken gab mir einen tröstenden Halt. Aeria stand mit feuchten Augen, bröckelnder Fassade und bitter lächelnd einen Schritt weit von mir entfernt und ich konnte den Schmerz fühlen den ihre Augen ausstrahlten, denn ich hatte genau dasselbe gespürt, als die Verbindung zwischen uns abgebrochen war. Und ich hatte mir seitdem immer und immer wieder die gleiche Frage gestellt.

„Wieso hast du es dann getan?“

„Weil der Kontakt zu dir verboten und ich damals dazu gezwungen war zu gehorchen.“

Ich verstand nicht, wieso der Kontakt zu mir verboten war, vor allem weil ich derzeit mit meinem Vater grade neu zugezogen war, aber diese Frage war grade zweitrangig.

„Und jetzt ist das anders?“

Mit nieder geschlagenen Augen schüttelte sie verneinend den Kopf. Ich verstand sie nicht. Beim besten Willen nicht. Dieses Mädchen hatte damals alles hinter sich gelassen und getan als gäbe es mich nicht. Von einem Tag auf den anderen ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte sie seither beobachtet und nie auch nur einen Anhaltspunkt für dieses Verhalten gefunden. Und jetzt kam sie an, ebenfalls von einem Tag auf den anderen, suchte praktisch meine Nähe und erzählte mir quasi, dass sie Regeln brach, von denen ich keine Ahnung hatte.

„Du hast gemeint, ich wäre nicht ehrlich zu dir, aber das war ich immer und ich will es jetzt auch sein. Ich habe uns zwei in ziemliche Schwierigkeiten gebracht. Schwierigkeiten, von denen du nicht auch nur ansatzweise eine Ahnung hast. Du hattest Recht damit, dass Kelleth dich auf dem Kieker hat, aber nicht aus den Gründen, die du annimmst. Du bist verbotenes Terrain, dass er uns zusammen sieht macht ihn rasend, weil er sich so verbissen an die Regeln zu halten versucht, deswegen will er dich weg ekelnd, aber das lasse ich nicht zu. Sicherlich hast du recht wenn du sagst, dass es hier um Kelleth und mich geht aber es geht nicht nur um uns beide. Er versucht mich dazu zu zwingen den Regeln zu folgen, aber das schafft er nicht, solange ich über ihm stehe. Ich hingegen will nicht länger den Regeln folgen, weil das bedeutet, dass ich mich weiter von dir fern halten muss und das kann ich nicht mehr. Ich schaffe es einfach nicht, meine Reserven sind aufgebraucht.“

Versuchte sie mir grade zu sagen, dass sie etwas für mich empfand? Mein Gott, dieses Mädchen konnte mit Worten jonglieren und konnte jeden für sich einnehmen. Sie konnte alles organisieren und hatte alles im Griff, ohne den Überblick zu verlieren. Aber hierbei war sie mit Worten genauso schlecht wie ich.

„Und was bedeutet das? Was tun wir jetzt? Wir können nicht einfach davon laufen wie im Film, das funktioniert nicht.“

„Du tust gar nichts Luc. Das ist alleine mein Kampf.“

„Du hast mich da mit rein gezogen. Hast du grade selber gesagt, also sag mir, wie wir da wieder raus kommen, was auch immer DAS ist?“

„So funktioniert das nicht, du fällst nicht unter die gleichen Bedingungen wie wir, grade deswegen sollten wir uns ja von dir fern halten.“

„Kannst du mir das vielleicht erklären? Du erzählst ständig etwas von Regeln und das für mich nicht die gleichen gelten wie für euch. Ich verstehe das alles nicht.“ Wieder erhielt ich als Antwort ein Kopfschütteln.

„Du musst mir vertrauen Lucas, anders geht es nicht. Ich würde dir so gerne einfach alles erzählen, aber so einfach ist das nicht.“

Natürlich nicht. Nichts war so einfach wie reden, aber genau das war verboten. War es immer und würde es immer sein, richtig?

Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus und fuhr mir durch die Haare. Ich hätte am liebsten Laut aufgeschrien, verkniff es mir dann aber. Stattdessen sah ich Aeria an und erhielt von ihr einen fragenden Blick.

„Ich muss wissen, ob du mir vertraust. Ob es das alles Wert ist.“

War es das denn? Nach allem was heute passiert war, und Stephan war mittlerweile zum geringsten Übel von alledem geworden, fragte ich mich, was ich noch alles erleiden musste, bis das endlich aufhörte. Ich wusste es nicht und wenn ich versuchte, mir ein Bild davon zu machen, war es garantiert das falsche, deswegen ließ ich es bleiben und ging einfach vom schlimmsten aus. Wollte ich also wirklich für dieses Mädchen durch die Hölle gehen? Es hatte Zeiten gegeben, da hätte ich sofort ja geschrien, jetzt musste ich erst darüber nachdenken. Zugegeben, ich hatte nicht wirklich lange drüber nachgedacht bevor ich nickte, aber ich hatte schon immer mehr auf meinen Bauch gehört als auf den Kopf, deswegen musste man mir zugute halten, dass ich überhaupt nachgedacht hatte.

Man sah Aeria an, dass ihr eine Last von den Schultern gefallen war, als sie mein Nicken registriert hatte. Sie hatte erleichtert die Luft ausgestoßen die sie wohl offensichtlich angehalten hatte und dann aufrichtig angefangen zu lächeln. Das erste richtige Lächeln seit langem, soweit ich das beurteilen konnte. Außerdem trat sie auf mich zu, legte mir die Arme um den Nacken und legte ihre Wange an meine, wie sie es schon zuvor im Geräteraum getan hatte. Nur mit dem Unterschied, dass sie dieses mal relativ schnell von mir abließ ohne jedoch die Arme runter zu nehmen, mir mit glitzernden Augen in meine sah und mich dann küsste. Dieses mal richtig. Und verdammt, es fühlte sich so richtig an wie seit langem nichts mehr. Das kribbeln ging vom Haaransatz bis hinunter in die Zehen und bevor sie wieder weg laufen konnte, schlang ich die Arme um ihr Taille und zog sie an mich. Dieses mal hatte ich nicht das Gefühl, sie würde davon laufen, im Gegenteil. Sie schmiegte sich an meine Brust und wieder war ich froh die Wand im Rücken zu haben, die mich stützte. Denn ob ich es wollte oder nicht, der bisherige Tag hatte mir eine Menge abverlangt und da war ich froh für jeden Halt den ich bekam. Ebenso weil ich das Gefühl hatte Aeria mit stützen zu müssen. Sie hatte sich in meinen Armen fallen lassen, der Kuss, der so verzweifelt angefangen hatte, bewies das, auch wenn wir es jetzt langsamer angingen ließen. Für den Moment trennten sich unsere Lippen und in ihrem Gesicht spiegelte sich die gleiche Ruhe, die ich selbst grade empfand. Langsam trennte sie ihre Arme von meinem Nacken, an dem sie sich so verzweifelt fest geklammert hatte und ließ dann ihre Hände an meinen Seiten ruhen, während sie den Kopf auf meine Schulter legte. Ich hingegen strich ihr übers Haar und genoss das Gefühl der Vollkommenheit. Ich hatte vor gut zwei Jahren eine Freundin gehabt und war davon überzeugt gewesen, dass sie genau die richtige gewesen war. Jetzt stellte ich fest, dass ich vollkommen daneben gelegen hatte, denn das was ich bei ihr verspürt hatte, war nicht ansatzweise mit dem vergleichbar, was ich hier bei Aeria empfand. Hier, mit diesem Mädchen in den Armen fühlte ich mich wie der Teil eines Ganzen, es fühlte sich an, als wäre die Zeit stehen geblieben und ich hatte Angst davor, was passieren würde, wenn wir uns wieder los ließen. Denn hier ging es mir gut, ich spürte, dass ich angekommen war, ich war zuhause.

Eine ganze Weile hatten wir so da gestanden, bis Aeria schließlich den Kopf hob und mich die Panik ergriff, dass sie sich jetzt von mir lösen würde. Zu meiner Erleichterung sah sie mir nur ins Gesicht und mit einem unschönen Gefühl im Bauch stellte ich fest, dass sie geweint hatte. Einen Arm immer noch um ihre Taille geschlungen wischte ich ihr die Tränen von den Wangen und hinterließ federleichte Küsse dort, wo die Tränen geflossen waren. Völlig fasziniert davon wie sie begann von innen heraus zu strahlen wenn ich ihr über die Wange strich, legte ich meine Lippen auf ihre und fand mit Freuden heraus, dass sie den Kuss erwiderte. Ich wäre vermutlich grade der glücklichste Mensch der Welt gewesen, hätte ich nicht Schritte gehört dich sich schnell näherten.

„Du hältst dich nicht an die Vorschriften Aeria. Du weißt, was das für dich bedeutet.“

Mit einem Ruck wurde Aeria von mir fort gerissen und zurück blieb eine Kälte, die ich kaum zu fassen wagte. Diese wurde aber schnell von einer Hitze getilgt, die mit der Wut in mir aufstieg, als ich sah, wie Kelleth sie packte und mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand stieß. Das laute krachen das ertönte, als sie mit dem Kopf aufschlug, jagte mir einen schmerzhaften Schauer durch den gesamten Körper. Nur die Tatsache dass Aeria noch stand und ihren Bruder auszulachen schien hielt mich davon ab, gleich auf ihn los zu gehen.

„Was, willst du mich jetzt verpetzen?“

„Das brauche ich gar nicht, der Impuls der von dir ausging war mehr als deutlich. Mutter hat es sofort bemerkt und wie du merkst, ist sie nicht erfreut darüber. Sie wird dich dafür büßen lassen, du wirst deine Stellung verlieren, ohne dich dagegen wehren zu können.“

„Das wird nicht passieren, solange ich mich dagegen behaupten kann.“

„Du hast Schwäche gezeigt Aeria, glaubst du wirklich, irgendjemand würde dich jetzt noch für eine ernste Bedrohung halten?“

„Man muss für sein Ansehen arbeiten Kelleth. Oder was meinst du, wie ich mich so lange an der Spitze halten konnte, im Gegensatz zu dir.“

Als er sie dieses mal gegen die Wand stieß, brannten bei mir die Sicherungen durch. Ich packte ihn von hinten und riss ihn von Aeria weg, machte aber den Fehler und sah erst zu ihr, bevor ich meine Aufmerksamkeit auf Kelleth richtete. In diesem kurzen Moment der Unachtsamkeit hatte er sich gefangen und mich so feste zur Seite gestoßen, dass es mich von den Füßen warf. Schneller als dass ich es hätte bemerken können stand er plötzlich über mir, packte mich an meinem Sweatshirt und zog mich hoch, wo er mich dann an die Wand drängte.

„Du musst mehr als dämlich sein, wenn du glaubst, du könntest es mit mir aufnehmen. Hat sie dich nicht gewarnt? Habe ich dich nicht gewarnt? Du tätest gut daran, die Räte anderer zu befolgen, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Kelleth lass ihn los!“

Mit Nachdruck in der Stimme legte Aeria eine Hand auf den Arm ihres Bruders, doch das schien ihn nicht zu beeindrucken. Stattdessen pinnte er mich nur noch mit einer Hand weiterhin fest, was mir ein wenig mehr Spielraum gab, schlug dann ihre Hand weg und stieß sie davon. Die Panik in ihrem Blick war mir Grund genug um mich los zu reißen und Kelleth eine zu verpassen. Durch den Adrenalinrausch landete meine Faust mit mehr Gewalt als ich erwartet hatte in seinem Gesicht und ließ ihn taumeln. Als er mich böse an funkelte sah ich wie ihm das Blut von der Lippe abwärts lief. Sobald ihm aufging, was meine Aufmerksamkeit so fesselte, wischte er sich mit der Hand über den Mund und bestaunte dann das Blut an seinen Fingern. Nickend fing er an bitter zu lachen.

„Sie hat also schon ein wenig auf dich übertragen. Ihr wisst wirklich nicht, wann es besser ist aufzuhören.“

Immer noch nickend vermittelte Kelleth den Eindruck, als wäre er verrückt geworden. Zu meinem Entsetzen schien sich in seinen Augen etwas zu verändern und ich konnte nicht erklären was es war.

„Du willst also unbedingt mit den großen spielen. Das sollst du haben du mickriger Welpe.“

Ohne dass ich es registrieren konnte, verpasste Kelleth mir einen rechten Haken, der mich zu Boden schickte. Ich konnte Aeria schreien hören, als Kelleth sich auf mich stürzte, sie schrie er solle aufhören, dann schrie sie nach Mr Mallum, schrie um Hilfe und bevor ich mich wirklich hatte wehren können, hatte Kelleth mich auf dem Boden fixiert und schlug ohne Unterlass auf mich ein. Ich spürte den Schmerz kaum, der mit jedem Schlag auf mich ein prasselte. Ich sah nur Aeria, die verzweifelt versuchte ihren Bruder von mir runter zu ziehen, leider vergebens. Mein Blick verschwamm und ich hörte alles nur noch in einem dumpfen Ton, bevor ich in das tiefe Schwarz eintauchte. Und dann begann alles zu brennen wie Feuer.

Kapitel 2

 

„Kelleth runter von ihm!“

Mein Bruder schlug immer noch auf Lucas ein, obwohl er schon lange bewusstlos war, als Thrane kam und ihn von ihm runter zog. Schockstarr hatte Ich neben ihnen gestanden und fiel jetzt neben Lucas auf die Knie, der schweißgebadete, zuckende Körper raubte mir beinahe den Verstand, deswegen brauchte es eine Weile, bis Thrane's Worte zu mir durchdrangen.

„Wir müssen ihn abkühlen, sonst verglüht er uns noch. Aeria!“

Mit einem mal riss ich mich aus meiner Trance und hievte Lucas zusammen mit Thrane zurück in die Umkleide und dort auf eine der Bänke.

„Was jetzt?“

Mit schnellen Blicken suchte Thrane die Umkleide ab und deutete dann auf den Duschraum.

„Die Duschen. Wir ziehen ihm das Sweatshirt aus und setzen ihn unter eine der Duschen, bis deine Mutter hier ist. Ich hoffe sie weiß, was wir dann machen.“

Die Unsicherheit war Thrane anzusehen, deswegen drückte Ich den Rücken durch und versuchte nicht darauf zu achten, dass Luc aussah, als wäre er unter ein Auto gekommen. Ohne weitere Zeit verlieren zu wollen zog Ich ihm die Reste seines Pullovers über den Kopf und zog ihn von der Bank an meine Seite. Thrane stützte ihn von der anderen Seite und begleitete mich dann in den Duschraum. Unter einer der Duschen angekommen ließ Ich mich mit Lucas zu Boden gleiten und blieb dann neben ihm sitzen um ihn zu stützen.

„Was ist? Dreh endlich das Wasser auf.“

Thrane, der die Hand auf dem Wasserknopf ruhen ließ, sah mich nur fragend an.

„Bist du dir sicher, dass du da sitzen bleiben willst? Das Wasser ist kalt und...“

„Mach es einfach.“

Lucas' Körper an meiner Seite schien spürbar wärmer zu werden, deswegen griff Ich vor Ungeduld selbst zum Hahn und drehte das kalte Wasser auf. Eiskalt peitschte das Wasser von oben auf uns herab und durchnässte uns beide innerhalb von wenigen Momenten. Es dauerte nicht lange, da zitterte ich von Kopf bis Fuß und klammerte mich daher an Lucas fest, um mich an seiner überhitzten Haut aufzuwärmen. Ich hatte grade zähneklappernd die Wange an seinen Hals geschmiegt um die Kälte zu ignorieren, da öffnete sich die Türe und meine Mutter kam herein, gefolgt von Ian, Kelleth und Reena. Letztere bot mir die Hand und ein Handtuch an. Dankend ließ Ich mich hoch ziehen und nahm dann das Handtuch entgegen, welches Ich mir sofort um die Schultern warf. Schweigend beobachtete Ich meine Mutter und meinen Onkel, die den immer noch bewusstlosen Lucas beäugten.

„Gute Arbeit Thrane. Hast du sonst noch etwas unternommen um den Jungen zu beruhigen?“

Der gefragte schüttelte den Kopf und deutete dann auf mich.

„Nein, ich schätze ihre Anwesenheit hat großen Einfluss.“

Interessiert und skeptisch richteten sich alle Blicke auf mich und es kostete mich ein wenig Mühe, den Blick nicht zu senken, vor allem nicht unter dem Blick meiner Mutter, die schließlich nickte.

„Wir unterhalten uns noch junge Frau.“

Das war alles was sie sagte, trotzdem versprach dieser kurze Satz eine Menge Ärger.

Immer noch leicht zitternd nickte Ich und wandte mich dann Lucas zu.

„Was passiert jetzt mit ihm?“

„Wir nehmen ihn mit zu uns. Ich will ihn dort haben, wo ich ein Auge auf ihn haben und er nicht so viel Schaden anrichten kann. Ian hilf mir.“

Sich den einen Arm packend und Ian den anderen, trugen die beiden Lucas aus der Dusche wo meine Mutter dann auf die Türe deutete, die in die Sporthalle führte.

„Wir nehmen den Hinterausgang, der Wagen steht hinter der Halle. Bist du so gut Thrane?“

Schon bevor sie gefragt hatte, hatte Thrane den Hallenschlüssel gezogen und sich an ihnen vorbei gedrängt um die Türe zu entriegeln. Alles weitere verlief schweigend und unbemerkt. Zumindest bis sie Lucas ins Auto verladen hatten und wir schließlich zuhause angekommen waren.

„Wir bringen den Jungen in eins der freien Zimmer. Euch zwei will ich gleich in meinem Arbeitszimmer sehen.“

Damit hatte meine Mutter auf mich und Kelleth gedeutet, doch bevor sie Lucas weg bringen konnten, hatte ich mich widersetzt.

„Nein, er bleibt bei mir. Ich will nicht, dass er irgendwo anders untergebracht wird als bei mir, er soll nicht alleine irgendwo aufwachen und ich bin nicht bereit, darüber zu diskutieren.“

Wie erwartet brachte mir dies erneut einen äußerst skeptischen Blick meiner Mutter ein und auch alle anderen sahen mich verwundert und fragend an, aber das interessierte mich nicht. Meine Aufmerksamkeit galt einzig und alleine meiner Mutter, die versuchte, mich nieder zu starren. Als ihr dies nicht gelang, nickte sie ohne den Blick zu senken.

„Schön, dann bist du für ihn und alles was er tut verantwortlich. Und jetzt beweg dich in mein Büro, sonst werde ich ziemlich sauer.“

Erst als ich mir sicher war, dass sie ihr Wort halten würde nickte ich und ließ den Blick von ihrem abschweifen, bevor ich mich schweigend um wandte und aus der Eingangshalle den Korridor entlang Richtung Arbeitszimmer ging. Ein kurzer Blick zurück zeigte mir, dass sie Lucas hinauf in den ersten Stock brachten und Kelleth direkt hinter mir war.

„Sie wird uns auseinander nehmen wie einen Legobausatz.“

Kopfschüttelnd widersprach ich Kelleth, auch wenn ich mir wünschte, dass sie es bei ihm doch tat.

„Nein das denke ich nicht. Sie wird sauer werden, sicher, aber nicht annähernd sauer genug, als dass sie uns bestrafen würde.“

Wobei, wenn ich wirklich darüber nach dachte, war ich mir doch nicht mehr so sicher. Allerdings konnte ich jetzt eh nichts mehr daran ändern, deswegen widmete ich mich den Dingen, für die ich mich rächen konnte und würde, sobald wir hinter verschlossener Türe waren.

„War das vorhin eigentlich wirklich nötig?“

Kelleth wagte es wirklich mich fragend an zu sehen.

„Was meinst du?“

„Tu nicht so doof. Hatte es irgendeine Bewandtnis, dass du meinen Kopf mit Gewalt durch die Wand hauen wolltest, oder hat das einfach Spaß gemacht?“

„Ich wollte dich zur Vernunft bringen, der Typ ist einfach nicht der Richtige für dich.“

„Und dafür musst du mir den Schädel spalten? Und überhaupt, seit wann hast du das sagen darüber, wer richtig oder nicht ist?“

Bevor er mir antworten konnte, betrat unsere Mutter das Zimmer und lehnte sich an den großen Massivholzschreibtisch. Schade eigentlich, denn ich hätte das Gespräch gerne hoch geschaukelt um einen Grund zu bekommen, um ihm den Hals umzudrehen. Stattdessen sah ich nun in das erwartungsvolle und ernste Gesicht meiner Mutter, nur um den Blick gleich wieder zu senken.

„Ihr habt meine Anweisungen missachtet, wollt ihr das erklären?“

Ich war nicht ansatzweise schnell genug, um Kelleth davon ab zu halten, mich in Schwierigkeiten bringen zu können.

„Aeria hat damit angefangen. Sie hat diesen Typen ins Mädchenklo gezerrt und was weiß ich was mit ihm gemacht.“

Dagegen musste ich mich verteidigen, denn so war das gar nicht gewesen.

„Moment, ich kam aus der Mädchentoilette und da hat er mich um gerannt. Ich hab ihn nur da rein gezogen, weil er in Schwierigkeiten war, oder hätte ich ihn einfach Stephan überlassen sollen?“

„Zum Beispiel, dann würde er zumindest nicht in deinem Bett liegen.“

„Stört dich das, oder willst du lieber dass er in deinem Bett sein Koma ausschläft in das du ihn geprügelt hast?“

„Ich hab ihn nicht ins Koma geprügelt, ich hab keine Ahnung was mit ihm ist.“

„Dann leugnest du also ihn geschlagen zu haben? Starkes Stück, vor allem da Thrane das bezeugen kann, weil er dich von ihm runter gezerrt hat.“

„Ich leugne nur, dass...“

„Schluss jetzt, es reicht! Ich will von euch wissen was passiert ist und zwar jetzt!“

Der Befehlston meiner Mutter schmetterte durch den ganzen Raum und ließ keine Widerrede zu, deswegen streckte ich den Rücken wieder durch, nachdem sowohl Kelleth als auch ich zusammen gezuckt waren, und versuchte so gut es ging zu erklären was passiert war.

„Wie gesagt, Lucas hat mich umgerannt. Er ist vor Stephan abgehauen, nachdem er ihn provoziert hat, um von einem anderen Schüler ab zu lenken. Was ich persönlich ziemlich mutig finde, da man sich nicht einfach mit einem Troll wie Stephan anlegt. Wie auch immer. Ich hab ihn in die Toilette gezogen um ihn aus der Schusslinie zu holen. Nachdem Stephan weg war, hab ich Lucas wieder weg geschickt. Kelleth hat das gesehen und gleich angefangen ihn zu schikanieren.“

„Ach komm, als wärst du zufällig da gewesen. Du bespitzelst den Kerl doch schon seit Wochen, obwohl wir uns von ihm fern halten sollen.“

„Wenn du meinst, dass ich mich mit Absicht irgendwo um rennen lasse, klar doch. Das gibt dir aber nicht das Recht ihm mit nassen Handtüchern ins Gesicht zu peitschen oder ihm Volleybälle an den Kopf zu schmettern.“

„Ich wollte ihn verjagen, damit er dich in Ruhe lässt. Der Typ schaut dir schon seit der sechsten Klasse hinterher und du machst ihm auch noch Hoffnungen. Hinterher denkt er noch, er hätte ernsthaft eine Chance bei dir.“

„Ich habe ihm überhaupt keine Hoffnungen gemacht, ich hab ihm aus der Patsche geholfen.“

„Du hast ihn dazu ermutigt in deiner Mannschaft mit zu spielen, oder etwa nicht?“

„Ja, um ihn vor dir in Schutz zu nehmen. Du hast ihn ja regelrecht attackiert. Du hast ihm nach dem Unterricht die Sachen geklaut, sie zerrissen und angezündet und hätte ich sie dir nicht abgenommen, hättest du sie in der gesamten Schule verteilt. Als ich sie Lucas zurück gebracht habe, habe ich auf ihn gewartet, damit Kelleth nicht gleich wieder auf ihm rum hackt.“

„Als ob. Du hast auf ihn gewartet und dann im Gang vor den Umkleiden mit ihm rum gemacht.“

„Ich habe überhaupt nicht mit ihm rum gemacht!“ „Du hast ihn geküsst, das ist das gleiche.“

„Du hast überhaupt keine Ahnung. Außerdem würde ich es nicht unbedingt einen Kuss nennen, wenn man weg gezerrt, gegen die nächste Wand gefeuert und dann so oft dagegen gedonnert wird, bis einem der Schädel brummt. Und an dem Punkt sind wir dann wieder beim Thema, wie du Lucas ins Koma geprügelt hast.“

„Verdammt ich hab ihn nicht...“

Die Stimme meiner Mutter klang viel zu ruhig, um wirklich ruhig zu sein, Kelleth verstummte nicht umsonst mitten im Satz.

„Wenn ihr zwei nicht endlich damit aufhört, sperr ich euch in den Keller, bis nur noch einer von euch wieder heraus kommen kann. Ihr macht den jüngeren ernste Konkurrenz und benehmt euch, als wärt ihr acht und nicht achtzehn und ich überlege grade ernsthaft, ob ich euch nicht besser hätte aussetzen sollen als ich bemerkt habe, dass ihr mit der Dominanz nicht geizen könnt. Deswegen stelle ich die Frage jetzt nur ein einziges mal und wenn ihr wieder mit diesem Kindergarten anfangt, setze ich euch vor die Tür. Also, habt ihr noch irgendetwas zu erzählen was ich wissen müsste oder war es das?“

Ich hielt mich gepflegt zurück um Kelleth den Vortritt zu lassen damit er einstecken musste, aber auch er schwieg, deswegen schüttelte ich schließlich nur verneinend den Kopf. Glücklicherweise wandte sie sich trotzdem Kelleth zu und sah ihn aus schmalen Augen an.

„Du hast den Jungen also schikaniert, gedemütigt, beklaut, die geklauten Sachen zerstört und ihn dann zusammen geschlagen, weil du gesehen hast, wie Aeria ihm geholfen hat?“

Oh oh, jetzt tat mir mein Bruder doch etwas Leid, auf die Frage konnte er nur falsch antworten.

„Das klingt so zusammen gefasst ziemlich hart, aber ich fürchte so war es, ja.“

Kluger Junge, Einsicht war zwar der erste Weg zur Besserung, rettete ihm in diesem Fall aber nicht das Fell. Ich hielt mich da vorsichtshalber komplett heraus.

„Ich bin bereit dafür grade zu stehen, aber ich bin der Meinung es sollte beachtet werden, dass Aeria mit einen Teil daran zu tragen hat.“

„Habe ich dich so schlecht erzogen, dass du alles auf deine Schwester abwälzen musst?“

„Nein, aber ich sehe nicht ein, dass sie wie das Goldkind behandelt wird. Sie hat den Kontakt zu diesem Typen geknüpft, nicht ich und trotzdem nimmst du sie in Schutz, obwohl du den Kontakt verboten hast.“

„Der Typ hat auch einen Namen und sie hat ihm nur geholfen und ihn wieder seiner Wege geschickt, während du ihn von vorne bis hinten geplagt hast. Fällt dir etwas auf?“

„Ja, mir fällt auf, dass ich hier wieder der angeschissene bin, obwohl ich nur versucht habe ihre fehlgeleitete Bahn zu korrigieren.“

„Nein, falsch. Du hast in deinem eigenen Interesse gehandelt und nicht über die Konsequenzen nachgedacht und genau das ist es, wieso du nicht als Oberhaupt dieser Familie geeignet bist.“

Dummerweise unterstrich er die Worte unserer Mutter damit, dass er ihr ins Wort fiel ohne es wirklich zu bemerken.

„Ich bin genauso geeignet wie sie, das wird nur aus irgendeinem Grund nicht zur Kenntnis genommen!“

„Du hörst jetzt besser auf, bevor du es noch schlimmer machst.“

„Viel schlimmer geht es ja wohl nicht mehr!“

„Du gehst jetzt los und kaufst neue Klamotten für Lucas, bevor ich dir zeigen kann, wie viel schlimmer es noch werden kann und wage es dich, mit irgendwelchem Ramsch wieder zu kommen. Sollte ich irgendwelche Beschwerden hören vergesse ich, dass du mein Sohn bist und verweise dich so lange in deine Schranken, bis du freiwillig und mit vollem Elan deinen Namen tanzt, haben wir uns verstanden?“

Als Ich sah wie Kelleth schon Luft holte um zu widersprechen kniff Ich die Augen zu und schüttelte mit dem Kopf. Gott sei dank knurrte er nur unmerklich und verschwand dann mit einem lauten Knallen der Tür. Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder und schätzte ab, was mir jetzt noch bevor stand. Dummerweise war das Gesicht meiner Mutter undurchschaubar.

„Nun zu dir meine Liebe. Willst du noch etwas zu deiner Verteidigung vorbringen oder soll ich gleich mit der Moralpredigt anfangen?“

„Ich bitte lieber um Vergebung, als um Erlaubnis?“

„Netter Versuch.“

Ich hielt den Blick gesenkt und wartete. Dass sie schließlich seufzte bedeutete ein gutes Zeichen und brachte mich dazu, zögerlich auf zu sehen.

„Weißt du eigentlich, dass du hier gewaltig mit dem Feuer spielst? Das einzige worum ich euch gebeten hatte war, euch von diesem Jungen fern zu halten und was macht ihr? Reißt euch um ihn, als wäre er ein Stück Fleisch.“

„So war das gar nicht. Ich...“

„Nicht?“

„Nein. Ich hab... ich kann es nicht mehr unterdrücken. Es sickert immer wieder durch, immer stärker und das schon seit Wochen. Das ist es, was Kelleth meinte. Ja ich habe Lucas beobachtet, ich wollte heraus finden, wieso ich die Verbindung nicht mehr ausblenden kann, aber ich habe beim besten Willen keine Ahnung. Ich habe keine Kraft und, wenn ich ehrlich sein soll, auch keine Lust mehr mich dagegen zu wehren. Du willst wissen wieso ich entgegen deinen Anweisungen gehandelt habe? Ich will mich nicht mein Leben lang gegen etwas wehren, das ich nicht verhindern kann und ich bin es einfach Leid. Du weißt nicht wie es ist zu spüren wie er leidet. Er wird zuhause geschlagen, schon seit geraumer Zeit, immer wieder und immer öfter. Du hast gesehen wie er aussieht, das war nicht alles Kelleth und Lucas versucht sich nicht einmal dagegen zu wehren. Er lässt einfach alles über sich ergehen, steht wieder auf und geht weiter bis der nächste kommt, der auf ihm rum hackt. Ich kann das nicht länger mit ansehen und ich will es auch nicht mehr fühlen. Deswegen habe ich ihm heute geholfen, ich weiß wie er mir gegenüber fühlt, auch dass kann ich spüren, ich wollte ihn einfach aufbauen. Ich wollte die ganzen Dinge vergessen machen und ihm zeigen dass es auch wieder bergauf gehen kann. Ich wollte doch einfach nur, dass er sich besser fühlt, damit ich mich wieder besser fühlen kann.“

Es schnürte mir die Luft ab wenn ich darüber nachdachte, dass das blaue Augen nichts war, im Vergleich zu dem, was er unter seinen Sachen versteckte. Außerdem tat es beinahe körperlich weh diese Gefühle weiterhin zu unterdrücken, ebenso wie es mir die Tränen in die Augen trieb.

„Hey, Kleines sieh mich an.“

Ich brauchte einen Moment und musste ein paar mal tief durchatmen bevor ich den Blick von der Zimmerdecke ab und meiner Mutter zu wenden konnte, dabei konnte ich nicht verhindern, dass mir die Tränen schlussendlich doch übers Gesicht liefen.

„Du wolltest ihm helfen.“

„Ja. Aber sieh dir an was aus meiner Hilfe geworden ist.“

„Du hast es gut gemeint und du konntest doch nicht ahnen, dass so etwas dabei heraus kommt, das konnte keiner von uns.“

„Ich hätte mich einfach da raus halten sollen, so wie du gesagt hast.“

„Das hättest du nicht gekonnt, selbst wenn du gewollt hättest. Du bist viel zu stur und eigensinnig, als dass du dir länger von irgendjemandem etwas hättest vorschreiben lassen.“

Ich meinte Stolz in ihrem Blick gesehen zu haben, aber ich hatte mich viel zu schnell der Türe zu gewandt als diese sich öffnete, als das ich es hätte analysieren können.

„Gefühle führen nun mal zu irrationalem Verhalten, schon seit Anbeginn der Zeit. Tut mir Leid, ich wollte nicht lauschen, aber ihr wisst ja wie das ist.“

Reena sah nicht wirklich danach aus, als täte ihr überhaupt irgendetwas Leid, das tat es nie. Ebenso wie sie nur selten so ernst aussah, deswegen wurde ich sofort hellhörig, als sie auf mich deutete.

„Ich will euch nicht unterbrechen, aber Thrane meinte, wir könnten vielleicht deine Hilfe gebrauchen, wenn ihr also hier fertig seid?“

Die Frage war nicht an mich gerichtet, daher war es nicht ich die antwortete.

„Sie kommt sofort.“

Das reichte Reena als Antwort, also verschwand sie wieder und zog die Türe hinter sich zu. Wir warteten beide, bis wir sie auf dem Flur davon gehen hörten und sahen uns dann erst wieder an. Meine Mutter war diejenige, die zuerst das Wort ergriff.

„Du hast ihn nicht nur geküsst, um ihm etwas gutes zu tun, hab ich recht?“

„Musst du diese Frage wirklich stellen?“

„Sag du es mir.“

„Ich hatte schon immer etwas für ihn übrig, das ist ein offenes Geheimnis. Also nein, eigentlich hättest du dir die Frage sparen können.“

Denn laut Kelleth hatte jeder etwas davon gehabt, jeder hatte es gefühlt. Diese Frage zu stellen, sollte mich also nicht nur daran erinnern, dass ich es getan hatte, sondern auch wieso. Wieder traten mir Tränen in die Augen.

„Es ist eben passiert, ich kann es nicht rückgängig machen.“

„Dass du ihn geküsst hast, oder dass du etwas für den Jungen empfindest?“

Dass meine Mutter ihn nicht mit Namen ansprach, störte mich ganz gewaltig, vor allem, da sie Kelleth deswegen angeschnauzt hatte und bevor ich es unterdrücken konnte, vergriff ich mich im Ton.

„Luc. Der Junge heißt Lucas und ich sollte jetzt besser gehen und sehen wie ich helfen kann.“

Ich wollte die Frage nicht beantworten, ich wollte überhaupt nicht mehr darüber reden, aber Meine Mutter hielt mich zurück, als ich mich zum gehen wandte.

„Ria komm her.“

Ich blieb stehen und drehte mich erst nicht um. Als ich es dann doch tat, war sie mir schon auf halbem Weg entgegen gekommen. Das war genauso ungewöhnlich wie die Tatsache, dass sie mich Ria nannte, es kam so ziemlich sehr sehr selten vor und bedeutete, dass wir uns als Mutter und Tochter gegenüber standen, nicht als Alpha und ihrer möglichen Nachfolgerin. Zum ersten mal in diesem Gespräch fühlte es sich nicht so an, als würde sie von oben auf mich herab schauen, auch wenn sie das nicht in böser Absicht getan hatte. Sie stand einfach vor mir und nahm mich in den Arm, als ich vor ihr stehen blieb.

„Egal was Kelleth gesagt hat, es ist keine Schande. Es ist nur einfach der schlechteste Zeitpunkt, den du hättest wählen können.“

„Ich hatte das doch überhaupt nicht geplant, es ist einfach so passiert.“

„Und das macht mir ein bisschen Sorgen. Dein Bruder wusste es nicht aber er hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er war schon immer sehr impulsiv, ich schätze deswegen hat er so drastisch reagiert, es war instinktiv. Du hättest die gleiche Ahnung gehabt, wenn du dich nicht so von den anderen abgeschottet und stattdessen auf deine Instinkte vertraut hättest.“

„Auch das war keine Absicht. Ihr wart plötzlich alle weg und als ich versucht habe wieder an euch an zuknöpfen ist Lucas wieder dazwischen gefallen. Ich konnte nur entweder alle oder gar keinen ausblenden und irgendwann ist es passiert, dass Luc euch ausgesperrt hat. Plötzlich konnte ich ihn nicht mehr verdrängen und er hat dafür gesorgt, dass ich nicht mehr an euch anknöpfen konnte, ich weiß nicht wieso.“

„Bist du dir sicher?“

Der vorsichtige Ton meiner Mutter gefiel mir überhaupt nicht. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber aus irgendeinem Grund schien sie in Alarmbereitschaft zu sein.

„Ja, ich hab es doch die ganze Zeit versucht.“

„Und du warst nicht der Meinung, dass du mir das hättest sagen sollen?“

„Nein, ich...“

Und da kam es auch mir plötzlich spanisch vor.

„Nein und ich weiß nicht wieso. Ich hatte nicht das Bedürfnis, dich in Kenntnis setzen zu müssen.“

„Du bist noch zu jung um dich selbstständig zu machen.“

Der Meinung war ich auch. Dummerweise schien sie nicht in der Stimmung zu sein, Erklärungen zu geben. Stattdessen lächelte sie mich an.

„Wehr dich nicht länger gegen die Verbindung wenn es ohnehin nicht funktioniert. Lass es einfach zu, es ist besser für uns alle.“

Ich wollte fragen wieso sie plötzlich so angespannt war, wieso sie so besorgt schien, aber sie ließ mir keine Gelegenheit dazu.

„Geh, zieh dir etwas trockenes an und hilf dann den anderen, ich muss mit deinem Vater reden.“

Mit einem Nicken löste ich mich wieder von ihr. Das Gespräch war damit beendet und sie würde keine weiteren Fragen beantworten. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und hatte schon die Klinke in der Hand, als sie mich noch einmal rief.

„Aeria, Kopf hoch.“

Mit anderen Worten: Wir können uns keine weiteren Schwächen leisten. Da war sie wieder, die Alphaeinstellung.

Ich nickte nur und nahm Haltung an, bevor ich den Raum verließ. Draußen auf dem Gang blieb ich einen Moment stehen und atmete ein paar mal einfach tief durch, wischte mir dann durchs Gesicht und machte mich auf den Weg nach oben. Auf der Treppe konnte ich mich nicht mehr halten und begann zu laufen, weil mich plötzlich die Angst ergriff, zu spät zu kommen. Erst vor meiner Zimmertüre blieb ich wieder stehen, atmete noch einmal tief durch und drückte dann die Klinke runter um mein Zimmer zu betreten.

Drinnen herrschte nicht annähernd so viel hektisches Treiben wie ich erwartet hatte. Thrane untersuchte Lucas, der in meinem Bett lag, auf seine ganz eigene Art und Reena stand dahinter und füllte Eiswürfel in Plastikbeutel ab. Mit einem Räuspern machte ich auf mich aufmerksam.

„Wie kann ich helfen?“

Als Thrane mich bemerkte, sprang er sofort auf und kam auf mich zu.

„Da bist du ja, sehr gut. Komm her und setz dich hin, mehr brauchst du nicht tun.“

Als ich nur fragend stehen blieb, sah er das als Aufforderung zur Erklärung an.

„Ich habe da eine Theorie. Du scheinst irgendeine Art Einfluss auf ihn zu haben. Als wir hier ankamen war er ruhig, aber als du dich entfernt hast, wurde er unruhig. Ich will sehen, ob er jetzt wieder ruhiger wird. Sollte das zutreffen, muss ich das auf jeden Fall beobachten.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich es an die große Glocke hängen sollte, aber wenn ich die Verbindung öffnete, würde es ohnehin jeder mitbekommen.

„Das wird wohl passieren. Ich habe eine Verbindung zu ihm, wenn das also wirklich von Bedeutung ist.“

Als hätte er es bereits gewusst nickte Thrane und schien plötzlich gedankenverloren und ziemlich weit weg zu sein. Er nuschelte vor sich her und steuerte dann die Türe an.

„Bleib hier, wenn etwas ist, ruf mich einfach. Ich muss ein paar Dinge überprüfen.“

Damit war er verschwunden und hatte mich mit Lucas und Reena alleine gelassen. Ich konnte nur die geschlossene Zimmertüre anstarren, bis Reena mich aus meiner starre löste.

„Hier, du solltest tun was er sagt.“

Ohne sie dazu aufgefordert zu haben, hatte sie das riesige Kissen aus meinem runden Korbsessel gezogen, vor dem Bett auf dem Boden platziert und mich hinein gedrückt, während sie weiter die Eisbeutel füllte und zu Lucas unter die Decke legte. Dabei entging mir nicht, dass er nur noch seine Boxershorts trug.

„Ist das wirklich nötig?“

„Was genau? Dass er nur Shorts trägt oder dass wir ihn von oben bis unten mit Eisbeuteln zudecken?“

Kopfschüttelnd und dabei die Schultern hebend sah ich sie an.

„Vergiss, dass ich gefragt habe. Glaubst du, du kannst einen Moment die Stellung halten? Ich will nur kurz unter die Dusche und mir ein paar trockene Sachen anziehen.“

Ich war schon aufgestanden und an meinen Schrank getreten um ein paar Sachen heraus zu suchen als Reena antwortete.

„Klar, solange du hier oben duschst, sollte ja nichts passieren.“

Mit einem Top, einer langen Sporthose und trockener Unterwäsche im Arm drehte ich mich zu Reena um, die mich mit verschränkten Armen ansah.

„Was?“

„Gar nichts, geh duschen aber komm schnell wieder, wir zwei haben ein Hühnchen zu rupfen.“

Herausfordern sah ich sie an, blieb dann direkt vor ihr stehen und sah sie dann mit schmalen Augen an, bevor ich beide Worte stark betonte.

„Vergiss es.“

Ohne ihr die Chance zu lassen mir zu widersprechen verließ ich mein Zimmer, ging den Flur runter und verschwand im Badezimmer. Meine Sachen ließ ich auf dem Hocker neben den Waschbecken fallen und ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich aussah als hätte ich stundenlang im Regen gestanden. Ich war blass, meine Haare waren von der ganzen Hektik und vom kalten Wasser ziemlich zerzaust und von meinen Klamotten wollte ich gar nicht reden. Ich hatte lange nicht so schlecht ausgesehen und ich hoffte inständig, dass es mir nach einer warmen Dusche besser ging. Etwas steif entledigte ich mich meiner Sachen und warf sie zum trocknen in die Badewanne, bevor ich in die gegenüberliegende Dusche stieg und das Wasser aufdrehte. Sofort hüllte mich eine wohlige Wärme ein und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ein paar Minuten lang konnte ich nichts tun als dort zu stehen und es einfach zu genießen. Erst als das Wasser begann abzukühlen, nahm ich mir Shampoo und wusch mir die Haare. Ich wollte die Dusche schon wieder verlassen, als mich das Gefühl der Einsamkeit überkam. Ohne darüber nach zu denken suchte ich nach den Fäden, die mich mit meiner Familie verbanden und griff gleichzeitig nach dem, der mich an Lucas Band. Sobald die Enden geknüpft waren jagte mir ein brennender Schmerz durch die Adern und ich bekam kaum noch Luft. Ich versuchte noch an der Wand Halt zu finden, rutschte aber auf den Resten des Schaums aus, schlug mir dann unsanft den Kopf an der Armatur an und landete am Boden der Duschkabine. Nur verschwommen sah ich, wie das Blut in den Ausguss sickerte und stellte erleichtert fest, dass es schon weniger wurde, als es lautstark an der Türe klopfte.

„Aeria, was ist passiert?“

Ich konnte die Stimme nicht zuordnen, mein Verstand war wie benebelt und das atmen fiel mir immer noch schwer.

„Aeria rede mit mir! Was ist los?“

Ich konnte Schritte den Flur entlang rennen hören und dann gesellte sich eine zweite Stimme zur ersten.

„Aeria mach die Tür auf.“

Diesen Befehlston kannte ich, nur leider konnte ich keine Folge leisten.

„Ich kann grade nicht.“

Mehr genuschelt als wirklich ausgesprochen kamen mir die Worte nur gepresst über die Lippen und schienen ungehört in der Luft hängen zu bleiben. Ein lautes Krachen überzeugte mich dann aber vom Gegenteil. Verschwommen konnte ich die Umrisse meiner Mutter vor mir hocken sehen. Was genau sie zu finden versuchte wusste ich nicht, genauso wenig wie ich verstand, wieso sie die Dusche wieder an stellte. Innerhalb weniger Sekunden prasselte kaltes Wasser auf mich herab und kühlte mich ab. Mit zunehmender Abkühlung fiel mir das denken und auch das atmen wieder leichter, ebenso wie es die lähmende Hitze stillte.

„Nimm meine Hand.“

Mit zitternden Fingern ergriff ich die Hand meiner Mutter und ließ mir helfen mich auf zu setzen. Erst nachdem sie sich versichert hatte, dass ich wieder klar denken konnte sah sie mich eindringlich an und drückte meine Hand.

„Sehr gut und jetzt will ich, dass du versuchst die Verbindung zu Lucas in den Hintergrund zu drückst. Du sollst sie nicht kappen, du sollst sie einfach nur eingrenzen.“

Ich brauchte einen Moment bis ich verstand, was sie von mir verlangte und versuchte es dann, allerdings mit nur mäßigem Erfolg.

„Aeria, das war keine Bitte sondern ein Befehl.“

„Ich versuche es doch!“

„Mach die Augen zu und entspann dich... So und jetzt will ich, dass du es kontrollierst. Du musst ihn wissen lassen dass du da bist, darfst ihn aber nicht rein lassen. Verstanden?“

Mit geschlossenen Augen nickte ich zustimmend und wandelte die beidseitige in eine einseitige Verbindung um. Sobald ich Lucas ausgeschlossen hatte ließ das brennen nach und ich fand wieder zu Atem. Alles was von meinem plötzlichen Anfall übrig blieb, war meine leicht erhitze Haut, als meine Mutter das Wasser wieder abstellte.

„Was war das?“

Fragend sah sie mich an und legte mir dann eine Hand auf die Stirn.

„Das fragst du mich?“

„Das fühlte sich an wie damals, als ich in diesen Salbeistrauch gefallen bin, nur um einiges schlimmer.“

„Und jetzt ist es weg?“

„Nicht ganz weg, aber nur noch leicht. Mir brummt der Schädel, aber das kann auch von der Platzwunde herrühren.“

Vorsichtig betastete ich meinen Hinterkopf. Es tat immer noch weh, heilte aber schon ab, in ein paar Stunden würde davon nichts mehr zu sehen sein.

„Hier.“

Schon zum zweiten mal wurde mir heute eine Hand zusammen mit einem Handtuch angeboten und erneut ließ ich mir aufhelfen und wickelte mich in das Handtuch ein.

„Woher wusstest du, woher es kommt?“

Im gleichen Moment, in dem ich die Frage stellte, dämmerte es mir und ich beantwortete sie selber.

„Er hat genauso reagiert, als Kelleth ihm seine Essenz aufgezwungen hat.“

Nickend schloss meine Mutter die Türe so gut es in dessen momentanem Zustand ging, versicherte sich aber vorher, dass sonst niemand zuhörte.

„Ist dir irgendetwas an Lucas aufgefallen in den letzten Wochen. Irgendetwas eigenartiges? Hat er sich anders benommen oder sich mit Leuten umgeben, die er sonst gemieden hat?“

„Nein, er war wie immer.“

„Dann hat er es nicht gewusst.“

Sie sah gleichzeitig erleichtert und dann noch beunruhigter als vorher aus. Dass sie ihre Stimme senkte, ließ mein ungutes Gefühl nicht grade weniger werden.

„Was wusste er nicht?“

Anstatt mir auf meine Frage zu antworten lief meine Mutter nervös im Bad auf und ab und wandte sich dann erst wieder mir zu.

„Egal was passiert, du darfst ihn nicht aus den Augen lassen. Pass auf ihn auf. Du hast entweder etwas übersehen oder hast es nicht zur Kenntnis genommen, aber irgendetwas ist dir durch die Lappen gegangen.“

„Willst du jetzt sagen, dass das alles meine Schuld ist?“

„Nein, ich will damit sagen, dass du aufpassen sollst. Irgendwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu und ich werde nicht zulassen, dass auch nur irgendetwas davon an unsere Familie heran kommt. Zieh dich an und geh in dein Zimmer, wir reden darüber, wenn Lucas wieder bei Bewusstsein ist, ich hab ein paar Fragen die er beantworten muss. Sag mir sofort Bescheid wenn er wach ist.“

Ich nickte nur als sie sich umdrehte, dann aber noch mal inne hielt.

„Und ich will nicht, dass du den anderen gegenüber auch nur ein Wort darüber verlierst. Sie sollen sich nicht unnötig Sorgen machen.“ Damit ging sie und ließ mich alleine im Badezimmer zurück.

„Na toll.“

Mit einer Hand hielt ich das Handtuch fest und mit der anderen rieb ich mir durch die Augen. Ich spürte wie sich Kopfschmerzen anmeldeten und ich war nicht gewillt sie sich ausbreiten zu lassen, deswegen trocknete ich mich in schnellen Zügen ab, zog mich an und fuhr mir ein paar mal schnell durch die Haare um sie wenigstens ansatzweise in Ordnung zu bringen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, aber ich hatte grade durchaus andere Sorgen. Das nasse Handtuch warf ich zum Rest meiner Sachen in die Wanne und verließ das Bad.

In meinem Zimmer angekommen wartete bereits eine sehr besorgt aussehende Reena.

„Was ist passiert?“

Ich winkte ab und ließ mich auf das Kissen vor dem Bett fallen.

„Nichts, ich bin nur weg gerutscht und hab mir den Kopf an gehauen.“

Und das war noch nicht mal gelogen, dummerweise nahm sie mir das nicht ab.

„Sicher, und davor? Was hast du gemacht?“

Von unten herauf sah ich Reena an und schwieg. Das gefiel ihr natürlich nicht.

„Na klar, sie hat dich zu Schweigen verpflichtet. Dann erzähl ich dir etwas. Egal was Mum getan hat, sie muss jemandem gewaltig damit auf die Füße getreten sein.“

„Wie kommst du darauf, dass es was mit Mum zu tun hat?“

„Ich bitte dich Ria, ich bin weder taub noch dumm. Du weißt was Sie gemacht hat, bevor sie uns bekam. Sie wird sich irgendwo ziemlich unbeliebt gemacht haben und jetzt will ihr jemand die Rechnung stellen. Ich weiß zwar nicht wieso, aber dieser jemand scheint es wohl für nötig zu halten Lucas da mit rein zu ziehen. Woher dieser Jemand allerdings weiß was er ist, ist mir schleierhaft, ich dachte die ganze Zeit, wir hätten das erfolgreich tot geschwiegen.“

„Wohl doch nicht so erfolgreich wie wir dachten. Und wieso grade jetzt? Wenn das schon so lange her ist, wieso dann nicht schon viel früher?“

„Du bist die angehende Alpha, sag du es mir.“

Da musste ich nicht lange drüber nachdenken.

„Weil es viel schlimmer ist zwei Würfe zu verlieren, als ein angehendes Rudel.“

„Und wie schafft man das besser, als mit einem Jungen wie Lucas, der eine Verbindung zum Rudel hat. Man pumpt ihn mit Salbei voll, keiner merkt etwas und dann wartet man, bis die Bombe hoch geht.“

„Aber woher sollte Jemand wissen, wie wir auf Salbei reagieren und dass Lucas eine Verbindung zu uns hat, wobei das ja noch nicht mal das Rudel weiß und 'zu uns' ja nicht ganz richtig ist.“

„Keine Ahnung, der Punkt ist, dass es jemand zu wissen scheint. Und zu der Erkenntnis scheine nicht nur ich gekommen zu sein.“

Wohl oder übel musste ich ihr da zustimmen.

„Und jetzt?“

„Tun wir was sie sagt und warten, bis er aufwacht. Etwas anderes können wir wohl nicht tun.“

„Na toll, ich hasse so was.“

Frustriert ließ ich den Kopf rücklings aufs Bett fallen und bereute es gleich, als es mir auf die Platzwunde drückte. Mit zu gekniffenen Augen drehte ich den Kopf in Richtung Kopfende, wobei mir beim öffnen der Augen Luc's zitternde Hand ins Auge fiel. Reena zog die Decke darüber bevor ich reagieren konnte und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sie.

„Ich hol uns was zu essen, du siehst aus als könntest du das gebrauchen.“

Und das konnte ich wirklich. Ich fühlte mich ziemlich ausgebrannt nach den letzten Geschehnissen und war nicht bereit, mangels Energie einfach einzuschlafen.

„Gute Idee.“

„Weiß ich, kommt ja auch von mir. Bin gleich zurück.“

Ich konnte ihr verschmitztes Grinsen sehen, bevor sie mein Zimmer verließ und ich kam nicht umhin zurück zu grinsen. Ich wäre in diesem Moment gerne so sorglos gewesen wie sie, stattdessen lud ich mir die Schuld der heutigen Ereignisse auf die Schultern, obwohl es vielleicht nicht mal meine Schuld war.

Seufzend kletterte ich vom Boden auf die Bettkante und zog die Bettdecke ein wenig beiseite, um freie Sicht auf Lucas' Gesicht zu bekommen. Er atmete tief aber viel zu schnell um wirklich zu schlafen und es waren nicht nur seine Hände die zitterten. Als ich ihm die Haare aus den Gesicht strich, war seine Haut unter meinen Fingern viel zu warm und schweißbedeckt und ich konnte mir ziemlich gut vorstellen was grade in ihm vorging. Er hatte mir vertraut und ich blöde Kuh hatte ihn hier rein gezogen. Ich kam mir ziemlich egoistisch vor, denn ich hatte nicht gelogen, als ich gesagt hatte, dass ich schon immer etwas für Luc übrig gehabt hatte und das ich wollte, dass er sich besser fühlte damit ich das auch konnte. Schon damals war ich von diesem kleinen blonden Jungen fasziniert gewesen und er hatte bis heute nichts von seinem Reiz verloren. Er war zwar jetzt eher dunkel- als hellblond und mittlerweile mit seinen einsfünfundsiebzig gute fünf Zentimeter größer als ich, was damals nicht der Fall gewesen war, aber das hatte mein Interesse nicht geschmälert, ebenso wie die Tatsache, dass er trotz oder vielleicht sogar wegen seines Wachstumsschubs schmal geblieben war. Er war schon lange nicht mehr so dünn wie damals, im Gegenteil, er schien an den richtigen Stellen Muskeln aufgebaut zu haben und er machte definitiv keinen schwachen Eindruck, auch wenn man das nicht unbedingt auf den ersten Blick erkannte. Ich wusste schon, wieso Kelleth so eine Angst vor ihm hatte, trotzdem konnte ich nur darüber lachen, denn im Gegensatz zu Kelleth wusste ich, dass Luc niemandem Schaden würde, vermutlich nicht einmal, wenn derjenige es verdient hätte, dafür war er viel zu gutgläubig. Und nun lag dieser Junge in meinem Bett.

Als ich ihm mit den Fingern über die Wange strich musste ich mir auf die Lippe beißen um mich wieder von ihm los zu reißen und mich wieder auf das Kissen auf dem Boden gleiten zu lassen. Dabei kam ich nicht umhin die Finger unter die Decke gleiten zu lassen, um nach seiner Hand zu greifen und sie fest zu halten. Den anderen Arm legte ich aufs Bett und legte den Kopf darauf. Nur für einen Moment wollte ich die Augen schließen um ein wenig auszuruhen.

Dummerweise entschied Reena sich genau für den Moment, um wieder ins Zimmer zu kommen.

„Du hast doch wohl nicht deine Hand da unter der Decke? Vergiss es, war nur Spaß, du musst nicht gleich rot werden.“

Ich weigerte mich die Augen zu öffnen, den Kopf zu heben oder meine Hand unter der Decke heraus zu ziehen, blöderweise konnte ich mich nicht dagegen wehren, wirklich rot zu werden. Reena wechselte das Thema und dafür war ich ihr dankbar.

„Hier du solltest etwas essen bevor du einschläfst.“

Schon als Reena herein gekommen war, war mir der Geruch von Lasagne in die Nase gestiegen aber jetzt, wo Reena mir den Teller direkt vor die Nase stellte wurde der Duft übermächtig und mein Magen begann lautstark zu knurren. Ich öffnete die Augen und musste Lucas dann widerwillig loslassen, nahm den Teller vom Bett und stellte ihn auf meinem Schoß ab, als ich mich mit dem Rücken ans Bett lehnte.

„Die riecht verdammt gut. Wer hat die gemacht?“

„Kelleth, bevor er gegangen ist. Wohin er wollte hat er nicht gesagt. Er ist einfach zur Tür raus und weg war er.“

Natürlich hatte er nichts gesagt. Er würde nie zugeben, dass er Sachen für Lucas besorgen musste.

„Na dann, guten Hunger.“

Wir stießen mit den Gabeln an und machten uns dann jede für sich über die Lasagne her. Man konnte über Kelleth sagen was man wollte, aber kochen konnte er.

Ich ließ mir extra Zeit mit dem essen, da ich wusste, was auf mich wartete, wenn ich fertig war. Oder zumindest ahnte ich, dass Reena nicht gehen würde, bevor sie wusste, was sie wissen wollte. Um das ganze noch weiter in die Länge zu ziehen, was auch immer es war, kratze ich sorgfältig den Teller leer, behielt die Gabel im Mund und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Sie beobachtete mich genau und schüttelte mit dem Kopf.

„Willst du nicht noch den Teller ablecken?“

Mit quälender Langsamkeit zog ich die Gabel aus dem Mund und deutete dann damit auf Reena.

„Hält dich das davon ab, das Hühnchen zu holen, das du noch mit mir rupfen willst?“

„Nicht wirklich, ich bin geduldig, weißt du ja.“

„Leider, ja.“

Aber das konnte ich auch. Ohne große Idee begann ich mit der Gabel auf dem Teller herum zu malen und gestaltete die restliche Soße zu einem meiner größten Kunstwerke, das sich vermutlich wie alle anderen nicht verkaufen lassen würde, während ich mir immer wieder mit der Gabel an die Unterlippe tippte. Und ich kratzte so lange über den Teller, bis Reena mir sowohl Gabel als auch Teller weg nahm, beides weg stellte und ich sie verschmitzt anlächelte.

„Gibst du schon auf?“

„Ja hast gewonnen und jetzt fang an zu erzählen. Wie war es?“

„Wie war was?“

„Ria ich bitte dich. Luc, du, euer Kuss?“

Genau das hatte ich befürchtet. Ich schnaufte, sah sie an und wollte dann zum reden ansetzen, wusste aber nicht was ich sagen sollte. Stattdessen schüttelte ich mit dem Kopf, zuckte die Schultern und konnte nur lächeln. Alleine der Gedanke an den Kuss, so kurz er auch leider nur gewesen sein mochte, ließ es mir warm uns Herz werden. Es klang wie ein Klischee, ich weiß, aber es hatte sich gut angefühlt, richtig, vor allem weil ich gespürt hatte, dass Luc genauso empfunden hatte. Und dann war es wieder vorbei gewesen. Und das einzige was mir in dem Moment Leid getan hatte war, dass ich es nicht schon viel früher getan hatte.

Ich warf einen Blick über die Schulter in Luc's Richtung, bekam aber nicht viel von ihm zu sehen und wandte mich dann wieder an Reena.

„Verlangst du das wirklich von mir?“

Wissend schüttelte sie den Kopf und deutete dann auf Lucas.

„Nein, das zu fühlen hat mir schon gereicht. Aber ich will wissen wie es jetzt weiter geht? Du musst ihm so einiges erklären, denn ich will am Wochenende nicht erklären müssen, wieso mein zukünftiger Schwager schreiend weggerannt ist, weil er grade heraus gefunden hat was wir sind.“

Bei Schwager hatte es bei mit aufgehört.

„Schwager?“

„Ja natürlich, was denkst du denn? Du willst ihn nicht wirklich wieder weg schicken, wenn sich das alles hier geklärt hat.“

Als ich darauf schwieg, tippte sie sich mit dem Zeigefinger vor die Stirn.

„Bist du bescheuert? Damit überlässt du Kelleth das Feld, Lucas brichst du das Herz und du bist bis an dein Lebensende unglücklich. Das kannst du nicht wirklich wollen.“

„Weißt du wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht was ich will. Klar, ich hab so lange auf diesen Moment hin gearbeitet, aber ich weiß nicht weiter.“

„Ach und du meinst, da du es jetzt geschafft hast, kannst du es einfach weg werfen?“ „Nein, das meine ich doch gar nicht. Ich...“

„Das hört sich aber schwer danach an, Ria.“

„Das ist aber nicht wahr und das weißt du!“

„Ach ja? Das einzige was ich weiß ist, dass du dich verändert hast. Du hast dich über die letzten Wochen vom Rudel abgekoppelt und jetzt bist du wieder da und ich erkenne dich gar nicht wieder. Ich dachte ich wüsste was in dir vorgeht, auch ohne eine Verbindung zu dir zu haben, ich dachte du hättest mir wenigstens erzählt was los ist, aber da hab ich mich wohl ganz offensichtlich getäuscht.“

Ich konnte Reena's Enttäuschung spüren, mehr als deutlich und mir entging nicht, dass sie ebenso gekränkt war. Ohne ein weiteres Wort schnappte sie sich die Teller vom Boden und stand auf. Sie hatte schon die Türe erreicht, als ich aufsprang und sie an der Schulter zu fassen bekam.

„Reena warte, bitte.“

„Nein, vergiss es einfach. Du willst dir nicht helfen lassen, dann mach es eben alleine.“

„Reena...“

Ich wollte sie zurück halten, aber sie ging einfach. Sie ließ mich stehen und zog die Türe etwas zu kräftig hinter sich zu, sodass ich zusammen zuckte. Lucas hingegen bekam von alledem nichts mit. Frustriert und meinerseits verletzt ließ ich mich auf das Kissen vor dem Bett fallen, zog die Beine vor die Brust, kreuzte die Arme darauf und vergrub das Gesicht hinter den Armen. Wieso war das jetzt innerhalb von wenigen Sätzen so aus dem Ruder gelaufen? Ich war mir nicht ganz sicher, aber hatte ich hauchzart das Gefühl von Eifersucht von Reena empfangen? Irgendwie schien mir das absurd, aber ich wollte nichts ausschließen. Momentan kam von ihrer Seite nur Frustration, Enttäuschung und das Gefühl verletzt worden zu sein. Mir ging es nicht viel anders. Schon wieder voll vergessen ließ ich den Kopf aufs Bett fallen und wimmerte kurz auf, als die Platzwunde auf dem Bett aufschlug und mir der Schmerz durch den Schädel flammte. Genau, da war ja was. Tief atmend drehte ich den Kopf zur Seite um die Wunde zu entlasten und schloss die Augen, um den Kopfschmerz zu verdrängen. War ich froh wenn die Wunde wieder verheilt war.

 

 

Als das Feuer in meinen Adern bis in meine Träume vordrang, schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Ich brauchte ein paar Sekunden um zu begreifen, dass ich fieberte und zitterte, der steife Nacken rückte in Anbetracht der Schmerzen in meinen Gliedern vollkommen in den Hintergrund. Ein schneller Blick auf Lucas zeigte, dass es ihm nicht viel besser ging als mir, im Gegenteil, er wälzte sich wie wild hin und her und schien gleich aufspringen zu wollen. Mit Mühe und Not konnte ich verhindern in Panik zu geraten, raffte mich auf und griff unter seine Decke. Die Kühlpacks waren allesamt warm. Verdammt. Hastig sah ich mich im Zimmer um und fand den Korb, in dem Reena und Thrane zuvor die Kühlpacks her gebracht hatten, packte diese wieder hinein und eile den Gang runter, die Treppe hinab und in die Küche. Dort fand ich Fay vor, die erst erstaunt und dann besorgt drein blickte, als ich die Türe auf stieß und zur Tiefkühltruhe taumelte. Auf dem Weg dort hin stolperte ich beinahe über die Kante einer Fliese (war die schon immer da gewesen?) und da nahm sie mir den Korb ab.

„Was ist passiert? Du siehst ziemlich angeschlagen aus.“

Widerstrebend ließ ich sie mit dem Korb gewähren und machte mich daran, die Kühlbeutel auszutauschen.

„Alles gut, ich muss nur...“

Den Rest des Satzes ließ ich unausgesprochen. Erstens, weil es offensichtlich war was ich tat und zweitens, weil mir das reden und schon nur das fassen eines klaren Gedankens ziemlich schwer fiel. Ohne weiter darauf ein zu gehen half Fay mir beim tauschen der Beutel und drückte mir dabei einen der kalten in den Nacken. Als ich diesen zu den anderen in den Korb legen wollte, hinderte sie mich daran und sah mich ernst an.

„Lass den im Nacken liegen, auf den einen kann er wohl verzichten. Außerdem kannst du Lucas nicht helfen indem du dich selber ins Aus schießt.“

Ich wollte ihr widersprechen, aber sie hatte Recht. Außerdem half die Abkühlung im Nacken ziemlich auffallend. Meine Sicht wurde wieder klarer, das zittern wurde weniger und das Feuer in meinem inneren ließ etwas nach, ebenso wie meine Körpertemperatur. Ich atmete tief durch und richtete mich dann gerade auf, ließ es aber zu, dass Fay mir den Korb mit den Kühlpacks erneut ab nahm. Schweigend verließen wir die Küche, eilten wieder nach oben in mein Zimmer und deckten Lucas mit den kalten Beuteln ein. Erst nachdem er das zittern eingestellt hatte und ich mir durch die Verbindung sicher war, dass er wieder der Situation entsprechend in Ordnung war, erlaubte ich es mir, erleichtert auf zu atmen und erst dann sah Fay mich wieder an.

„Alles klar?“

„Ja, er scheint wieder stabil zu sein.“

„Und bei dir?“

Darauf nickte ich und ließ mich schließlich auf das Kissen fallen.

„Ich bin eingeschlafen. War wohl nicht so gut.“

„Wir hätten gewusst was los ist, aber deine Verbindung zum Rudel war unterbrochen.“

Das 'mal wieder' sprach sie nicht aus, aber es war überdeutlich zu hören. Seufzend ließ ich den Kopf in die Hände fallen und legte dann die Stirn auf die angezogenen Knie.

„Ja, aber nicht mit Absicht. Es ist... Er. Er unterdrückt die anderen Verbindungen. Ich muss im Schlaf wohl irgendwie...“

Vage deutete ich auf Lucas und ließ den Rest des Satzes verklingen.

„Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Nicht vor mir und vor niemandem sonst. Außer vielleicht vor Mum. Aber die weiß wie es ist, sie weiß worum es geht und sie weiß was momentan vor sich geht. Wir sind momentan alle ziemlich ahnungslos und ich befürchte, sogar Mum ist sich nicht bei allem hundertprozentig sicher. Wir müssen einfach das beste aus der Situation machen.“

„Erzähl das nicht mir.“

„Reena kriegt sich schon wieder ein.“

Gut, dass Fay wusste was ich meinte, ohne dass ich mit dem Finger darauf zeigen musste.

„Sie ist sauer.“

„Sie ist nicht sauer Ria.“

„Doch sie ist stinksauer und gekränkt. Ich weiß nur leider nicht wieso.“

Und ich wusste es wirklich nicht. Ich konnte leider nur mutmaßen, aber ich war mir fast sicher, dass es daran lag, dass ich versehentlich die Verbindung zu ihr und zum Rudel wieder unterbrochen hatte.

„Nein sie ist nicht sauer Ria. Sie ist... sie weiß einfach nicht weiter. Sie versucht dir zu helfen, aber du lässt sie nicht.“

„Sie versucht mir zu helfen?“

„Ja, aber sie weiß langsam nicht mehr weiter. Sie hat mich und sogar Gwynn um Rat gefragt. Kannst du dir das vorstellen? Gwynn.“

„Gwynn. Die Gwynn? Die Gwynn, die mit fünf schon wusste, dass sie das Rudel verlässt um an der Akademie zu unterrichten?“

Jetzt wusste ich auch, wo der Spruch mit dem irrationalem Verhalten her kam.

„Ja Gwynn, aber darum geht es nicht. Du sperrst Reena aus und das irritiert sie, sie weiß nicht wo hin mit sich, wenn sie niemanden hat, dem sie folgen kann. Wenn sie dir nicht folgen kann. Du weißt, dass sie sich eher die Finger abnagen würde, als sich auch nur hinter Kelleth zu stellen und trotzdem überlasst du sie sich selbst.“

Ich wollte zum sprechen ansetzen, Fay erklären, dass das alles keine Absicht sei, aber sie ließ mir nicht mal Zeit zum Luft holen.

„Auch wenn du das nicht mit Absicht tust. Sie fühlt sich alleine gelassen und wenn du das ändern willst, solltest du vielleicht mit ihr reden. Sie ist noch auf, ich war eben noch bei ihr. Ich kann solange hier bleiben und aufpassen wenn du willst.“

Das 'wenn du willst' war mehr Höflichkeit, als dass sie mir wirklich die Wahl ließ. Denn Fay würde mich zur Türe hinaus schieben und sie von innen verriegeln, wenn ich nicht freiwillig ging. Deswegen und wegen meines schlechten Gewissens ergriff ich ihre Hand und ließ mir von ihr auf helfen. Ohne zögern ließ Fay sich auf meinem Platz vor dem Bett nieder und nahm sich mein Buch vom Nachttisch. Ich schüttelte darüber nur den Kopf, warf dann noch einen Blick auf Lucas und ließ mich dann verjagen.

„Er ist auch noch hier wenn du wider kommst und jetzt geh.“

Fay schaute nicht zu mir auf, stattdessen starrte sie zwanghaft in das Buch und wich mir aus. Sie war klug, das musste ich ihr lassen. Allerdings wussten wir beide, dass ich nicht auf mir sitzen lassen würde, das sie mich rum kommandierte.

Widerwillig verließ ich mein Zimmer und zog die Türe mit einem leisen klicken hinter mir zu. Bedauerlicherweise war der Weg zu Reena's Zimmer zwei Türen weiter nicht im entferntesten lang genug, um mir zu überlegen, was ich sagen wollte. Ich wusste nicht einmal wie ich anfangen sollte, da stand ich schon vor ihrer Türe und klopfte an, um sie dann doch einfach leise zu öffnen.

„Hey, darf ich rein kommen?“

Reena saß auf dem Bett, hatte die Beine angewinkelt aufgestellt und einen Zeichenblock auf den Oberschenkeln. Sie hob nicht mal den Kopf als sie antwortete.

„Was hält dich davon ab?“

Ich seufzte vernehmbar, brachte es dann aber nicht über mich, ihr ebenfalls eine patzige Antwort zu geben. Ich betrat nur ihr Zimmer und schloss die Türe hinter mir, nur um dann schweigend und vergeblich auf eine Reaktion zu warten. Da Reena nicht vor zu haben schien zu antworten, versuchte ich einen vagen Vorstoß.

„Was zeichnest du?“

„Ist doch egal.“

Wieder entkam mir ein seufzen und ich rieb mir müde durchs Gesicht.

„Reena, hör zu, ich...“

„Lass stecken, schon okay.“

Reena klang plötzlich mindestens genauso müde wie ich mich fühlte. Als sie dann schließlich auf sah und mit dem Kopf schüttelte, bildete sich ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen. Sie versuchte es im Keim zu ersticken, aber ihre Augen sprachen Bände.

„Reena es tut mir Leid, wirklich. Wie das alles läuft und... Ich weiß nicht wo mir der Kopf steht. Ich weiß nicht was ich tun soll, ich weiß ja nicht mal was ich denken soll. Es ist alles so viel grade.“

„Du bräuchtest doch einfach nur mit mir reden.“

Schnaubend schlug Reena den Block zu, legte ihn beiseite und legte den Bleistift darauf.

„Sag mir wann du das letzte mal darauf gehört hast, als Mum gesagt hast, du sollst nicht über die Dinge reden. Du hast mir immer alles erzählt, selbst wenn sie es verboten hatte. Ausdrücklich verboten hatte.“

„Ich wollte ja, aber ich wusste nicht wie.“

Ich wollte mich eigentlich irgendwie erklären, aber Reena ließ nichts anbrennen und fuhr einfach fort.

„Es hat schon vor Wochen angefangen oder? Das mit Luc? Du hast die Verbindung zu ihm schon vor Wochen wieder aufgefasst und hast mir nichts erzählt. Und als er anfing uns anderen zu unterdrücken hast du ihn sogar noch in Schutz genommen. Du hast mir erhobenen Hauptes ins Gesicht gelogen.“

Wie ich so dort an der Tür stand, kam ich mir ziemlich verloren vor und unter ihrer Anschuldigung sah ich betreten zu meinen Füßen hinunter.

„Es tut mir Leid.“

„Das will ich auch schwer hoffen. Du weißt, dass ich immer an deiner Seite stehe, aber du hast es trotzdem nicht für nötig gehalten mit mir zu reden. Hast du eine Ahnung wie sich das anfühlt?“

Ich sah auf und sah grade noch das Kissen kommen, welches Reena in meine Richtung warf. Ich blieb fairerweise stehen und bekam es voll ins Gesicht. Immerhin hatte ich es verdient.

„Tut mir Leid.“

„Wenn du dich noch einmal entschuldigst kommt noch mehr geflogen, aber das ist dann nicht so weich und flauschig wie das Kissen.“

„Du hättest auch so gutes Recht dazu.“

„Und deine Autorität untergraben? Nein danke. Wenn ich führen wollte, müsste ich nicht darauf warten, dass du es verbockst.“

Und das wussten wir beide.

Ich rang mir ein gequältes Lächeln ab, während ich das Kissen aufhob, es aufs Bett warf und mich dann auf die Bettkante setzte.

„Aber es tut mir wirklich Leid. Du...“

Mit mehr Wucht als beim ersten mal traf mich das Kissen dieses mal am Hinterkopf und ich war froh, dass die Wunde schon so gut wie verheilt war, denn ansonsten hätte das ziemlich weh getan. So spürte ich nur ein leichtes ziehen und fuhr ansonsten unbeirrt fort.

„... hattest Recht, ich hätte mit dir reden sollen. Allerdings habe ich zu meiner Verteidigung zu sagen, dass ich nicht mal bei Mum das Gefühl hatte ihr etwas sagen zu müssen und ich muss eingestehen dass mir das im nach hinein auch sehr suspekt vorkommt.“

„Wir sind davon ausgegangen du versuchst dich vom Rudel los zu sagen. Dass du deswegen die Verbindung unterdrückst und dich zurück ziehst.“

„Aber es war nicht beabsichtigt. Weder die unterbrochene Verbindung noch die Verschwiegenheit.“

„Du meinst, dass dich jemand dazu gedrängt hat, so zu handeln? Das klingt nach einer Verschwörungstheorie.“

„Davon gehen wir momentan aus, ja.“

Auch wenn wir es nicht wirklich ausgesprochen hatten.

„Und was passiert, wenn sich das bewahrheitet?“

„Hat sie nicht gesagt. Nur, dass sie mit Lucas reden will wenn er aufwacht.“

Ich wollte es ignorieren, aber die entstehende Pause kündigte an, dass Reena wieder zu dem Thema schwenkte, was ich eigentlich vorerst zu vermeiden versuchte.

„Redest du auch mit ihm, sobald er wieder aufnahmefähig ist?“

Seufzend kletterte ich auf Reena's Bett, lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und den Kopf an Reena's Schulter.

„Ich hab keine Ahnung, wie ich es ihm erklären soll. Aber vor allem hab ich panische Angst davor, wie er reagiert.“

„Vielleicht solltest du ihm die Dinge einfach so dar legen wie sie sind. Lass es ihn nicht selber heraus finden, das würde ihn viel eher verschrecken.“

„Kannst du mir auch sagen wo ich da anfangen soll?“

„Nein leider nicht, aber du solltest vielleicht die erste Gelegenheit ergreifen die sich bietet. Je eher du ihn aufklärst, umso besser. Wenn du es aufschiebst machst du es nur schlimmer.“

„Vielen Dank für den Rat, das habe ich selbst nicht gewusst.“

Die Ironie in meiner Stimme war nicht zu überhören, woraufhin Reena entschuldigend die Hände hob.

„Sorry, ich versuche zu helfen wo ich kann, aber ich bin leider nicht allwissend.“

„Und deswegen fragst du Fay und Gwynn um Rat?“

Die Schulter an die ich mich anlehnte zuckte kurz.

„Ich kann nicht nichts tun. Du weißt ja wie das ist.“

Ich nickte. Da musste ich ihr zustimmen. Und genau deswegen musste ich mit Lucas reden, wie auch immer die ganze Sache ausgehen würde. Vielleicht bekam ich ihn ja irgendwie dazu mir zuzuhören, bis ich ihm alles erklärt hatte. Ich war vermutlich naiv zu glauben, dass er nicht wegrannte und ich musste verdammt gutgläubig sein, mich ihm anzuvertrauen. Bei der Göttin, ich wollte überhaupt nicht daran denken, dass es irgendetwas anderes als gut werden würde, ich wollte überhaupt nicht glauben, dass Lucas gehen und mir den Rücken kehren würde, aber irgendwie...

„Er wird mich hassen.“

„Ach was, er wird dich nicht hassen.“

„Er wird mich für ein Monster halten.“

„Du solltest vielleicht damit anfangen ihm zu erklären was ER ist, dann wird ihm egal sein, was du bist.“

„Na vielen Dank auch.“

„Nein, so war das nicht gemeint, blöde Kuh. Du tätest gut daran dich damit zu befassen, wenn es soweit ist. Sich vorher einen Kopf darum zu machen was du sagst oder nicht sagst bringt ohnehin nichts, da es eh immer anders kommt. Denk drüber nach, wenn es soweit ist.“

Schweigend nahm ich den Kopf von ihrer Schulter und starrte sie lange an, bevor ich sprach.

„Was meinst du was ich versuche? Aber dann kommst du daher, willst Antworten von mir, über die ich mir noch überhaupt keinen Kopf machen will und dann kommen diese ganzen Gedanken, ich weiß nicht was ich machen soll und ich habe Angst es zu vergeigen.“

Mit zusammen gebissenen Zähnen zog ich die Knie ran, schlang die Arme darum und vergrub das Gesicht hinter meinen Armen. Ich konnte das Mitgefühl spüren, dass von Reena aus ging und auch Fay schien der Meinung zu sein, mir ihr Mitleid zuteil werden zu lassen, allerdings machte es das nicht wirklich besser, ganz im Gegenteil. Im Moment wollte ich einfach nur vor Frustration schreien, aber stattdessen ließ ich mich von Reena in den Arm nehmen und lehnte mich schließlich wieder an ihre Schulter.

„Er wird dich nicht hassen Ria. Klar, er wird daran zu knabbern haben, aber er kann dich nicht hassen.“

„Ach ja und wieso bist du dir da so sicher?“

Einen Moment lang schwieg Reena und ich dachte schon, sie würde nicht antworten, aber dann seufzte sie.

„Hier, ich will dir was zeigen.“

Zögernd griff Reena neben sich und nahm sich ihren Block, bevor sie mich skeptisch ansah. Ich wusste, dass das Bild nicht fertig sein konnte da ich unerwartet herein geplatzt war und ich wusste, dass sie ihre Zeichnungen nicht gerne preis gab wenn sie nicht fertig waren, trotzdem wusste ich es zu schätzen, dass sie hier eine Ausnahme machte. Sie öffnete den Block zögernd, legte ihn auf ihre Beine und drehte die Zeichnung in meine Richtung, während ich zu begreifen versuchte, was und dann wieso sie das gezeichnet hatte. Verdutzt sah ich erst Reena und dann wieder das Bild an. Es sah keineswegs aus, als wäre es nicht fertig, aber Reena hatte vermutlich noch einen letzten Schliff vorgesehen. Aber es war auch nicht das, was diese Welle an Gefühlen aufwühlte, es war das Bild an sich. Es zeigte Luc und mich, wir standen im Flur vor den Umkleiden dicht aneinander gedrängt da, ich hatte ihm die Arme um die Mitte gelegt, während er eine Hand auf meinem unteren Rücken und eine in meinem Nacken ruhen ließ. Er hielt mich fest, er küsste mich und sein Gesicht schrie förmlich, dass er mich liebte. Es trieb mir beinahe die Tränen in die Augen und sorgte dafür, dass sich mir ein Knoten in der Magengegend bildete.

„Wieso zeichnest du das?“

„Ich dachte du brauchst vielleicht etwas greifbares, dass dich daran erinnert, was du fühlst.“

Reena zuckte nur mit der Schulter, aber sie hatte verdammt Recht und ihr Ziel keineswegs verfehlt. Denn wenn ich die Zeichnung sah, flammten die Gefühle ohne Verzögerung wieder auf und ich fühlte, wie Wärme in mir aufstieg.

„Deswegen wolltest du, dass ich dir davon erzähle.“

„Was du alleine bei dem Gedanken daran gefühlt hast, hat schon gereicht, wie gesagt.“

Ach verdammt. Mein schlechtes Gewissen wuchs grade bis ins unermessliche. Sie wollte mir immer noch zur Seite stehen, obwohl ich sie so hatte stehen lassen. Ich fühlte mich schlecht. Ich hoffte, dass sie das grade fühlte.

„Du hättest das nicht machen müssen. Du solltest das nicht immer noch tun, nachdem ich dich hab sitzen lassen. Das fühlt sich vollkommen falsch an.“

„Mir bleiben nur zwei Dinge. Führen oder bedingungslos folgen. Außerdem bist du meine Schwester, was wäre ich denn, wenn ich meiner eigenen Schwester nicht helfen würde.“

Reena lächelte, aber ich konnte nur den Blick senken, woraufhin Reena mich so anstieß, dass ich beinahe umfiel.

„Zieh nicht so ein Gesicht, wir machen alle Fehler.“

„Ich sollte dir am Arsch vorbei gehen, ich bin eine schlechte Schwester und eine noch viel schlimmere Freundin.“

„Ach Quatsch! Du bist achtzehn. Zeig mir einen der in dem Alter schon alle Entscheidungen richtig getroffen hat. Wobei Richtig eine Sache der Definition ist.“

„Du hörst dich an wie Gwynn.“

„Na und, wenn es stimmt.“

„Du solltest zumindest sauer auf mich sein.“

„Oh und wie sauer ich bin. Du hast mich auf verlorenem Posten stehen lassen, das werde ich dir noch eine ganze Weile vorhalten. Du hast mir das mit Lucas verschwiegen und ich will schwer für dich hoffen, dass du jetzt über ihn nicht alles andere vergisst. Mir ist ja klar, dass ihr jetzt eine Menge Zeit miteinander verbringen werdet, aber lass mich nicht wieder außen vor, sonst werd ich wirklich richtig sauer.“

Ihre Stimme klang mahnend, aber ich konnte spüren, dass sie Angst davor hatte wieder von mir alleine gelassen zu werden. Und kam da wirklich Eifersucht zu mir durch? Ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, dass Reena eifersüchtig auf Luc sein könnte, aber anscheinend schien das der Fall zu sein.

„Ich weiß ja nicht mal was jetzt passiert. Mum wird es ganz sicher nicht gutheißen, dass wir ihn aufklären wollen und sie wird es vermutlich noch weniger begeistern, dass ich vorhabe mit Lucas zu gehen, wenn sie ihn nicht bleiben lässt.“

Mir war bewusst, dass Reena's Schweigen auf meinem Geständnis ruhte, aber sie wollte doch, dass ich sie mit ins Boot holte, also war ich ehrlich.

„Du bist zu jung um dich vom Rudel los zu sagen Ria, das hat sich in den letzten Stunden nicht geändert.“

„Mag sein, aber nicht zu jung um auszuziehen.“

„Und wo, denkst du, willst du hin? Du glaubst nicht ernsthaft, dass Mum dich einfach gehen lässt und dir dann auch noch eine Wohnung bezahlt.“

Zu der Erkenntnis war ich auch schon gekommen.

„Wohl oder übel werde ich da an meine Ersparnisse heran müssen und irgendwo werden wir drei dann schon was finden.“

„Ihr drei?“

Ich wusste nicht im geringsten, wieso Reena plötzlich so bleich war, warum sie mich so genau musterte und wieso sie sich so panisch anhörte. Als mir dann schließlich aufging, dass sie wirklich 'ihr' gesagt hatte, lief ich rot an.

„Mein Gott, Reena! WIR drei! DU, Lucas und ich! Man, du machst mich fertig, für wen hältst du mich denn!“

„Wir drei?“

„Natürlich, was denkst du denn! Ich lass dich bestimmt nicht hier und ich bin mit ziemlicher Sicherheit nicht... schwanger. Du bist unmöglich. Wie hätte ich das denn anstellen sollen? Ich fasse es nicht!“

„Sorry, aber du hast mich vorher mit keinem Wort erwähnt, woher soll ich da wissen, dass du mich in deine Pläne mit einbeziehst?“

„Du hast doch grade verlauten lassen, dass du auf Lebenszeit sauer wärst, wenn ich dich außen vorlasse. Nicht, dass ich das vorgehabt hätte.“

„Dann drück dich beim nächsten mal gefälligst deutlicher aus. Ist ja nicht meine Schuld, wenn du nur die Hälfte von dem aussprichst, was du denkst.“

Hätte ich es nicht besser gewusst hätte ich gesagt, Reena wäre frustriert. Aber in Wirklichkeit machte sie sich über mich lustig. Ebenso wie sie nicht mehr sauer auf mich war, was die Kissenschlacht bewies, die sie grade versuchte anzuzetteln. Sie schlug mir ein paar mal mit dem Kissen ins Gesicht, bevor ich es ihr weg nehmen konnte und es dann außerhalb ihrer Reichweite auf den Boden warf.

„Hör auf damit, das wird dir sonst Leid tun.“

„Ach ja?“

„Oh ja.“

Außerdem bildete sich grade ein ziemlich ungemütliches Gefühl in meiner Magengrube. Und es schien sich wohl in meinem Gesicht abzuzeichnen, denn Reena sah plötzlich ziemlich besorgt aus.

„Alles klar bei dir? Du sieht ein bisschen käsig aus.“

„Ja. Ja, alles okay. Ich muss nur...“

Ich ließ den Satz verklingen, weil ich nicht genau wusste was ich musste. Reena nahm mir das denken ab.

„An die frische Luft? Zurück in dein Zimmer? Gute Idee, lass uns gehen.“

Bevor ich etwas tun konnte war Reena vom Bett runter, hatte mich am Handgelenk hoch gezogen und steuerte mit mir auf die Türe zu. Auch als wir auf mein Zimmer zu steuerten wusste ich nicht genau, was Sie nun wirklich vor hatte und ich schaffte es nicht wirklich, einen klaren Gedanken diesbezüglich zu fassen. Der Drang zurück ins Zimmer zu kommen wurde urplötzlich übermächtig und ich erreichte meine Türe sogar noch vor Reena, obwohl sie mich erst hinter sich her gezogen hatte. Ich stieß die Tür auf, was Fay auf dem Boden erschrecken ließ und erst da beruhigte sich mein Herzschlag wieder. Luc lag seelenruhig im Bett und Fay hatte davor auf dem Kissen gesessen und gelesen, bevor ich sie aufgeschreckt hatte. Ich ließ mich neben ihr auf die Knie fallen und sank halb auf das Bett, suchte unter der Decke nach Lucas' Hand und ergriff sie, als ich sie fand, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ich nicht alleine war.

Erst ein paar Minuten später realisierte ich, dass mir frische Luft um die Nase wehte und dass Fay nicht mehr da war. Reena stand am offenen Fenster und beobachtete mich aufmerksam. Erst als ich mich von Luc löste um mich aufs Kissen zu setzen und mit dem Rücken ans Bett zu lehnen, stieß sie sich ab und ließ sich neben mir nieder. Mir entging dabei nicht, dass sie versuchte meinen Blick zu meiden.

„Du nimmst wieder Farbe an. Schätze du hast es überstanden.“

„Was zur Hölle war das und wieso weißt du, dass es vorbei ist?“

„Mum hat gesagt das ist normal. Sie hat es als Schübe bezeichnet, aber das halte ich für ziemlich unpassend. Ich glaube Zwänge würde es eher treffen. Grade im Anfang soll das ziemlich schlimm sein. Aber das legt sich mit der Zeit.“

„Ja ganz toll, aber was ist das jetzt genau?“

Reena zuckte mit den Schultern. Ich wusste, dass sie das tat um es herunterzuspielen, aber es machte mich fast wahnsinnig.

„Es ist dieser Drang in seiner Nähe zu bleiben. Mum hatte schon damals den Verdacht, dass du dich an ihn binden würdest und das hast du ja jetzt bestens bestätigt. Deswegen, hat sie mir gesagt, soll ich ein Auge auf dich haben und wenn der Fall der Fälle eintritt, sollte ich dafür sorgen, dass du einen klaren Kopf behältst und dich möglichst in seiner Nähe aufhältst.“

Mir fehlten die Worte. Hatte sie mir echt vorgeworfen, ich hätte ihr nicht alles erzählt?

„Ach. Und wann wolltet ihr mich vorwarnen? Wolltet ihr mich überhaupt einweihen? Und du. Du willst mir vorhalten, ich hätte dir etwas verschwiegen? Kehr erst mal vor deiner eigenen Türe.“

„Bitte, willst du dich jetzt echt darüber streiten, wer das Recht hat sich zu widersetzen und wer nicht? Mum hatte die vage Hoffnung, es würde nicht eintreffen, wenn sie dir nicht sagte, was sie dachte. Ich hab ihr gleich gesagt, das das nicht funktioniert, aber du weißt ja wie sie ist. Ich wollte es dir erzählen, ehrlich.“

Aber sie konnte nicht. Wir konnten uns noch so sehr auf den Kopf stellen, schlussendlich war das Wort unserer Eltern Gesetz, jeder Verstoß würde Konsequenzen nach sich ziehen.

Schnaubend nickte ich und dachte darüber nach. Ich musste irgendetwas tun, irgendetwas, um klare Fronten zu bilden. Ich konnte mich so sehr gegen die Vorschriften auflehnen wie ich wollte, selbst wenn es mir gelang, zog ich den kürzeren. Meine Mutter hatte mich trotz allem in der Hand und eigentlich wollte ich das Rudel weder verlassen, noch wollte ich führen, vor allem, weil ich nicht in der Lage war, dies zu tun, zumindest vorerst nicht. Nichts desto trotz musste etwas passieren. Mir ging dieses ständige hin und her und vor allem diese Verschwiegenheit tierisch gegen den Strich. Im einen Moment wurde ich darauf getrimmt ein Rudel zu leiten und im nächsten wurde ich aus allen Entscheidungen ausgeschlossen und ganz offensichtlich wurden hier Dinge über meinen Kopf hinweg entschieden, die mich selbst betrafen.

„Wenn das nicht aufhört, fang ich an zu schreien. Ich komme mir vor wie eine Marionette. Ich werde als die perfekte Nachfolgerin ausgestellt, aber kann nicht mal einen Handschlag tun, ohne dass man mir auf die Finger schaut. Wie mich das ankotzt.“

Entschlossen sprang ich auf, in dem Willen etwas zu tun, wusste dann aber nicht, was. Dafür fing ich an, im Zimmer auf und ab zu gehen, in der Hoffnung, dass mir etwas einfiel. Alles was es brachte war, dass Reena aufstand und mir in den Weg trat.

„Ganz ruhig. Du weißt nicht, ob es irgendwelche Auswirkungen auf ihn hat, wenn du jetzt durchdrehst. Entspann dich.“

Plötzlich panisch, aus Angst es hätte etwas angerichtet, flog mein Blick zu Luc, aber der lag immer noch unberührt unter den Kühlpacks und der Decke begraben. Das schlimmste daran war, dass ich nichts tun konnte und das ließ das Gefühl der Hilflosigkeit in mir aufsteigen. Ich fühlte mich verletzlich und auf irgendeine verquere Art gab ich mir selbst die Schuld daran.

„Ria hör auf damit. Du lädst dir grade Lasten auf die Schultern, die dir nicht gehören, das ist nicht richtig.“

„Wessen Lasten sind es denn dann, wenn nicht meine? Ich habe das alles doch erst losgetreten. Hätte ich einfach getan, was man mir gesagt hat, wäre er gar nicht hier, dann wäre er vermutlich mit seinen Freunden unterwegs oder zuhause.“

Laut seufzend rieb Reena sich die Stirn, schloss die Augen und als sie mich wieder ansah, sah sie ziemlich entschlossen aus.

„Ich hab keine Lust wieder und wieder mit dir darüber zu diskutieren.“

Damit drückte sie mich auf die Bettkante und hielt einen Zeigefinger hoch.

„Sitz, Platz, Aus, schön lieb sein. Ich besorge uns jetzt was zum knabbern und dann bringen wir dich auf andere Gedanken, während wir auf Lucas aufpassen. Such schon mal ein paar Filme raus, das wird eine lange Nacht.“

Sie deutete auf mein DVD-Regal, aber ich weigerte mich, bevor sie das Zimmer verlassen konnte.

„Nein, kommt gar nicht in die Tüte. Ich kümmere mich alleine um Luc. Geh schlafen, ich krieg das schon hin, außerdem brauche ich morgen in der Schule jemanden, der mich wach hält.“

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du morgen zur Schule gehst. Er wird morgen ganz sicher nicht zur Schule gehen und du wirst noch nicht zur Haustüre raus sein, da treibt es dich schon wieder zurück, vertrau mir.“

„Ich kann nicht einfach blau machen, da werd ich schon irgendwie durch müssen.“

„Mum wird dich entschuldigen, wenn nicht, übernehm ich das.“

„Das kannst du nicht machen.“

„Und du kannst weder zur Schule, noch alleine auf Lucas aufpassen. Was ist, wenn du wieder einschläfst? Willst du jedes Mal im Fieberrausch durchs Haus stolpern um die Scheiß Beutel zu wechseln?“

„ich hab nicht vor, es nochmal so weit kommen zu lassen und ich hab ebenso wenig vor, noch mal einzuschlafen. Ich stelle mir vorsichtshalber jede Stunde den Wecker.“

„Und was machst du, wenn du ihn nicht hörst, oder ihn ausschaltest, dich wieder umdrehst und weiter schläfst?“

„Das wird nicht passieren.“

„Ach nein? Woher willst du das wissen?“

„Stellst du mich grade in Frage?“

„Ich? Nein, wie kommst du darauf?“

„Reena, verschwinde. Geh schlafen und weck mich morgen früh.“

„Ich werd dich ganz sicher nicht wecken.“

„Und ob du das tust. Und jetzt gehst du schlafen.“

„Ist das ein Befehl?“

„Reena leg es nicht drauf an. Geh lieber freiwillig, bevor ich dich raus schmeiße.“

„Hat es Sinn, noch weiter zu diskutieren?“

„Reena!“

„Alles klar, jetzt bist du wieder du. Tu mir einen Gefallen und bleib dabei. Und verdammt, wenn etwas ist, komm mich holen, scheißegal ob ich schlafen sollte oder nicht. Verstanden?“

Ich stand nur mit verschränkten Armen vor Reena und schwieg sie so lange an, bis sie anfing zu grinsen.

„Schon gut, ich bin schon weg. Mach keine Dummheiten ohne mich.“

„Gute Nacht Reena.“

Sie war schon fast draußen, als sie sich im Türrahmen noch mal umdrehte und zum sprechen ansetzte. Ich blockierte sie noch beim Luft holen und schob sie vollends und mit Nachdruck hinaus.

„Gute Nacht Reena.“

Sie war grade weit genug draußen, damit ich die Tür hinter ihr schließen konnte. Sie meckerte nicht und sie versuchte auch nicht wieder herein zu kommen. Wozu auch, sie hatte ihr Ziel erreicht.

Ein wenig Planlos schaltete ich meine Anlage an und ließ leise Musik laufen, bevor ich mich erneut auf die Bettkante setzte. Einen Moment zögernd strich ich Lucas über die Stirn und stellte fest, dass die Kühlbeutel ihn zwar abgekühlt hatten, er aber immer noch erhöhte Temperaturen vorwies. Sein Atem ging immer noch zu schnell, aber er hatte aufgehört zu zittern, das deutete ich als gutes Zeichen, auch wenn der Rest seines Zustands mich beunruhigte. Etwas widerwillig rutschte ich vom Bett auf das Kissen am Boden, griff mir mein Handy, um den Wecker auf eine Stunde zu stellen und nahm dann mein abgegriffenes Buch, dass Fay auf dem Boden zurück gelassen hatte. Ich suchte die Stelle, an der ich meinte beim letzten mal zu lesen aufgehört zu haben und hoffte inständig, dass die Nacht nicht allzu lang werden würde.

 

 

Ich wollte nach der Hand schlagen, die schon seit geraumer Zeit versuchte, mich aus dem Schlaf zu rütteln, aber ich konnte nicht. Das setzte nämlich voraus, dass ich die Augen öffnete um zu sehen wo ich hin schlug, aber das gelang mir nicht, da meine Lider viel zu schwer waren. Außerdem hätte ich mich dafür bewegen müssen und auch das schien mir in nächster Zeit nicht gelingen zu wollen, oder zumindest nicht ohne Schmerzen. Mir taten die Knie weh, mir tat der Rücken weh, mir tat der Nacken weh und vom ganzen Rest wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich wusste nicht, wann genau ich auf die glorreiche Idee gekommen war, die Verbindung zu Luc absichtlich zu öffnen, um ihm einen Teil der Schmerzen abzunehmen, aber es hatte funktioniert. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte er endgültig aufgehört zu fiebern, sein Atem ging endlich regelmäßig und er war in einen ruhigen Schlaf gefallen, ohne dass ich die Kühlbeutel noch mal wechseln musste. Trotzdem hatte ich es nicht über mich gebracht und war auf Nummer sicher gegangen, war wach geblieben und hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Zuletzt hatte ich im Schneidersitz, mit dem Gesicht diesmal zu Lucas, vor dem Bett gesessen, den Kopf auf der Matratze abgelegt und das Buch aufrecht in den Händen. Ich machte einen enormen Buckel aber für den Moment war es bequem, außerdem konnte ich mich einfach nicht mehr aufrecht halten. So war ich dann schließlich auch eingeschlafen.

„Ria wach auf, du hast verschlafen.“

Als Reena wieder begann an meiner Schulter zu rütteln, brummte ich nichts bestimmtes, ich wollte nur, dass sie aufhörte.

„Bist du dir sicher, dass du immer noch zur Schule willst?“

Wieder gab ich nur ein Brummen von mir, aber Reena verstand es als das Nein, das ich meinte.

„Willst du trotzdem was frühstücken?“

Wieder nur ein Brummen, diesmal ein zustimmendes.

„Alles klar. Ich warte in der Küche auf dich.“

Damit ging sie und ließ mich zurück. Bei der Göttin, mir brummte der Schädel. Ich hatte in der ganzen Nacht vielleicht eine Stunde geschlafen, wenn es hoch kam vielleicht sogar zwei. Nein, ich würde heute garantiert nicht zur Schule gehen.

Mit steifen Bewegungen hob ich den Kopf und streckte den Rücken durch, allerdings nicht, ohne ein anständiges Knacken zu vernehmen. Bei den Gelenken war es nicht viel anders und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich mich wieder gerichtet und aufgelockert hatte. Als ich schließlich aufrecht stand, konnte ich den Muskelkater deutlich in so gut wie jedem Muskel spüren und ich musste sagen, es war ganz schön unangenehm. Ich hatte seit Ewigkeiten keinen Muskelkater mehr gehabt und mir wurde grade bewusst, wie dankbar ich dafür sein sollte.

Auf dem Weg runter in die Küche versuchte ich blind meine Haare glatt zu streichen und zog mein Top grade, alles irgendwie vergebens da ich wusste, dass sich das ohne Dusche nicht richten lassen würde. Sobald ich die Küche betrat, wünschte ich mir, ich wäre einfach oben geblieben. Kelleth stand an die Arbeitsplatte angelehnt da und sprach mit Reena, aber aus irgendeinem Grund war er der letzte den ich grade sehen wollte und als er mich ansah wusste ich auch warum.

„Wie siehst du denn aus? Habt ihr irgendwelche Orgien gefeiert?“

„Lass mich in Ruhe Kelleth.“

„Ihr habt echt die Nacht durch gemacht was? Wie ist er denn so, dein neuer Stecher?“

„Halt einfach die Klappe und geh zur Seite, ja?“

Kelleth stieß sich von der Platte ab und wandte sich mir zu, trotzdem blieb er an Ort und Stelle stehen und blockierte mir den Weg.

„Hast ja ganz schön schlechte Laune. Ist er so schlecht?“

„Verschwinde einfach.“

„Das tut mir Leid, dabei wolltest du ihn so unbedingt haben. Ich hab dir ja gleich gesagt, dass dieser Schlappschwanz nichts taugt.“

Ich hatte ehrlich versucht ruhig zu bleiben, aber Kelleth schien es darauf anzulegen.

„Halt endlich die Schnauze! Du gehst mir tierisch auf den Sack, du stehst mir im Weg und überhaupt will ich deine Eifersüchteleien nicht hören. Such dir eine Freundin oder besorg es dir selbst, aber lass mich in Ruhe!“

War er jetzt echt darüber verwundert, dass ich ihn zurecht stauchte? Zumindest lief er rot an und kam auf mich zu, vermutlich weil er der Meinung war, dass jetzt ein guter Zeitpunkt war um mich heraus zu fordern. Ich hatte dafür jetzt keine Nerven.

„Bleib mir vom Leib, sonst setzt es was.“

„Ich denk gar nicht dran.“

Und das schien er wirklich nicht zu tun, denn er verschwendete keinen Gedanken daran stehen zu bleiben. Er schien überhaupt nicht zu denken, denn er kam frontal auf mich zu und schien eher darauf aus zu sein, mich schnell nieder zu machen, als dass er sich überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Sah ich wirklich so fertig aus, dass er der Meinung war, ich würde mich nicht wehren? Sobald er in Reichweite war, setzte ich zu einem angetäuschten linken Kinnhaken an und er schien nicht mal zu bemerken, dass ich eigentlich gar nicht mit links schlug. Wie erwartet wich er zur Seite aus, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte und mich dazu veranlasste, ihn mit einem rechten Schwinger in die Nieren und einem Tritt gegen das Sprunggelenk in die Knie zu schicken. Glücklicherweise ging er nicht vollends zu Boden, so hatte ich die Gelegenheit noch mal nachzusetzen und ich ließ mich kein zweites mal bitten. Sadistisch wie ich momentan war, schlug ich ihm nachdrücklich mit dem Ellenbogen zwischen die Schultern und schickte ihn damit zu Boden, wo ich ihn mit dem Fuß im Nacken fixierte. Um meine Worte nachdrücklicher klingen zu lassen und sie nicht für jeden im Haus hörbar werden zu lassen, setzte ich mein Knie zwischen seine Schulterblätter, krallte eine Hand in sein dunkelbraunes Haar und bog seinen Kopf leicht zurück.

„Du bist so ein Trottel Kelleth. Ich wollte mir nur was zu essen holen und du machst aus allem gleich eine Riesenszene. Du willst dich beweisen? Werd erst mal erwachsen, bevor du glaubst, dass du dich mir gegenüber durchsetzen kannst.“

Um noch nachdrücklicher zu werden, ließ ich Kelleth mit mehr Schwung als nötig wieder los, sodass er mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug. Als ich schlussendlich von ihm abließ und aufstand, bedachte Reena mich mit einem Ausdruck im Gesicht, der eine Mischung aus Anerkennung und Mitgefühl zu sein schien.

„Tut mir Leid, du musst wohl ohne mich frühstücken. Mir ist grade der Appetit vergangen, außerdem halte ich es keine Minute länger mit ihm aus.“

Mit einem letzten Blick auf Kelleth am Boden, der sich nicht zu rühren wagte, wandte ich mich zur Tür.

„Bis später Reena.“

Die Tür war noch nicht ganz hinter mir geschlossen, da hörte ich Reena, wie sie noch Salz in die Wunde streute.

„Du bist so ein Idiot. Du machst Lucas nieder, machst dich über die beiden lustig und versuchst dann Ria die Stirn zu bieten. Wie blöd muss man sein. Sogar Zane hätte gewusst, dass das nach hinten los geht.“

„Ach halt die Schnauze!“

Als Kelleth Reena anfauchte wäre ich am liebsten umgedreht und hätte Kelleth erneut zu Boden gerungen, aber ich hatte ihn bereits auf seinen Platz verwiesen, alles weitere wäre Schikane gewesen und hätte mich nicht besser gemacht als ihn. So blieb mir nur die Möglichkeit wieder nach oben zu gehen und wieder runter zu kommen, wobei ich sicherlich etwas Schlaf nötig hatte. Trotz dem hielt ich am Arbeitszimmer meiner Mutter, nur um fest zu stellen, dass sie nicht da war. Natürlich war sie nicht da, es war kurz nach sieben, da kümmerte sie sich darum, dass die jüngeren rechtzeitig aus dem Haus waren, damit sie in die Schule kamen. Deswegen und weil ich nicht wirklich Lust dazu hatte, jetzt mit ihr zu reden, hinterließ ich ihr einen Zettel auf dem Schreibtisch auf dem stand, dass es Luc besser ging, er aber immer noch nicht wach war. Vielleicht interessierte es sie ja, wobei ich mir fast sicher war, dass sie sich nicht für ihn interessierte, solange er nicht ansprechbar war und das war er definitiv nicht. Er schlief tief und fest, wenn ich der Verbindung zu ihm trauen konnte. Was mich wieder daran erinnerte, dass ich selbst todmüde war. Je mehr ich mir dessen bewusst wurde, umso schwerer wurden meine Beine. Vor meinem Zimmer wollten sie mich kaum noch tragen, meine Finger gehorchten mir nicht mehr so ganz und die Augen schlossen sich beinahe schon mit Gewalt, als wollte mein Körper mich in einen Schlaf zwingen, der schon lange überfällig war. In meinem Zimmer wehte mir dann ein Duft um die Nase, der nicht sonderlich dabei half, mich wach zu halten, dummerweise konnte ich ihn nicht zuordnen und mir blieb nicht genug Geistesgegenwertigkeit, um darüber nach zu denken. Ein Blick auf das Kissen am Boden brachte dann das nächste Problem mit sich. Ich hatte ja eigentlich keine Schwierigkeiten damit, auf dem Boden zu schlafen, aber irgendwie wollte ich grade das nicht tun. Mein Bett hingegen war nur allzu verlockend und mein Bewusstsein schien nicht der Meinung zu sein, dass es irgendjemanden stören würde, wenn ich mich aufs Bett legte, vor allem da das eins sechzig breite Bett mehr als genug Platz für Lucas und mich bot und ich ohnehin nicht vorhatte, länger als ein paar Stunden zu schlafen. Wieso hatte ich dann also ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, mich einfach hin zu legen und zu schlafen? Ich hatte keine Ahnung und ich hatte auch keine Chance gegen die Matratze die mich zu rufen schien und die Müdigkeit, die mich in ihre Arme schob. Keine drei Atemzüge später hatte ich mir die Wolldecke vom Fußende des Bettes geholt und mich aufs Bett gelegt, möglichst weit am Rand, um Lucas nicht zu viel Platz weg zu nehmen, wobei ich wusste, dass das eigentlich Schwachsinn war. Wie gesagt, dass Bett bot eigentlich genug Platz für uns beide.

Zu meinem missfallen blieb mir keine Zeit mehr um darüber nachzudenken wieso und weshalb und was mich überhaupt störte, denn sobald mein Kopf auf die Matratze traf, gingen bei mir alle Lichter aus und das letzte was mir durch den Kopf ging, war ein Bild das ich nicht zuzuordnen wusste.  

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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2013

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