Cover



Die Frau im langen schwarzen Rock, der in unzählige Falten gelegt war,
kämmte sich vor dem Spiegel das Haar. Zuletzt überprüfte sie nochmals
die braunen Schildpattnadeln, mit denen sie den Haarknoten im Nacken
befestigt hatte.

„So, sagte sie zu der vierjährigen Enkelin, jetzt darfst du die
Schachtel aus dem Schrank holen!“ Gern kam das Kind der Bitte nach,
denn es war stolz darauf, der Großmutter an hohen kirchlichen Festtagen
diesen Dienst erweisen zu dürfen. Behutsam hob die Frau die obersten
Tücher heraus. Zuerst das schwarzgrundige aus schwerem Seidensatin mit
dem eingewebten Rosenmuster, die sich leuchtend rot aus der dunklen
Fläche heraushoben. Dann das violettfarbene aus mattschimmerndem Samt.
Nun kam das schwarze Satintuch mit den fröhlichen Fransen am Saum.
Das war das passende Tuch für den heutigen Anlass.
Sorgfältig legte sie die beiden anderen zurück auf die weißen
Baumwolltücher, die sie nur im Sommer bei der Maisernte trug. Kleine
blaue Streublümchen zierten den weißen Untergrund.
Bedächtig, fast andächtig, faltete sie danach das schwarze Satinquadrat
zu einem Dreieck, prüfte, ob die drei Spitzen exakt übereinander
passten. Mit geübten Griffen schob sie nun die Breitseite des Dreieckes
weit in die Stirn, zupfte die Spitze des Tuches am Hinterkopf mittig
und knüpfte die seitlichen Enden energisch zu einem festen Knoten unter
dem Kinn. Die beiden Zipfel standen rechts und links ab wie
Schmetterlingsflügel.
„Fertig“, rief die Kleine, klatschte in die Hände und lief eilends zur
Schublade. Dort lagen das Gebetbuch und der Rosenkranz. Ihre Augen
leuchteten, als sie vorsichtig die glänzende Perlenreihe mit dem
abschließenden Silberkreuz herausnahm und der Großmutter reichte. Dann
das lederumhüllte Gebetbuch mit dem goldfarbenen Rand.

„Warum habe ich kein Kopftuch“, fragte die Vierjährige. „Weil du noch
ein Kind bist und eine Strickmütze trägst“, bekam sie zur Antwort.
„Mama und Tante Barbara sind auch schon groß und sie haben auch keines“
erwiderte die Kleine.
Allmählich wird es Zeit, dass ich mich auf den Weg mache, dachte die
Großmutter und antwortete deshalb nur ganz kurz: „Weil Tante Barbara
noch nicht verheiratet ist, braucht sie keines“ - und sie nahm die
Enkelin an der Hand und schob sie energisch nebenan in die Küche zur
Mutter. Dass ihre Tochter weder Tracht noch Kopftuch trug, war ihr
nicht nur an diesem Tage ein großer Kummer.

Die gestärkten weißen Unterröcke wippten bei jedem Schritt und brachten
die weiten Stoffbahnen des schwarzen Oberrockes zum Schwingen, als sich
die Donauschwäbin aus der Batschka nahe der ungarischen Grenze endlich
gemessenen Schrittes zum Kirchgang aufmachte.
Vorbei waren die Zeiten, wo sie noch Zöpfe trug, vorbei die Zeit des
Rosentuches der jungen Ehefrau. Eine Frau, die der erste Weltkrieg mit
25 Jahren zur Witwe gemacht hat, trug damals schwarz für den Rest ihres
Lebens.
„Bei der Hochzeit von Barbara werde ich das violette Kopftuch
aufsetzen“, nahm sie sich in einem Anflug von Übermut vor. Und ihre
Schritte wurden etwas beschwingter, als sie sich den anderen
Kopftuchträgerinnen vor der Kirche näherte. Weißblond leuchteten die
glattgebürsteten, in der Mitte gescheitelten Haare der jungen Mädchen
in der Sonne.

Nach dem Kirchgang unterhielten sich die Menschen vor dem Gotteshaus
über die herannahende Front. Leute aus dem Nachbardorf berichteten von Übergriffen der Partisanen auf die eutschstämmige Zivilbevölkerung. Viele Familien waren bereits geflüchtet. Andere zögerten noch und vertrauten darauf, dass sie in dem seit über zweihundert Jahren von Deutschen bewohnten Gebiet bleiben
dürften.

Es kam anders und so fanden sich die Großmutter mit ihrer Tochter und
dem Enkelkind im letzten Kriegsjahr irgendwo im Süden des
Nachkriegsdeutschlands mit vielen Flüchtlingen in einem Lager wieder.

„Mutter, müsst ihr denn immer noch die langen Röcke und die Kopftücher
tragen“, fragte die Tochter hin und wieder. Auch die Enkelin genierte
sich für die so fremd und auffallend gekleidete Großmutter, denn die
Spielkameraden auf der Straße machten ihre Späße über die seltsamen
Fremden und neckten das Kind.
„Mir gefällt es so und ich bin es nicht anders gewohnt“, verteidigte
sich die Großmutter und fügte hinzu, dass das Kopftuch sie schön
warmhalte im Winter und sie vor der Sonne schütze im Sommer. Außerdem
gehörte es nun mal zu der Tracht, die ja die Vorfahren mitgebracht
hatten ins fremde Land, als sie zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia
vom Schwarzwald, der Pfalz, aus Lothringen und Bayern in die
„schwäbische Türkei“ ausgewandert waren. Ganz selten traf man auch
heute noch hier in Süddeutschland, vornehmlich in den Dörfern, die eine oder andere
alte Frau, die ebenfalls einen langen, weiten Rock und ein Kopftuch
trug. In der Stadt jedoch beherrschten Kurzhaarschnitte, Dauerwellen
und modische Hüte das Straßenbild.


Viel Zeit verging, die Großmutter hatte ihre weiten Röcke durch engere,
wenn auch nicht allzu kurze Röcke ersetzt und das Kopftuch abgelegt.
Sie trug jedoch immer noch die strenge Frisur mit dem Knoten im Nacken.
Aber auch dies änderte sich durch einen längeren Aufenthalt in New
York. Sie besuchte dort ihre zwei Schwestern, die schon vor dem ersten Weltkrieg in
die Neue Welt ausgewandert waren. Die beiden schafften es, sie zu einer
modischen Kurzhaarfrisur zu überreden. Eine viel jünger aussehende Frau stieg
aus dem Flugzeug, von dem die nun auch schon erwachsene Enkelin die
Großmutter abholte.

Als die Heimgekehrte jedoch von der schweren Krankheit und der gerade erfolgten Operation ihrer Tochter erfuhr, die auch noch eine Strahlenbehandlung
notwendig machte, überfiel sie ein Frösteln. Gerne hätte sie sich in
ihrem Kummer in ihre warmen, langen Röcke von damals gekuschelt und sich unter den Schutz eines Kopftuches geflüchtet.

Als die Tochter ihr schönes Haar so nach und nach verlor, war die Mutter gerüstet. Sie trug ab jetzt eines dieser gerade in Mode gekommenen Tüchlein mit dem kleinen Vichy-Karo. Die Enkelin mit dem wippenden Pettycoat sah neben ihr flott aus mit einem Karotüchlein in rosa auf der Pferdeschwanzfrisur. Mit solidarischem Lächeln überreichten beide der Kranken in der Klinik einen hübsch verpackten Karton. Sie fand darin ein Sortiment von schicken Kopftüchlein in verschiedenen Größen.

„Wie gut, dass es diese in so vielen verschiedenen Mustern gibt“, sagte die Beschenkte lächelnd und zupfte am kessen Karotuch ihrer Tochter.

Dann setzte sie eines der Tüchlein auf ihren Kopf mit dem verbliebenen zarten Flaum. Als sie sich in dem großen Spiegel über dem Waschbecken betrachtete, sah sie hinter sich zwei verschwörerisch dreinblickende Frauen. Sie war sich sicher, dass sie dasselbe dachten wie sie: „Das schaffen wir auch noch, wir drei“ - und sie drehte sich um und lächelte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /