Mutprobe im Dunkeln
Der Kies knirscht mit splitterndem Geräusch unter meinen Schuhen. Es ist so dunkel, dass ich meine Füße nur ins Ungefähre, Ungewisse setzen kann. Immer wieder stolpere ich über ein kleinere oder größere Hindernisse. Es ist so still um mich, dass ich meinen eigenen Atem höre. Unwillkürlich bleibe ich stehen, um den Lärm meiner Schritte für einen Moment zu unterbrechen. Zweige klatschen aneinander über mir, schütteln ein paar Wassertropfen auf mich. Da - ein Knacken rechts hinter mir. - Ich halte den Atem an, höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Krampfhaft versuche ich, den Weg vor mir zu erkennen, was aber nur ab und zu möglich ist, wenn die dichten Wolken am nächtlichen Himmel für einen Moment aufreißen und den verschleierten Vollmond für einige Sekunden freigeben.
Ein wieselflinkes Tier huscht als schimmernder Blitz an mir vorbei. - Ich beginne zu frösteln, kalter Schweiß bedeckt meine Stirn. Oh Gott, auf was habe ich mich da eingelassen?
Jede noch so kleine Bewegung in meiner Nähe verursacht inmitten dieser Stille ein beängstigendes Geräusch. Ich schwanke, falle, fühle weiche Erde unter mir, rapple mich auf, gehe einen kleinen Schritt zurück und stolpere über ein kantiges Hindernis, lande unsanft in einem Gebüsch. Beim Aufstehen schlottern mir die Knie, ich fühle etwas feuchtes, kaltes um meine Knöchel. Schwankend greife in in die Dunkelheit, finde Halt, umklammere etwas Kaltes, Hartes - sehe schemenhaft eine Hand. Aufblickend schaue ich im spärlichen Mondlicht in ein paar Augenhöhlen, pupillenlos, über mir. Das Blut gerinnt mir fast in den Adern vor Angst und ich lasse schnell wieder los, rolle mich nach der Seite und fühle, dass ich wieder auf dem Kiesweg bin.
Ich will losrennen, bin aber an den Knöcheln noch immer von diesem feuchtkalten Etwas gefesselt, das sich beim Hinfassen als nasse Efeuranke entpuppt. - Erleichtert taste ich mich weiter, sehe vor mir da und dort ein winziges flackerndes Licht, das an manchen Stellen einen schwachen Schein auf den Kiesweg wirft. Mit vor Schreck steifen Gliedern stakse ich weiter - vom Kirchtum schlägt die Uhr zwölf Mal. Der Schrei eines Käuzchens zerreist die Stille. Kalt läuft es mir den Rücken hinunter, während mir eine Schauergeschichte nach der anderen einfällt, die mit einem Käuzchenruf verbunden ist. Büsche und Sträucher bilden bizarre Schattenrisse, ich laufe immer kopfloser und zucke zusammen beim kleinsten Ton, der aus der Dunkelheit herweht. Jetzt nehme ich rechts und links die Reihen der mooshäuptigen Findlinge wahr, daneben schwarze Eisenkreuze und steinerne Stelen. Bleiche Marmorarme strecken sich mir entgegen, stille Gesichter aus Stein tauchen für einen Augenblick im Halbdunkel auf.
Meine Knie fangen an zu schlottern, mein Gesicht ist nass. Schnell weiter - die Mauer muss doch bald zu sehen sein. Endlich höre ich einen Pfiff, flüsternde Stimmen. Der Mond erscheint gerade für einen Moment unverhüllt. Ich sehe die Mauer, taste mich an den unbehauenen Steinquadern entlang - da, die eiserne Drehtür. Erschöpft und zitternd zwänge ich mich hindurch, Die rostigen Scharniere quietschen laut und fast unerträglich in der Stille.
Kichernd erwarten mich draußen meine älteren Mitschüler zusammen mit meiner vierzehnjährigen Schwester. Ich bin zwölf - und ab jetzt „geprüftes“ Mitglied der Clique. Die Voraussetzung zur Aufnahme habe ich bestanden: Die Durchquerung des alten Friedhofes am Dorfrand. Selbstverständlich bei Vollmond um Mitternacht. - Dass es eine wolkenreiche Regennacht ist, dafür können wir doch nichts, sagen die Freunde und meine Schwester. Sie legt dabei etwas linkisch und doch fürsorglich ihren Arm um meine Schulter. „Reg‘ dich ab, es ist ja vorbei“ sagt sie noch und gibt mir ihr Taschentuch.
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2011
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