Seit der Winter auch in unseren Breiten viel wärmer geworden ist, gehen meine Gedanken immer häufiger zurück zu den Wintern meiner Kindheit und Jugend. Ich erinnere mich an Frostbeulen an den Fingern, Fersen und Fußzehen, an Lederschnürstiefel, die entweder zu klein oder zu groß und meist vom Schneewasser durchdrungen waren und die kratzenden, grob gestrickten Strümpfe nass werden ließen. Auch dicke, wattierte Anoraks gab es damals noch nicht für mich, sondern Jacken oder Mäntel aus Wolle, die nach einiger Zeit auch feucht wurden bis ins Futter, da sie ja nicht imprägniert waren. Wollmützen stricken, das war eine der Beschäftigungen an den Wintertagen. Alles in allem war der meist kalte Winter eine schwere Jahreszeit, denn auch das Heizen war nicht so bequem wie heute und meistens war nur die Küche und das Wohnzimmer einigermaßen warm.
Tomaten, grünen Salat und exotische Früchte gab damals in den kalten Monaten auch nicht, so dass es den meisten Menschen auch gesundheitlich nicht so gut ging.
Aber all diese Entbehrungen wurden dadurch ausgeglichen, dass der Winter seinen eigenen Zauber hatte. Das fing schon im November an, wenn der erste Frost die Äste und Zweige von Bäumen und Büschen versilberte, wenn bizarre Formen entstanden durch den Raureif auf den vom Sommer übrig gebliebenen Blütenständen auf Feld und Wiese.
Die Menschen rückten notgedrungen zusammen, dachten sich unterhaltsame gemeinsame Beschäftigungen aus, denn es gab ja außer dem Radio keine Belustigungen aus der Steckdose. Dann endlich fing die Adventszeit an mit Geheimniskrämereien, mit Stricken und Basteln, mit Plätzchenbacken und Geschäftigkeit. Immer wieder gab es Ärger mit der Mutter, weil sie in der versteckten Plätzchendose Lücken entdeckte.
Es war draußen dunkel und trist, aber wenn sich die Familie um das damals noch meist mit Holzscheiten angefachte Feuer scharte, empfand man diese Kälte nicht so sehr, denn die meisten Menschen waren abgehärteter als heutzutage.
Dann kam die Vorfreude auf das Weihnachtsfest, das damals wirklich noch ein Fest der Überraschungen war. Es gab vorher weder Plätzchen noch andere Naschereien (außer denen, die man heimlich stibitzte) oder Geschenke. Alles wurde für Weihnachten aufgespart. Es gab auch besondere kirchliche Andachten und religiöse Handlungen, die die Dunkelheit von Hoffnung erfüllten.
Wenn pünktlich vor dem Fest auch endlich Schnee unter den Schuhen knirschte, war es bald so weit, dass wir singen konnten (wie jedes Jahr): “Zweimal werden wir noch wach, heißa dann ist Weihnachtstag”. Lange vorher waren Mutters Stollen beim Bäcker gebacken worden und wir Kinder durften sie nach Hause tragen - da fehlte so manche Rosine, bis wir daheim ankamen.
An Heiligabend strömten alle in die Kirche. Sie war vom Kerzenschein erleuchtet und erhellte die äußere und innere Dunkelheit eines jeden, der zur Christmette kam. Dieses Erlebnis Jahr für Jahr ist auch heute noch wie eine Lichterkette, die ich mit ins Leben hinaus nahm. Das Geläute der Glocken – dunkel und dröhnend und mit einem Widerhall in den Gassen, der uns Kinder mit einem fast ängstlichen Schauer erfüllte.
Dann zu Hause die Bescherung. So wenig es auch damals für den Einzelnen gab, so groß war doch die Freude über jede Kleinigkeit, denn das Zusammensein unter dem Lichterbaum, der die damals real vorhandene Dunkelheit erleuchtete, zählte. Es waren besondere Tage, die sich doch sehr unterschieden von den heutigen Weihnachtsfesten, an denen ich den Höhepunkt vermisse, weil es alles schon ab November in Kaufhäusern, Familien und selbst in der Kirche gibt. Lichterbäume leuchten schon ab November, Geschenke gibt es bereits zum Nikolaustag, in den meisten Adventskalendern sind ebenfalls kleine Geschenke oder Süßigkeiten versteckt. Keine noch so kleine Entbehrung lässt uns dem Tag des Lichtes und der Erfüllung entgegenzittern.
Leider bleibt auch der erhoffte Schnee immer häufiger aus oder er kommt so spät, dass er die Menschen, Pflanzen und Tiere im März in Verwirrung bringt.
Hoffen wir also weiter auf den Weihnachts-Schnee unserer Erinnerung – vielleicht im nächsten Jahr?
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2011
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