Wie es wohl ist, nicht zu existieren? Es muss großartig sein, atemberaubend sein, nicht zu bestehen. Nie mehr fühlen, nie mehr denken. Man ist frei, hat keine Pflichten, keine Sorgen über das, was kommen mag, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen vor den Augen, Tage verlieren an Bedeutung und Jahre fühlen sich an wie ein kühler Wind, der das Haar zerzaust. Alles verschwindet und hinterlässt einen Hauch von Bewusstsein an schwindende Erinnerung von verblichenen Gesichter.
Theo blickt auf und schaut aus dem Fenster. Es ist dunkel und das schummerige Licht der Straßenlaterne dringt durch das Fliegengitter und schneidet sich an dem Netz, als teile es das Licht sorgsam ein. In diesen Momenten befindet er sich außerhalb seines Ichs und betrachtet die Dinge in seiner Umgebung durch einen Filter, der jegliche Vorurteile nimmt und ihm die Sachen so offenbart, wie sie einfach sind. Unverfälscht und authentisch.
„Warum ist es so, wie es ist?“, denkt er sich. „Warum bin ich so und nicht anders? Mein Herz fühlt sich an, als ob man hart auf eine Erdbeere drücken würde, eine, die dem Druck nicht standhält und zermatscht wird.“ Er betrachtet teilnahmslos seine Schreibtischlampe, Tränen treten ihm in die Augen, machen bewusst, dass er noch Schmerz empfinden kann. Es gibt also noch Hoffnung. Aber sicher nicht hier, er muss raus, weg von diesem Ort, der ihn vergessen lässt, was das Leben bietet –mehr als Röhrenfernseher und Blumenkübel. Leise zieht er sich seine dünne Jacke über, kleidet sich zweifach ein, um nicht unnötige Zeit mit dem Ausziehen des Schlafanzugs zu verschwenden und stopft Notizblock und Stift in die Hosentasche. Als er auf dem Weg zur Haustür ist, der zwangsweise durch das Wohnzimmer führt, bemerkt er seinen Vater, der selig, oder besser gesagt zwecks des übermäßigen Alkoholkonsums, auf dem Sofa schnarcht und dabei eine Bierflasche umklammert, um den Hang zur Realität nicht zu verlieren, die ihm das Überleben unmöglich macht.
„Er ist immer noch nicht über Mamas Tod hinweg“, sagt er leise zu sich. Seine Mutter Anne ist bei seiner Geburt gestorben und seitdem geht es mit seinem Vater bergab. Erst war er ständig krank, dann wurde ihm sein Job gekündigt und danach fing das alles mit dem Alkohol an. Theo versucht seine Gedanken zu zügeln, schafft es jedoch nicht ganz und verzieht angewidert das Gesicht, als wäre er zu gut für das hier. Doch insgeheim weiß er, dass er das verdient hat: Einen alkoholkranken Vater dafür, dass er immer so hochnäsig und anspruchsvoll ist, und seinen Hang zu Depressionen dafür, dass er anderen nichts gönnen kann. Seine Lage ist letztendlich nur ein Produkt seines Tuns. Dass das alles unbedingt mit Mathe zu tun haben muss, macht ihn noch bedrückter, denn Rechnen war noch nie seine Stärke gewesen. Er interessiert sich mehr für Literatur und die Bedeutung von Worten, was ja eigentlich das Gleiche ist ,aber trotzdem völlig unterschiedlich Anwendung findet. Literatur weckt Lebenslust, und Bedeutung von Worten erzeugt Lebensliebe. Die Jungs in seiner Klasse konnten das noch nie so richtig fassen, zu groß war der Umfang dieser Passion und zu klein ihr Werkzeug des Bewusstseins. Kommunikation bedeutete für sie nicht mehr als bloße Notwendigkeit. Den wahren Sinn, nämlich den des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit, kannten sie nicht. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass sie sich lieber über Computerspiele und Online-Games als Kafka und Goethe unterhalten. Das Flimmern des Fernsehbildschirms macht ihn wieder wach für die Gegenwart, für die Notwendigkeit des Überlebens und erinnert ihn zugleich an seine Gefühlslage.
Er packt sich die Haustürschlüssel, versteckt sie in den Untiefen seines schlabberigen Schlafanzugs und tritt hinaus in die nächtliche kalt-klare Luft, die eine Art Selbsttherapie für ihn bedeutet. Ein Schock, der ihm ungewöhnlich gut tut. Nicht weit von seinem Haus entfernt findet er eine Bank, die normalerweise zu dieser Zeit von Obdachlosen als Ein-Raum-Wohnung missbraucht wird, doch heute unbelegt bleibt. Er setzt sich hin und versucht, sich einen leeren, weißen Raum vorzustellen, um sich selbst zu beruhigen und seine Gedanken zu ordnen. Zu gerne wäre er jetzt ganz allein in Berlin, in dieser unmöglichen, unmenschlichen Stadt, in der jeder auf sein eigenes Wohl bedacht ist und die Zeit nie still steht, alles weiterverläuft und sich verändert. Und trotzdem genießt er das Leben hier, das nicht eintönig oder langweilig ist, weil es immer ein paar Idioten geben wird, die die Existenz lohnenswert machen, durch die Ansprüche nicht verloren gehen, sondern nur gestellt werden. Allein das lässt ihn wieder lächeln, der Gedanke, dass er wenig braucht, um glücklich zu sein, der aber eine glatte Lüge ist.
Wie es wohl weitergehen wird, wenn man gestorben ist? Wird man noch Zeit haben, den Menschen, die einem etwas bedeuten, Lebewohl zu sagen? Gibt es einen Himmel und eine Hölle? Wenn ja, nach welchen Kriterien wählt Gott aus? Oder werden wir am Ende doch alle in einen Karton gestopft? Es ist Vollmond und Mimmi kann nicht einschlafen. Das puderfarbene Licht dringt durch die großen Fenster ihres Zimmers zu ihrem Bett und erleuchtet die Dinge, die um sie herum liegen. Es wirkt auf einmal alles so plattgedrückt, obwohl der Kontrast zwischen Licht und Schatten stärker denn je ist. Selbst wenn sie die Augen schließt, schimmert die kristallene Flut durch ihre Lider hindurch und macht sie unruhig. Normalerweise haben solche Fragen in ihrem Kopf nichts verloren und desto mehr wundert sie sich, wie sie es geschafft haben, in ihr Bewusstsein zu gelangen. In diesem Moment muss sie an ihre Pflanzen denken, die immer solche Fragen abgefangen haben, einfach dadurch, dass sie existieren. Mimmi liebt Pflanzen, denn sie haben diese unglaubliche Kraft, Menschen aufzumuntern, mit Hilfe ihres bezaubernden Aussehens und ihrer grünblättrigen Ummantelung. Grün bedeutet nämlich Hoffnung, und Mimmi hat noch nicht aufgehört zu hoffen, dass sie ihren Vater jemals sehen wird. Er ist nach ihrer Geburt einfach verschwunden, war nicht mehr da, hat sich mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht.
„Er war überfordert, konnte mit dem Gedanken nicht umgehen, eine jetzt so wundervoll aussehende junge Frau als Tochter zu haben“, versucht Susanne sie immer zu trösten. Doch es will ihr nicht so recht gelingen, zu groß sind die Selbstvorwürfe. Schluss jetzt, ermahnt sie sich, hör auf, über Konjunktivbestehen zu grübeln, das macht nur unglücklich. Und trotzdem kann sie nicht einschlafen, die Gedanken pulsieren in ihrem Kopf und es fühlt sich an, als würden die Buchstaben wie Blut durch ihren Schädel fließen. Also öffnet sie das Fenster, setzt sich an ihren Schreibtisch, dreht ganz leise das Radio auf und beginnt die Umrisse ihrer Pflanzen zu skizzieren, eine Arbeit, die sie beruhigt und ihre Gedankenstürme zu mindern hilft.
Es sind nicht die Dinge, die sie malt, die Verlangen in ihr wecken, den Zustand dieser festzuhalten, es ist das Zeichnen selbst, dem sie ihre Aufmerksamkeit gewidmet hat. Es ist die Tatsache, dass sie dadurch die Möglichkeit besitzt, Ästhetik einzufangen, dem Betrachter zugänglich zu machen, ihn die Fertigkeit des Entdeckens zu lehren. Natürlich würde sie auch zu gern fotografieren, doch ihr Mangel an Selbstdisziplin macht es unmöglich, das benötigte Geld zu sparen. Da gibt sie sich lieber dem – zu Recht – existierenden Klischee hin, dass Frauen ihre Ersparnisse für Kleidung und Schmuck ausgeben, wobei in ihrem Fall die Liebe zu Flora und Fauna auch eine große Rolle spielt, was die Liquiditätsskala betrifft. Da sind die Kosten für einen ordentlichen Kohle- bzw. Bleistift mit endsprechendem Papier eher aufgetrieben als der Preis für eine digitale Spiegelreflexkamera. Sie könnte diese Disziplin aufbringen, wenn sie wollte, doch jetzt will sie nur schlafen, so dass sie sich ihre Bettdecke schnappt und unter sie kriecht, viel zu faul, ihr Fenster zu schließen, weshalb sie sich die letzte große Mühe machen muss, die Geräusche der Großstadt auszublenden, den Nadelhaufen hinter sich zu lassen und sich auf die Suche nach dem letzten, natürlichen Strohhalm macht.
Texte: copyright Lukas Günther
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Hannah, die mich zum Schreiben bewegt hat,
für Victoria, die mir gut tut,
für Theresa, die eine tolle Kommentatorin ist,
und für Maria, deren unverblümter Sarkasmus mich insgeheim schmunzeln lässt.