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Alle paar Minuten flog sein Blick hinauf zur Wanduhr. Die Sekunden flossen zäh wie Sirup und die Zeiger schienen festgefroren zu sein. Erbarmungslos arbeitete sich der Lehrer durch die Liste der Namen und näherte sich unaufhaltsam wie eine Naturkatastrophe dem seinen. Wie im Traum verfolgte Frederik die feinen etwas ungelenken Kreidelinien, die sein Klassenkollege Basti gerade auf der Tafel zog. Das rundliche Gesicht war in höchster Konzentration verzogen, bemüht, das spärliche Wissen zusammenzukratzen und in sinnvollen Zahlenkombinationen anzuordnen. Der Lehrer machte eine Notiz in seinem grässlichen braunen Buch.
„Knopfler Frederik!“ Die Worte, die sich irgendwie einen Weg unter dem dicken Oberlippenbart des Lehrers ins Freie kämpften, ließen den Angesprochenen zusammenzucken. Doch während er sich, seinen Untergang voraussehend, in Richtung Tafel zwang, verkündete die Glocke schrill das Ende der Stunde. Da stand er nun verdattert, mit rasendem Herzen und begriff kaum, dass der Lehrer ihn auf seinen Platz verwies und die Hausübung verkündete. Wie in Trance ließ er sich auf seinen Sessel fallen, und erst, als ihm sein bester Freund Max auf die Schulter klopfte, kehrte er vollends in die Wirklichkeit zurück, und Erleichterung breitete sich auf seinem noch etwas blassen Gesicht aus.
„Ist ja gerade noch mal gut gegangen!“, meinte Max grinsend und die beiden trollten sich mit den anderen in den Pausenhof. „Du hast leicht lachen!“, meinte Frederik mürrisch. „Wenn du was nicht kapierst, fragt der Prof dich doch höchstens, ob du familiäre Probleme hast. Nur bei mir ist es natürlich angeborene Dummheit, die bestraft werden muss.“ Max lachte auf und holte einen Fußball aus seinem Rucksack. „Komm, das lenkt dich ab!“ Da hellte sich Frederiks Gesicht auf und er setzte elegant über das „Betreten verboten“ - Schild des Hausmeisters hinweg und jagte hinter Max über die Wiese.

Vom Rand des neu erkorenen Fußballplatzes aus, blickte ein Mädchen schüchtern hinüber zu den fröhlich herumtollenden Jungen. Anne trug einen roten Pullover, den ihre Großmutter gestrickt hatte - vor dem Unfall. - „Wie hübsch das Rot zu deinen braunen Locken passt!“ Die Alte hatte lächelnd ihre Enkelin angesehen, wie sie sich im Spiegel betrachtete: das blasse Gesicht mit den großen, dunklen Augen.
Im Pausenhof steckte Anne die Hände in die Taschen ihrer Jeans und zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern. Der kühle Herbstwind brachte einen Hauch von dem teuren Duft, den Mirjam sich heimlich von ihrer Mutter borgte. Sie stand ein paar Schritte hinter Anne, gefolgt von Jana und Lea und tuschelte mit ihnen. Anne wappnete sich innerlich. So ging es fast jede Pause. Sie war dieses ewige Spiel leid, bei dem sie immer verlieren musste, weil sie zu viele Angriffsflächen und keine Verteidigung hatte. Sie stand permanent im Abseits.
Sehnsüchtig verfolgte sie einen Zweikampf zwischen Frederik und Max. Frederik gewann und platzierte den Ball jubelnd im imaginären Tor. So sein wie einer von denen, dachte Anne. Sich nicht vor Verboten fürchten und vor hässlichen Worten. Einfach drauflos stürmen im Leben und punkten.
„Hey, Mauerblümchen! Wie geht’s deiner Oma, kriegst du endlich mal einen neuen Pulli?“ Lea und Jana glucksten. „Hey! Bist du taub? “, schrie Mirjam, und Anne zuckte zusammen. Am liebsten wäre sie wirklich taub gewesen für all das, was man ihr immer wieder an den Kopf warf - dass sie angeblich zu dick war, dass sie sich keine Markenkleidung leisten konnte, dass sie sich in der Schule anstrengte. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es nicht zu hören, Mirjams durchdringende Stimme erreichte ihr Ziel. - Immer.
Am liebsten hätte Anne ihre Meinung in den Wind geschrien, hätte ihnen allen die wahre Anne gezeigt. Doch sie schwieg, wie immer, von stummer Furcht überwältigt.
Das Pausenende war ihr Rettungsring. Mirjam schoss einen vernichtenden Blick auf sie ab und ließ sie eingeschüchtert stehen, während die Mitläuferinnen ihr kichernd folgten.

In letzter Sekunde, bevor die Deutschlehrerin um die Ecke bog, schlüpften Frederik und Max ins Klassenzimmer und landeten keuchend und mich hochroten Köpfen auf ihren Plätzen. Frederik war Dank Max’ Therapie wieder ganz der Alte. Keine Spur von Furcht oder Schüchternheit. Er strahlte nur so vor wieder gewonnenem Selbstvertrauen und alle Gedanken an die Mathematikstunde schienen vollkommen aus seinem Gedächtnis wegradiert.
Anne beobachtete ihn bewundernd. Sie mochte Frederik, weil er witzig war und mutig und weil er sich von niemandem etwas sagen ließ, wie ihr schien. Natürlich hatte sie noch nie ein Wort mit ihm gesprochen, denn er verkehrte in anderen Kreisen, und die Mädchen, die er beachtete, waren schlank und modisch gekleidet. Sie seufzte und beugte sich tiefer über ihr Lesebuch. Ein winziges Löffelchen Selbstvertrauen würde bei ihr Wunder wirken, dachte sie, oder jemand, der sie so nahm, wie sie war. Ein Freund…

Als Frederik sich am Ende des Schultages gerade auf sein Fahrrad schwingen wollte, fiel es ihm plötzlich ein und seine Miene trübte sich. „Du Max, ich hab mein Mathezeug liegen lassen. Wenn ich das nicht endlich lerne, gibt’s Saures.“ Max nickte. „Ich muss leider gleich heim, Zahnarzttermin…“ Er seufzte gequält. „Ok, dann bis morgen!“ Frederik winkte und eilte zurück ins Schulgebäude, das still und verlassen dalag. Kein Wunder. Wer würde freiwillig auch nur eine Minute länger bleiben, dachte Frederik. Aber es war doch noch jemand da, denn als er sich durch den verwaisten Gang seiner Klasse näherte, hörte er eine zornige Stimme. „Mauerblümchen, mach jetzt keine Dummheiten und rück das bescheuerte Heft raus, sonst wird’s dir leid tun!“ Vorsichtig spähte Frederik durch den Türspalt und sah seine Klassenkollegin Mirjam, die er eigentlich ganz hübsch fand mit dem blonden Haar und den dunkel geschminkten Augen. Sie hatte sich breitbeinig vor Anne aufgebaut, die zusammengesunken dasaß und verzweifelt auf Mirjams Hände starrte, die mehrere tintenbeschriebene Seiten hielten und alle Anstalten machten, sie in kleine Fetzen zu reißen. Frederik konnte Lea und Jana kichern hören. Sein Gesicht verfinsterte sich zusehends, als er bemerkte, dass Anne bereits Tränen über die Wangen liefen. So kannte er Mirjam gar nicht. Aber er musste zugeben, dass sein Interesse an ihr generell ein eher oberflächliches war.
Er zögerte kurz, dann stieß er die Tür auf und genoss den Anblick, als alle vier ihn erschrocken anstarrten. „Hallo Miri“, meinte er betont freundlich und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. „Zeig mal, was hast du denn da?“ Er ging zu ihr hinüber und nahm ihr den Aufsatz aus der Hand, bevor sie es verhindern konnte. Sie knurrte wütend. „Misch dich da nicht ein, das ist eine Sache zwischen mir und der Heulsuse da!“, zischte sie und starrte ihn grimmig an. Anne schluchzte leise. „Ja, das sehe ich!“, antwortete Frederik eine Spur schärfer. „Drei gegen eine ist ja wohl oberfeig!“

Anne stutzte überrascht. Das hatte sie nicht erwartet. Es war offensichtlich, dass Mirjam die Situation äußerst unangenehm war und sie Probleme vermeiden wollte. So schenkte sie Frederik nur einen giftigen Blick und rauschte inklusive Gefolgschaft davon. Die Tür knallte und Stille kehrte ein.
Frederik legte den Aufsatz auf den Tisch. „Na, was wollten die denn von dir?“, fragte er und lächelte aufmunternd, während er sich zu ihr setzte und sich insgeheim fragte, warum er das eigentlich tat. Doch er erstickte die hämische Stimme in seinem Kopf. Auf blonde, geschminkte Mirjams konnte er getrost verzichten. Dann hörte er, wie Anne stockend ihre Geschichte erzählte.
„Moment mal, sie erpresst dich, um an deine Mathehausaufgaben zu kommen?“, fasste er schließlich zusammen. Anne nickte. „Mathe ist das einzige Fach, in dem ich besser bin als sie“, flüsterte sie. Frederik schüttelte ungläubig den Kopf - doch auf einmal hatte er eine grandiose Idee.

***

Es war kurz vor vier. Frederik wartete an der alten Mauer. Ein einzelner Sonnenstrahl stahl sich durch das bunte Blätterdach des Parks und blendete ihn, sodass er kurz die Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, stand sie da, zwischen den herbstlichen Platanen, und ihre Arme umklammerten Hilfe suchend ihr Mathematikbuch. Frederik lächelte. Der rote Pulli gefiel ihm. Er passte gut zu ihren kastanienbraunen Locken. Sie kam zögerlich näher, bis sie genau in dem einen verirrten Sonnenstrahl stand. „Schön… dass du da bist!“, stammelte er ein wenig unbeholfen und wunderte sich über sich selbst. Sie blickte ihn erwartungsvoll und ein wenig scheu an.
„Du bist nicht so, wie sie sagen.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie zog verwundert die Brauen hoch. „Ein Mauerblümchen?“, fragte sie. Und er lachte. „Das bist du schon!“, sagte er fast zärtlich, „Aber ein hübsches, so wie das hier.“ Er zeigte auf ein kleines Pflänzchen, das aus einer Ritze der Mauer hervor gewachsen war und in einer zarten wässrigblauen Blüte endete. Da lachte auch sie - ganz leise - und tief in ihrem Herzen begann sie zu blühen.

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Tag der Veröffentlichung: 03.12.2009

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