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Weit weg, jenseits von gut und böse und unbeachtet von allen bisherigen Gedanken klatschten die blauen Wellen des unendlichen, zeitlosen Ozeans sanft gegen die felsige Küste einer Insel.

Auf dieser Insel lagen zwei grundverschiedene Länder. In der Mitte, wo hohe Berge aufragten, befand sich das Land „Mittland“ und rundherum auf den weiten, fruchtbaren Ebenen lag das „Land am Rand“, das vom Meer durch einen Ring aus zerklüfteten Klippen getrennt wurde.

Obwohl Mittland wenig Platz für Felder und Weiden bot, waren die Bewohner bestens mit allem Nötigen und Unnötigen versorgt und genossen ihren, durch Fleiß und Freude an der Arbeit, erwirtschafteten Reichtum.
Auf jeder etwas ebenen Fläche wuchsen Getreide und Gemüse und auf den etwas steileren Hängen grasten Ziegen und Schafe. Die Häuser waren aus Platzspargründen wie Schwalbennester direkt an die Bergwände geklebt und durch Hängebrücken und Strickleitern miteinander verbunden. Dazu muss gesagt werden, dass die Einwohner von Mittland sich nicht damit begnügten einfach ein Dach über dem Kopf zu haben. Jedes Bauwerk, jede noch so kleine Hütte war ein Kunstwerk und glich einem kleinen Palast. Schnitzereien und kunstvolle, bunte Bilder schmückten die Fassaden sodass das dumpfe Grau der Felsen von zahlreichen leuchtenden Farbflecken unterbrochen wurde und niemand sich jemals daran satt sehen konnte. Außerdem stellten die Mittländer wo immer sie konnten Blumen auf. Einerseits, weil sie so gut dufteten, andererseits, weil sie einfach überall Farben haben wollten. Denn ihnen war nichts mehr verhasst, als Eintönigkeit, Düsternis und Traurigkeit.

Gerade deshalb hatten sie auch einen König gewählt, der über sie und ihr kostbarstes Gut wachte und sie stets daran erinnerte. Denn die Mittländer waren nicht nur fleißige Arbeiter und meisterhafte Handwerker, nein sie konnten etwas ganz Besonderes, etwas Einzigartiges, etwas Wundervolles. Sie konnten lächeln.
Sie lächelten, wenn sie in der Früh von einem kecken Sonnenstrahl geweckt wurden und wenn ihnen beim Frühstücken ein flinker Vogel ein paar Krümel vom Teller stibitzte. Sie lächelten, wenn sie ihre Felder pflügten und wenn sie ihr Korn einbrachten. Sie lächelten, wenn im Frühling die Blumen verschlafen durch den Schnee blinzelten und wenn ein Kind seinen ersten Schritt wagte. Die Mittländer verstanden einfach, sich aus jedem Tag und jeder Tat das Beste und Schönste herauszupicken und deshalb gab es eigentlich kaum eine Gelegenheit, bei der sie nicht lächelten, weil fast jeder Moment lächelnswert ist.
Der König von Mittland, der im prunkvollsten Haus zwischen den drei Gipfeln des höchsten Berges wohnte, kümmerte sich darum, dass seine Untertanen nicht traurig sein mussten. Er sorgte auch dafür, dass sie nie das Lächeln verlernten, denn es war die Grundlage, für den Reichtum des Landes und den Wohlstand der Bevölkerung. Denn wenn die Mittländer lächelten, erledigten sie ihre Arbeit gerne, waren guter Dinge und erfolgreich.

Dass Lächeln ein kostbares Gut ist, weiß der Mensch erst, wenn er lange nicht gelächelt hat. Und im Land am Rand war das der Fall. Denn das erste und wichtigste Gesetz, das der König dieses Landes erlassen hatte, war nämlich ein Verbot, das Verbot zu lächeln. Der Herrscher war nämlich der unglaublichen Ansicht, seine Untertanen würden durch ein unnützes Lächeln nur von ihren Pflichten abgehalten.
Wer trotz des Verbotes lächelte, wurde streng bestraft und versuchte es nie wieder. Selbst die Kinder durften nicht lächeln, da es die Erwachsenen ablenken konnte. So verlernten die Menschen allmählich das Lächeln. Die Freude verschwand aus dem Land am Rand, wie das Licht, wenn die Nacht kommt und es herrschte Bedrückung, Trostlosigkeit und Dunkelheit, denn es wurden auch alle Dinge verboten, die Anlass für ein Lächeln hätten sein können. Farben und Blumen und Schmetterlinge und Lieder. Nichts war mehr erlaubt. Die Menschen schleppten sich lustlos durch ihre Tage, ohne noch einen Sinn in ihrem Leben zu sehen. Grau in grau standen ihre eintönigen Häuser und aus großen, hässlichen Fabriken drang giftiger, schwarzer Qualm, der den Himmel verdunkelte, damit die Sonne den Menschen nicht etwa ein zufriedenes Lächeln aufs Gesicht lockte.
Durch diese unbedachte Tat allerdings, wurden schließlich die Erträge auf den einst so fruchtbaren Feldern und Wiesen immer geringer und eine Hungersnot kam über das Land am Rand. Die Tiere auf den Weiden fanden kaum noch Futter und die Menschen suchten in Scharen den König auf, um ihm ihr Leid zu klagen.
Dieser sandte schließlich einen Boten, reichlich beladen mit allen möglichen Kostbarkeiten, die aus der Blütezeit des Landes am Rand stammten, nach Mittland, um dort Getreide zu kaufen.

Nach wenigen Tagen erreichte der Gesandte erschöpft das Schloss zwischen den 3 Gipfeln und bat um eine Audienz beim König von Mittland. Die Bitte wurde ihm sofort gewährt, da im ganzen Land das Gebot der Gastfreundschaft herrschte und an einer reich gedeckten Tafel erzählte der Bote von den Problemen im Land am Rand und seinem Gesuch um einen Tausch von Nahrungsmitteln gegen seine mitgebrachten Schätze.
Der König hörte ihm geduldig zu und besah sich die Waren aus dem Nachbarland. Alabasterkelche und Diamantdiademe, Edelsteine in allen Farben und feine silberne Leuchter, Goldstücke, so groß wie Kinderfäuste und kleine Figuren aus Elfenbein.
Doch als ihm der Bote jedes einzelne Stück gezeigt hatte, schüttelte er entschieden den Kopf.
„Was sollen wir damit?“, fragte er. „Ihr wollt Nahrung von uns und gebt uns dafür Metall und Steine?“
Der Bote blickte ihn verwirrt an. „Ihr könnt damit euren Reichtum vermehren, eure Häuser schmücken!“, stammelte er.
„Reich sind wir durch ganz andere Sachen nicht durch leblose Glitzerdinger!“, antwortete der König. „Und unsere Häuser schmücken wir mit lebendigen Blumen und warmen Farben, nicht mit kaltem Metall.“
Da war der Bote verzweifelt. „Wie soll ich das nur meinem Herrn beibringen! Wir werden alle verhungern!“, klagte er und war den Tränen nahe.
Der König aber lächelte, wie er es so gerne tat und beruhigte den Gesandten. „Ich habe doch nicht gesagt, dass wir euch nichts geben werden! Ich sagte nur, dass wir an euren Schätzen nicht interessiert sind!“
Da blickte der Bote hoffnungsvoll auf. „So wollt ihr uns eure Gaben gar schenken?“
Da wurde das Lächeln des Königs noch breiter. „Das, mein Lieber, nun auch wieder nicht! Denn jedes Gut hat seinen Preis!“
„Was verlangt ihr?“, fragte der Diener mit banger Stimme.
„Ich kann euch nur unter einer Bedingung geben!“, antwortete der König bestimmt und dem Boten stand Furcht ins Gesicht geschrieben. „Ihr müsst lächeln!“
Da riss der Gesandte ungläubig die Augen auf und starrte den König an, als hätte er ihm eben mitgeteilt, dass Apfelbäume neuerdings auch im Ozean Wurzeln schlugen.
„A…aber das geht doch nicht!“, stotterte er entsetzt. „Das ist doch verboten!“
Der König zuckte die Schultern. „Dann werdet ihr dieses Verbot wohl aufheben müssen, wenn ihr überleben wollt!“
Nun liefen dem Menschen aus dem Land am Rand wirklich Tränen über die Wangen, angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Lage. Er konnte doch unmöglich zu seinem Herrn zurückkehren und ihm sagen, er müsse lächeln! Außerdem… „Wir alle haben doch das Lächeln verlernt!“, flüsterte er mit erstickter Stimme.
Da umarmte ihn der König lächelnd. „Das soll nicht das Problem sein!“, versprach er. „Ich werde dich in die Lehre schicken!“

Und so geschah es auch. Der Bote wurde einer Familie zugeteilt und sollte nun an ihrem Leben teilnehmen, damit er wieder die Freude des Lebens erfuhr und das Lächeln erlernen sollte. Er hütete die Tiere und spielte mit den Kindern und es wurde ihm immer leichter und froher ums Herz. Er hörte Geschichten und sang Lieder. Er malte und tanzte. Und nach einigen Tagen, als er gerade unter einem blühenden Strauch rastete überkam ihn solch eine Freude, dass er ganz unwillkürlich zu lächeln begann und pfeifend über die Wiese hopste. Als ihm bewusst wurde, was er da tat, lief er schnurstracks zum König und überbrachte ihm die freudige Mitteilung. Und der König lächelte und schickte ihn mit einer Karawane Eseln, die mit allen möglichen Lebensmitteln beladen waren, in sein Heimatland, um die Menschen von ihrer Qual zu erlösen.
Vorher schärfte er ihm aber noch ein, nun seine Erfahrungen weiterzugeben und allen Menschen das Lächeln zu lehren. Dem Boten war nicht ganz wohl bei dieser schwierigen Aufgabe, aber er versprach sein Bestes zu tun.

Als die Menschen im Land am Rand gewahr wurden, dass ihr Hilferuf erhört worden war, liefen sie in ihrer Gier und Verzweiflung los und plünderten die Karawane aus dem Nachbarland aus, da sie vor Hoffnungslosigkeit nicht mehr wussten, was sie taten. So sehr der Bote auch schrie und mahnte, es half nichts und schließlich lag er allein mit einem blauen Auge im Straßengraben, da die Esel in der Panik davongelaufen waren.
Da wurde er zornig und lief zum König, um ihm alles zu berichten. Dieser war erschütterst über den hohen Preis, den Mittland verlangte, doch er sah schließlich ein, dass es der einzige Weg war, um seinen Untertanen zu helfen.
So rief er alle zusammen und teilte ihnen mit, wodurch sie ihre Leben retten konnten. Die Menschen waren erschreckt und erstaunt, dass die Aufhebung des obersten Verbotes nun plötzlich die Rettung bringen sollte und sie wussten gar nicht, wie sie das gewünschte Lächeln zustande bringen sollten, da sie ja so lange nicht gelächelt hatten.

Da meldete sich der Bote zu Wort und begann von Mittland zu erzählen. Von den fröhlichen Menschen, die in so wundervollen Häusern lebten. Er beschrieb die Farben und die duftenden Blumen, die Vergnügtheit mit der die kleinen Zicklein neben ihren Müttern über die Bergwiesen sprangen und die angenehme Wärme der Sonne am wolkenlos veilchenblauen Himmel.
Die Menschen begannen davon zu träumen, wie es wäre, selbst in solch einem Land zu wohnen und der König war so gerührt von den Schilderungen, dass er sofort befahl, sämtliche Fabriken zu schließen, damit zuallererst einmal die Sonne wieder auf das Land scheinen konnte.
Dann bat er den Boten, den Menschen die Lieder und Geschichten zu lehren, die er in den wenigen Tagen in Mittland gehört hatte, und alle im Malen und Tanzen zu unterrichten.
Alle bemühten sich, denn sie wussten, dass sie erst wieder Hilfe von Mittland erwarten konnten, wenn sie lächeln gelernt hatten. Doch sie waren nun nicht mehr verzagt. Das harte Arbeiten machte ihnen unglaublichen Spaß und die Lieder gefielen ihnen. Mit der Zeit fielen den Menschen auch ihre eigenen, alten Geschichten und Spiele wieder ein und bald schon verzogen sich die dunklen Wolken und die Sonne schickte ihre Strahlen wieder in das Land am Rand. Frisches Gras begann zu sprießen und Knospen öffneten sich zu Blüten nie geahnter Schönheit.
Und schließlich, als sie endlich alle Lächeln gelernt hatten, war das Land wieder voll erblüht und die Menschen gingen nun froh und guter Dinge wieder ihrer gewohnten Arbeit nach. Allerdings vergaßen sie nicht, immer wieder innezuhalten und ein kleines Lied zu singen, oder sich einfach nur einmal anzulächeln.

Der Bote wurde wieder nach Mittland geschickt, um von der erfreulichen Entwicklung zu berichten und dem König zu danken, der dem Land am Rand durch seine anfangs unerfüllbar scheinende Forderung seine Pracht zurückgegeben hatte.
Und schließlich wurde beschlossen, nun regelmäßig Handel zu treiben, damit die Menschen nicht immer die gleichen Geschichten und Lieder hörten und auch einmal ein anderes Lächeln kennen lernten. Denn es sollte alles verhindert werden, was zu Eintönigkeit, Langeweile und Gewohnheitstrott führte.

So wurde also die unglaubliche Notwendigkeit und wunderbare Heilkraft des Lächelns bewiesen. Und wenn die Insel nicht im Meer versunken ist, dann lächeln ihre Bewohner wohl heute noch.

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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2009

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