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Kapitel 7 Teil 1



Kapitel 7 Teil 1



Fuck! Fuck, Fuck!! Was sollte das eben?
Wütend werfe ich das klebrige T-Shirt in den Wäschekorb. Aber seine Augen lassen sich immer noch nicht abschütteln, wie zwei schleimige Blutegel, nur viel blauer und nicht ganz so abstoßend. Ganz und gar nicht.
Ein dumpfes Pochen kriecht meine Hand hinauf. So wie sich meine Knöchel anfühlen, könnten sie durchaus gebrochen sein.
Also doch Masochist, gut zu wissen.

Was hat dieser intensive Blick von eben zu bedeuten? Es ist fast als ob... nein. Eigentlich will ich es gar nicht wissen und doch ist einem beschissen ehrlichen Teil meines Verstanden längst klar, was ich nur zu gern übersehen würde. Was dieser blaue Blick bedeutet.
Ich würde fast sagen er hat mich damit ausgezogen, wenn ich nicht sowieso schon halb nackt gewesen wäre, als wolle er mich aufessen. Allerdings ist dann eine Lebensmittelvergiftung vorprogrammiert, so viel Bitterkeit übersteht kein Magen unbeschadet.
Die kalten Kacheln der Badewanne fühlen sich auf meiner nackte Haut an, wie Eiswürfel die sich langsam in meinen Rücken bohren und doch ist dieses Stechen im Moment ein willkommener Schmerz. Er erlaubt mir klarer zu denken, kühlt meinen überhitzten Körper auf erträgliche Temperatur. Nur meine Gedanken frieren nicht ein.
Sie brennen in meinem Kopf.

Und da kullern sie wieder, verursachen ein leises, schwächliches Platschen auf der harten, glatten Oberfläche der Fliesen. Eine kleine salzige Pfütze bildet sich zu meinen Füßen, viel zu flach um sich darin zu ertränken. Der schmale Lichtstrahl, der durch die enge Türritze in die Schwärze des Raumes sticht, lässt sie silbern erscheinen.

Bitte nicht!
Bitte nicht Denis!
Du darfst mich nicht gern haben!

Deine Blicke, dein Verhalten, deine Gesten, deine Mimik. Seit du heute Morgen das Haus betreten hast ist etwas darin, das mich schaudern lässt. Heiße Schauer, die mein Gesicht mit der verhassten Farbe füllen, dumpfe, kalte Schauer aufkeimender Panik, warme Schauer, die kein Härchen meines Körpers unbewegt lassen, solche, die mich vor Angst in die Knie zwingen könnten, wenn ich es zulassen würde.

Du darfst mich nicht gern haben!
Nicht mich!

Man müsste schon tot sein, um all diese Zeichen zu übersehen, für Untote gilt das leider nicht. Die wenigen ihrer verrottenden Sinne, die sie noch mit der Außenwelt verbinden, reichen vollkommen um sie mit dem zu beliefern, was sie wissen müssen.
Die Umarmung gestern zum Abschied, das prickelnde Gefühl an meinem Hals, Sonntagsfrühstück um halb Neun, heimlichen Blicke, ein ehrliches Lachen, zarte Fingerspitzen an meinem Mundwinkel, der Duft von einem warmen Sommertag und zwei lebendig funkelnde blaue Saphire. Die Tatsache, dass er nicht schon längst schreiend das Haus verlassen hat, dass ich noch keinen Einzeltisch in der Schule habe und dass noch immer keine Polizei und kein Jugendamt auf der Matte stehen.
Und am aller meisten, dass er jetzt gerade hier ist, weil ich ihn reingelassen habe.
Ich.

Ich darf dich nicht gern haben!
Ich will dich nicht gern haben!

Meine Stirn presst sich gegen den glatten Steinboden, widerlich warmer Atem schlägt mir ins Gesicht, silberne Flüsse rinnen durch die Fugen und bilden ein glitzerndes Netz.
Meine Finger krallen sich in meine Brust, als ob sie auch nur die geringste Chance hätten, die kalte Hand, die es mit eisernem Griff festhält, daran zu hindern mein Herz zu zerquetschen.

Da ist er wieder mein verhasster alter Freund, den nie wieder zu sehen, ich mir geschworen habe. Ich habe leider keine Hand mehr frei, um ihn gebührend zu umarmen, da ich gerade damit beschäftigt bin mir das gequälte Herz aus der Brust zu reißen, wenn ich nur könnte; um ihn loszuwerden, bevor er sich heimisch fühlt.
Aber Schmerz ist ein dankbarer Zeitgenosse, leicht zu handhaben. Man muss ihn nicht lieben, ihm keine Gefälligkeiten erweisen und trotzdem ist er treu und weicht nicht mehr von meiner Seite, wie ein Schatten. Er folgt mir wohin auch immer ich nicht will, um sich dann und wann daran zu erfreuen, wie ich mich unter jeder seiner Berührungen vor Qualen winde, bis ich ihn anflehe endlich zu gehen. Dann nimmt er die Hand aus meiner Brust, lacht mir ins Gesicht, geht einen Schritt zurück und wartet darauf, dass ich weitergehe; seine Schritte immer dicht hinter meinen…

Wann habe ich nicht aufgepasst? Wann ist mir dieser fatale Fehler unterlaufen?

Gedämpft höre ich eine Stimme vor der Tür, die meinen Namen ruft. Ich antworte nicht, meine Stimme würde im Moment eher einem Terrier mit eingeklemmtem Schwanz ähneln und auf diese Blamage kann ich getrost verzichten. Außerdem bin ich nicht in vorzeigbarem Zustand. Still warte ich bis die Stimme leiser wird, doch anstatt dann zu verschwinden, geht plötzlich die Tür auf.
Da steht er, aus meiner Position kann ich nicht mehr als seine Füße erkennen. Das zugehörige Gesicht, will ich mir nicht vorstellen, geschweige denn sehen. Es gibt Schöneres, als ein Häuflein zerflossenes Elend vorzufinden. Der irrwitzige Gedanke, dass er mich übersehen könnte, wenn ich mich einfach nicht bewege, verfliegt wie ein übler Gestank im Wind.

„Elija?“

Nein, ich bin nicht hier. Das, was du hier siehst, ist mein jämmerlicher Zwillingsbruder, den ich mir für alle Fälle im Keller halte. Die Füße kommen näher.

„Elija…d…du weinst…“

Ich weine immer noch? Dann kommt dieses erbärmliche Schluchzen, das schon die ganze Zeit so nervtötend von den Wänden widerhallt, also von mir? Aber so sehr ich es auch versuche, es lässt sich nicht ersticken, im Gegenteil es scheint sogar noch lauter zu werden. Wenn er jetzt ein Loch im Erdboden öffnen wurde, das mich mit Haut und Haar verschlingt, würde ich dem Teufel meine ramponierte Seele verkaufen. Ein Geschäft, bei dem ich eindeutig den besseren Deal machen würde. Ich warte.

Keine Rauchwolken, in denen ein ziegenartiges Wesen auftaucht, um mir ein unmoralisches Angebot zu machen, keine Löcher im Boden, aber ein andauerndes Wimmern.
Könnte mich bitte jemand ersticken?
Helfende Hände nähern sich, doch nicht um mir zu einem gnädigen Ende zu verhelfen, ganz sanft schließen sie mich in eine feste Umarmung.

„Pssssssssst, nicht mehr weinen.“

Als ob sie mich verhöhnen wollten, fließen sie erst Recht. Mein Kopf ist merkwürdigerweise an seine Schulter gebettet. Sein weicher blauer Pullover dämpft die Schluchzer und saugt sich voll mit der heißen Nässe, die unaufhaltsam aus meinen Augen sickert. Dass meine Finger sich so fest in den Stoff krallen, dass ich ihm wahrscheinlich wehtue, nehme ich nur am Rande wahr.

Jetzt, wo ich die Wärme eines anderen Körpers fühle, merke ich erst, wie kalt mir ist. Ein Zittern durchläuft mich; sofort schließen sich die Arme enger um meinen Oberkörper und ich habe nicht die Kraft, nicht den Willen, dagegen aufzubegehren.
Mein Ohr liegt direkt an seiner Brust und Denis’ Stimme, die unaufhörlich Worte bildet, deren Sinn nicht bis zu mir durchdringt, klingt dadurch seltsam dumpf. Nur ein stetiges Brummeln, ein leichtes Vibrieren. Beides hat eine eigentümlich beruhigende Wirkung auf mich, genauso wie die Finger, die federleicht durch mein Haar streichen.
Die Abstände zwischen den Schluchzern, die meinen ganzen Körper ohne Rücksicht schütteln, bis mir alles wehtut, werden immer größer, bis sie schließlich kein Zittern mehr durchbricht. In der entstandenen Ruhe kann ich seinen Herzschlag gegen meine Wange klopfen hören. Ein tiefer Atemzug, ein kurzes Schniefen und der süße Duft nach Sommer kitzelt meine Nase. Auch das Brummen seiner Stimme ist verschwunden, er hält mich nur noch fest.
Das schlimmste dabei ist, ich kann es nicht hassen.
Oh nein, ganz und gar nicht.

Mir sehr wohl bewusst, in was für einer Lage wir uns gerade befinden, beschließe ich dann doch, mein bestimmt arg verquollenes Gesicht von seinem inzwischen klatschnassen Pullover zu nehmen. Das Gewicht seiner Arme auf meinen Schultern ist nur allzu deutlich. Unsere Blicke treffen sich, als ich mich aufsetze. Etwas darin hindert mich wegzusehen, obwohl das Verlangen diesen intensiven Augen zu entkommen übermächtig ist.
Viel zu nahe sind unsere Gesichter schon beieinander, ich kann seinen Atem als warmen Hauch auf meinen tränennassen Wangen spüren. Er kitzelt, sodass sich die feinen Härchen in meinem Nacken genötigt fühlen sich dafür extra aufzustellen.
Kein einziges Mal haben wir den Kontakt unserer Augen unterbrochen. Er lässt mich nicht, nicht los, nicht entkommen, so wie alles in mir es befiehlt. Der Abstand schrumpft weiter, bis auf eine beinahe unerträgliche Nähe zusammen. Den Blickkontakt kann ich jetzt nicht mehr aufrechterhalten.
Ich könnte seine Nasenspitze mit meiner berühren, wenn ich mich nur zwei Millimeter nach vorne lehnen würde.

Als auch diese letzte Distanz zwischen uns verschwindet, droht mein Herz beinahe zu platzen, so fest schlägt es gegen meine Rippen, als wolle es sie unbedingt zerbrechen. Zaghaft streifen seine Lippen die meinen, nicht länger als ein Wimpernschlag, bevor er sie, diesmal bestimmter, ein weiteres Mal auf meine legt.
Alles hört auf.

Entweder ist mein Hirn gerade verstorben oder es befindet sich auf Wanderschaft, jedenfalls fühlt sich mein Kopf seltsam luftig an. Alles löst sich auf. Ich kann das Blut in meinen Ohren rauschen hören und jeder der schnellen Herzschläge hallt in dem entstandenen Hohlraum laut wider. Jeder Millimeter Haut, der mich im Moment mit ihm verbindet kribbelt, als würden tausend Ameisen darüber laufen.
Alles hört auf, steht stillt, geht weiter, bricht mit unbeschreibbarer Wucht wieder über mich herein, nur um sich sofort wieder in einem irren Wirbel aufzulösen.

Seine Hände ziehen unsere Gesichter näher zusammen, wie von selbst öffnet sich mein Mund, um mir noch mehr von diesem atemberaubenden Gefühl zu ermöglichen, um noch mehr Fläche herzugeben, auf der er mich berühren kann. Unser Kontakt, was uns verbindet, ist mehr als ich ertragen kann und doch ist es noch nicht genug.
Jedes Mal, wenn sich unsere Zungen anstupsen, springen britzelnde elektrische Ladungen zwischen uns Hin und Her. Mein ganzer Körper steht unter Strom, genug um die Stadt ein Jahr lang damit zu versorgen.
Alles schmilzt in der Hitze.
Ich vergessen zu denken, unglücklicherweise auch zu atmen, bin zu beschäftigt mich dem Strom zu überlassen, was immer er auch mit mir anstellen mag. Es ist egal. Alles ist egal, weil... es fällt mir kein Grund ein, überhaupt nichts ein, aber auch das kümmert mich im Moment überhaupt nicht.
Weiße Sternchen blitzen vor meinen geschlossenen Augen, der Sauerstoff wird bedenklich knapp, aber dieser Rausch ist gefährlich gut, viel zu gut um ihn auch nur für Sekunden zu unterbrechen. Doch letztendlich bleibt uns keine andere Wahl. Schwer atmend unterbrechen wir die Verbindung gerade lange genug, um die kleinen Sternchen zu vertreiben.
Und doch zu lang.

Mit jedem Sauerstoffatom, das meine Lunge füllt, kommt ein winziger Funke meines Verstandes zurück, fließt die Realität brutal in mein Bewusstsein. Sie kennt keine Mitleid, nicht mit mir. Meine Arme drücken Denis ein Stück von mir, unterbrechen den Kuss endgültig.

„I…ich k…kann nicht!“

Gedanken wirbeln durch meinen Kopf, wie Früchte durch einen Mixer. Er…ich…wir beide…
Was habe ich getan? Was tue ich hier?
Noch immer rast mein Herz als wollte es ein Formel 1 Rennen gewinnen.
Blicke löchern mich.

„Elija, was…?“
Enttäuschung, Verletztheit huschen über sein Gesicht. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie sind da.
Unmissverständlich.
Entsetzt weiten sich meine Augen, Tränen kullern auf meine nackte Brust, der alt bekannte Schmerz kehrt zurück, so stark, dass mir kurz die Luft weg bleibt.
Nicht auch du…

Wieder fange ich an zu beben und zu zittern. Fast flehentlich sehe ich ihn an.
„Bitte, i…i…ich k…kann nicht…“
Ich versuche mich von ihm zu befreien, doch er hält mich weiterhin fest. Ich kann ihm nicht in die Augen blicken, will den verletzten, enttäuschten Ausdruck darin nicht sehen.

„Elija.“

Ich betrachte meine zitternden Hände.

„Elija… sieh mich an“, kommt es ruhig. Mit sanfter Gewalt hebt er mein Gesicht an, zwingt mich ihn anzusehen.
Liebevoll schaut er mich an, nur noch Sorge und Verständnis stehen in seinen Zügen geschrieben. Vorsichtig zieht er mich in eine erneute Umarmung und flüstert mir leise ins Ohr:
„Es ist OK…“

Während ich in seinen Armen liege, bricht ein lauter Schluchzer aus mir hervor.

Nichts ist OK.

Ich hab ihn an mich ran gelassen, viel zu nahe an mich heran gelassen und genau das, was nie wieder passieren sollte ist passiert.
Er ist mir so wichtig geworden, dass er mir wehtun kann. Auf eine Art wichtig, von der ich gar nicht mehr wusste, dass ich dazu noch fähig bin. So wichtig wie kaum ein Anderer jemals war, so wichtig, dass er mir furchtbar wehtun kann.
Und daran lässt sich nun nichts mehr ändern.

Nichts ist OK.
Absolut gar nichts ist OK.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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