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Kapitel 6 Teil 2



Kritisch mustere ich den gedeckten Tisch. Mit viel Wohlwollen könnte man es durchaus als Frühstück durchgehen lassen. Prüfend schiebe ich die Teller etwas herum, rücke die Milch in die Mitte, ziehe die Brötchen ein Stück vor, zupfe am Tischset, so als könnte ich damit einen kleinen Teil der Energie loswerden, die mich seit heute Morgen im Überfluss durchströmt.

Dieser Tatendrang hat mich um halb Sieben aus dem Bett getrieben und nur ein gnädiger Anflug von Vernunft hat mich daran gehindert den ersten Bus zu nehmen, der zu Elija fährt. Ein bisschen unheimlich ist es schon, selbst meinen Eltern ist gestern Abend aufgefallen, dass etwas anders ist. Allerdings war es dann möglicherweise doch zu auffällig.
Wer übersieht schon jemanden, der erst beim vierten Versuch merkt, dass er die Sprudelflasche mit dem Milchdeckel zumachen will, oder verzweifelt versucht sein Steak mit der stumpfen Seite des Messers zu bearbeiten, bevor er freundlicherweise von seinem Bruder darauf aufmerksam gemacht wird. Ich war wirklich zu nichts zu gebrauchen.

Ich glaube inzwischen hat sich meine Zerstreutheit etwas gelegt und an ihre Stelle ist ein Gefühl getreten als würde die Sonne nur für mich scheinen, während ich, wie mit Helium gefüllt, durch die Gegend schwebe.
Beängstigend.
Aber irgendwie auch genial.

Von ganz unten, durch die dicke Schicht aus rosaroter Zuckerwatte, schleicht sich plötzlich ein Gedanke in mein Bewusstsein, der mich mitten im Verrücken der Butter innehalten lässt:

Ich bin schwul.

Komisch, dass mir der Gedanke erst jetzt kommt. Dass er ein Junge ist hat für mich bis jetzt keine Rolle gespielt, aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke; ist Elija tatsächlich ein JUNGE, mit allem was dazugehört.

Das ist eine unumstößliche Tatsache.
Dass ich mich trotzdem in ihn verliebt habe, ist die andere.

Ich liebe das, was er mir Gestern in einem kurzen Augenblick von sich, seiner Seele preisgegeben hat, aber das ist nicht alles von ihm, was mich in diesen schier unerträglich guten Hyper-Zustand versetzt. Ich begehre auch seinen Körper, seinen eindeutig männlichen Körper. Nur zu gut ist mir meine Umarmung noch im Gedächtnis, sein Geruch, meine Lippen an seinem Hals…

„Denis?“, eine Hand wedelt vor meinen Augen. „Was soll das hier?“, er deutet verständnislos auf den Tisch.

Verwirrt blinzle ich ihn an. Mit seinen noch leicht verstrubbelten, schwarzen Haaren hinter denen ich gerade nur eines seiner grünen Augen sehen kann, das mich fragend mustert, seinen rosa Lippen, die sich scharf gegen die blasse Haut abheben, die nur noch an manchen Stellen einen leichten Grünton aufweist und dem schmalen, aber nicht zu dünnen Oberkörper, der sich unter einem lockeren schwarzen T-Shirt versteckt, ist er einfach nur schön und begehrenswert. Von der Fußsohle bis zu Haarspitze einfach perfekt.

Mein Herz jubiliert bei diesem Anblick, schlägt mir bis zum Hals. Kleine Ameisen beginnen über meine Haut zu wandern… Wie gerne würde ich ihn jetzt küssen.
Die vorher nie gekannte Intensität der Gefühle erschreckt mich.

Bin ich schwul?
Vielleicht bin ich das wirklich.

Und ich bin verwirrt. Verwirrt, dass mich diese Tatsache nicht völlig aus der Bahn wirft. Immerhin geht es hier um einen ziemlich zentralen Teil von mir, um das was ich bin. Um etwas, das sich nicht einfach ändern lässt.

Ich hatte nie was gegen Schwule und um ehrlich zu sein, habe ich auch noch nie so besonders intensiv über dieses Thema nachgedacht, war es nie besonders relevant für mich. Ganz bestimmt habe ich mich aber bis jetzt nie gefragt, ob ich nicht auch einer 'von Denen' bin.
Einer 'von Denen' die von vielen Leuten immer noch mit Abscheu bedacht werden, über die man hinter vorgehaltener Hand spricht und die von so vielen immer noch für abartig und abnormal gehalten werden.
Schwuler, Schwuchtel, Homo... nein!

Nein, ich werde diesem Gefühl kein Label verpassen, weil es egal ist was es ist, was ich bin. Ich mag diesen neuentdeckten Teil von mir, ich mag was er jetzt gerade mit mir anstellt und wenn er mich zu dem macht, was man als 'Schwulen' bezeichnet, dann bin ich eben einer.
Einer 'von Denen'. Was soll’s.

Und obwohl ich mir bewusst bin, was es bedeuten wird diesen Teil zuzulassen, was es alles ändern wird, an der Art, wie mir die Welt begegnet, brauche ich nur einmal aufzusehen in sein fragendes Gesicht und mein Kopf ist frei von allen Bedenken.
Vulkanier, Hetero, Amöbe, Mensch, Schwuler... ist doch völlig egal?!

„Das ist Frühstück, sieht man das nicht?“ Mein Blick irrt über den Tisch. OK, vielleicht erkennt man es wirklich nicht. Durch meine andauernden Verrückungsaktionen ist der Tisch so durcheinander, dass man meint, eine Bombe habe einen zufällig vorbeifahrenden Lebensmitteltransport getroffen und dabei seine Ladung überall verteilt.

„Schon klar.“ Er zuckt mit den Schultern, „Zumindest war’s mal eins, aber das meine ich nicht. Warum um alles in der Welt kreuzt du morgens um halb Neun bei mir auf, um Frühstück zu machen?!“

Ich glaube, das willst du nicht wissen, es ist mir selbst ja schon megapeinlich mich wie ein verliebtes Schulmädchen aufzuführen. Außerdem wäre es sehr unvorteilhaft ihn noch vor einem ordentlichen Essen mit der Tatsache zu überfallen, dass ich nicht nur schwul, sondern zudem in ihn verliebt bin. Ich würde ihn nur vergraulen und das ist das Letzte, was ich will.

„Pure Freundlichkeit und Nächstenliebe. Nicht jeder bekommt am Sonntag ein Frühstück freihaus, also beschwer dich nicht, sondern iss!“
Da ist er wieder, dieser Blick, als ob er mich für vollkommen durchgeknallt hält. Im Moment, das muss ich zugeben, ist er durchaus berechtigt.

Seufzend lässt er sich mir gegenüber auf einem Stuhl nieder und angelt nach einem Brötchen, sucht eine Weile nach der Butter, die er schließlich hinter zwei Saftflaschen findet, und beginnt die Suche nach einem Messer.
Ich sitze nur da und starre ihn mit offenem Mund an.
„Was?“, schnauzt er mich an, während eine Augenbraue fragend nach oben wandert. „Oder ist das etwa nicht zum Essen gedacht? Eine Art abstrakte Skulptur?“
Ich schüttle den Kopf, er fährt fort sein Brötchen zu bestreichen. Mein Grinsen reicht schon von einem Ohr zum anderen. Wir frühstücken tatsächlich zusammen! Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.

„Sag mal, wo steckt eigentlich dein Vater? Er war weder gestern noch heute hier, als ich da war.“
Langsam kaut er den Bissen zu Ende, den er gerade im Mund hat und würdigt mich keines Blickes. Ich denke schon ich muss meine Frage wiederholen, als er endlich antwortet:
„Auf Geschäftsreise, er ist eigentlich so gut wie nie zu Hause. Dass er ausgerechnet an dem Tag da sein musste, an dem die beschissene Lehrerin hier angerufen hat, war ein dummer Zufall. In… vier Tagen kommt er zurück.“ Bei diesen Worten fällt sein Gesicht in sich zusammen, träge rührt er in seinem Kaffee. Wenn ich doch nur irgendwas tun könnte. Ihn so leiden zu sehen macht mich ganz krank, aber er will sich ja nicht helfen lassen.
„Hey, jetzt guck doch nicht so grimmig. Immerhin hast du ja noch mich, oder?“
Der Ausdruck, der daraufhin in seinen grünen Augen auftaucht, lässt einen gewaltigen Stein in meinen Magen plumpsen. Warum spiegelt sich Angst darin, ist ihm meine Nähe so unangenehm?

„Ich weiß“, ein tiefer Seufzer, der absolut nicht so klingt, wie ich ihn hören wollte. Die Angst ist fast aus seinen Augen verschwunden, aber eben nur fast.

Das erhebende Gefühl von vorhin ist weg, eine bohrende Unsicherheit nagt an meinen Gedanken. Warum fürchtet er meine Nähe?
Aus ihm werd ich einfach nicht schlau.
Ich seufze ebenfalls. Es bringt nichts noch länger zu grübeln, er duldet mich bei sich und das ist fürs Erste genug. Mehr als ich Gestern noch erwartet hatte. Ich werde den Grund für seine Angst finden und vielleicht kann ich sie ihm irgendwann nehmen.

Ich nippe gerade an meinen Kaba , als mein Blick auf sein Gesicht fällt. Unter Husten und Prusten versprühe ich einen Mund voll brauner Flüssigkeit über den ganzen Tisch.
Angewidert springt er auf, sieht mich an und schüttelt seine besprenkelten Hände. „Was zum…!“
Ein heftiger Lachanfall lässt mich unter dem Tisch abtauchen. Verzweifelt presse ich mir die Faust vor den Mund, aber er lässt sich nicht ersticken. Mein Bauch schmerzt, als ich einen kurzen Blick über die Tischkante riskiere… sofort tauche ich prustend wieder ab.
„Was ist denn bitte so witzig?“, inzwischen klingt er beleidigt.

Nach Atem ringend und meinen Bauch haltend, schaffe ich es endlich mich in eine halbwegs aufrechte Position zu bringen.
„D… das schaust du… du dir besser selbst an…mmmmmpffff…“, eine weitere Kicherattacke überkommt mich. Ich sehe gerade noch wie er offenbar in Richtung Badezimmer verschwindet. Den Anblick will ich auf keinen Fall verpassen, also mühe ich mich ab ihm zu folgen.
Er steht vor dem Badezimmerspiegel und mustert sein über und über mit braunen Sprenkeln bedecktes Gesicht.
„Das ist nicht witzig. Das ist überhaupt nicht witzig…,“ wütend packt er sich ein Handtuch und wischt sich die Sprenkel aus dem Gesicht. Tödliche Blicke erdolchen mich geradezu und alle bösen Geister dieser Erde müssten sich jetzt eigentlich erzürnt auf mich niederstürzen.
Wieder einigermaßen bei Atem gehe ich ein paar Schritte auf ihn zu.
„Du hast da…“, meine Hand nähert sich seinem Gesicht, seine Augen werden immer größer. Sanft streiche ich mit meinem Daumen über seinen Mundwinkel, „einen Krümel.“

Belustigt verfolge ich, wie sein Blick über den Krümel auf meinem Finger, bis zu meinem Gesicht wandert, bevor sich seine Wangen in einem dunkelroten Ton färben. Mein Herz tut einen rekordverdächtigen Hüpfer, der Anblick ist einfach göttlich. Hastig tritt er einige Schritte zurück, verheddert sich dabei im Badezimmerteppich und wäre beinahe gestürzt, wenn ich ihn nicht im letzten Moment aufgefangen hätte.

Nun leuchten auch seine Ohren in einer kräftigen Signalfarbe. Fahrig versucht er sich so schnell wie möglich aus meinen Armen zu befreien. Das Gefühl ihn so nahe bei mir zu haben ist einfach berauschend, nur widerwillig gebe ich ihn wieder frei.
Eine unangenehme Stille breitet sich aus.

„Die Sauerei im Esszimmer darfst du selbst wegmachen. Und merk dir Eines: Niemand bespuckt mich ungestraft mit Kaba. Irgendwann wenn du es am wenigsten erwartest wird Elija der Rächer zuschlagen und er kennt keine Gnade.“ Ich bleibe allein im Bad zurück.

War das gerade...?
Habe ich gerade wirklich den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht gesehen, bevor er sich umgedreht hat?
Ich muss mich irren.

„Weißt du ich könnte schon etwas Hilfe gebrauchen.“
„Ich denk nicht dran!“ Demonstrativ setzt er sich auf den Stuhl und schaut mir mit einem Das-ist-die-Strafe-dafür-dass-du-über-mich-gelacht-hast-Blick beim Putzen zu. „Du sollst ruhig auch mal in den Genuss des Saubermachens kommen, ich möchte dir diese wertvolle Erfahrung nicht vorenthalten.“

Mit einem freundlichen Lächeln präsentiere ich ihm meinen Mittelfinger und mache mich daran den Boden zu wischen. Da ich genau weiß, dass er mich beobachtet, kann ich es mir nicht verkneifen dabei aufreizend mit dem Hinterteil zu wackeln.
„Naaaa, gefällt dir die Aussicht?“
Wenn es nach ihm ginge, wäre ich wahrscheinlich gerade zum wahrscheinlich hundertsten Male zum Geist geworden, diese Todesblicke sind echt gruselig. Allerdings verfehlt er diesmal seine Wirkung, der Hauch von Rot auf seinen Wangen passt einfach nicht dazu.

Ich würde mal sagen: Ein Punkt für mich!

Als er daraufhin aufsteht und den Tisch verlässt, beginne ich mir Sorgen zu machen. Ich bin doch nicht zu weit gegangen? Zu meiner Verblüffung zieht er sein T-Shirt aus und steht plötzlich mit nacktem Oberkörper da. Kaum einer kann mir einen Vorwurf machen, dass ich meine Augen dabei beim besten Willen nicht mehr bei mir behalten kann. Mein Starren wird jedoch so offensichtlich, dass er sich auf dem Weg ins Bad noch einmal umdreht und mich mit einem traurig, ängstlichen Ausdruck fixiert.

Die Badezimmertür fällt hinter ihm zu.

Ein dumpfer Schlag ist zu hören, ein leiser Fluch, dann ist es wieder still.




Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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