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Kapitel 6 Teil 1

„Ich weiß ja, dass ich nicht der beste Klavierspieler bin. Aber so schlecht, dass es dir Tränen in die Augen treibt, bin ich auch nicht!“
„Ich glaube du missverstehst da was, ich heul doch nicht, weil du schlecht bist. Du warst einfach… fantastisch. Und das meine ich wirklich ernst!“ bekräftigend nickt er mit dem braunen Schopf und schaut mich dabei mit diesem treuherzig ehrlichen Hundeblick an, der mir vorher schon den Rest gegeben hat.

Ich weiß ja nicht, was er mit dieser widerlichen Schleimerei erreichen will. Und es würde mir ja auch nichts ausmachen, wenn er derjenige wäre, den nachher diese Sauerei wegmachen müsste, da dem nicht so ist, wäre es mir lieber er würde das bleiben lassen. Ich habe nämlich absolut keine Lust länger als nötig den Feudel zu schwingen.
Die akute Rutschgefahr ist aber bei Weitem nicht das Schlimmste. Dieses Gefühl, als wäre mein ganzer Brustkorb mit diesem ekligen, warmen Schleim gefüllt, der meine Pumpe daran hindert richtig zu schlagen, ist es, was mir wirklich zu Schaffen macht.

„Du bist nicht zufällig auf den Kopf gefallen, oder?“
„Doch, heute Morgen bin ich… woher weißt du das!?“
„Ach, war nur so’n Gedanke.“ Damit wäre sein merkwürdiges Verhalten geklärt.
Mein Blick bleibt an den Pflastern hängen, die meinen Arm über und über bedecken. Damit wäre geklärt, was da in ihn gefahren ist. Für mich dagegen, habe ich keine einleuchtende Entschuldigung parat, dass ich mich aufgeführt habe, wie eine liebeskranke Schwuchtel. Einfach nur erbärmlich.

„Sag mal, was ist denn heute Morgen mit deinem Schädel passiert?“ Das interessiert mich jetzt schon.
„Naja“, irgendwas scheint ihm schrecklich peinlich zu sein und ich bring es nicht über mich, mich darüber nicht ein kleines gigantisches Bisschen zu freuen, „ich dachte, ich würde zu spät in die Schule kommen und war etwas hektisch.“
„Du weißt aber schon, dass heute Samstag ist?“
„Ja, du Idiot, das hab ich später auch gemerkt. Jedenfalls bin ich über Schulbücher gestolpert und hab mir den Kopf ordentlich am Schrank angehauen. Ich hab gedacht, mein Schädel sei gespalten.“
„Du erwartest doch jetzt kein Mitleid, oder?“ Danke! An was auch immer da oben zwischen den grauen Wolken rumgammelt und das Leben der Menschen, auf diesem dreckigen Erdklumpen, ordentlich verpfuscht. Offenbar gibt es doch noch Gerechtigkeit.

„Nein, aber eine kleine, tröstende Umarmung wär’ nicht schlecht.“, grinst er und reckt erwartend die Arme.

Fuck! Was auch immer da Oben rumgammelt ist ein hinterhältiges, mieses… mir so in den Rücken zu fallen. Ich bin sicher, meine Ohren leuchten schon im Dunkeln.
„Wichser!“
Etwas energischer als gewollt, schlage ich die Klappe des Klaviers zu und aus dem nahe gelegenen Regal segelt ein kleines Stück Papier zu Boden. In dem Moment, in dem Denis es aufhebt, erkenne ich, was es ist.

In diesem verdammten Haus gibt es so viele uninteressante, unwichtige Dinge, die ihm hätten in die Hände Fallen können, aber es muss ja natürlich ausgerechnet dieses alte Foto sein. Wütend balle ich meine Fäuste, ich hätte dieses Foto schon längst vernichten sollen; es verbrennen, vergraben, in klitzekleine Stückchen reißen und von der nächsten Brücke schmeißen oder dem kleinen Kläffer der Nachbarn damit das Maul stopfen; stattdessen ist es immer noch hier, in den Händen desjenigen, der schon zu viel weiß, mehr als genug um mir…

„Gib das her!“, hastig greife ich nach dem Bild. Ein reißendes Geräusch ist zu vernehmen. Jeder von uns hält plötzlich einen Teil der Fotografie.
„Oh nein, das wollte ich nicht! Vielleicht kann man es wieder zusamm…“

Nachdenklich betrachte ich meine Hälfte, sie zeigt einen großen, stattlichen, attraktiven und durchaus sympathischen Mann Anfang Vierzig. Weiches braunes Haar fällt ihm locker in die Stirn und klare, graue Augen schauen aus diesem lachenden Gesicht direkt in die Kamera. An seinen linken Hemdärmel klammert sich eine blasse Hand, die zu dem kleinen, schwarzhaarigen Jungen gehört, der nun mittendurch gerissen ist.
Das strahlende Gesichtchen wirkt durch den Riss seltsam verzerrt.

Lange habe ich das Foto nicht mehr in den Händen gehalten und doch weiß ich genau, was auf der anderen Hälfte zu sehen ist, kann mich an jedes, noch so winzige Detail, exakt erinnern. Wochenlang habe ich nichts anderes gesehen, bestand meine Welt nur aus dieser zerknitterten Fotografie. Nächtelang hab ich mich bei diesem Anblick in den Schlaf geweint, bis ich es irgendwann nicht mehr ertragen konnte, all diese glücklichen Gesichter zu sehen.
Für immer sollte es verschwinden, aber egal wie oft ich ein Feuerzeug darunter hielt, verbrannt ist es nie…

„Ist das deine Mutter? Sie ist wunderschön“, flüstert Denis fast ehrfürchtig. „Du siehst ihr so ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Ja, das tue ich und ich verfluche sie dafür, dass sie mich zu einem männlichen Spiegelbild ihrer Selbst gemacht hat, dass sie mich als unperfekte, mangelhafte und fehlerhafte Kopie hier zurückgelassen hat.

Wie sie so dasteht, in ihrem leichten Sommerkleid, in dessen Blumenmuster ich jedes Blütenblatt in und auswendig kenne, ihren glänzenden schwarzen Haaren, die sich in einer ewigen, unsichtbaren Sommerbrise kräuseln und mit ihren leuchtenden, grünen Augen, die den meinen so ähnlich sind, liebevoll auf den kleinen Jungen schaut, so als würde sie gar nicht sehen, dass er mittendurch gerissen ist; da will ich sie nur noch zerstören und dieses falsche und trügerische Bildnis immerwährenden Sommers vernichten.

„Elija?“ Vorsichtige Fingerspitzen streichen über meine Wange, ziehen sich aber gleich wieder zurück. Sie hinterlassen ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut.

„Das Foto hat dir viel bedeutet stimmt’s? Ich kann versuchen es zu reparieren, wenn du willst.“

„Das wird nicht nötig sein, ich wollte es sowieso wegwerfen.“, mit diesen Worten zerknülle ich beide Teile und werfe sie in den Mülleimer in der Küche. Nicht ohne vorher kurz zu zögern, wie nicht anders zu erwarten vom unangefochtenen König der Loser. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie er mich mit seinen blauen Augen verdutzt und besorgt mustert und dann resigniert den Kopf schüttelt.
Als der Deckel zufällt überkommt mich eine merkwürdige Beklemmung, schnell verlasse ich die Küche. Nicht ohne noch einen letzten Blick auf das schwarze Plastik zu werfen, das mich von einem anderen Leben trennt.

Denis steht noch immer im Wohnzimmer wie bestellt und nicht abgeholt. Er sagt nichts. Sein morgendlicher Unfall hatte offenbar größere Auswirkungen, als ich gedacht habe. Seine Augen kleben unverständlicher Weise förmlich an mir. Prüfend schaue ich an mir herunter. Ich habe weder meine Unterhose über die Hose angezogen noch trage ich einen rosa Strampelanzug, nichts was es rechtfertigen würde mich mit diesem Röntgenblick zu durchleuchten.
„Würde es dir was ausmachen, mein Krebsrisiko so niedrig wie möglich zu halten?“
„Dein Was?!“
„Krebsrisiko. Röntgenstrahlen sind ungesund.“
Er mustert mich verwirrt. Meine Güte, vielleicht habe ich seinen IQ doch etwas überschätzt, im Moment ist wahrscheinlich selbst ein Kochtopf intelligenter als er und der enthält immerhin noch Luft.
„Vergiss es!“ Bei dem ist schon alles zu spät.

Welche Fehlfunktion meiner Gesichtsmuskeln, ihn auch immer veranlasst haben mag die folgende Frage zu stellen, um das Schweigen zu brechen, sie sollte dringend behoben werden. Da korrigierende OPs zu teuer sind, werde ich wohl endlich mein Handbuch lesen müssen. Sonderlich kompliziert kann es ja nicht sein.

„Dieser Mann auf dem Foto. War das dein Vater?“

Möööp! Tut mir Leid, das war die falsche Frage. Und damit scheidet der Kandidat in der 4. Runde aus. Als Trostpreis hätten wir hier diese Socke, die der bekannte griechische Marathonläufer Sokis Stinkis während seines Siegeslaufes getragen hat, ungewaschen versteht sich.

Warum musste er mich ausgerechnet jetzt daran erinnern? Meine Laune ist gerade bungeejumpen und Denis war so freundlich das Gummiseil durchzuschneiden, das sie aus dieser bodenlosen Tiefe wieder nach Oben befördern sollte. Wenn sie ganz unten aufschlägt, ist es besser, Denis ist nicht hier. Niemand sollte dann hier sein, man stelle sich nur mal das Massaker vor vor.

Ich bin mir sicher, ein harsches und kaltes Wort genügt um ihn zum Verschwinden zu bringen. Mein Hirn hat sich da was besonders Schönes ausgedacht:
„Ich will jetzt allein sein.“
Äh? Wo zum Teufel sind die zu Recht gelegten Worte verloren gegangen, das klingt ja fast nett, so gar nicht nach mir. Jetzt bin ich ernstlich besorgt, ich hatte ja schon früher Differenzen zwischen Hirn und Körper, so schlimm war es allerdings noch nie.

Er sieht enttäuscht aus: „Na gut, aber nur, wenn ich Morgen wieder kommen kann.“
Warum ist der Kerl so scharf darauf Zeit mit mir zu verbringen? Ich bin ein Magnet für Bekloppte.
Im Wissen darum, dass ich es teuer bezahlen werde, stimme ich zu. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob ich nicht doch etwas masochistisch geworden bin, gewisse Tendenzen lassen sich einfach nicht mehr leugnen. Damit kann ich ein weiteres Stichwort auf meinem verkorksten Loserlebenslauf hinzufügen; langsam aber sicher wird der Platz ziemlich knapp.

Völlig überrumpelt finde ich mich in einer engen Umarmung wieder. Seine Haare kitzeln meinen Nacken und mir wird bewusst, wie unglaublich gut er doch riecht. Eine Mischung aus Blumen und Wind, ein bisschen Sonne und Wärme, fast wie Sommer. Wie ein nasser Sack stehe ich da, während er mich an sich presst als ob er mich zerquetschen wollte. Die verzweifelten Notrufsignale meiner Rechenzentrale verlieren sich irgendwo zwischen Rückenmark und Gliedmaßen; nichts rührt sich. Seine behagliche, wohlige Wärme hüllt mich vollkommen ein, macht mich benommen, jagt einen Schauer nach dem Anderen durch meinen kalten Körper.
Und auf ein Mal, ist da dieses Gefühl, von etwas unglaublich Weichem und Zartem, das mich kurz unter meinem Ohr flüchtig berührt und meinen Herzschlag kurz aussetzten lässt.

Das war doch nicht etwa…


Minuten später stehe ich immer noch dort wo er mich zurückgelassen hat. Wie Denis gegangen ist, habe ich nicht mitbekommen, er war plötzlich einfach weg. Ganz langsam legt sich das Trommelkonzert in meinem Inneren, bis es zu einer erträglichen Lautstärke abgeklungen ist, nur die heiße Stelle unter meinem Ohr bleibt überdeutlich.

Auf was habe ich mich da nur eingelassen?

Panik schwappt in Wellen durch mich hindurch, überfällt mich im einen Moment mit eisiger Kälte, nur um im nächsten Lava durch meinen Körper zu pumpen.
Ich stecke schon viel zu tief drin, um noch halbwegs heil aus der Sache raus zu kommen. Nur zu deutlich kann ich das Brennen an meinem Hals spüren, seine Finger auf meinem Augenlid.
Wie Frankenstein hat er einem toten Fleischklumpen das Leben zurückgegeben. Ein gigantischer Stromstoß: das rohe Fleisch beginnt zu pulsieren und die rote Flüssigkeit, die Gefühl in lange taube Glieder zurück bringt, durch die Venen zu pumpen. Und mit jeder neu belebten Nervenfaser wünsche ich mir die schützende Taubheit zurück.

Ich muss handeln, bevor es sich weiter ausbreitet, bevor auch die letzte von ihnen wieder gnadenlos ihren Dienst tut.

Meine Finger krallen sich in meinem Arm fest. Jetzt wären die Schmerzen des absterbenden Gefühls gerade noch so zu ertragen… Die Sache ist so glasklar, und doch…
Und doch wünsche ich mir jedes Mal, wenn der Geruch von Sommer, sein Geruch, der immer noch in der Luft liegt, in meine Nase steigt, mich einfach in dieses süße Verderben fallen zu lassen. Was scheren mich schon zukünftige Schmerzen, wenn ich jetzt, mit diesem neu erwachten Sinn, nur eine warme Berührung richtig spüren kann?
Ich wollte ich könnte diesem Wunsch nachgeben, aber ich bin zu feige, zu schwach, um ihnen noch einmal bei vollem Bewusstsein ins Gesicht zu blicken.

Ein rotes Rinnsal bahnt sich seinen Weg zwischen den Pflastern hindurch, Richtung Boden.


Zwei zerknitterte Hälften eines Fotos, sorgfältig glatt gestrichen und vorsichtig mit Tesa zusammengeklebt, liegen auf meinem Nachttisch, während ich mich unruhig im Bett Hin und Her wälze.
Den erlösenden Schlaf finde ich heute Nacht nicht.


„Du siehst echt beschissen aus“, flötet es mir entgegen.
„Dir auch guten Morgen, oder lieber gute Nacht. Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
„Aber sicher, es ist:“ er blickt auf seine Armbanduhr, „Genau 8 Uhr 39 und 42 Sekunden. Ich hab auch Frühstück mitgebracht.“
Wie ein Verkehrspolizist auf Ecstasy wedelt er mit einer Bäckertüte vor meiner Nase herum. Wie kann man um diese Uhrzeit schon so viel Energie haben? Er sollte seine Wohnung mal auf radioaktive Strahlung testen lassen.
„Und?“
„Und was?“
„Was willst du hier? Außer mich um meinen wohlverdienten Schönheitsschlaf zu bringen.“
„Bist du sicher, dass du überhaupt geschlafen hast? Die Ringe unter deinen Augen könnte man auf Felgen aufziehen.“

Geschlafen? Das ich nicht Lache. Ich hab heute Nacht so lange Schäfchen gezählt, dass ich die Türklingel, irgendwann Richtung Morgen, mit dem Blöken eines dieser Wollknäule verwechselt habe, was mich ernsthaft an meinem Verstand zweifeln lässt. Und der Grund dafür steht mir jetzt putzmunter gegenüber, so als wäre es normal an einem Sonntagmorgen um 8 zum Frühstücken aufzukreuzen.
Genervt trete ich einen Schritt zurück, um ihn herein zu lassen. Was muss man tun, um den wieder loszuwerden?
Als ich langsam die Tür schließe, höre ich es schon aus der Küche klappern. Der ist ja schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe und er sorgt für mindesten genauso viel Unbehagen.
Mit einer merkwürdigen Vorahnung gehe ich in Richtung Esstisch. Der Anblick der sich mir jetzt bietet lässt mich ernsthaft am Wohlbefinden meines Besuchers zweifeln.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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