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Kapitel 4 Teil 2



Genervt schaue ich aus dem Fenster. Welcher Idiot hat Französisch erfunden. Mann sollte ihn nachträglich dafür in die Hölle schicken, dass er es heute noch schafft tausende von Schülern mit unregelmäßigen Verben zu Quälen.
Und zum wiederholten Male ist keine Ablenkung in Sicht. Elija war seit dem Nachmittag in der Stadt nicht mehr in der Schule. Der war schon vor drei Tagen. Ich frage mich, was diesmal mit ihm los ist. Ich dachte, er hat schon genug Ärger mit Fehlstunden und jetzt ist er wieder nicht da.
Wenn ich im Nachhinein so darüber nachdenke, war er neulich gegen Ende unseres Stadtbummels sehr merkwürdig. Er hat sich erneut total abgekapselt und hat auf nichts mehr reagiert, was ich zu ihm gesagt habe. Er war richtig unfreundlich und abweisend, aber als wir uns dann verabschiedet haben, sah er auf einmal traurig aus. Er hat mich nicht mal angeschaut und ist dann wortlos verschwunden, allein in die anbrechende Dunkelheit. Irgendwas lag ihm auf dem Herzen.
Ich war wieder zu feige um zu fragen.

Dieses nagende Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung, ist lässt mich seitdem nicht mehr los. Vielleicht sollte ich mal bei ihm vorbei schauen, auch wenn er mich dann wahrscheinlich mit einem bis an mein Lebensende reichenden Vorrat an Schimpfwörtern bedenken würde.
Ja, das sollte ich wirklich tun, denn unser Lehrer kündigt gerade eine Arbeit für nächste Woche an. Wenn das nicht ein Grund ist um Elija zu Hause zu besuchen, dann weiß ich auch nicht.

Obwohl es eigentlich nichts Besonderes ist einen Mitschüler zu Hause zu besuchen, bin ich doch ein bisschen nervös. Ich besuche immerhin nicht irgendeinen Mitschüler sondern Elija, das ist schon was anderes. Ich wette ne menge Leute würden einiges dafür geben zu wissen, wie er so wohnt.
Die Gegend in der sein Haus liegt ist nicht schlecht. Auf meinem Weg bin ich bisher an mindesten zehn gigantischen Villen vorbeigelaufen und der Rest ist auch nicht gerade von schlechten Eltern.
Sein Zuhause ist hier wohl eines der kleinsten, trotzdem staune ich nicht schlecht. Eine gut gepflegte Hecke führt um das Grundstück herum und ein offen stehendes, schmiedeeisernes Tor gibt den Weg zum Haus frei. Das Haus selbst ist strahlend weiß und ist bestimmt mehr als 80 Jahre alt, mit hohen großen Fenstern und Ornamenten, die dem ganzen Haus trotz seiner strengen geraden Linien ein gewisse Verspieltheit verleihen.
Das hätte ich nicht erwartet. Ich meine Elija macht so gar nicht den Endruck von verwöhntem Bengel aus reichem Hause. Außerdem ist wirkt das Bild, das Elija in dieser Umgebung zweifellos abgeben muss ziemlich grotesk. Da sieht man mal wider, wie wenig ich doch von ihm weiß.
Etwas eingeschüchtert und nach einer unangemessen langen Bedenkzeit vor den Flügeln des mächtigen Tores, kann ich mich schließlich dazu durchringen zur Tür zu gehen. Nach einer ausgedehnten Weile schaffe ich es endlich die Klingel zu drücken. Angespannt warte ich. Nachdem nach über einer Minute nichts passiert ist, versuche ich es noch einmal. Er tut sich wieder nichts.

Das kann doch nicht wahr sein! Er muss doch zu Hause sein. Ich versuche es mit Sturmklingeln.
Na warte, wenn du doch da bist, wirst du mir irgendwann aufmachen müssen. Und tatsächlich nach über zwei Minuten Dauergeklingel und leisen Gebeten, dass seine Eltern nicht plötzlich die Tür aufreißen, ertönt eine genervte Stimme aus der Sprechanlage.
„Verdammt noch mal, ich brauche nichts. Ich bin mit Viagra versorgt, habe bereits ein Abo von 'Gartenzwerge und ihre Freunde', züchte die weltgrößte Schimmelpilzkolonie auf meinem seit Jahren ungesaugten Teppich und Gott habe ich letzte Woche in kleine Stückchen zerhackt, bewahre ihn derzeit in meiner Kühltruhe im Keller auf und werde ihn demnächst mit meinen dunklen Brüdern in einem satanischen Ritual verspeisen, also verschwinden sie endlich!“
„Behandelst du Besucher immer so freundlich?“
„…Denis?“
„Richtig geraten. Darf ich vielleicht rein kommen? Ich verspreche auch keine Bibel mitzubringen.“
„Ich glaube nicht, dass das eine gute I…“
„Ach komm schon ich hab mir extra die Mühe gemacht… und weißt du es ist nicht gerade ein Katzensprung von mir zu dir also… Bitte!“
„I… Ich bin hochgradig ansteckend!“ Die Ausreden werden ja immer besser.
„Das Risiko nehme ich auf mich.“
„…Mist, verdammter!“, er klingt irgendwie in die Ecke gedrängt, „Du wirst auch nicht verschwinden, wenn ich dir erzähle, dass unsere fleischfressenden Pflanzen, die zufällig neben der Tür stehen, schon länger nicht mehr gefüttert wurden?“, kommt es dann noch fast hoffnungsfroh.
„Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich hab bis jetzt noch jedes Grünzeug in die Knie gezwungen.“
Am anderen Ende herrscht lange Schweigen, bevor sich die Tür mit einem Klicken und unter resigniertem Schnauben entriegelt.
Na also, geht doch.

„Aber… erschreck dich nicht!“
Jetzt bin ich aber wirklich gespannt. Langsam und vorsichtig öffnet sich die Tür nur einen schmalen Spalt. Drinnen ist es stockdunkel, sodass ich nur seine Umrisse hinter der Tür sehen kann. Ich schlüpfe schnell rein, bevor er es sich noch anders überlegt. Das fehlende Licht macht es mir unmöglich etwas zu erkennen.
„Sag mal, hast du plötzlich eine Lichtallergie oder warum ist es hier so finster?“
„Nein, das nicht aber…mir wär’s lieber wenn du das Licht ausl…“
Ich kann hinter mir an der Wand einen Lichtschalter fühlen und ohne groß nachzudenken, lege ich ihn um.
„Sag bloß du hast einen Kater?“
Das Licht blendet meine Augen, die sich schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Gequält kneife ich sie zusammen und öffne sie nur langsam.
Bei dem Anblick, der sich mir bietet wünsche ich, ich hätte das Licht nicht angeschaltet, die Augen zugelassen. Der Rucksack, den ich bis dahin noch in der Hand hatte, fällt mit einem, in der entstandenen Stille, ohrenbetäubend lauten „Womph“ zu Boden.
Ich kann nicht anders als Elija mit entsetztem Gesicht anzustarren. Beschämt und wütend zugleich fixiert er den Fußboden neben sich und reibt sich nervös die Schulter. Er tut alles um meinem forschenden Blick auszuweichen, während ich ziemlich erfolglos versuche meine entgleisten Gesichtszüge wieder in Ordnung zu bringen.
„Starr mich nicht so an verdammt!“, bricht es gequält, ja fast verzweifelt aus ihm heraus. Für einen kurzen Augenblick treffen sich unsere Blicke. Blau auf Grün.

„Hab ich vielleicht Dreck auf der Nase, oder gibt’s sonst noch einen Grund, warum du mich so bescheuert anstarrst?!“
„E…Elija“, ich merke, wie meine Stimme zittert, „w…was ist mit dir passiert!?“
Sein rechtes Auge ist geschwollen und dunkelblau umrandet. Es scheint ihm Mühe zu machen damit etwas zu sehen. Ein beinahe flächendeckender Bluterguss ist von seinem Gesicht übriggeblieben, kaum eine Stelle unversehrt blasser Haut zu sehen. Seine sonst so vollen Lippen sind zusammengepresst, an einigen Stellen sind sie von Krusten bedeckt.
Die schmalen weißen Arme, die aus seinem T-Shirt hervorragen, sind mit zahlreichen frischen Schnitten übersät und an seinem Oberarm, so wie an seinen Handgelenken zeichnen sich deutlich die dunklen Spuren zweier Hände ab, die ihn dort offenbar mit viel Kraft gepackt hatten.
Seine ganze Haltung sieht seltsam angespannt und gleichzeitig kraftlos aus. Immer wieder verzieht sich sein Gesicht, wie unter Schmerzen.
„Nichts!“, zischt er wütend. Seine Hand presst sich auf seine Rippen und er beißt sich so fest auf die Lippen, dass sie erneut anfangen zu bluten, Schmerz huscht über sein geschundenes Gesicht. Nichts... Nichts, aber sicher doch.
„Lüg mich nicht an!“, meine Augen fühlen sich feucht an. „Wer hat dir das angetan?“
„Niemand! Hab ich nicht erwähnt, dass ich unter die Artisten gegangen bin? Ich hab nicht aufgepasst, als ich meine Seiltanznummern geübt hab. Wenn ich sie besser draufhab, dann zeige ich sie dir... du siehst, nichts dramatisches“, kommt es immer noch wütend aber schon deutlich schwächer als vorher zurück. Meine Brust ist wie zugeschnürt.
„Verdammt noch mal, du wurdest verprügelt! Sag nicht das ist Nichts!“
Inzwischen stehe ich direkt vor ihm und habe ihn in meinem Schock an den Schultern gepackt, lasse ihn jedoch sofort wieder los, da er vor Schmerzen aufstöhnt. Etwas Heißes läuft mein Gesicht herab.
„Halt mich nicht für bescheuert! Wer hat das getan?“

Mit großen, beängstigend leeren Augen schaut er mich an. Sein Blick geht direkt durch mich hindurch und verliert sich in der Ferne. Sein Körper scheint auf ein Mal wie erschlafft.
Na komm schon schnauz mich an! Sei wütend aber sie mich nicht so an, das passt nicht zu dir.
„Elija?“, vorsichtig lege ich meine Hand auf seine Schulter, darauf bedacht ihm nicht nochmal wehzutun. Keine Reaktion. Behutsam nehme ich seinen Kopf in meine Hände und bringe ihn dazu mich anzusehen. Fast körperliche Schmerzen durchfahren mich, als sich mein besorgtes und entsetztes Gesicht in seinen beinahe toten Augen spiegelt.
„Elija…“, ein heftiges Schluchzen schüttelt mich. Am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen, aber ich habe Angst ihn noch mehr zu quälen, „Komm zu mir zurück hörst du…“
Sein Ausdruck bleibt leblos, ähnlich wie der, der mir schon im Korridor solche Angst eingejagt hat.
„Du darfst jetzt nicht aufgeben!“
Nichts.
„Ich bin hier, wegen dir! Bequem dich endlich und komm zurück!“ Der Gedanke, dass er sich in dieser Leere verlieren könnte, erscheint mir in diesem Moment unerträglich.

Eine einsame Träne löst sich aus seinem Augenwinkel und fällt zu Boden, Leben kehrt in die überraschend grünen Augen zurück, die im Wasser zu ertrinken scheinen.
Unsere tränennassen Blicke bohren sich ineinander, halten sich gegenseitig fest und lassen sich nicht mehr los, wie zwei Ertrinkende, die sich verzweifelt aneinanderklammern, in der irrsinnigen Hoffnung, dass es sie vor dem sicheren Tod bewahrt. Nur werde ich nicht zulassen, dass dieses leuchtende Grün wieder in den Fluten versinkt.
„Du bist auch unter die Heulsusen gegangen“, stellt er überrascht fest. Noch immer ruht sein Gesicht in meinen Händen, er macht jedoch keine Anstalten das zu ändern. „Ich heiße dich herzlich willkommen im Klub, allerdings ist der Mitgliedsbeitrag hoffnungslos überteuert und die Vorteile sind echt mickrig. Willst du deine Entscheidung vielleicht noch mal überdenken?“
„Dummkopf…“, ich wische mir mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht, „Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Um… Mich?“ Der schmerzvolle Ausdruck kehrt in seine überrascht geweiteten Augen zurück, er entwindet seinen Kopf meinem Griff und wendet sich ab.
„Das brauchst du nicht, mir geht es gut.“

Ich gehe um ihn herum und halte ihn so fest, dass er sich nicht mehr abwenden kann.
„Verkauf mich nicht für dumm. Jemand hat dir sehr wehgetan und es geht dir alles andere als gut. Bei jeder Bewegung zuckst du vor Schmerz zusammen und gerade eben dachte ich wirklich es ist aus mit dir. Erzähl mir also nicht, dass es dir gut geht. Das ist nicht wahr! Ich will dir doch nur helfen.“
„Ich brauche deine Hilfe nicht! Mir geht es doch prächtig, wie du siehst. Ich habe all die Zeit immer alles bestens im Griff gehabt. Allein. Da gibt es nichts zu helfen.“
„S… soll das heißen, das geht schon länger so?“
„…“ Sein Blick weicht mir immer noch aus, aber er sieht aus, als wolle er sich am liebsten selbst eins überbraten.
„Wer tut dir das an? Irgendwelche Schlägertypen aus der Schule?
„Nein.“
„Andere Schlägertypen? Erpresst dich wer?“
„Nein! Ich dachte, ich lege mir einen neuen Look zu: blaugrün. Gefällt er dir?“, er fixiert mich mit verächtlicher Bitterkeit.
„Wenn es niemand von denen ist dann vielleicht… sag nicht es ist jemand aus der Familie!?“
„…“
„Jemand aus der Familie… dein Vater?“
„…“
„Dein Vater!?“

Plötzlich dämmert mir etwas Furchtbares. Das Gespräch mit der Lehrerin. Das blasse Gesicht Elijas. Der Vorfall im Klo und auf dem Flur. Die verängstigte Miene, immer wenn es darum ging nach Hause zu gehen. All das fügt sich zu einem hässlichen Puzzle zusammen.
Ich kann und will mir keine Vorstellung davon machen, wie es wohl ist vom eigenen Vater aufs schwerste misshandelt zu werden, über Jahre hinweg so wie es aussieht. Aber ich habe gesehen, was die alleinige Erinnerung daran mit einem Menschen machen kann und das reicht, um jeden zu hassen, der einem andern so was antut.
Nach dem Nachmittag in der Stadt kam er wahrscheinlich nach Hause, wo sei Vater schon auf ihn wartete und so wie er danach aussah, immer noch aussieht, konnte er in den letzten Tagen wohl kaum in die Schule kommen.
Unbändige Wut kocht in mir hoch. Wut auf einen Mann, den ich nicht mal kenne, den ich nie gesehen habe, der Elija so etwas Furchtbares angetan hat. Ich merke, wie meine Hände sich um seine Oberarme verkrampfen. Schnell lasse ich ihn los und sinke erst mal zu Boden. Ich muss mich beruhigen. Der Schock und die Angst steckten mir noch in allen Gliedern.
Das war nicht ganz das, was ich erwartet habe, als ich beschloss ihn hier zu besuchen. Ich dachte er wäre arbeiten oder schwänzt die Schule oder sei sogar wirklich krank aber das, das hatte ich sicher nicht erwartet.

Ganz und gar nicht…



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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