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Kapitel 4 Teil 1

Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich mich zu so was habe überreden lassen. Missmutig wandert mein Blick durch den Bus. Denis und ich müssen den Altersdurchschnitt hier drin um mindestens 50 Jahre senken. Sind denn vormittags nur Rentner unterwegs, oder hat hier irgendwo in der Nähe eine Massenausbruch aus dem Altersheim stattgefunden? Eine alte Frau im Sitz gegenüber bemerkt, dass ich sie beobachte, schaudert kurz und wendet sich zu ihrer nicht minder verstaubten Nachbarin.
„Die Jugend von heute ist mir nicht mehr ganz geheuer. So unverschämt und Furcht einflößend“, sie schaudert noch einmal, „Nur gut, dass wir gleich aussteigen müssen.“
Geht’s noch? Sehe ich etwa aus wie ein Schwerverbrecher?

Noch so ein Grund, warum ich solche Ausflüge hasse: Menschen. Menschen, die mir aus dem Weg gehen, als hätte ich eine ansteckende Krankheit oder als würde ich gleich ein Messer ziehen und mich wie ein Irrer auf sie stürzen, um anschließend ihr Blut zu trinken und mir damit satanische Muster auf die nackte Haut zu malen. Das in der Schule ertragen zu müssen reicht normalerweise für einen Tag, da muss ich mich nicht auch noch freiwillig unter Leute begeben. Das Problem ist, dass wenn man sich nicht gerne unters Volk mischt und sein zu Hause auch nicht gerade prickelnd findet, ziemlich wenige Möglichkeiten bleiben seien Tag zu verbringen.
Alleine irgendwo rum zu sitzen, wo mich niemand sehen kann ist normalerweise genau das Richtige für mich, nur nicht Heute. Heute kann ich mit meinen Gedanken nicht alleine sein, da sie sich unweigerlich um das Vergangene und das noch Kommende drehen werden. Oh ja, sie werden dann richtig aktiv, diese kleinen Scheißviecher. Ich brauche Ablenkung. Jemanden, der mich genug beschäftigt, damit ich bis zum Abend über nichts mehr davon nachdenken muss.
Meine Ablenkung sitzt im Moment neben mir, starrt aus dem Fenster und schweigt. Gerade dann, wenn man sie mal brauchen könnte, ist die Sprachfunktion kaputt. Er sieht zufrieden aus. Wer weiß was sich in seinem kranken, optimistischen Hirn für Geschichten abspielen. Ich hoffe nur ich bin kein Teil davon. Allein schon die Vorstellung mich dadrin zwischen lauter Vöglein, tapsigen Hundewelpen und Regenbogen wiederzufinden...

Der Bus hält an und der alte Drache steigt aus, vergisst dabei aber nicht mir noch einen vernichtenden und angewiderten Blick zuzuwerfen. Ich zeige ihr den Stinkefinger. Sie hat ihn nicht gesehen (schade eigentlich) dafür aber Denis.
„So geht das aber nicht! Hast du denn keine Manieren? Du hättest wenigsten warten können, bis sie deine freundliche Geste bemerkt. Sie hätte dann zwar wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen, wäre aber mit der Gewissheit gestorben, wenigstens mit ihrer Meinung über die Jugend Recht gehabt zu haben.“
Ein verräterisches Ziehen im Bereich meiner Mundwinkel lässt sich gerade noch unterdrücken. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass ich in seiner Gegenwart versucht war zu Lächeln. Vor dem muss man sich echt in Acht nehmen.

Es will mir nicht Recht in den Kopf, dass ich tatsächlich gerade durch die Klamottenabteilung eines Kaufhauses latsche. Das passiert doch nicht wirklich oder? Freiwillig hätte ich niemals einen Fuß hier rein gesetzt. Denis musste mich förmlich rein zerren. Er bräuchte dringend neue Klamotten hat er gesagt. Warum er sich ausgerechnet mich ausgesucht hat, ist mir allerdings nicht ganz klar. Ich meine selbst sein krankes Hirn muss auf den ersten Blick erkannt haben, dass ich auf diesem Gebiet eine absolute Null bin. Mein Hiersein kann also nur eines bedeuten: Er will mich zu Tode langweilen.
„Elija, komm doch mal her. Was hältst du von dem Hemd hier? Und der Hose?“
Ich zucke mit den Schultern. „Das fragst du mich? Aber immerhin ist es schwarz.“
Er mustert mich skeptisch von oben bis unten und meint dann: „Da hast du wohl Recht… Komm ich probiers mal an.“
Bevor ich mich recht versehe, hat er mich schon durch den halben Laden geschleift und mich in einen Sessel vor den Umkleidekabinen gedrückt.
Ich komme mir vor wie in einem schlechten Kinofilm, während ich hier sitze und er sich umzieht. Als ob ich hier auf meine zugespachtelte Freundin warten würde, die kurz zuvor mit einer Frachterladung Kleidung in die Kabine verschwunden ist. Nicht, dass ich schon mal eine gehabt hätte. Zugespachtelt oder nicht. Die meisten Mädchen machen einen kilometerweiten Bogen um jemanden wie mich und den wenigen, die der irrsinnigen Auffassung waren ich sei, ich zitiere: „total süß und schnuckelig“, „einfach nur schüchtern“ oder sogar „ganz Gut aussehend“, habe ich einen Korb gegeben. Ich mag zwar bekloppt sein, aber mit Irren muss ich mich deswegen noch lange nicht abgeben. Davon einen Psychiater über ihren zweifelhaften Geisteszustand in Kenntnis zu setzten, habe ich mal abgesehen. Außerdem ist dieser ganze Liebes- und Beziehungsquatsch einfach nur für den Arsch.

Neben mir ertönt plötzlich ein Poltern. Ein völlig fertig aussehender Typ, voll bepackt mit Einkaufstüten sinkt in den Sessel neben mir. Seine Freundin verschwindet mit einem Arm Klamotten in einer Umkleide. Meine Damen und Herren, abgeht's in einen schlechten Kinofilm, es sind noch Rollen zu haben!
„Frauen!“, er verdreht die Augen und meint an mich gewandt, „Deine bessere Hälfte hat dich wohl auch hier zurückgelassen. Wir Männer haben’s nicht leicht.“
Die erwartete Zustimmung bleibt ihm verwehrt, denn in diesem Augenblick kommt Denis aus seiner Kabine. Er trägt ein beinahe hautenges schwarzes T-Shirt mit weißem Aufdruck und sieht verdammt gut damit aus, richtig sexy. Er sollte öfter Schwarz tragen…
Shit! Shit!! Was sind das für kranke Gedanken. Sexy… Nun gut, er hat einen gut gebauten Körper und dieses Shirt betont seinen Oberkörper sehr vorteilhaft. Wenn mich nicht alles täuscht zeichnet sich da sogar ein Ansatz von Sixpack ab. Zudem passt Schwarz hervorragend zu seinen braunen Haaren und den blauen Augen…aber verdammt! Ihn deshalb als sexy zu bezeichnen ist schon irgendwie krank.
Er ist ein Junge, ich bin ein Junge, mein Hirn sollte bei Denis’ Anblick keine Wörter wie sexy ausspucken. Schwerer Rechenfehler, umgehend herunterfahren und neustarten. Es hat sich wie festgefressen, ist nicht mehr raus zu bekommen.
Ich bin echt abartig. Ich sehe es noch vor mir, irgendwann prangt nicht nur der Stempel Loser, sozialer Krüppel und manisch Depressiver auf meiner Stirn, sondern ich kann dem auch noch ein dekoratives 'schwuler' voranstellen. Aber ich sollte in dieser Hinsicht nicht so schwarz malen, davon trag ich schon genug. Dieser vorübergehende Totalaussetzer meiner Rechenzentrale ist hoffentlich bald behoben.
„Na, was meinst du, kann man das tragen?“
Oh ja, man kann! Schon wieder taucht dieses Wort in meinen Gedanken auf. Verflucht!
„Hmmm…es ist schwarz.“
Seine Augen funkeln belustigt. „Das bedeutet dann so viel wie ja. Mir gefällt es auch, aber ich bin dir für dein qualifiziertes Urteil sehr dankbar.“

Kaum ist er wieder in der Umkleide verschwunden bemerke ich, wie der Typ neben mir mich anstarrt. Was gibt’s denn da zu glotzen, hält der mich etwa auch für einen Serienkiller? Herausfordernd starre ich zurück.
Auf ein Mal fängt der an wie blöd zu grinsen. Hab ich gerade was verpasst?
Ich beschließe, dass der bedauernswerte Mann einfach schon zu lange shoppen musste und dabei offenbar eine beträchtliche Menge Gehirnzellen eingebüßt hat, was letztendliche Ursache dieses hohlen Grinsens ist. Am Besten ich ignoriere ihn einfach, bevor ich sich meine Wut durch die wohlverstopften Dämme frisst, was in letzter Zeit erschreckend häufig passiert.
Sein Blick huscht immer wieder zwischen mir und Denis’ Umkleide Hin und Her und sein Grinsen wird anzüglich. Endlich fällt auch bei mir der Groschen.
Wie ich die Menschen doch hasse.

„Wie sieht’s aus El, können wir gehen?“
El? Ich glaub dem guten Denis geht es zu gut. Was erlaubt der sich eigentlich? El!?
„Ich glaub du tickst nich mehr richtig, Wie hast du mich eben genannt…“
„Hey…“, auf ein Mal steht er viel zu nahe bei mir und wispert mir verschwörerisch ins Ohr. Sein warmer Atemhauch überzieht meinen Rücken mit Gänsehaut. „…was grinst der Typ da so dämlich.“
Er rückt ein Stück von mir ab um mich kritisch zu mustern. „Du hast doch nichts angestellt oder?“
Meine einzige Antwort besteht aus einem vernichtenden Blick, der ihn nicht nur völlig kalt lässt, sondern ihm auch noch ein Grinsen entlockt. Der macht mich noch wahnsinnig.
Sein Gesicht nähert sich wieder meinen Ohr. „Jetzt sag schon, was hat der Typ!“
In der Hoffnung ihn damit zu mehr Abstand zu bewegen, seine Nähe wirkt sich nämlich ungesund auf meine blasse Gesichtsfarbe aus, meine ich: „Der hält mich für deinen Freund.“
„Aber ich bin d…“
„Bist du schwer von Begriff? Nicht so ein Freund.“
Nach ein paar Sekunden spiegelt sich Verständnis in seinen blauen Augen, Mann, hat der ne lange Leitung, und kurz darauf glitzern sie schelmisch. Er beugt sich etwas vor und legt einen Arm um meine Schulter.
„Was hast du vor?“
„Wirst schon sehen…“
Den Arm um meine Schulter, schiebt er mich Richtung Kasse und vergewissert sich aus dem Augenwinkel, dass der Kerl uns auch beobachtet. Vielleicht liegt es an meiner leicht paranoiden Ader, oder meinem unguten Verhältnis zu abgrundtief peinlichen Vorfällen, aber mir schwant Böses.
Seine Hand rutscht immer tiefer, befindet sich schon fast an meiner Taille. Entsetzt schaue ich ihn an. Er sieht ganz unbeteiligt nach vorne, während sein Hand immer weiter nach unten wandert. Seine Augen haben einen geradezu scheinheiligen Ausdruck und wenn er nicht bald damit aufhört mit ihnen so viel Glitzer durch die Gegend zu werfen, könnte man ihn ohne Probleme in einer Barbiewerbung unterbringen.
Was zum Teufel veranstaltet der hier. Mein Gesicht fühlt sich schon unnatürlich heiß an und ich will gerade nach dieser unverschämten Hand greifen, um sie Denis mit gebührenden, für die Öffentlichkeit möglicherweise unpassenden Bemerkungen und alles andere als lieben Grüßen, postwendend zurück zu schicken, als sie plötzlich auf meinem Allerwertesten zum Liegen kommt.

Eine knallrote Ampel wäre ein Witz zu dem, was da im Moment auf meinen Schultern thront. Ich bring ihn um! Möglichst grausam und ohne die geringste Spur von Reue.
Ich möchte augenblicklich im Erdboden versinken und ihn von mir stoßen. In der Sekunde, in der ich mich aus der Starre befreien kann und zum Handeln bereit bin, nimmt er sie von selbst weg und boxt mir freundschaftlich in die Seite.
„Schau dir mal den an, dem fallen beinahe die Augen aus dem Kopf. Das war’s echt wert.“
Ich muss zugeben, der Ausdruck ist wahrhaft einmalig und innerlich muss ich sogar fast grinsen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das die Sache wert war.
Ihn scheint die ganze Aktion völlig kalt zu lassen, aber ich kann das von mir nicht behaupten. Noch immer kann ich seine Hand als kribbelnde Stelle auf meinem Hintern spüren. Ich sollte deswegen wütend auf ihn sein, niemand darf mich ungestraft angrabschen. Das erwartete Gefühl bleibt jedoch gänzlich aus und zurück bleibt nichts als Verwirrung und eine ordentliche Portion Scham, gemischt mit einer undeutlichen und unheilvollen Vorahnung.

Ich schaff es doch immer wieder mich noch tiefer in die Scheiße zu reiten. Wenn es tatsächlich das ist, was ich denke, dann habe ich keine andere Wahl. Warum muss so was immer mir passieren? Ich darf auf keinen Fall zulassen, dass dieses… dieses Etwas noch mehr Boden gewinnt.
Bei dem Gedanken, was ich dafür tun muss, zieht sich dieses kalte, verschrumpelte Ding in meiner Brust schmerzhaft zusammen. Genau das ist der Grund es abzutöten. Es zu töten, diesen winzigen Hauch davon, der sich bereits eingenistet hat, bevor der Schmerz so unerträglich werden kann, dass er alles auffrisst.
Mit einem Seitenblick auf Denis, der fröhlich schwatzend neben mir hergeht, wird mir klar, dass es wehtun wird, schon mehr als ich gehofft hatte. Wie konnte das passieren? Ich hatte mir doch geschworen…
Meine Augen werden feucht, schnell blinzle ich die Tränen weg. Ich werde den Typ verklagen, der so nah am Wasser gebaut hat.
Es ist besser so. Besser für ihn und besser für mich.
„… und dann haben Seb und ich…“, leise kichert er in sich hinein.
Es wird sehr schmerzhaft werden… aber es ist besser so…
…für ihn.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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