Kapitel 3 Teil 2
Elija wankt im Moment neben mir her, wie eine wandelnde Leiche, von der er sich ungesunderweise auch die Farbe abgeschaut hat. Feuchte Spuren auf seinen Wangen glitzern im Sonnenlicht, der Wind spielt mit seinen tiefschwarzen Haaren und wirft sie ihm mit sanfter Wucht in die erstaunlich grünen Augen, aus denen er sie mit unwirschen Bewegungen wieder entfernt. Noch immer sieht er ziemlich mitgenommen aus, obwohl schon ein bisschen Leben in sein Gesicht zurückgekehrt ist.
Die ganze Zeit kann ich fühlen, wie er in meinen Armen lag. Hilflos, weinend, zitternd und beängstigend kalt. Ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen und ihn zu trösten.
Schock. Angst. Sorge. Mitleid. Hilflosigkeit. Sie alle überfielen mich, haben mich auch jetzt noch fest in ihrem Würgegriff. Nie habe ich einen Menschen so gesehen. So verängstigt, so vollkommen verloren, so allein. Wie ein kleines Kind, das nichts nötiger hat, als eine einfache Umarmung und ein bisschen von der Zuwendung, die jedem Kind selbstverständlich und ohne nachzudenken zusteht. Die es braucht, genauso wie Essen und ein Dach über dem Kopf.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dass ich ihn tatsächlich wie ein Baby im Arm gehalten habe, verspüre ich ein leichtes Brennen in meinen Wangen. Ich habe ihn Hin und Her gewiegt und ihn sogar gestreichelt, das Brennen verstärkt sich. Bewusst versuche ich das Gefühl abzuschütteln. Was ist nur in mich gefahren, jeder, absolut jeder hätte in dieser Situation das Gleiche getan. Kein Grund gleich Rot zu werden.
Ich kann fühlen, wie sein Blick mich streift und die Röte auf meinen Wangen vertieft sich noch. Mann ist das peinlich!
Ich steuere eine Bank am Ende des Schulgeländes an, merke jedoch auf halbem Weg, dass er immer noch an der Stelle steht an der ich ihn zurückgelassen habe und mich seltsam mustert.
„Elija, jetzt beweg dich schon her!“
Während er sich, zu meinem Erstaunen, langsam in Bewegung setzt um meiner Aufforderung Folge zu leisten, beobachte ich ihn genau, zum x-ten mal an diesem Tag.
Ein gebrochener Junge kommt da auf mich zu, die Schultern eingezogen, wie ein geschlagenes Tier, den Blick gesenkt, einen Fuß vor den Anderen setzend, wie unter großer Anstrengung, von Oben bis Unten in Schwarz gehüllt. Kraftlosigkeit und Müdigkeit liegen auf seinen Bewegungen und eine ganz und gar unpassende Aura von Alter umgibt seine junge Gestalt.
Wieder schnürt es mir die Brust zu. Kein Junge im meinem Alter sollte so aussehen. Er macht den Endruck eines Menschen, der des Lebens bereits müde ist und das noch bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Kurz bevor ich ihn in diesem Flur in die Arme nahm, wurde seine angespannte Haltung plötzlich weich. Gegen was auch immer er gekämpft hatte, er gab auf, ließ sich einfach fallen, als ob ihm alles egal wäre.
Ich muss sagen, das macht mir Angst. Zum Einen, weil ich ihn nicht verstehe und zum anderen, und gerade diese Tatsache macht mir zu schaffen, weil ich ihn nicht verstehen will. Ein kleiner Teil meines Kopfe weigert sich beharrlich allzu tief einzutauchen und mit einem Schaudern und dem Bild von Elija mitten auf dem Schulgang, frage ich mich, ob er nicht einen guten Grund dazu hat.
Elija lässt sich neben mir auf die Bank fallen und schaut in den Blauen Himmel. Einen kurzen Moment sind seine Augen leer und leblos, bevor er angestrengt blinzelt, um den teilnahmslosen Schleier aus ihnen zu verbannen.
Was ist dir nur geschehen?
Die Stille, die uns umgibt ist nicht drückend und feindselig sondern eher ruhig. Nicht nur die Stille hat sich verändert, auch zwischen uns ist etwas anders. Schon vorhin, als er sich bedankt hat, habe ich es gespürt.
„Weist du, ich war ehrlich überrascht, dass du ich bei mir bedankt hast, a…“, fange ich an.
„Und ich erst.“
„Ähhh...?“
„Ich meinte: Ich war auch überrascht. Diese Funktion hatte ich eigentlich aus meinem Programm gelöscht. Jemand anderes hätte auch keinen müden Ton zu hören bekommen,“ er murmelt noch ein paar ärgerliche Worte hinterher, die ich aber, wahrscheinlich glücklicherweise, nicht verstehen kann. Ein Grinsen formt sich auf meinem Gesicht.
„Willst du damit andeuten, ich bin was Besonderes für dich?“
„So ein Schwachsinn…“, ein leichter Rosaschimmer liegt auf seien Wangen, während er mit der sorgfältig beachteten Schuhspitze einen bemerkenswerten Graben in die Erde ritzt. Ich glaub ich spinne! Das ich das mal erleben darf.
„Ich nehm’ das jetzt mal als ja. Ich fühle mich geehrt.“ Das meine ich auch so. Wer kann schon von sich behaupten einer seiner Auserwählten zu sein; ich schätze mal, die kann man an ein bis zwei Fingern abzählen.
Elija dagegen scheint nicht besonders begeistert zu sein, wie sich unschwer an seinen zusammengezogenen Augenbrauen erkennen lässt, und es folgt ein langes Schweigen, in dem jeder von uns seinen Gedanken nachhängt.
„Darf ich mal was fragen?“
„Mhm…“, gedankenverloren starrt Elija gen Himmel.
„Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst. Wenn es dir unangenehm ist, dann…ich will dich zu nichts zwingen…i-“
„Jetzt fang schon endlich an, bevor ich’s mir anders überlege!“, genervt sieht er mich an.
„Da vorhin im Flur…“, sein Gesicht verdüstert sich, „Was ist da mit dir passiert, ich meine, dass du so, so…“
„Nichts!“, kommt es sofort zurück.
Ich ziehe skeptisch eine Braue nach oben. „Wenn es etwas gibt, was mehr von 'Nichts' abweicht als die Szene von gerade Eben, dann fress ich ein Dutzend Besen und zwar mit der Bürste voran.“
„Stell mich nicht vor lösbare Aufgaben, du könntest Magenprobleme bekommen. Sag mir auf jeden Fall Bescheid, wenn du dein Mahl zu dir nimmst, das darf ich nicht verpassen,“ gereizt funkelt er mich an. „Ich kann dir auch gern bei der Auswahl deiner Speisen behilflich sein, du weißt ja, mit Putzkram kenn ich mich aus.“
Ungerührt sehe ich ihn weiter an. So leicht lasse ich ihn nicht vom Haken.
„Meine Fresse, du nervst!“, spuckt Elija mir förmlich entgegen, bevor er sich merklich zusammenreißt, „Ich weiß es auch nicht so genau... Erinnerungen... es sind wohl ein paar alte Erinnerungen hochgekommen…“
„Und woran hast du dich erinnert?“
Erschreckend kalt kommt es zurück: „Das, geht dich nichts an!“
Er scheint mein Zurückzucken bemerkt zu haben, denn er setzt nach: „Tut mir Leid - nein eigentlich nicht- aber du hast nun mal eine Frage gestellt, auf die ich dir keine Antwort geben kann und will. Ich kenne dich nicht und selbst wenn… es gibt niemanden, lebend, tot oder irgendwas dazwischen, der mich so weit bringt, zu ihm auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Also schmink’s dir gleich ab.“
„Verstehe.“ Deutlicher braucht er es mir nicht zu sagen.
Verwundert bin ich dagegen nicht wirklich, ich hatte nie erwartet, dass er tatsächlich mit etwas herausrückt. Einen Versuch war es wert und dass er mich überhaupt einer Antwort für würdig befunden hat, muss ich schon als gigantischen Erfolg verzeichnen. Dieser Kerl erfordert ganz neue Maßstäbe.
Im nun folgenden Schweigen kann ich seine Augen unverwandt auf mir spüren, bis es mir schon fast unangenehm ist, auch wenn ein keiner aberwitziger Teil von mir sich abartig geschmeichelt fühlt. Ich muss seinen Blick irgendwie in andere Bahnen lenken, vorzugsweise weit weg von mir.
„Was machen wir denn jetzt. In den Unterricht zurück zu gehen, ist glaube ich keine so gute Idee. Wie wär’s, wenn wir in die Stadt gehen. Ich hab schon lang nicht mehr Blau gemacht.“
Wie erwartet folgt erstmal keine Antwort. Dann sehr zögerlich:
„Ich mache mir nichts aus so was. Vielleicht sollte ich lieber nach Ha…“, er stockt mitten im Satz. Seine Augen weiten sich ein wenig und er wird wieder blass. Etwas ist definitiv nicht in Ordnung. Ich traue mich allerdings nicht mehr zu fragen.
Er scheint mit sich zu ringen und würgt dann ein nicht sehr überzeugendes „OK“ heraus.
Mehr kann ich von ihm nicht erwarten. Immerhin kommt er mit. Innerlich klopfe ich mir für diesen Verdienst auf die Schulter. Voller Vorfreude springe ich auf und werfe mir meinen Rucksack über sie Schulter. Er schaut mich an als wäre ich der Yeti höchstpersönlich.
„Welche Pillen schluckst du denn? Bist du sicher, dass du nicht zu viele erwischt hast, das ist doch nicht mehr normal!“, meint er kopfschüttelnd.
Ich kann mir ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen und klopfe ihm wohlmeinend auf die Schulter.
„Wenn du willst kannst du gerne was abhaben, allerdings befürchte ich, dass selbst meine enormen Vorräte nicht ausreichen um dir gute Laune zu verschaffen.“
Jetzt wo ich so darüber nachdenke habe ich ihn wirklich noch nie mit auch nur ansatzweise guter Laune erlebt. Ich würde zu gerne wissen, wie er aussieht, wenn er lächelt.
Was für ein absurder Gedanke.
Ich laufe zum dem Eisentor, das in alter Gefängnismanier, die Schüler von der Außenwelt trennen soll. Vielleicht lerne ich ihn ja ein bisschen besser kennen, jetzt, wo das Eis gebrochen ist. Und vielleicht werde ich ja auch sein Lächeln zu Gesicht bekommen. Was mir daran allerdings so diebische Freude bereitet, dass mein Herz wie wild klopft, ist mir nicht klar.
Ich wende mich vor dem Schultor noch mal um. Er ist mir nicht gefolgt.
„Wo bleibst du denn! Der nächste Bus in die Innenstadt fährt gleich.“
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken