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Kapitel 2 Teil 2

Verwirrt bleibe ich allein im Gang des Supermarktes zurück. Das hatte ich nicht erwartet. Immer wieder sehe ich sein tränennasses Gesicht. Aber noch mehr spuken mir seine Worte im Kopf herum: „D…Du wirst es doch keinem Erzählen, oder?“
Er sah so verdammt einsam, verlassen und hilflos aus. Die unerwartet starke Welle des Mitleids, die mich daraufhin überkam, schwappt noch immer in meinen Inneren und will einfach nicht zur Ruhe kommen. Vom Gedanken an sein gequältes Gesicht, als er sich meines Mitleides bewusst wurde, immer wieder aufgewiegelt, peitscht sie durch meine Gedankenwelt und bringt alles durcheinander. Sein gequälter Gesichtsausdruck hat mir viel verraten, hat mir mehr verraten, als er je über sich preisgeben wollte.
Ich muss seit fünf Minuten unbewegt mitten um Gang stehen, denn einige Leute schauen mich schon komisch an. Langsam mache ich mich auf den Weg in Richtung Kasse, nur um dann festzustellen, dass ich noch immer keine Brühwürfel habe. Den Weg die Elija mir beschrieben hat, habe ich vergessen, darum beschließe ich, dass meine Mutter eben ohne sie auskommen muss.

Wie vernagelt starre ich auf das Blatt, auf dem bis jetzt Nichts steht als die Überschrift und selbst die dringt nicht bis in mein Hirn. Mist! So kann das nicht weiter gehen, ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Wütend wird das Papier mit samt den Stiften von Schreibtisch gewischt. Der Vorfall von heute Nachmittag geht mir nicht mehr aus dem Kopf, wie ein lästiger Ohrwurm.

Seufzend hebe ich alles wieder auf, lasse mich dann auf mein Bett fallen und starre an die weiße Decke.
Bis jetzt hatte ich eigentlich nur aus purer Neugier immer wieder versucht mehr aus Elija herauszuquetschen. Ich bemerke immer öfter, dass ich erschreckend viel vom Unterricht mitkriege, seit er neben mir sitzt. Das kann doch nicht gesund sein; ich brauche dringend jemanden, der mich ein bisschen vom Unterricht ablenkt und ihn kann ich da leider vergessen. Ein weiterer Grund ihn zum Reden zu bringen.
Aus ihm einen gesprächigen Menschen zu machen, würde wahrscheinlich mehrere Jahrhunderte dauern, die Zeit habe ich leider nicht, also habe ich das längst aufgegeben.
Irgendwas an ihm lässt mich aber immer noch nicht los, sonst wäre ich ja kaum so hartnäckig, selbst, wenn das bei ihm keine Wirkung hat.
Diese ungewollte Faszination hat sich in etwas verändert, was ich nur mit Sorge beschreiben kann. Seit ich ihn derart aufgelöst erlebt habe, kommt er mir ganz anders vor. Immer wenn ich daran denke schnürt sich mir die Brust zu. Ich kann mir nicht vorstellen was er erlebt hat, aber es muss schlimm gewesen sein, dass er so ausflippt.
Er wirkt auf mich immer so stark und unnahbar, so als würde ihn nichts interessieren und ihm nichts wirklich nahe gehen. Heute ist seine Maske kurz gefallen und in ihm brodeln Gefühle, von denen ich keine Ahnung habe, von denen Niemand in seinem Alter Ahnung haben sollte, mit einer Intensität, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, die mir sogar ein bisschen Angst macht.
Ich mache mir ernsthafte Sorgen. Sorgen um einen Menschen, von dem ich absolut nichts weiß, dem ich wahrscheinlich egal bin, der mich nicht leiden kann und der auch mir egal sein könnte. Aber aus einem unerfindlichen Grund ist er es nicht und das irritiert mich gewaltig. Ich bin halt, wie Sebastian schon sagte, ein sozialer Mensch. Beruhigt ist mein Gewissen, das mich vor der Einmischung in fremde Angelegenheiten warnt, aber nicht wirklich …

„Drrrrrrrrrrrrrrrrrring, drrrrrrrrrrrrrrrring!“
Ein unangenehmes und durchdringendes Geräusch, das nur von meinem Wecker stammen kann, reißt mich aus dem Schlaf. Schlaf? Ich muss wohl gestern Abend beim Grübeln eingenickt sein, denn es ist kurz vor Sieben morgens: Zeit in die Schule zu gehen. Hastig suche ich meine Sachen zusammen und stürze aus dem Haus um meinen Bus noch zu erwischen.

Als ich das Klassenzimmer betrete, stelle ich verwundert fest, dass der rechte Platz neben mir besetzt ist und das, wie könnte es anders sein, von einem schwarzen Etwas, wie immer schlafend. Ich sacke hinunter auf meinen Platz, was ihn zum Aufschrecken bringt.
„Morgen!“, flöte ich im entgegen. Ich habe beschlossen erst mal nicht auf gestern einzugehen und meinem Ich-zermürbe-Elija-so-lange-bis-er-genug-redet-um-mich-vom-Unterricht-abzulenken-Plan treu zu bleiben.
Er hebt eine Augenbraue und mustert mich skeptisch durch seinen Wasserfall aus schwarzen Haaren hindurch.
„Morgn...“
Das habe ich nicht erwartet. Sebastian, den vor mir sitzt, dreht sich verwundert um und wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich kann nur mit den Schultern zucken, mir ist nicht ganz klar, was das jetzt zu bedeuten hat, wo ich doch vermutet hatte, dass er mich noch mehr ignoriert als vorher. Aber es stimmt mich fröhlich. Vielleicht taut er ja noch etwas auf. (Schritt 1: Morgendliches grüßen: geschafft!)
Vor Ende der Stunde fordert die Lehrerin Elija auf kurz da zu bleiben, da sie ihm noch etwas mitzuteilen hat. Langsam und bedächtig räume ich meine Schulsachen zusammen und bald sind nur noch er, ich und die Lehrerin übrig. Man will ja schließlich auf dem Laufenden bleiben.
„Elija wie sie bereits wissen, werden sie zu Strafe das Jungenklo putzen, kommen sie also bitte nach der letzten Stunde zum Hausmeister, der kann ihnen die Putzutensilien geben. Ich hoffe sie habe aus dieser Sache gelernt. Sie können jetzt gehen…“
Unauffällig versuche ich aus dem Raum zu kommen; beim offensichtlichen Lauschen erwischt zu werden, wäre dann doch peinlich; und habe ihn gerade verlassen, als hinter mir noch einmal eine Stimme ertönt:
„Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Die Schulleitung hat heute Morgen ihren Vater von der Sache unterrichtet. Er schien nicht besonders begeistert zu sein und als ich ihre Krankheit erwähnte, meinte er, dass er nichts davon wüsste. Ich möchte ihnen nicht unterstellen, dass sie geschwänzt haben, deshalb bringen sie mir doch bitte ein Attest, sonst muss ich ihnen, so Leid es mir tut noch einen Eintrag geben und das in ihrem Zeugnis vermerken.“

Ich habe es für unmöglich gehalten, dass Elija noch blasser werden kann. Ich habe mich geirrt. Das was jetzt an mir vorbei aus der Tür herausstürmt, könnte einem Schneemann Konkurrenz machen.
In der Hoffnung unentdeckt zu bleiben, folge ich ihm durch die halbe Schule aufs Jungenklo. Meine neu entdeckte Sorge treibt mich voran und lässt meinen Vorsatz, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen, schmelzen wie Eis in der Sonne.
Es hat bereits geklingelt, sodass das Klo wie ausgestorben ist. Ich sehe gerade noch, wie er schnell in eine leere Kabine hechtet und sie hinter sich verschließt. Schon wieder benimmt er sich so seltsam.
Wie ich da so allein mitten im Raum stehe, dringt ein Würgen an meine Ohren, gefolgt von einem Ekel erregenden Platschen.
Ich kann nicht glauben, dass er sich übergeben hat. Ich sehe, wie er sich langsam auf den Boden der Kabine setzt. Sein tiefes und schnelles Atmen hallt von den Wänden wieder; ich wage nicht auch nur das leiseste Geräusch zu machen. Plötzlich kracht es, gefolgt von einer Folge von Flüchen, die selbst mir rote Ohren bescheren. Wieder schlägt seine Faust gegen die Tür, immer wieder, bis er schließlich aufhört und sich langsam erhebt.
Panisch sehe ich mich nach einem Versteck um, finde, wie sollte es auch anders sein, keines, sodass er mir beim Türöffnen direkt gegenüber steht. Wie würde ich mich wohl fühlen, wenn jemand mich dabei beobachtet hätte, wie ich mich erst übergeben und dann einen Wutanfall gekriegt habe. Grauenvoll; und schon wieder tut mir mein unbedachtes Handeln ungeheuer Leid. Dass ich meine Nase auch überall reinstecken muss! Ich mache mich auf eine wütende Reaktion gefasst. Diese bleibt jedoch aus.
Wie ferngesteuert geht er auf das Waschbecken zu, um sich das Blut abzuwaschen, das langsam von seinen Knöcheln rinnt und sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzten. Noch immer keine Reaktion auf meine Anwesenheit. Ich bin mir sicher, dass er mich sehr wohl bemerkt hat.

Kurz vor der Tür dreht er sich um, sieht mich mit undeutbarem Blick an und geht.

Wortlos.

Ich bleibe zurück; wieder einmal sprachlos, seltsam traurig und verwirrter als je zuvor.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.02.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken

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