Kapitel 1 Teil 2
Er sitzt jetzt schon seit eineinhalb Monaten neben mir und ich weiß eigentlich immer noch nicht viel mehr über ihn als in der ersten Stunde. Wahrscheinlich hat er es mir sehr übel genommen, dass ich diesen Lachanfall hatte, aber er sah einfach zu komisch aus, wie er da so zwischen seinen Haaren hervorlugte, die Augen überrascht geweitet.
Seitdem jedenfalls, hat er nicht mehr als zwei, drei Worte mit mir gewechselt und das, ehrlich gesagt, geht mir langsam ziemlich auf die Nerven. Ich bin ja sonst sehr geduldig, aber bei ihm stoße ich langsam aber sicher an meine Grenzen. So was Stures hab ich noch nie erlebt. Wenigstens ist er konsequent, das muss man ihm lassen.
Ich blicke auf meine rechte Seite. Er ist nicht da. Wenn er hier wäre, säße er jetzt da, seinen Kopf auf die Arme gestützt, mit trübem Blick ins Nichts starrend. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er dabei mit offenen Augen schläft.
Nicht, dass er nicht schlafen würde. Er schläft eigentlich dauernd, während des Unterrichts, in den Pausen, sogar während des Sportunterrichts habe ich ihn schon schlafen gesehen: Den Kopf in die Hände gebettet, seelenruhig, als ob er zu Hause im Bett sei. Wenn er dann mal wach ist (und das ist echt selten) scheint er mit seinen Gedanken ganz wo anders zu sein. Ich frage mich wirklich warum er überhaupt kommt, wenn er nie etwas mitkriegt. Erstaunlicherweise schafft er es trotzdem in den meisten Fächern zumindest sechs Punkte zu kriegen, auch wenn er die Lehrer in den Wahnsinn treibt. Er meldet sich nie und wenn er aufgerufen wird, weigert er sich schlicht und ergreifend. Der Vorfall während der Biostunde letzte Woche schleicht sich in meine Gedanken. Da hat er sich echt was geleistet:
„Was meinen sie denn zum Thema Genmanipulation Elija?“
Den Blick aus müden Augen suchend durch den Raum gleiten lassend, versuchte er offenbar die störende Stimme zu orten, bis er schließlich die Lehrerin anvisierte.
„Schön, dass sie wieder bei uns sind, ich wiederhole mich ja nur ungern, aber ich würde gerne ihre Meinung zur Genmanipulation hören!“
Dass er sich überhaupt aufsetzte, grenzte schon an ein Wunder und dass er etwas sagen würde, hatte ich sowieso nicht erwartet. Das folgende Schweigen war also voraussehbar. Langsam schien auch die sonst recht geduldige Frau Witzbacher ihre Geduld zu verlieren.
„Elija, wenn sie jetzt nicht sofort antworten, muss ich ihnen einen Eintrag wegen Arbeitsverweigerung erteilen! Ich habe langsam genug von ihnen und ihren anderen Lehrern geht es genauso! Sie kommen hier in die Schule, schlafen, beteiligen sich nie und antworten nicht mal auf Fragen! Das wird noch ernsthafte Konsequenzen haben! Das wird in ihrem Zeugnis vermerkt und ich werde ihre Eltern kontaktieren. Solches Verhalten kann und werde ich nicht mehr dulden!!“
Ich hatte die Frau noch nie so in Rage gesehen. Der sonst so ruhigen und stillen Frau Witzbacher reißt der Geduldsfaden und sie brüllt durchs Klassenzimmer. So was war seit Jahren nicht mehr passiert.
In der Klasse war es Mucksmäuschen still, alle Blicke waren auf Elija gerichtet. Was ich sah schockierte mich. Noch nie hatte ich ein derart feindseliges Glitzern in den Augen eines anderen Menschen gesehen. Doch nicht nur Feindseligkeit und unverhohlene Wut, etwas anderes, das ich nicht deuten konnte lag in seinem Blick.
Die Fingerknöchel der Hände traten selbst durch seine blasse Haut deutlich weiß hervor. Ich konnte hören, wie sein Atem merklich schneller ging, so als würde er kurz vor einem Wutausbruch stehen. Er rang offensichtlich um die Beherrschung und man konnte sehen, wie sich ganz langsam seine Hände entspannten, sein Atem sich beruhigte und er kurz die Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, war er völlig ruhig. Fast schon zu ruhig für meinen Geschmack. Der Endruck, dass es in seinem Inneren immer noch brodelte ließ mich nicht los.
Was zum Teufel hatte ihn derart aus der Fassung gebracht? Es war nicht das erste Mal, dass die Lehrer ihn wegen seines Verhaltens rügten.
„Wissen sie Frau Witzbacher in diesem wunderbaren Klassenraum sitzen 25 Schüler, die wie willige kleine Schweinchen, die nichts ahnend auf den Metzger zulaufen, nur darauf warten eine ihrer bescheuerten Fragen zu beantworten. Aber sie haben nichts Besseres zu tun, als sich den einzigen Schüler auszusuchen, von dem sie wissen, dass er nicht antworten wird. Warum? Nun, das kann ich ihnen sagen.
Ihr bemitleidenswertes Lehrerleben ist so bedeutungslos und nichts sagend, dass sie die Schüler, die so viel mehr haben als sie, die sich noch nicht, wie sie, jede Chance verbaut haben aus dieser grauen Einöde zu flüchten, die sie Leben nennen, abgrundtief hassen.
Wissen sie, was ich denke: Sie sitzen jeden Abend zu Hause, verfluchen ihr Lehrerdasein und bemitleiden sich selbst, fragen sich, warum kein Mann jemals mit ihnen ausgegangen ist und ob sie alleine sterben werden. Und dann irgendwann im Laufe des Abends, wandern ihre Gedanken zur Schule, zu den Schülern und sie sehen, was diese Drecksbälger, die ihnen das Leben schwer machen alles haben und sie nicht. Ganz allmählich wird diese Eifersucht dann zu Hass, den sie dann an armen Schülern auslassen, denen es auch nicht anders geht als ihnen.
Und das, ist einfach nur erbärmlich!“
Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Nicht nur, dass sich niemand je getraut hätte so etwas zu einem Lehrer zu sagen, keiner von uns hatte Elija je so viele Worte auf einmal sagen hören.
Das entsetzte Gesicht unserer Lehrerin werde ich nie vergessen.
Seitdem ist eine Woche vergangen. Kurz darauf hatte er einfach den Unterricht verlassen und war seitdem nicht mehr in der Schule. Die ganze Klasse fragt sich, was er wohl für eine Strafe bekommen hat und unsere gute Frau Witzbacher hat seitdem besonders schlechte Laune.
Manchmal frage ich mich ob Elija nicht nahe an der Wahrheit vorbeigeschrammt ist, so wie sie sich gerade aufführt, könnte man meine sie hasst die Schüler wirklich. Vielleicht hasst sie aber auch nur einen ganz speziell…
„Denis! Hey Denis, sag mal schläfst du? Es hat schon längst geklingelt. Wir haben Pause.“, reißt mein bester Freund Sebastian mich aus meinen Gedanken.
„Sorry, hab vor mich hin geträumt.“
„Ja das scheint mir auch so“, grinst er. „Wer ist sie denn?“
„Häh?“
„Mann bist du heute intelligent. Ich meine das Mädchen von dem du gerade geträumt hast.“
„Oh, ach so! Nein, ich hab nicht von einem Mädchen geträumt. Ich hab mich bloß gefragt wo Elija steckt. Er war schon seit einer Woche nicht mehr in der Schule.“
„Du meinst den Neuen? Na ja, nach dem, was der sich geleistet hat, würde ich auch nicht mehr in die Schule kommen… Warum machst du dir überhaupt Gedanken um diesen Freak, der kann dir doch völlig egal sein und glaub mir, du bist ihm mit Sicherheit vollkommen schnuppe.“
„Ich…“
„Ja, ja“, lachend zieht er mich von meinem Platz hoch, „ich kenne doch deine soziale Ader. Nur weil er jetzt dein Nebensitzer ist, fühlst du dich für ihn verantwortlich. Aber du solltest dich besser von ihm fernhalten. Er ist unfreundlich, griesgrämig und so wortkarg wie eine Friedhofsmauer. Außerdem ist er mir unheimlich. Schau doch mal wie der sich schon anzieht, n’ Trauerzug könnte nich gegen den anstinken, so schwarz ist der. Glaub mir, wenn du dich mit dem abgibst, dann endest du mit Depressionen beim Psychiater. Oder noch schlimmer auf’m Tisch vom nächsten Leichenbestatter. Du weißt ja, da gibt es mysteriöse Verbindungen zwischen zu viel Schwarz und Selbstmord…“
„Jetzt hör schon auf“, meine ich scherzhaft, das Zucken um seine Mundwinkel hat mich besänftigt, „So was sagt man nicht. Er ist doch eh schon ein Außenseiter, da musst du ihn nicht auch noch schlecht machen.“
„Aber wenn’s doch wahr ist…“
Genervt schmeiße ich meine Schultasche in die Ecke meines Zimmers. Wie kann dieser Biodrachen es wagen, uns einen fünfseitigen Aufsatz über Genmanipulation aufzugeben. Die hat sie doch nicht mehr alle. Das ist alles nur die Schuld von diesem schwarzen Freak. Hätte er sie nicht so auf die Palme gebracht, hätte ich jetzt einen schönen, ruhigen Nachmittag.
Missmutig, stampfe ich in die Küche, um mir einen kleinen Snack zu holen.
„Was ist dir den für eine Laus über die Leber gelaufen?“, meine Mutter schaut mich fragend an, „Oder wohl doch eher eine ganze Lausarmee?“
„Ich hab nur viel Arbeit für die Schule, das ist alles“, meine ich kurz angebunden.
„Na, dann musst du dich halt beeilen mit Einkaufen. Du weißt doch noch, was du mir gestern versprochen hast, oder?“
„Oh Mist! Das hatte ich total vergessen.“ Das hat mir gerade noch gefehlt. Aber, versprochen ist versprochen. Noch missmutiger als vorher trample ich geradezu in den Flur um meine Schuhe anzuziehen.
„Bis später Mum.“
Ich habe Glück, denn im Supermarkt scheint es relativ leer zu sein. Suchend laufe ich mit meiner Einkaufsliste durch die Gänge. Brühwürfel…Brühwürfel… Ich glaube sie haben den Markt umgeräumt; anders kann ich mir nicht erklären, warum ich diese dämlichen Brühwürfel einfach nicht finden kann. Hilfe suchend blicke ich mich um und tatsächlich sehe ich an der nächsten Ecke einen Supermarktschergen in grüner Uniform, der mit einem mehr als siffig aussehenden Wischmopp den Boden schrubbt.
Ich nähere mich ihm von Hinten und tippe ihm vorsichtig auf die Schulter.
„Entschuldigen sie bitte, ich bin auf der Suche nach den Brühwürf…“, als der Angestellte sich umdreht stocke ich mitten im Satz.
Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt, die grünen Klamotten lassen ihn ganz anders aussehen, aber es besteht kein Zweifel, dieser grüne Putzmann ist doch wirklich…
„Elija, was machst du denn hier?
“
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken