Kapitel 1 Teil 1
Noch nie hatte ich weniger Lust aufzustehen, als Heute. Nein. Vielleicht sollte ich es anders formulieren: Heute ist mal wieder kein Tag, an dem ich gerne aufstehe. Einer von 365 Tagen im Jahr, an denen ich nicht gerne aufstehe. Ehrlich gesagt kann ich mich an keinen solchen Tag erinnern seit…ist wohl zu lang her.
Nach langem Zögern und Winden schäle ich mich endlich aus meinem gemütlichen Bett, dem einzigen Ort in diesem Haus, an dem ich mich manchmal entspannen kann. Warum noch länger gegen das Unvermeidliche ankämpfen? Das habe ich schon lange aufgegeben.
Einen Kampf zu kämpfen, den man nicht gewinnen kann ist nicht nur sinnlos sondern auch dumm, eine Qualität die ich glücklicherweise nicht besitze. Ein Blick in den Spiegel sagt mir, ich werde am ersten Tag in dieser neuen Folteranstalt beschissen aussehen. Lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern, denn der Wecker erinnert mich freundlicherweise daran, dass ich auch noch zu spät kommen werde.
Was für ein mieser Tag, wie jeder dieser 365 Tage, an denen es besser gewesen wäre im Bett zu bleiben!
Als ich den verlassenen Gang entlang gehe, merke ich, wie meine Schritte immer langsamer werden. 210…211…212. Ich bleibe stehen. Ich könnte mich jetzt einfach umdrehen, langsam und gelassen diesen trostlosen, mit krankenhausgrünen Spinden voll gestellten, muffigen Schulgang zurücklaufen, die Treppe nach unten nehmen und hinaus in die nicht vorhandene Sonnen treten, um einen schönen Tag in irgendeinem einsamen, nasskalten Park zu verbringen.
Ich glaube ich würde mir jetzt sogar lieber ne Stunde Musikantenstadel reinziehen, als diesen Raum zu betreten und das will schon was heißen! Aber stattdessen hebt sich meine Hand wie von allein, um gegen die rostrote Tür mit der Nummer 212 zu klopfen.
Mein Hirn wehrt sich verzweifelt gegen diese Bewegung, es arbeitet auf Hochtouren, stemmt sich mit aller Kraft dagegen, ächzt und stöhnt, bäumt sich verzweifelt auf uuuund…verliert den Kampf. Scheiß Hirn!
Mir ist als könnte ich die Schnüre sehen, mit denen ein unsichtbarer Puppenspieler meinen blassen, dünner Körper (vom Hirn im Stich gelassen) meiner Kontrolle entreißt und mich zu Dingen zwingt, die kein vernünftiger Mensch tun sollte. Unter seinen geschickten Fingern tanze ich ganz nach seinem Willen, ohnmächtig auch nur einen Schritt entgegen seinen Absichten zu tun.
Hätte ich Fantasie, würde ich mir vielleicht etwas in der Art vorstellen und wer weiß, ich würde mich dann ob meiner Ohnmacht vielleicht etwas besser fühlen, aber die habe ich leider nicht und selbst wenn ich sie hätte, würde ich mir das nie abkaufen. Göttliche Marionettenspieler, wie alt bin ich denn, drei?
Ich bin mit der zerstörerischen Gabe gesegnet, der Realität ungeschönt ins Gesicht sehen zu können. Das nenne ich echt Glück, ein Hoch auf den göttlichen Marionettenspieler, der entschieden hat, welche Gaben er in das Set: „Elija“ packt, er hatte wirklich einen schlechten Geschmack.
In dieser Realität, hätte es Konsequenzen, wenn ich jetzt einfach gehen würde, Konsequenzen, vor denen ich mehr Angst habe als vor allem Anderen und die zu tragen ich nicht bereit bin; nicht schon wieder.
Jemand scheint mein Klopfen bemerkt zu haben.
„Herein!“, ruft eine Frauenstimme durch die Tür.
Sie ist mir schon jetzt unsympathisch; unangenehm schrill und aufgesetzt fröhlich.
Die letzte Chance, mich zu verdrücken, habe ich verschenkt, das Tor zu Hölle hat sich geöffnet. Ein schneller Blick durch den Raum offenbart etwa 25 Übungsteufel, die alle mit erwartungsvollem Blick an mir hängen und jeden meiner Schritte mit Argusaugen verfolgen.
„Ah, du musst Elija sein. Der Direktor hat schon angekündigt, dass ein neuer Schüler in unsere Klasse kommt“, dringt es an meine Ohren.
„Willst du dich nicht kurz vorstellen?“
Wow, ich wusste gar nicht, dass die Hölle gefrieren kann, aber meine rapide sinkende Laune hat das geschafft. Man lernt eben nie aus.
Erwartungsvoll liegt ihr Blick auf mir.
Ich habe mir noch nicht die Mühe gemacht, mich mit diesem neuen und überaus nervigen Exemplar der Spezies Lehrer genauer auseinander zu setzen. Als ich jetzt meinen Blick kurz hebe, wird mein erster Endruck sofort bestätigt. Karierte Hochwasserhosen, hochgezogen bis kurz unter die Brust, eine orange Weste über einem grünen Wollpulli, schaut sie mir, unter einer akkurat gescheitelten Nichtfrisur, durch eine vergoldete Brille mit Leopardenoptik, direkt in die Augen. An diesem außergewöhnlich schönen Exemplar können sie alle Merkmale dieser Spezies in vollster Ausprägung bewundern. So was habe ich ja noch nie gesehen, das ist ja museumsreif.
Noch lächelt sie. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und wende mich auf der Suche nach einem freien Platz der Klasse zu. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie dieses falsche Lächeln langsam von ihrem Gesicht tröpfelt und sie die Stirn runzelt, als wüsste sie was da noch auf sie zukommt.
Viel Glück, kann ich nur sagen! Ich bin hier und das muss reichen, mehr wird sie von mir nicht kriegen.
Ganz hinten an einem Zweiertisch ist ein Platz neben einem Jungen mit braunen verstrubbelten Haaren frei. Es wird noch mal um ein paar Grad kälter; kein Einzeltisch mehr. Auf meinem Weg durch den Raum begegnen mir viele verwunderte und überraschte Blicke. Kein Wunder ich hätte wahrscheinlich auch nicht anders ausgesehen, wenn ich mich hier vorne gesehen hätte:
Ein 17-Jähriger Trottel: mittelgroß, blasse, fast weiße Haut, rabenschwarzes Haar, das ihm wirr ins Gesicht hängt und seine grünen Augen beinahe gänzlich verdeckt. Ganz und gar unauffällig und durchschnittlich, wären da nicht diese feindseligen Augen, die manchen Schüler schnell den Blick senken lassen, wenn er vorbeikommt, und diese Kleidung, an der kein Fleckchen Farbe zu erkennen ist. Schwarz, schwarz wie sein Haar. Überhaupt scheint alles an ihm Schwarz zu sein, sodass die unnatürlich blasse Haut und die grünen Augen das Einzige sind, was sich von der Dunkelheit abhebt.
Ich glaube nicht, dass ich mich gefreut hätte, wenn sich jemand wie ich neben mich gesetzt hätte. Es ist also das gute Recht meines neuen Nebensitzers das Gesicht zu verziehen, genervte Blicke mit den Nachbarn zu tauschen, ein Stückchen von mir weg zu rutschen und mich für den Rest des Schuljahres nicht mehr anzusprechen. Unvorsichtigerweise riskiere ich einen Blick nach links und werde fast von einem gigantischen Lächeln erschlagen. Eine Frohnatur, das hat mir gerade noch gefehlt!
„Hi, ich bin Denis“, er streckt mir seine Hand hin und wieder lächelt er, „Du warst ja nich’ gerade nett zu der alten Kramer“, stellt er fest.
Memo an mich selbst: Schildchen mit „Kramer“ vor dem Schaukasten im Museum für exotische Spezies aufstellen.
Als ich weder seine Hand nehme, noch ihm antworte, verebbt auch dieses Lächeln und erlaubt meinen geblendeten Augen eine kleine Erholungspause. Ja, darin bin ich gut, bis jetzt habe ich noch jeden Anflug eines Lächelns, das auch nur irgendwie an mich gerichtet war verschwinden lassen. (Ich bin ein zweiter Houdini.) Bei manchen dauert es länger, bei anderen geht es überraschend schnell. Ich hoffe mal, er gehört zur letzteren Sorte, denn jedes Lächeln birgt für mich eine Erwartung.
Das heißt bei keinem Lächeln: keine Erwartung, Niemand, den ich enttäuschen könnte…
„Du scheinst ja eher von der ruhigen Sorte zu sein. Aber das macht nichts, denn meine Freunde sagen ich rede für mindesten Zwei. Wir müssten also gut miteinander auskommen…“
Dieser erneute Kontaktversuch meines Nebensitzers reißt mich aus meinen Gedanken. Völlig überrumpelt, ich hatte nicht mit diesem Wortschwall gerechnet, entweicht mir ein leises:
„Häh?“
Ein amüsiertes Funkeln ist in seinen Augen zu sehen: „Du kannst ja doch sprechen! Und ich hatte schon gefürchtet Gebärdensprache lernen zu müssen.“
„…“
„…“
Hab ich ihn zum schweigen gebracht? Mein Gott, für zwei? Der redet für Zehn! Und selbst das ist noch maßlos untertrieben.
Hoffnungsvoll schwenkt mein Blick aus dem Fenster, doch leider ist kein Ufo in Sicht, um mich aus dieser Hölle zu entführen und ein paar perverse Tests mit mir durchzuführen. Wenn man sie mal brauchen könnte, sind die nicht da!
Dass ich es neben… wie hieß er noch… ach ja, Denis, lange aushalte, bezweifle ich stark. Vielleicht sollte ich schon mal meinen letzten Willen zu Papier bringen. Plötzlich spüre ich einen Blick auf mir ruhen und eine böse Vorahnung überkommt mich, als ich mich umwende.
„Ich hab mich schon gefragt, wie lange es dauert“, seine Augen starren mich unverwandt an, ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel.
Langsam geht er mir wirklich auf die Nerven. „Was willst du!?“, zische ich.
„Hey, warum so aggressiv? Ich hab nur versucht ein normales Gespräch mit dir zu führen, aber du bist so wortkarg, dass selbst Regenwürmer neben dir gesprächig aussehen. Wobei, haben die überhaupt einen Mund?“, er kratzt sich nachdenklich am Kopf und fährt fort (Bitte ihr Aliens kommt und rettet mich!):
„Du beantwortest mir jetzt ein Paar Fragen und…“, eine Kurze Geste erstickt meinen Protest „…und wage es ja nicht, nur zu schweigen…“, er wartet auf einen erneuten Protest. Ich bin still, will nichts tun, was ihn dazu veranlassen könnte noch mehr zu sagen. Er zuckt nur mit den Schultern.
„Na dann, Erstens: Bist du neu in der Stadt, wenn ja, warum bist du hergezogen? Zweitens: Hast du irgendwelche Hobbys oder Interessen, die ich für einen zivilisierteren Smalltalk eignen? Denn weißt du, das machen normale Menschen, wenn sie neue Leute kennen lernen. Und Drittens, und das interessiert mich am meisten: Kannst du mit den ganzen Haaren vor den Augen überhaupt noch was sehen?“
Ich glaube, ich muss ziemlich dämlich aussehen, denn er jedenfalls bricht in schallendes Gelächter aus und die ganze Klasse dreht sich verwundert zu uns um.
„Du“, quetscht er zwischen einzelnen Lachsalven hervor, „bist echt komisch!“
Das Kompliment kann ich gerne zurückgeben. Ich kann mich nicht erinnern, wann jemand zum letzten Mal in meinem Beisein so bescheuert…
und herzlich gelacht hat…
ist wohl zu lange her.
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle schwarzen Leben, die noch darauf warten, ihr Blau zu entdecken