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Vorwort

 

Vorwort

 

 

Dann trafen sich unsere Lippen. Wir küssten uns und ich spürte die Sehnsucht in seiner und meiner Art zu küssen.

Ich liebte ihn. Ich konnte nichts dagegen tun.

Und die Tatsache, dass ich ihn liebte, beantwortete nun auch die Fragen, die in den letzten Tagen immer wieder in mir aufgekommen waren.

Wieso fühlte ich, wenn er seine Lippen auf meine legte, so eine Freude? Wieso kribbelte es überall in mir, wenn er mich berührte? Und wieso zog ich ihn fest zu mir her und es war mir trotzdem nicht fest genug?

Eine Antwort. Eine Antwort, die gleichzeitig schmerzte und sich gut anfühlte.

Weil ich ihn liebte. Er war ein Teil von mir geworden und ich konnte nichts dagegen tun.“

 

Ein regnerischer Tag

 

Ein regnerischer Tag

 

Es regnete. Und zwar ziemlich heftig. Es waren die dicksten und größten Wassertropfen, die ich je gesehen hatte. Sie prasselten auf die Erde herab und innerhalb weniger Stunden war die gesamte Stadt von einer riesigen Wasserpfütze bedeckt. Das machte mich extrem wütend. Ziemlich extrem wütend. Und das hatte drei spezielle Gründe:

  1. Meine beste Freundin Aniela und ich wollten heute eigentlich am Strand spazieren gehen, uns den Wind über die Gesichter schweifen lassen, und einfach mal reden, lachen, herumalbern, so wie es sich für beste Freundinnen gehörte. Doch das fiel nun regelrecht ins Wasser.

  2. Jetzt hatte ich keine Ausrede mehr, um mich vor der Hausarbeit zu drücken. Wenn ich den Spaziergang gemacht hätte, müsste ich mein Zimmer nicht aufräumen und ausmisten, ich müsste auch nicht das Klo und Bad putzen und ich müsste das Haus nicht staubsaugen. Aber diese Ausrede hatte sich ja jetzt auch erledig.

  3. Und der blödste und ärgerlichste Grund war, dass meine Verabredung zu Bruch ging. Eigentlich wollten Jakob und ich heute Abend ein romantisches Picknick am Strand machen. Aber da es dummerweise regnete, würde das wohl auch nicht klappen.

Und deshalb war ich ziemlich extrem wütend. Doofes Wetter.

„Lea, würdest du bitte mal runterkommen?“ Das war die strenge Stimme meiner Mutter.

Ich biss mir auf die Lippen, wandte mich vom Fenster ab und stapfte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Unten angekommen, fiel mein Blick sofort auf meine Mutter, die angespannt auf dem Sofa saß und mich anstarrte.

„Was?“, fragte ich etwas genervt. Mir war schon klar, was jetzt passieren würde: eine lange Rede über Erziehung, Schule oder etwas in der Art. Das war bei diesem Blick immer zu erwarten.

„Du hast mir nicht gesagt, dass ihr heute die Mathearbeit zurückbekommen habt.“

Wusst ich’s doch. Schule.

„Hab ich vergessen.“ Das war natürlich völliger Schwachsinn. Ich hatte wie immer gehofft, meine Mutter würde es nicht merken. Und leider hatte sie es wie immer herausgefunden.

„So, du hast es vergessen?“ Meine Mutter lehnte sich nach vorne und sah mich mit ihrem Ich-bin-nicht-blöd – Blick an. „Dir ist es ganz einfach entfallen, würde ich mal sagen?“

„Ja genau“, sagte ich.

„So, Lea, du bekommst drei Wochen Hausarrest.“ Meine Mutter stand geschäftsmäßig auf und lief an mir vorbei in die Küche.

„Drei Wochen?“, rief ich entsetzt. „Nein, Mama, bitte nicht, das ist doch irrsinnig, was bringt das?“

„Dann lernst du, dass du mir nichts mehr verschweigen sollst“, erwiderte meine Mutter kühl.

„Das halte ich sowieso nicht durch“, erklärte ich achselzuckend.

„Dann wird die Strafe nächstes Mal eben härter.“

„Bekomm ich dann vier Wochen?“

„Nein. Dann wanderst du ins Internat.“

Mir klappte der Mund auf. „Ins Internat?!“

Meine Mutter nickte und ihr Ich-hab-gewonnen – Blick durchbohrte mich schmerzhaft.

„Mama!!“ Ich konnte nicht glauben, dass ausgerechnet ich die gemeinste Mutter der Welt hatte. „Das ist Quälerei!“

„Tja, dann ist es das eben.“ Meine Mutter zuckte die Achseln und stolzierte in die Küche. Für sie war das Thema damit offenbar erledigt.

Ich blieb noch einige Sekunden lang stehen, um ihren Hinterkopf böse anzuschauen, dann drehte mich um, ging hoch in meine Zimmer zurück, und knallte die Tür zu. Sofort schnappte ich mir mein Handy und wählte die Nummer meiner besten Freundin.

„Hallo?“, kam es aus dem Hörer.

„Annie, du musst mir helfen meine Mutter umzubringen!“

Ich hörte Aniela seufzen und sah fast vor mir, wie sie die Augen verdrehte. „Hey Lea.“

„Es ist echt ernst, Annie!“

„Was hat macht sie denn jetzt schon wieder?“

„Sie ist gemein zu mir!“

„Was, im Ernst? Wow, das ist ja echt mal was komplett Anderes als die letzten Male, die du bei mir angerufen hast!“

Der sarkastische Unterton war nicht zu überhören. „Annie, diesmal ist es wirklich etwas Anderes.“

Meine Freundin seufzte erneut. „Also gut. Schieß los.“

„Also. Es hat eigentlich damit angefangen, dass ich ihr nichts von der Mathearbeit erzählt habe und-“

„Warum das denn nicht?“, unterbrach mich Aniela.

„Wenn ich's getan hätte, hätte sie wahrscheinlich einen Anfall gekriegt.“

„Wegen einer 3!?“

„Äh ja?“

„Das ist doch krank. Ich freu mich über eine 4 in Mathe! Wie kannst du dich nur über eine 3 aufregen?“

Ich rege mich doch gar nicht auf, meine Mum tut das!“ Ich verdrehte die Augen. „Kann ich jetzt weitererzählen?“

„Ja.“

„Also, sie hat das mit Mathe rausgekriegt und –“

„War ja klar.“

„Lässt du mich bitte fertig erzählen?“

„’tschuldigung.“

Ich verdrehte die Augen und fuhr fort: „Also, gerade eben hat meine Mum mich geschimpft, weil ich ihr nichts erzählt habe, hat mir Hausarrest gegeben, na ja, das Übliche halt, aber dann hat sie mir noch gedroht, mich, wenn ich ihr nochmal was verschweige –“

„Ja?“

„Dann will sie mich ins ...“ Ich holte tief Luft. „Sie will mich ins Internat schicken.“

Stille.

„Unglaublich, oder?“

Immer noch Stille, dann sagte Aniela: „Aber vielleicht hat sie das auch nur einfach so gesagt.“

„Nein, das denke ich nicht.“

„Das wäre dann aber eine ziemlich gemeine Mum, oder?“

„Oh ja.“

„Und du glaubst, so ist deine Mum?“

„Meinst du die Frage ernst?“

Aniela atmete tief aus. „Wow. Das ist echt heftig.“

Ich nickte. Da fiel mir ein, dass sie das nicht sehen konnte und meinte: „Das stimmt. Heftig.“

„Wie lange?“

„Ich schätze, das wird ewig heftig bleiben. Und ich werde ihr das niemals verzeihen, niemals, niemals, niemals, nie-“

„Nein, ich meine, wie lange will sie dich ins Internat schicken?“

„Achso. Ein Jahr.“

„Na, das geht ja noch.“ Aniela hörte sich erleichtert an.

„Das geht noch? Hallo, die Frau quält mich!“ Ich war schockiert über meine Freundin.

„Ach, komm, übertreib doch nicht.“

„Übertreiben? Ich? In meiner Lage würdest du das Selbe denken!“

„Glaub ich nicht. Ich wär optimistisch und würde denken: Na, wenigstens nicht länger.“

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist also dein Rat. Optimistisch denken.“

„Du wolltest einen Rat, und hier ist er.“

Ich seufzte. „Ich habe echt keine Ahnung, wie ich in dieser Lage optimistisch denken soll.“

„Lea, jetzt beruhig dich mal“, sagte Aniela. „Du kommst jetzt erstmal noch nirgendwohin. Verschweig deiner Mum in Zukunft nichts mehr, dann wirst du auch hier bleiben.“

„Hmpf“, machte ich.

Aniela lachte. „Also dann, wir sehen uns morgen, ja? Und Kopf hoch, das wird schon wieder.“

„Ich hoff’s. Mach’s gut.“

Ich legte auf und starrte das Telefon enttäuscht an. Es war das erste Mal, dass Anielas Ratschlag nichts geholfen hatte.

Dann warf ich ein Blick auf die Uhr. Zehn nach sechs. Um die Uhrzeit wollten wir uns am Strand treffen. Traurig starrte ich nach draußen. Regen über Regen. Der Strand war wahrscheinlich ein einziger Matschhaufen.

In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich sah auf den Display und mein Herz begann zu rasen.

Es war Jakob – der süßeste Junge der Welt.

Seufzend nahm ich ab.

„Hey.“

„Hi, Schatz. Das mit dem Regen ist echt bescheuert, was?“

„Yep. Bescheuerter als bescheuert. Das ist der bescheuertste Tag aller Zeiten.“

„Ja, allerdings.“

Kurzes Schweigen trat ein.

„Aber vielleicht können wir uns ja trotzdem treffen.“

„Im Ernst?“ Zum ersten Mal an diesem Tag spürte ich einen Tropfen Glück in mir.

„Ja, warum nicht?“

„Und wo? Und wie?“

„Ja... keine Ahnung. Können wir uns dann ja noch überlegen.“

„Okay.“ Strahlend fuhr ich mir durch die Haare. „Ich freu mich schon.“

„Ich mich auch. Ich freu mich immer auf dich.“

„Du bist echt süß, Jake.“ Ich grinste.

„Du noch mehr.“ Jake lachte. „Also, ich muss jetzt Schluss machen. Treffen wir uns um sieben bei dir? Ich hol dich ab.“

„Ist gut.“ Ich lächelte. „Bis dann.“ Ich legte auf und ließ mich auf mein Bett fallen. Der Tag war gerettet.

 

Zehn vor sieben stand ich unten in der Gardarobe und war dabei, mir die Schuhe anzuziehen. Meine neuen, schwarzen Stiefeletten. Jake würde sich freuen. Er liebte es, wenn Mädchen Stiefeletten trugen und deswegen hatte ich mir diese hier auch gekauft. Meine Mum hasste Stiefeletten. Sie trug nur diese kleinen spitzen Stöckelschuhe mit den großen Absätzen.

Gerade, als ich meinen Jacke zuknöpfen wollte, ging die Tür hinter mir auf und eine Stimme kreischte: „Du wagst es, einfach zu verschwinden??“

Ich wirbelte entsetzt herum und blickte in das fassungslose Gesicht meiner Mutter. „Hey, Mama.“

„Was tust du da?“

„Ich zieh mir eine Jacke an.“ Ich deutete auf das Kleidungsstück und machte den letzten Knopf zu.

„Warum ziehst du dir eine Jacke an?“, fragte meine Mutter kochend vor Wut.

„Na ja, ohne wäre es doch ein wenig kalt draußen, oder?“, meinte ich unsicher und warf einen Blick auf unser Thermometer. „5°C.“

Meine Mutter machte einen Schritt auf mich zu. Es erinnerte ein wenig an einen Löwen, der seine Beute in Augenschein nahm.

„Ist was?“

„Tu nicht so dumm, ich weiß genau, was du vorhast.“

„Oh.“ Ich starrte auf meine Stiefelspitzen.

„Ja, du dachtest wieder mal du könntest mir etwas verschweigen, oder?“

„Na ja, ich... weißt du, ich... ich sehe es einfach nicht ein, dass ich noch kein Date haben darf. Ich meine, ich bin doch schon 17 und -“

„Du hast ein DATE??“ Meine Mutter schrie so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste.

„Ja, deswegen regst du dich doch so auf, oder?“, meinte ich und langsam hatte ich den Eindruck, etwas verpasst zu haben.

„Ich rege mich auf, weil du dich rausschleichst, obwohl du Hausarrest hast!“

„Ach sooo!“ Das hatte ich überhaupt nicht erwartet. „Oh, das hab ich echt vergessen, sorry.“ Ich grinste. „Tut mir echt leid, Mama.“

„Tut dir leid?“ Meine Mutter stampfte mit dem Fuß auf und ich wich erschrocken vor ihr zurück.

„Alles okay bei dir?“, fragte ich behutsam.

„Nein, verdammt, es ist nichts okay! Wie auch, wenn du dich rausschleichst?!“

„Hey, es tut mir leid, ich wollte nur-“

„Fällt dir nichts Anderes ein als ‚tut mir leid’?“, fragte meine Mutter wütend.

„Es wird nicht wieder vorkommen?“, fragte ich unsicher.

„Hmpf.“ Meine Mutter schien sich wieder etwas zu beruhigen. „Geh hoch in dein Zimmer. Sofort.“

„Was? Wieso? Ich hab doch jetzt ein –“

„Es ist mir egal, dass du ein Date hast!“, schrie meine Mutter und ich zog mir blitzschnell Schuhe und Jacke aus. Einen echten Wutanfall musste ich unbedingt vermeiden.

„Schon okay, Mama. Ich geh nach oben.“

„Aber ganz schnell!“

Während ich an meiner Mutter vorbeilief, spürte ich ihren zornigen Blick in meinem Nacken.

„Und wenn du mir noch einmal etwas verschweigst, geht’s ins Internat, verstanden?“, rief sie mir hinterher. „Und ich meine das todernst!“

„Alles klar, Mama“, sagte ich leise.

„Wie bitte?!“

„Alles klar, Mama!“, sagte ich lauter und ich hörte, wie meine Mutter unten einen zufriedenen Ton von sich gab.

Nachdem ich die Tür meines Zimmers geschlossen hatte, ließ ich mich sofort auf mein Bett fallen. Wütend zog ich mir den Haargummi aus dem Haar, mit dem ich mir einen Pferdeschwanz gebunden hatte. Jakob mochte Pferdeschwänze. Jakob... Was er jetzt wohl machte? Am Besten rief ich ihn einfach an und sagte ab. Dann würde er aber wahrscheinlich ziemlich extrem enttäuscht sein.

Ich seufzte und lehnte mich an die Wand. Aber was blieb mir sonst übrig? Widerwillig schnappte ich mir zum dritten Mal an diesem Tag das Handy und wählte Jakes Nummer von Zuhause.

Es piepte. Zweimal, dreimal, viermal... Warum nahm er denn nicht ab? War er schon auf dem Weg? Ich sah auf die Uhr. Kurz vor sieben. Natürlich war er schon auf dem Weg.

Rasch legte ich auf und während ich die nächste Nummer wählte, hoffte ich inständig, dass er sein Handy dabei- und anhatte.

Doch Fehlanzeige. Nach neunmaligem Klingeln gab ich auf.

Warum musste heute aber auch alles schief gehen? Warum?

Meine Mutter war einfach fies, das war sie schon immer gewesen, dadurch hatte sich der Tag nicht gerade verschlechtert. Aber durch dieses bescheuerte Wetter war alles kaputt gegangen. Der Spaziergang mit Aniela, die Ausrede vom Haushalt und die Verabredung mit Jake, die jetzt sogar noch hingehauen hätte, wenn meine Mutter mir nicht diese blöde Strafe von Hausarrest gegeben hätte.

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

„Ja?“ Keine Antwort. „Mama, du kannst reinkommen, ich werd dich schon nicht umbringen.“

Immer noch nichts. Dann wieder das Klopfen.

„Oh mann!“ Ich stand auf, schritt zur Tür und riss sie auf. Kein Mensch stand davor. „Mama?“

Nein, das konnte nicht meine Mutter sein. Die hätte nämlich, kaum hätte ich die Tür aufgemacht, schon angefangen wegen irgendwas herumzumeckern. Aber wer sollte es sonst sein? Da klopfte es schon wieder. Und erst nach ein paar Sekunden fiel mir auf, dass das Klopfen nicht von der Tür, sondern von meinem Fenster kam.

Der Unglückstag wird noch unglücklicher

Der Unglückstag wird noch unglücklicher

 

 

Überrascht lief ich hinüber und zog die Vorhänge beiseite. Mir klappte der Mund auf. „Was machst du denn hier? Auf meinem Balkon?“

„Na ja, ich hab gerade eine halbe Ewigkeit lang auf dich gewartet und als niemand kam, dachte ich, ich schau mal bei dir vorbei.“ Kurze Stille. „Kann ich reinkommen?“

„Oh, äh ja, klar“, sagte ich etwas verstört, trat beiseite und Jakob stieg in mein Zimmer ein. Ich schloss das Fenster und starrte ihn an. „Warum hast du nicht bei uns geklingelt?“

„Hab ich doch!“ Jake ließ sich auf meiner Coach nieder. „Aber deine Mutter hat mich gleich wieder weggeschickt, hat etwas von Hausarrest gesagt, na ja, ich wusste sofort, dass du in Schwierigkeiten steckst und bin hier hoch geklettert.“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist verrückt.“

„Wieso?“

„Du hättest mich auch anrufen können, das wäre um einiges einfacher gewesen.“

„Hab mein Handy zuhause vergessen“, erklärte Jake achselzuckend.

Ich grinste. „Das ist ja wieder typisch für dich.“

Jakob grinste ebenfalls. „Ich weiß.“ Er erhob sich und kam auf mich zu. „Und warum hast du nicht bei mir angerufen, um abzusagen?“

„Ich hab’s versucht. Aber du hast ja unglücklicherweise dein Handy zuhause vergessen“, antwortete ich.

„Hm.“ Jake blieb vor mir stehen. „Daran hatte ich nicht gedacht. Ich hatte eher vermutet, dass du’s vergessen hast oder dass ich dir dir einfach zu unwichtig wäre.“

„Ist das dein ernst?“, fragte ich erstaunt. „Wir hatten eine Verabredung! Na ja, bessergesagt, wir hätten eine gehabt. Und du glaubst tatsächlich, ich hätte zugesagt, wenn ich es nicht so meinen würde?“

„Solche Menschen soll es geben.“

„Ich bin aber nicht so einer“, versicherte ich ihm. „Das hättest du in dem halben Jahr eigentlich schon gemerkt haben müssen.“ Ich schob die Unterlippe leicht vor und tat so, als wäre ich beleidigt.

„Das kauf ich dir nicht ab“, sagte Jakob grinsend, kam noch einen Schritt auf mich zu und beugte sich hinunter zu mir.

„Jake“, warnte ich ihn. „Meine Mum ist hellhöriger als du denkst.“

„Einen Kuss hört man nicht, Lea“, erklärte Jake.

„Ja, aber man hört dich. Deine Stimme.“

Jakob neigte den Kopf, sodass seine Lippen knapp über meinen waren. „Das ist mir egal.“

Dann trafen seine Lippen auf meine; und im selben Moment durchströmte mich ein Gefühl, ein Gefühl, das ich nicht richtig deuten konnte. Es war so... so wunderschön und ich fühlte mich glücklicher als je zuvor an diesem Tag.

Na ja, was eigentlich auch keine so große Kunst war.

Jakes Lippen lösten sich von meinen und er lächelte mich an. Ich lächelte zurück und sagte leise: „Was machen wir, wenn es an der Tür klopft und meine Mum reinkommt?“

„Dann geb ich dir einen Abschiedskuss und verschwinde“, meinte Jake und fuhr liebevoll durch meine Haare. „Wenn das in Ordnung für dich ist.“

„Aber sicher.“ Ich grinste und küsste ihn auf seine zarten Lippen.

In diesem Moment klopfte es wirklich an der Tür.

Wir sprangen auseinander und nach einem schnellen Blickaustausch, quetschte sich Jake in meinen Kleiderschrank.

Dann flog die Tür auf. Meine Mutter stand da, breitbeinig und mit einem giftigen Gesichtsausdruck.

„Was ist hier los?“, fragte sie.

„Was soll denn sein?“, fragte ich in einem bemüht lässigen Tonfall.

„Ich habe Stimmen gehört.“

„Ach, ich hab... hab eine Kassette angehört“, erklärte ich.

„Seit wann hörst du denn Kassetten an?“, fragte meine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Och, tjaa, das mach ich immer wieder mal“, meinte ich.

„Ah ja.“ Meine Mutter sah sich um. „Bist du sicher, dass du mir nichts verschweigst, Lea? Du weißt, was die Folge wäre, oder?“

„Ja... klar.“ Ich zögerte. Sie konnte nicht wissen, dass Jakob in meinem Kleiderschrank war. Wie sollte sie es auch herausfinden? Ich konnte also beruhigt sein.

Doch dieser Gedanke wurde mit einem Satz zerschmettert.

„Ich hab deine Wäsche für dich gebügelt. Ich räum sie ein und du kannst inzwischen Gitarre üben. Hast du schon länger nicht mehr gemacht, oder?“

Ich erstarrte und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Verdammt. „Ähm... ich räum sie für dich ein, okay? Dann kann ich ja danach noch Gitarre üben, oder?“

„Nein, nein, Lea, ich kenn dich doch. Wahrscheinlich ist dein Schrank wieder ein einziger Misthaufen und ich soll ihn nicht zu Gesicht bekommen.“ Sie ging auf den Schrank zu.

Verdammt, verdammt, verdammt!, dachte ich zitternd. Komm schon, Lea, lass dir irgendetwas einfallen!

Doch zu spät.

Meine Mutter riss die Kleiderschranktür auf und erstarrte. Vor ihr stand Jake, dessen Augen weit aufgerissen waren.

„Was macht der denn hier??“, kreischte meine Mutter und deutete auf den entsetzten Jake.

„Ääähh... k-keine Ahnung“, sagte ich und tat so, als ob ich auch regelrecht überrascht wäre. „Jake, wie kommst du in meinen Kleiderschrank?“

Jakob blickte mich ein paar Sekunden lang an und sagte dann, als er alles kapiert hatte: „Na ja, ich... ich wollte, dass die Verabredung doch noch stattfindet, weißt du? Und als du dann vorher im Bad warst, hab ich mich, äh, durch das offene Fenster“, er deutete mit einer etwas hilflos wirkenden Geste auf mein Fenster, „hier rein geschlichen.“

Meine Mutter starrte mich zornfunkelnd an. Dann fiel ihr Blick wieder auf Jake. „Und das soll ich dir glauben, ja?“

„Es war wirklich so, Frau Gühr!“, meinte Jakob hastig. „Wie soll ich Ihnen es beweisen?“

„Ich brauch keinen Beweis.“ Meine Mutter warf mir einen vernichtenden Blick zu. „Ich weiß auch so, dass meine Tochter gelogen hat.“

„Ich?“ Ich begann noch heftiger zu zittern. „Ich hab nicht gelogen, Mama, ich schwör!“

„Dreimal hast du mir an diesem Tag etwas verschwiegen, Lea, trotz meiner Vorwarnungen.“ Meine Mutter kochte regelrecht vor Wut. „Hier.“ Sie warf mir einen Prospekt zu. „Stell dich schon mal drauf ein.“ Dann verließ sie das Zimmer und knallte die Tür zu.

Jake und ich rührten uns nicht vom Fleck.

„Das hat wohl nicht hingehauen“, meinte Jake schließlich.

Ich schüttelte den Kopf. Der Schock saß mir immer noch in den Gliedern. „Nein, hat es nicht.“

„Was ist denn das für ein Prospekt?“, fragte Jake und stieg vorsichtig aus dem Schrank.

Ich blickte hinunter auf die Zeitschrift, die meine Mutter mir gegeben hatte. Auf dem Titelblatt stand in großen, verschlungenen Buchstaben: Blattenacker-Schule am Bodensee.

Ich schluckte und reichte Jake wortlos den Prospekt.

Blattenacker-Schule am Bodensee? Hä?“ Jake blätterte die Zeitschrift durch. „Das älteste Internat in Deutschland...“ Jake sah mich an. „Was willst du denn mit so einem Schwachsinn?“

„Mich auf einen Internataufenthalt vorbereiten.“

Jake starrte mich mit großen Augen an. „Meinst du, dass –“

„Richtig.“ Tränen stießen mir in die Augen. „Meine Mum schickt mich auf ein Internat.“

„Was?! Das meinst du doch nicht ernst, oder?“

„Doch“, sagte ich leise. „Leider schon.“

„Aber...“ Jakob griff nach meinen Händen. „Du kannst mich doch jetzt nicht verlassen! Ich will nicht, dass du gehst!“

„Ich kann doch auch nichts machen.“ Ich wischte mir eine Träne weg. „Und es ist ja nur für ein Jahr.“

Nur.“ Jakob schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie soll ich dieses Jahr ohne dich überleben?“

„Na ja, du hast doch auch noch andere Leute hier außer mir, mit denen du deine Zeit verbringen kannst, oder etwa nicht?“ Ich schluckte und sah ihm in die Augen. „Ein Jahr Fernbeziehung wird schon klappen, meinst du nicht?“

„Es geht nicht nur um die Beziehung, es ist einfach so, dass ich dich für ein Jahr nicht sehen werde“, erklärte Jake. „Und das ist einfach nur... schrecklich.“

Mir wird er auch fehlen, dachte ich. Meine erste wirklich wahre Liebe.

Ich sah Jake fest in die Augen, strich ihm mit meiner Hand über das Gesicht. Dann beugte ich mich langsam zu seinen Lippen und küsste ihn sanft. Und ich genoss diesen Kuss, mehr als alles andere. Wer weiß, wann ich ihn wieder küssen würde.

Da ging die Tür von Neuem auf. Offenbar hatte meine Mutter jetzt beschlossen, nicht mehr anzuklopfen. Wir sprangen schnell auseinander.

„Bist du etwa immer noch da?“, schnauzte sie Jakob an.

„Nein, Mama, er tut nur so“, sagte ich.

Jake grinste.

Meine Mutter verengte die Augen zu Schlitzen. „Ihr findet das alles wohl lustig oder?“

„Und wie“, meinte ich kalt. „Siehst ja, wir platzen gleich vor Lachen.“

„Und wie ich das sehe.“ Der Blick meiner Mutter wanderte zu Jake, der immer noch grinsend neben mir stand. „So, und du gehst jetzt. Sofort.“

„Aber Frau Gühr, ich -“

„Keine Widerrede. Verschwinde.“

Jake atmete tief aus und drehte sich zu mir um. „Bis dann“, flüsterte er und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Ich sah ihn überrascht an. War das jetzt der einfache Abschied für ein ganzes Jahr?

„Tschüss“, sagte ich etwas langsam und Jake verließ eilig mein Zimmer. Meine Mutter knallte hinter ihm die Tür zu und starrte mich dann durchdringend an.

„So und nun zu dir, mein Fräulein. Hast du denn Prospekt gelesen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Interessiert mich auch nicht besonders.“

Meine Mutter lächelte. „Kann ich verstehen. Wer will schon etwas über seine neue Schule erfahren, nicht?“

Ich biss mir die Zähne zusammen. Ich durfte jetzt nicht ausrasten.

Wobei. Was hatte ich zu verlieren?

„Also gut.“ Meine Mutter verschränkte die Arme. „Hast du ihn geküsst?“

„Was geht dich das an?“, fauchte ich.

„Nun... ich bin deine Mutter“, erklärte meine Mum. „Und ich finde, mit 17 braucht man noch keinen Freund.“

„Und? Ist mir doch egal, was du findest“, sagte ich gereizt. „Und ja, ich habe ihn geküsst.“

„Ach ja? Und wie oft? Wie lange?“

„Gott, Mama, ich kann dir doch jetzt nicht die ganzen Male aufzählen, die ich Jake das letzte halbe Jahr geküsst habe!“

„Das... das letzte...“ Meine Mutter blickte mich völlig schockiert an. „Das letzte halbe Jahr?? Wie lang bist du denn schon mit diesem Idioten zusammen?!“

„Ein halbes Jahr“, wiederholte ich gelassen. „Und Jake ist kein Idiot. Er ist der tollste Mensch, den ich kenne.“

Meine Mutter verengte die Augen. „Das ist mir doch egal, ob er toll ist oder nicht. Du bist noch zu jung für einen Freund.“ Sie drehte sich um und ging zur Tür zurück. Auf halbem Weg drehte sie sich nochmal um und sagte wütend: „Und morgen fahren wir ins Internat.“

Schwerer Abschied

 

 

Schwerer Abschied

 

Es war 01:37 Uhr und ich lag im Bett, während mir Tränen über die Wangen liefen. Jetzt musste ich fort. Ins Internat. Für ein ganzes, schreckliches Jahr. In genau fünf Stunden würde meine Mutter mich wecken. Und dann würden wir an den Bodensee fahren. Und das lag ungefähr am anderen Ende von Deutschland.

Ich schniefte leise und wischte mir rasch über die Augen. Das war doch kindisch. Ein Jahr war für andere ein Klacks. Und ich reagierte mal wieder viel zu übertrieben.

In diesem Moment klingelte mein Handy.

Meine Hand tastete im Dunkeln danach, fand es und drückte auf den grünen Knopf. „Hallo?“, fragte ich mit zitternder Stimme.

„Hey. Stör ich?“ Es war Jakes Stimme.

„Nein, ist schon okay.“ Ich versuchte, möglichst normal zu klingen. „Was gibt’s?“

„Ich wollt mich einfach nur melden. Sorry wegen vorher, der Abschied war nicht besonders herzlich, aber vor den Augen deiner Mutter konnte ich nicht so tun, als ob ich dein... na ja, ich konnte dich einfach nicht küssen. Sie hasst mich.“

„Ich hab ihr versucht zu erklären, dass wir schon seit einem halben Jahr zusammen sind“, erklärte ich und setzte mich auf. „Und sie war entsetzt.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Es herrschte kurze Stille. „Wann fahrt ihr?“

„Morgen.“ Wieder kamen diese verflixten Tränen.

Diesmal herrschte etwas längere Stille. „Schon morgen?“

„Ja.“ Ich warf einen Blick auf meine Uhr. „Beziehungsweise heute. Und wir konnten uns nicht mal wirklich verabschieden.“

„Dann komm ich eben vorbei.“

„Was?“ Überrascht setzte ich mich auf. „Wann?“

„Na jetzt, wenn’s dir nichts ausmacht.“

„Und wie willst du reinkommen? Wenn du klingelst, wacht meine Mutter auf und die bringt dich um. Und mich wahrscheinlich gleich mit.“

„Dann kletter ich eben auf den Balkon. Da bin ich ja jetzt ganz gut drin.“

Ich seufzte. „Das ist echt lieb von dir, aber ich glaub nicht, dass das eine so gute Idee ist. Weil wenn meine Mum dich erwischt, dann...“

„Ja?“

„... dann muss ich vielleicht noch länger im Internat bleiben. Bei der Frau muss man mit allem rechnen.“

„Und wie willst du mich davon abhalten, zu dir zu kommen?“, fragte Jake und ich spürte, dass er grinste.

„Ich flehe dich einfach an.“

„Meinst du, das hilft?“

Ich zögerte. „Natürlich.“

„Dann schau mal auf den Balkon.“

Ich erstarrte, wandte mich um und blickte hinüber zum Balkon.

Grinsend sah mich Jakob an. „Überrascht?“

Ich strahlte, sprang auf, öffnete die Balkontür und fiel Jake um den Hals. „Du bist wirklich gekommen!“

„Klar bin ich das!“ Jake lachte. „Meinst du etwa, ich lasse dich einfach so ins Internat verschwinden, ohne mich richtig von dir zu verabschieden?“

„Gott, Jake, du bist so...“ Ich suchte nach den passenden Worten. „... so unglaublich einfach.“

Er lächelte nur und küsste mich sanft auf die Lippen. „Du auch.“

Ich strahlte ihn an. „Und? Was machen wir jetzt mit dem angefangenen Abend?“

„Weiß nicht.“ Jake nahm meine Hände. „Wir könnten einen Spaziergang in den Park machen. Einfach bisschen reden und so.“

Ich lächelte. „Reden klingt gut.“

Jake lächelte zurück. „Gut.“ Er küsste mich auf die Stirn.

„Na dann.“ Ich seufzte. „Ich hoff mal, meine Mutter erwischt uns nicht.“

„Wird sie nicht. Dafür sorge ich schon.“ Jake nahm meine Hand und wir kletterten über den Balkon in den kleinen Garten. Die Straße war von Straßenlaternen und Mondlicht erhellt und ich lehnte mich an Jakes Schulter.

„Von hier bis zum Park sind es ungefähr zehn Minuten, oder?“, fragte er.

Ich nickte. „Ein kurzer Spaziergang. Aber immerhin lohnt es sich.“

Dann machten wir uns auf den Weg.

Die Nachtluft strich über unsere Gesichter, während wir auf der Straße entlang gingen in Richtung Park. Ich fühlte mich wunderschön frei und unabhängig. Jakes Hand umklammerte meine und in mir stieg das Glücksgefühl noch mehr.

„Warum wolltest du einen Spaziergang machen?“, fragte ich nach einer Weile.

„Tja.“

Ich sah Jake misstrauisch an. „Sag!“

„Wirst du schon sehen.“ Jake grinste mich an. „Es wird dir gefallen.“

„Da bin ich aber mal gespannt.“ Ich kickte eine herumliegende Coladose gegen den Bordstein. „Weißt du, ich... ich kann noch gar nicht richtig begreifen, dass ich schon morgen ins Internat gehen muss. Das ging alles so schnell und es kommt mir so... unglaubwürdig vor und... ich weiß nicht...“

„Das versteh ich.“ Jake sah mich an. „Aber wir telefonieren jeden Tag, versprochen?“

„Natürlich, darauf kannst du dich verlassen. Eher vergisst du, mich anzurufen, als ich dich.“ Ich seufzte. „Ich werde dich so sehr vermissen. Alles hier werde ich vermissen.“ Ich hielt kurz inne und dachte an das Gesicht meiner Mutter. „Na ja, fast alles.“

Jakob sah mich an. „Ich werde dich auch vermissen.“ Er umklammerte meine Hand noch fester, als wollte er mich nie wieder loslassen. „Am liebsten würde ich mit dir kommen.“

„Schön wär’s.“

„Hey.“ Jake strich mir über die Haare. „Denken wir jetzt nicht mehr daran, okay? Genießen wir einfach diese letzten paar Stunden, die uns noch bleiben.“

„Ist gut“, sagte ich leise und versuchte zu lächeln.

Wir bogen um eine Kurve und liefen durch einen kleinen Weg in den großen, beleuchteten Stadtpark. Es war wunderschön romantisch hier.

Jake lief neben mir und hielt meine Hand. Die Sterne leuchteten am Nachthimmel und um uns herum brannten die Straßenlaternen und erhellten somit den großen, schönen Park.

Es war so perfekt.

„Es ist gleich hier drüben.“ Jake deutete auf eine große Wiesenfläche.

„Was ist denn da?“, fragte ich ungeduldig.

„Siehst du ja dann.“

Ich biss die Lippen zusammen, doch ich konnte nicht sauer auf Jake sein. Das Glück bei ihm zu sein war zu groß.

„Okay.“ Jake wandte sich zu mir. „Mach die Augen zu.“

„Was?“ Überrascht sah ich ihn an.

„Mach die Augen zu, ich führ dich hin. Dann steigt die Spannung.“ Jake grinste und küsste mich auf die Stirn.

Ich seufzte ergeben und schloss die Augen.

Jakob nahm meine Hand und wir liefen tiefer in den Park. Es kribbelte in meinem Bauch. Was hatte sich Jake wohl ausgedacht?

Meine Gedanken schweiften zu dem Augenblick vorher in meinem Zimmer. Wie er auf dem Balkon stand und mich anlächelte. Er hatte so ein bezauberndes Lächeln. Und wie er dann ins Zimmer kam... und mich geküsst hatte... es war so wunderschön gewesen. Ich hätte diese Augenblicke mehr genießen sollen. Jetzt war bald alles vorbei. Bald würden Jake und ich uns trennen, es war gar nicht mehr lange. Dann würde der traurige Moment kommen.

Oh Gott, nein, ich durfte nicht daran denken. Jetzt noch nicht.

In diesem Moment blieb Jake stehen und holte mich damit in die Gegenwart zurück. Ich tat es ihm gleich und hielt den Atem an. Was kam jetzt?

„Okay.“ Jake schien ebenfalls angespannt zu sein. „Mach die Augen auf.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich öffnete die Augen.

Wir standen auf einer großen Wiesenfläche mitten im Park. In der Mitte der Wiese war ein großes, rotes Tuch ausgebreitet. Darauf stand eine Schale mit Obst, eine Thermoskanne und eine Schachtel mit Keksen. Um das Tuch herum flackerten kleine Teelichter. Wunderschön sah es aus.

„Ein Picknick?“ Ich strahlte Jake an. „Du bist so unglaublich süß, Jake!“

Jake lächelte verlegen. „Als Abschied, weißt du? Gefällt’s dir?“

„Und ob!“ Fröhlich rannte ich zu dem belegten Tuch. „Komm schon! Lass uns picknicken!“

Jakob lachte und folgte mir.

„Wann hast du das alles denn gemacht?“, fragte ich und biss strahlend in einen Keks.

„Heute. Vorher.“ Jakob setzte sich neben mich und nahm sofort meine Hand, als hätte er Angst, dass uns nicht mehr viel gemeinsame Zeit bleiben würde. Was ja auch stimmte.

„Du bist verrückt, Jake.“ Ich lachte und lehnte mich glücklich an seine Schulter. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach der schlechten Neuigkeit meiner Mutter noch glücklich werden könnte.“

Jake grinste. „Gern geschehen.“ Er wandte sich zu mir und legte seine Lippen auf meine. Mein Glücksgefühl stieg noch mehr.

„Ich schreib dir eine Karte, ja?“, versprach ich und drückte Jakes Hand.

„Und ich dir tausend Briefe“, lächelte Jake. „Darauf kannst du dich verlassen.“ Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort. „Weißt du, ich finde das wirklich ungerecht.“

„Wie meinst du das?“

„Ich weiß nicht... unsere Beziehung ist doch bis jetzt immer gut verlaufen und... eigentlich wollte ich den Tag, an dem wir ein Jahr zusammen sind, irgendwie besonders feiern. Und dann bist du am Bodensee. Ist das etwa fair?“

„Nein. Ist es nicht“, meinte ich und schob mir eine Traube in den Mund. „Aber richtig getrennt werden wir ja auch nicht. Nur sehen wir uns ein Jahr nicht.“

„Das mein ich ja.“ Jake küsste meine Haare. „Uns bleibt nur dieser Abend als Abschied, mehr nicht.“

Ich nickte. Ja, das war allerdings unfair. Zum ersten Mal verliebt, zum ersten Mal ein nächtliches Picknick und zum ersten Mal Liebeskummer – das war zu viel auf einmal.

Jake legte sich ins Gras und starrte in den funkelnden Himmel. In seinen dunklen Augen spiegelten sich die Sterne.

Ich legte mich neben ihn. „Warst du schon oft verliebt?“

„Nein.“ Das klang sehr deutlich. „Du?“

„Auch noch nie.“ Ich seufzte. „Jedenfalls noch nie so sehr wie jetzt.“

„Mir geht’s genauso.“

Wir schwiegen kurz.

Als ich Jakob ansah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Was ist?“, fragte ich.

„Seltsam ist das schon, oder? Mitten in der Nacht ein Picknick im Stadtpark zu machen.“

„War ja deine Idee.“ Ich lächelte zurück. „Eine tolle Idee.“

Jake lächelte, warf einen Blick auf die Uhr und sein Lachen erlosch. „Zwanzig nach zwei.“

„Und? Was willst du mir damit sagen?“

„In drei Stunden und 40 Minuten fährst du los.“

Ich nickte und seufzte. „Denk einfach nicht drüber nach. Das Wichtigste sind wir und das Jetzt und Hier.“

Jake sah mich an und lachte. „Okay.“ Dann legte er seine Lippen wieder auf meine und strich über meine Haare. Ich legte meine Hände um seinen Nacken und erwiderte den Kuss glücklich.

Ich musste diese Nacht genießen. Sie musste für ein unvorstellbares Jahr reichen.

Ich löste mich wieder von Jakes Lippen und lehnte mich mit geschlossenen Augen an seine Schulter. Am liebsten würde ich für immer und ewig hier liegen, in die Sterne schauen, mich mit Jake unterhalten und picknicken. Eine unendlichlange Nacht nach diesem Schema wäre das tollste Geschenk, das man mir machen könnte.

„Was ist?“, fragte Jake und strich über meine braunen Haare. „Alles okay bei dir?“

„Ja, klar, mir geht’s... super“, erwiderte ich. Ich wusste nicht ganz, ob ich das ironisch sagen sollte oder nicht. Einerseits ging es mir ja eigentlich nicht so toll, weil ich bald fahren musste, aber andererseits ging es mir wirklich super, weil ich hier war. Bei Jakob ...

Jake sah mich verwirrt an. „Ernst gemeint oder nicht?“

Ich zuckte die Schultern. „Beides.“

Jake seufzte und küsste meine Wange. „An was denkst du gerade?“

„Ach, an alles Mögliche.“ Plötzlich, ohne dass ich es wollte, schossen mir Tränen in die Augen und flossen über mein Gesicht.

„Hey!“ Erschrocken sah Jake mich an. „Was ist los?“

Ich konnte nichts sagen. Ich weinte einfach nur.

„Es hat doch hoffentlich nichts mit mir zu tun, oder?“

So ein Unsinn. Meine ganze Welt hatte mit ihm zu tun.

„Nein, es ist nur so...“ Ich schniefte laut und wischte mir die Tränen aus meinem Gesicht. „Ich... ich weiß nicht...“

Jake legte die Arme um meinen Nacken und legte seine Lippen auf meine. „Es wird alles gut.“

„Ich hoff’s.“ Ich schniefte wieder, und trocknete mein Gesicht mit meinem Ärmel. Mann, war ich albern! Wegen so einer Kleinigkeit zu weinen! „Tut mir leid.“

„Was? Was tut dir leid?“, fragte Jake und sah mich besorgt an. Er war so süß, wenn er mich so anschaute.

„Ach, ich ...“ Meine Probleme schmolzen unter seinem Blick dahin. „Nichts.“

Jake lächelte. „Genieße jeden Tag, als wäre es dein Letzter.“

Ich sah ihn kritisch an. „Fang bloß nicht an, mit solchen Sprüchen um dich zu werfen.“

„Wieso? Mir gefällt der Spruch.“ Er grinste, beugte sich zu mir hinunter und küsste mich sanft.

Ich schloss die Augen. Einzig und allein dieser Kuss blieb uns bis zum Abschied.

Jake drückte mich an seine Brust. „Es wird alles gut, Lea.“

„Ich weiß.“ Ich biss mir auf die Lippen. Dann kniff ich die Augen fest zusammen und dort unten an seiner Brust, wo er es nicht sehen konnte, stiegen mir Tränen hoch und liefen über.

Abfahrt

 

Abfahrt

 

Der Wecker klingelte. Verstört öffnete ich die Augen, schloss sie dann aber gleich wieder, als mir bewusst wurde, was dieses Weckerklingeln bedeutete. Internat. Oh Gott.

Ich drehte mich wieder auf die Seite. Nein. Ich will nicht. Nein, nein, nein.

Ein Jahr ohne Aniela. Und ein Jahr ohne Jakob. Der größte Alptraum aller Alpträume. Was würde meine Mutter wohl machen, wenn ich einfach nicht aufstehen würde? Mich wahrscheinlich mit größter Gewalt ins Auto zerren. Hmpf. Typisch.

Lea!!! Komm runter, und zwar sofort!!!“

Ich öffnete erneut die Augen und starrte an die Zimmerdecke. Na super. Auf Wiedersehen, geliebte Welt.

Mühsam strampelte ich die Decke weg, erhob mich und trottete verschlafen ins Badezimmer.

Als ich in den Spiegel sah, blickte ich in ein grimmiges Gesicht, dessen Augen ich durch die dicke, braune Haarmähne fast nicht sehen konnte. Am liebsten würde ich jetzt so runter gehen, aber da mich meine Mutter nur anschreien und wieder hochschicken würde, gab ich mir die Mühe, meine Haare zu kämmen, mein Gesicht zu waschen, und mich umzuziehen.

Dann schlürfte ich mit gesenktem Kopf runter ins Esszimmer.

Meine Mutter sprang sofort von ihrem Stuhl auf und deutete mit funkelten Augen auf den Esstisch.

Oh je. Was hatte ich jetzt schon wieder ausgefressen?

Ich folgte ihrem Blick und starrte auf zwei Briefumschläge. Sofort schnappte ich sie mir und starrte auf das Geschriebene vorne drauf. Auf einem stand:

Erst im Internat öffnen.

Auf dem anderen:

Für mein Schatzi!!! (Les erst im Internat)

Ich schätzte, der Brief mit der schöneren Schrift war von Aniela, der andere von Jake.

Ich strahlte. Sie hatten mich nicht vergessen.

„Hast dich wohl bei ihnen ausgeheult, oder?“, fragte meine Mutter schroff.

„Na ja ...“ Bei Jakob hatte ich wirklich geweint. „'N bisschen ...“

Meine Mutter verdrehte die Augen, drückte mir eine Tasse Kaffee in die Hand und meinte: „Trink, das muss für zwei Stunden bis zur nächsten Haltestelle reichen.“

Ich schluckte, nahm die Tasse und trank sie in fast drei Zügen leer. Dann stellte ich die Tasse wieder hart auf den Tisch und blickte meine Mutter wütend an.

„Schau mich nicht so an, es ist nur zu deinem Besten.“ Sie nippte an ihrer eigenen Tasse, nahm dann das Geschirr und marschierte in die Küche. „In fünf Minuten fahren wir. Zeit genug, um dich noch von deinem Zimmer zu verabschieden.“

Ich verengte meine Augen, wandte mich um und ging hoch in meinen Privatraum.

Kaum hatte ich die Tür geschlossen, als mir etwas auffiel. Etwas bewegte sich in der Ecke meines Zimmer. Ich wirbelte herum.

Da stand er. Die dunklen Augen sahen mich durchdringend an, sein Mund verzog sich zu einem dahinschmelzenden Lächeln und er erhob sich von meinem Bett.

Verdattert sah ich ihn an. „Wie ...?“

Doch ehe ich weiterreden konnte, hatte Jake seine Arme um meine Taille geschlungen und seine Lippen sanft auf meine gelegt.

Ich schloss die Augen und erwiderte den Kuss überglücklich. Ich hatte diesen Jungen nicht verdient.

Dann lösten wir uns voneinander. Er blickte mich an und überrascht sah ich in seinen Augen Tränen glitzern.

„Jake, nicht weinen“, flehte ich und strich ihm über die Wange.

Er nickte und wischte sich rasch über die Augen. „Tu ich nicht, keine Angst.“

Ich lächelte – oder so was in der Art, denn für so eine glückliche Mimik, war ich zu traurig.

Jakob seufzte und ich hörte, dass seine Stimme zitterte. „Wie sehen uns ja wieder. In einem Jahr.“ Ich hatte das Gefühl, dass er eher zu sich selber sprach, als zu mir.

„Ja, richtig.“ Ich nahm seine Hand. „Und wir werden telefonieren, Briefe schreiben, E-Mails schreiben, wir werden Kontakt haben, ja?“

„Ja... klar...“

In diesem Moment ertönte die Stimme von meiner Mutter. „Komm runter, Lea, und bring die Koffer mit! Wir müssen los!“

Ich schluckte und meine Augen wurden feucht. Egal wie stark ich mich auch zusammenreißen versuchte, es half nichts. Tränen strömten über meine Wangen. Viele unglückliche Tränen.

Jake nahm mich in den Arm, ganz fest drückte er mich, küsste meine Haare, meine Stirn, meine Wangen, bis er schließlich an meinen Lippen hängen blieb.

„Lea!!!“

Ich zuckte zusammen und Jakob küsste mich noch einmal, sanft und traurig. Dann löste ich mich von ihm, desto länger ich in seiner Nähe war, desto größer wurde meine Traurigkeit.

„Ich geh jetzt.“

Jake nickte. „Mach’s gut.“ Er drückte meine Hand. „Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Ich wandte mich um, nahm meinen Koffer, hängte mir die Tasche um und sah ihn ein letztes Mal an. „Bald sehen wir uns wieder, Jake.“

Er nickte.

Wir sahen uns noch einmal tief in die Augen.

Dann öffnete ich die Tür und ging nach unten in die Küche.

 

Der Intercity-Express auf Gleis 14 nach Ludwigshafen fährt los, bitte zurücktreten!

Ich starrte geradeaus. Alles um mich herum war verschwommen. Ein Schleier aus Tränen hinderte mich daran, nach draußen zu schauen, zu meiner Mutter, die mir zuwinkte. Ja wirklich, sie winkte.

Mein Gehör funktionierte offenbar auch nicht mehr richtig. Die Gleisdurchsagen schienen merkwürdig zitternd, verzerrt, unverständlich. Meine schneeweißen Hände umklammerten zitternd die schwarze Umhängetasche und meine Augen brannten.

Nur am Rande nahm ich wahr, dass der Zug sich in Bewegung setzte, dass die Abteiltür aufging und jemand ins Zimmer kam und dass meine Augen zufielen.

Mein Herz klopfte schnell und mein Atem ging unregelmäßig. Wieder floss eine Träne über meine Wange. Ich wischte sie nicht weg. Ich machte mir nicht die Mühe. Es würde sowieso wieder eine Weitere kommen. Oder auch zwei. Oder drei. Vielleicht flossen sie auch das ganze Jahr über.

Dann, mit einem Ruck, ließ mich ein lautes, dröhnendes Geräusch hochfahren. Ich riss erschrocken die Augen auf und sah mich verstört herum.

Dann stellte ich fest, dass der Lärm von meinem Gegenübermenschen kam. Er trug eine zerrissenen Jeans, ein schwarzes T-Shirt, einen schwarz-weißen Schal und eine schwarze Kappe, die er so tief ins Gesicht hängen ließ, dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte.

„Hey!“ Wütend starrte ich die Kappe an. „Mach die Musik leiser!“

Nichts passierte. Der Typ hörte mich offenbar nicht – oder er wollte mich nur ärgern.

Ich verschränkte die Arme und starrte ungeduldig auf seine Hände, in der Hoffnung, sie würden sich ausstrecken und das Handy ausmachen. Doch da konnte ich noch lange warten..

Die Musik dröhnte weiter in mein Ohr.

Wieso eigentlich dachten diese Typen immer, sie könnten sich alles gefallen lassen?!

Da fiel mir etwas ein. Siegessicher holte ich meinen iPod heraus, wählte das lauteste Lied aus und drehte die Musik auf Laut.

Der Junge zuckte kurz mit dem Kopf, dann wanderte seine Hand zu seinem Handy, doch anstatt die Musik leiser zu machen, stellte er seine Musik im Gegensatz zu meiner auf volle Lautstärke.

Die Musik zerschmetterte mir fast das Trommelfell. Doch ich ließ es mir nicht bieten, besiegt zu werden, also drehte ich solange an der Lautstärkekurbel, bis es nicht mehr weiterging. Der sollte erkennen, dass er hier nicht der Boss war.

Grinsend starrte ich die Kappe an, doch das schien den Jungen nicht im Geringsten zu stören. Im Gegenteil, er griff blind in seine Tasche und holte seinen iPod heraus.

Ich ahnte Schreckliches und hielt mir schon mal die Ohren zu. Ich lag richtig. Mit vollem Schlag traf mich irgendein Hip Hop-Lied in voller Lautstärke.

Ich biss die Lippen zusammen, holte mein Handy heraus und suchte vergeblich nach einem Gegenangriff. Doch ich hatte keine Lieder drauf. Kein einziges.

Ich verengte meine Augen und starrte das Handy und den iPod böse an. Verloren. Na super.

In diesem Moment ging die Abteiltür auf und eine junge Frau schaute wütend herein.

„Kannst du deine Musik nicht leiser stellen? Es gibt Leute, die hier schlafen wollen!“

„Das ist nicht meine Musik“, widersprach ich zornig.

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte sie auf etwas neben mir. Ich folgte ihrem Blick und wurde rot. Mein iPod lag leuchtend auf meinem Nebensitz.

„Oh“, sagte ich leise.

Die Frau verdrehte die Augen. „Mach jetzt aus, klar? Oder ich ruf den Schaffner.“

Dann verschwand sie und knallte die Tür zu.

Mit zitternden Händen machte ich meinen iPod aus und meinte verärgert in Richtung Kappe: „Vielen Dank auch für deine Unterstützung.“

Ein unverhohlenes Kichern ertönte.

Da. Die dachten echt, sie wären die Coolsten.

„Das ist nicht witzig“, presste ich zwischen den Lippen hervor.

„Find ich schon.“

Ich blickte die Kappe schräg an. „Kannst du nicht diesen dämlichen Hut abnehmen?“

„Nein.“

„Wieso?“

„Weil diese Cap zu meiner Persönlichkeit gehört.“

„Aha.“ Genervt schlug ich das eine Bein über das andere. „Kannst du dann wenigstens die Musik ausmachen?“

„Nö.“

„Wieso denn nicht?!“

„Alter! Musst du so nerven?“

„Warum stellst du die Musik nicht leiser?“

„Weil.“

Aha. Weil. Sehr kommunikationsfähig.

„Mach halt eins aus“, bat ich ihn schließlich.

„Und welches?“

„Das, was mehr Lärm macht.“

„Und welches ist das?“

„Mach einfach, bitte“, zischte ich.

Der Typ stöhnte und schaltete sein Handy aus.

„Danke.“

Der Typ brummte etwas Unverständliches.

„Ich kann dich nicht verstehen.“

Er zuckte nur die Achseln.

„Du nervst.“

„Ich weiß.“

Ich seufzte und starrte aus dem Fenster. Da vibrierte etwas in meiner Tasche. Schnell holte ich mein Handy und meine Augen leuchteten vor Glück, als ich sah, dass eine SMS von Jakob bekommen hatte.

 

Hey... wie geht’s dir? Mir ehrlichgesagt total beschissen. Dir wahrscheinlich auch. Oder hoffentlich nicht. Ach egal. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisse. Lass von dir hören. Ich liebe dich. Jake

 

Lächelnd schrieb ich zurück.

 

Gott, danke für deine SMS, ich vermisse dich auch total, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie blöd es mir gerade geht =( Ich hoff, das Jahr geht ganz bald vorbei! Ich liebe dich so sehr!! <3 Lea

 

Ich schob das Handy zurück in meine Tasche. Jake... was er jetzt wohl machte? Wahrscheinlich frühstücken.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Sechs Minuten nach acht. Ich seufzte und lehnte mich an das Fenster.

„Ehy du, fährst du auch ins Internat?“

Ich zuckte zusammen und starrte nach vorne. Der Typ saß unverändert da. „Ähm... ja.“

„Ich auch.“

„Toll.“ Mein Tonfall widersprach sich so extrem mit dem Wort, dass der Typ lachen musste.

Ich verdrehte die Augen. „Ja, witzig.“

Dann passierte etwas Erstaunliches. Der Typ streckte doch tatsächlich seine Hand aus und machte seinen iPod aus. Dann streckte er sich und tat nochmal etwas Überraschendes. Er hob seine Hand und nahm die Kappe vom Kopf.

Ich sah ihm ins Gesicht und er erwiderte den Blick. Eigentlich hatte ich – und ich schämte mich schon für den Gedanken – ein gepierctes, tätowiertes Gesicht mit Dreitagebart erwartet. Doch stattdessen sah er aus wie ein ganz normaler Junge.

Seine schwarzen Haare waren zerstrubbelt und standen nach allen Seiten ab. Die Augen waren blau und blickten mich mit einem belustigten Blick an. Und sein Gesicht schimmerte im hellen Sonnenlicht.

„Oh.“ Das war das Einzige, was ich zustande brachte.

Der Typ lachte.

Ich lächelte etwas unsicher. „Hi.“

„Hey.“ Er grinste. „Hab ich dich vorher sehr aufgeregt?“

Mein Gesicht wurde wieder finster. „Tja, ich hab mir jedenfalls schon mal eine Feindin gemacht.“ „Hab ich gehört.“ Er schien höchst zufrieden mit sich. „Sorry, Alter.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Ja, klar.“

Er grinste noch breiter. „Wie heißt du?“

„Lea. Und du?“

„Christoph.“ Er griff in seine Tasche, holte eine Schachtel Kaugummi, warf sich einen in den Mund und hielt mir dann die Schachtel hin. „Willste auch einen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“

„Okay.“ Er zuckte die Achseln, lehnte sich ans Fenster und starrte zur Abteiltür.

„Ist das dein erstes Mal, dass du ins Internat fährst?“, fragte ich ihn neugierig.

Er antwortete nicht, sondern starrte weiterhin auf die Tür.

„Was?“, fragte ich und folgte seinem Blick.

Draußen im Gang stand ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie hatte lange, blonde Locken, himmelblaue Augen, schneeweiße Zähne und ein makelloses Gesicht.

Barbie lässt grüßen.

Das Mädchen öffnete die Tür und setzte sich, ohne mir eines Blickes zu würdigen, neben Christoph, schlang die Arme um ihn und begann, ihn heftig zu küssen.

Ich verzog den Mund. Geht’s noch?

Christoph bemerkte meinen Blick, löste sich von dem Mädchen und grinste mich an. „Darf ich vorstellen: das ist Julia.“

Julia warf mir einen verächtlichen Blick zu.

„Und das, Julia, ist Lea.“ Christoph grinste mich an.

„Aha.“ Julia sah mich kritisch an. „Ist ja toll, dich kennen zu lernen.“ Dann lächelte sie mich breit an. Zu breit.

Ich verengte die Augen zu Schlitzen. „Ja, ich freu mich auch total.“

Julia lächelte noch breiter, wandte sich wieder Christoph zu, gab ihm einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und verließ erhobenen Hauptes das Abteil.

Ich blickte verärgert auf die Abteiltür.

Christoph musste über meine Miene lachen. „Ehy komm, musst doch zugeben, dass sie geil aussieht, oder?“

Ich schwieg wütend.

„Du magst sie echt nicht?“, fragte Christoph ungläubig.

Nein“, presste ich zwischen den Zähnen hervor.

Er lachte wieder. „Wieso?“

Ich warf ihm einen zornigen Blick zu. „Weil sie arrogant ist.“

„Kennst sie doch gar nicht.“

„Das gerade eben hat mir aber genügt“, zischte ich.

Er zog die Brauen hoch. „Is ja voll crazy. Ich finde sie gar nicht arrogant.“

Ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde. „Schön für dich.“

„Ja, find ich auch.“ Christoph grinste selbstgefällig, holte eine Zeitschrift aus seiner Tasche und begann zu lesen.

Ich starrte die Frau auf der Titelseite böse an. Super Tag heute.

 

Die Battenacker-Schule am Bodensee

 

Diese Zugfahrt war mit Abstand die Schlimmste, die ich je erlebt hatte. Alle Viertelstunde kam Julia rein und küsste Christoph vor meinen Augen. Nicht, dass ich eifersüchtig war. Es war einfach die Tatsache, dass ich mich ärgerte, dass Julia einen Freund hatte, der auch mit ihr im Internat war, im Gegensatz zu mir.

Aber wenigstens schrieben mir Jake und Aniela ständig SMS. Das war echt schön. Doch sie schickten so viele, dass Christoph nach einer Weile wieder seinen Handy auspackte und Musik hörte, um den nervigen Klingelton von meinem Handy nicht mehr zu hören. Sein Problem. Er hatte es sogar besser. Er konnte etwas gegen den Klingelton machen – ich musste zusehen, wie Julia ihn küsste. Küsste. Wie gemein.

Der Wind wütete heftig über den Eingangspark der Internats. Ich konnte nicht viel von dem Gebäude erkennen, eine mächtige Schülertraube stand vor mir. Ich sah nur ein paar Zinnen in roter Farbe und ein paar vereinzelte Bäume und Sträucher um mich herum.

Die Schülermenge hatte sich in mehrere Gruppen aufgeteilt. Diese Gruppen konnte man leicht in die verschiedenen Arten von Schülern einteilen, es waren einfach diese klassischen Cliquen, wie sie sich in so ziemlich jeder Schule bildeten.

In der einen Gruppe standen an die zehn Mädchen, die immer wieder miteinander tuschelten, kichernd zu einer Gruppe Gangstern hinüberschielten und dann wieder anfingen zu tuscheln. Hallo Unterstufe.

Diese Gangster waren alle Jungs – selbstverständlich mit lärmenden Handys bewaffnet –, die ausnahmslos alle weiße Shirts mit V-Ausschnitt oder Jeanshemden trugen. Der eine oder andere auch noch eine Cap. Christoph gehörte natürlich auch zu dieser Gruppe.

Julia gehörte wiederum zu der typischen Schlampenfraktion, die vor allem die Blicke der Gangster auf sich zogen – und dies genossen. Äußerlich zeichneten sich diese Mädchen dadurch aus, dass sie... naja. Der Name sagte eigentlich schon alles.

Und als Letztes gab es dann noch die Sportler: Mädchen und Jungen, die Trikots von irgendwelchen berühmten Sportlern trugen und über die letzten Spielergebnisse fachsimpelten.

Na ja, sonst waren es eigentlich halbwegs normale Gruppen. Ich war in gar keiner. Ich war neutral. Und ich fühlte mich bescheuert.

Zum einen, weil Jake nicht hier war und ich hier abgesehen von zwei Leuten niemanden kannte und zum anderen, weil Christoph ständig zu mir herübergrinste und die anderen Gangster darauf anfingen zu lachen.

Da war es schon wieder. Christoph wandte sich zu mir um, hob die Hand und grinste mich frech an. Seine Kumpels kugelten sich vor Lachen.

Verärgert widerstand ich dem Impuls, ihm wie eine fünfjährige die Zunge rauszustrecken und wandte mich ab. So ein Vollidiot.

„Kümmer dich nicht um ihn. Christoph ist ein Arschloch.“

Ich zuckte zusammen, drehte mich um und starrte in das grinsende Gesicht eines Mädchens, ungefähr so alt wie ich, mit roten Haaren und grünen, blitzenden Augen. „Ääh... 'tschuldigung, aber... kennen wir uns?“

„Nö.“ Das Mädchen zuckte die Achseln. „Aber als ich gesehen hab, dass Christoph sich über dich lustig gemacht hat, wollte ich dir nur einen Tipp geben.“

„Aha.“ Ich warf Christoph einen verächtlichen Blick zu. „Ich ignorier ihn einfach. Ich weiß auch nicht, was er gegen mich hat.“ Ich zwinkerte dem Mädchen zu.

„Nichts hat er gegen dich. Er ärgert jedes Mädchen, dass er süß findet“, klärte sie mich auf.

„Er findet mich nicht süß. Sonst wäre er nicht so gemein.“

„Hör mal, ich fahr schon seit vier Jahren hier aufs Internat und Christoph auch. Ich kenne ihn besser als jeden anderen hier.“ Sie sah zu ihm hinüber. „Und er ist ein Arschloch, soviel steht fest.“

„Danke, da wäre ich jetzt nicht selber draufgekommen“, seufzte ich.

Das Mädchen lachte. „Beacht ihn einfach nicht.“

„Okay.“ Ich lächelte das Mädchen an. „Ich bin übrigens –“

„ – Lea Gühr, wir wissen's.“

Ich wirbelte herum und blickte in das grinsende Gesicht von Christoph. „Hey, was willst du eigentlich?!.“

Christoph lachte, dann wandte er sich dem Mädchen zu. „Und du gibst dich mit ihr ab? Alter, das nenn ich mutig. Ich bin froh, dass ich diese Zugfahrt überstanden habe.“

„Hau ab, Christoph“, fauchte das Mädchen.

„Wow, wow, keine Panik, ich geh ja schon.“ Er zwinkerte mir noch kurz zu, dann verschwand er in der Menge.

Zornig sah ich ihm hinterher. „Er ist so...“

Das Mädchen nickte. „Ich weiß.“ Dann klopfte sie mir auf die Schulter. „Mach dir nichts drauß. Ich bin übrigens Nadja.“

Ich grinste. „Danke.“

Nadja zuckte die Achseln. „Kein Problem.“

„Kennst du eigentlich seine Freundin?“

„Julia?“ Nadja sprach das Wort besonders verächtlich aus. „Und ob. Diese Bitch hat mir meinen Freund ausgespannt.“

„Wen denn?“, fragte ich.

„Wenn ich’s dir sage, lachst du mich bestimmt aus.“

„Tu ich nicht, versprochen.“

Sie seufzte. „Sie hat mir Christoph ausgespannt.“

„Christoph?!“ Ich war viel zu überrascht, als dass ich hätte lachen können. „Du warst mal mit Christoph zusammen?“

„Letztes Jahr, hier im Internat. Ich bereue es, glaub mir.“

„Wow.“ Ich starrte sie ungläubig an. „Und er hat dich einfach verlassen?“

„Joa... nein, eigentlich nicht, es war... etwas... kompliziert.“

„Erzähl.“

Nadja seufzte. „Na ja, weißt du, Julia war schon ewig in Christoph verknallt, ungefähr solang wie ich. Christoph kannte uns beide gleich gut und so kam es, dass wir uns ständig... na ja, ich sag mal, 'Konkurrenzkämpfe' lieferten. Nach einer Weile dann fragte mich Christoph endlich, ob ich mit ihm ausgehen wollte. Julia tobte natürlich und versuchte alles dagegen zu unternehmen, doch wir waren schon zusammen. Von da an schleimte sie schrecklich bei Christoph rum, doch er war nie in sie verliebt. Er hat ihr ständig gesagt, dass er nur mich liebte. Doch Julia erzählte dann irgendwelche komischen Sachen über mich rum, die Christoph dummerweise glaubte und so hat er mit mir Schluss gemacht. Ein paar Tage später war Julia mit ihm zusammen.“

Ich schluckte. „Tut mir leid.“

„Kein Problem.“ Nadja grinste mich an. „Es ist nicht gerade schwer, über Christoph Walder hinwegzukommen. Klar war ich am Anfang traurig, aber nachdem ich gesehen hatte, was für ein Arschloch er eigentlich war, hat sich das bald geändert.“

Ich sah sie schräg an. Die war vielleicht tapfer. Wenn Jake mit mir Schluss machen würde, würde ich ein Jahr heulend im Bett liegen. Mindestens. Wahrscheinlich würde ich nie darüber hinwegkommen.

Nadja lachte über meinen Gesichtsausdruck. „Das stellst du dir wohl komisch vor, oder? Dass man so schnell über seine große Liebe hinwegkommt. Aber glaub mir: bei Christoph ist das nun mal so. Dir würde es wahrscheinlich auch so gehen.“

Ich zuckte die Achseln. „Ehrlichgesagt hab ich null Interesse an ihm.“

„Wieso? Hast du einen Freund?“

Sofort wurden meine Augen wieder feucht. Ich durfte nicht an Jake denken.

Nadja deutete meine Miene falsch. „Oh nein, hat er mit dir Schluss gemacht? Tut mir leid!“

Sie ging auf mich zu und umarmte mich fest.

„Nein, nein“, sagte ich rasch. „Wir sind noch zusammen.“

„Ach so.“ Nadja löste sich wieder von mir und blickte mich durchdringend an. „Warum weinst du dann?“

„Ich... ich weiß nicht...“ Ich holte tief Luft.

Nadja legte mir eine Hand auf die Schulter. „Alles in Ordnung?“

„Ich... vermiss ihn einfach nur so arg. Ich liebe ihn. Wir sind ungefähr ein halbes Jahr zusammen und... wir haben uns schon so aneinander gewöhnt und ich... keine Ahnung...“

Nadja nickte mitfühlend.

In diesem Moment ertönte eine laute Stimme. Vermutlich aus einem Mikrofon.

„Herzlich Willkommen, Jungen und Mädchen! Herzlich Willkommen hier auf der Blattenacker-Schule! Ich bin Georg Baumgärtner und der Direktor an diesem Internat. An alle neuen Schüler oder Schülerinnen: ihr werdet euch sicher wohlfühlen und viele neue Freunde kennenlernen. Das Internat hier ist bevölkert von netten Menschen!“

Und was für nette Menschen.

„Wahrscheinlich werdet ihr das nicht glauben“, fuhr die Stimme fort, „aber bald werdet ihr es selbst sehen! Jetzt möchte ich euch bitten, die Zimmer zu beziehen! Mädchen von der ersten bis zur vierten Klasse befinden sich im Keller, von der fünften bis zur achten Klasse im Erdgeschoss, und ab der neunten im ersten Stock! Der zweite Stock ist tabu. Die Zimmer der Lehrer befinden sich nämlich dort! Der dritte Stock hingegen ist völlig frei. Dort könnt ihr Kicker spielen und Tischtennis, könnt euch in den Aufenthaltsräumen unterhalten, ist mir gleich! Also, ihr werdet euch selbständig aufteilen und auf eure Zimmer gehen! Es gibt 5er- 4er – und 2er – Zimmer! Und bitte keine Hektik, es gibt für jeden ein Bett!“

„Na da bin ich aber dankbar“, murmelte ich und sah mich um.

Um mich herum ging sofort das Gequatsche und Gedränge los.

„Wie jetzt?“, fragte ich Nadja verstört. „Ich kenn mich doch gar nicht aus!“

„Keine Angst!“ Sie nahm meine Hand. „Ich mach das schon!“

Dann schlängelten wir uns durch die Menge, immer wieder von andren angerempelt.

„Wo gehen wir denn hin?“, fragte ich laut, sodass Nadja mich hören konnte.

„Erster Stock natürlich. Oder in welcher Klasse bist du? Schon Eflte, oder?“

„Ja, ja, klar. Du auch? Das wär ja cool, weil dann –“ Ich gab es auf, Nadja hörte mich sowieso nicht.

Ich folgte ihr aus der Schülertraube. Endlich frische Luft. In der Menge war es ganz schön heiß gewesen.

„Tada!“ Nadja streckte den Arm aus. „Unser Internat.“

Ich folgte ihrem Blick. Wir standen vor einem riesigem, altem Gebäude, voller Zinnen und kleinen Türmchen. Die Backsteine waren rot und die Eingangstür aus Marmor mit verziertem Holzrand. Der Weg, auf dem wir liefen, war aus weißem Kies und der Rasen außenrum war knallgrün.

Sah richtig schön saftig aus. Ich stand auf diese knalligen Farben.

„Cool, oder?“, meinte Nadja strahlend. „Man kann sich hier wirklich richtig wohlfühlen. Fast nur nette Leute, schönes Gebäude, schöner Garten und fast nur nette Lehrer.“

„Ja, das ist echt toll.“ Es war auch schön. Aber richtig begeistern konnte ich mich dafür nicht. Ich senkte den Blick. Jake würde es hier auch gefallen. Wenn er doch nur hier wäre. Ich seufzte.

Nadja blickte mich von der Seite her an. „Mann, du hängst ja richtig an deinem Freund!“

Ich zuckte die Schultern und versuchte, gleichgültig zu wirken – funktionierte allerdings nicht besonders gut, denn dummerweise schossen mir gleichzeitig Tränen in die Augen.

Nadja seufzte und nahm meine Hand. „Hey, das wird schon wieder.“

Ich wischte mir schnell über die Augen. „Ja, ja, kein Problem. Lass uns erst mal Zimmer suchen gehen.“

Nadja nickte, warf mir noch kurz einen prüfenden Blick zu, als wollte sie schauen, ob ich die Kraft dazu hätte, lief dann aber weiter.

Ich trottete langsam hinter ihr her. Echt peinlich. Vor anderen Leuten anfangen zu heulen, weil ich gerade mal einen Tag von meinem Freund weg war. Na ja, wenn Nadja mit Jake zusammen wäre, würde sie das vielleicht auch machen. Vielleicht.

Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Nein, ich musste damit aufhören. Ich war schließlich kein kleines Kind mehr. Ich war 17. Ein Teenager.

In diesem Moment wurde ich grob angerempelt und kurz darauf ertönte ein schellendes Lachen.

Ich blickte auf.

„Na, na, da wird doch niemand weinen, oder?“ Christoph schlug mir freundschaftlich lächelnd auf die Schulter.

Ich biss mir auf die Lippen, sagte jedoch nichts.

„Hey, alles okay bei dir?“ Es klang aufrichtig besorgt.

„Nein, es geht schon.“ Ich war überrascht über seine plötzliche Freundlichkeit.

„Komm schon, du kannst es mir doch sagen!“ Christoph grinste mich an.

Ich schluckte. Nein, ich würde es ihm nicht sagen.

„Lass sie in Ruhe, Christoph!“

Ich sah in Nadjas wütendes Gesicht.

„Alter, braucht Lea etwa eine Beschützerin?“, fragte Christoph zornig über die Unterbrechung.

Ich holte tief Luft. „Sie ist nicht mein Beschützerin, sondern meine Freundin.“

Christoph warf mir einen spöttischen Blick zu. „Ey, ich wollte dich ja nur wegen deinem Heimweh aufmuntern. Oder hast du gar kein Heimweh?“

„Doch, hat sie!“ Nadja boxte Chris hart in die Rippen. „Und jetzt hau ab, du Macho!“

Er lachte auf. „Und wegen wem? Vermisst sie ihre Mami?“

Ich zitterte. Fand er das jetzt witzig?

„Nein, sie vermisst ihren Freund!“, fauchte Nadja.

Christoph sah überrascht zu Nadja und dann zu mir. „Ihren... was?“

„Ihren Freund“, meinte Nadja, froh darüber, bei Chris jetzt auch mal ins Schwarze getroffen zu haben.

„Oh.“ Christoph schluckte. Er warf mir einen kurzen Blick zu und ich erwiderte den Blick. Ich sah die Enttäuschung in seinem Blick. „Ey, dann... dann geh ich mal wieder.“ Er wandte sich um und lief schnell zurück zum Rest seiner Gangster, die schon „ey-end“ und „yo-end“ auf ihn warteten.

Nadja schüttelte verächtlich den Kopf. „Es gibt schon Idioten auf diesem Planeten, stimmt’s?“

Ich zuckte die Achseln. Hätte ich Nadja gesagt, dass ich Christoph gerade ganz nett fand, hätte sie mich für total bescheuert gehalten.

Sie bezeichnete mein Achselzucken als ja und gab einen zufriedenen Laut von sich, der mich stark an meine Mutter erinnerte. „Gehen wir.“

Der erste Abend

 

Der erste Abend

 

Unsere Zimmer waren ziemlich groß und gemütlich. Ganz nach meinem Geschmack. Die Holzwände und der Holzboden weckten in mir Erinnerungen von einer Skihütte. Gott, ich liebte Ski fahren.

Wir hatten ein Zweierzimmer belegt, sprich zwei Einzelbetten. Na ja, logisch.

Jeder hatte seinen eigenen großen Kleiderschrank und in der Mitte des Zimmers stand ein großer Holztisch, mit Stühlen und einer Sitzbank außenrum. Nebenan war ein großes Badezimmer mit zwei Waschbecken, einer Dusche und einer Toilette.

Nachdem Nadja und ich alles eingeräumt hatten, ließen wir uns erschöpft auf die Betten fallen und schlossen die Augen. Zu viel Sport für heute.

„Fertig“, seufzte ich.

„Ja, endlich.“

Nadja stand auf und lief zur Zimmertür.

„Hey!“ Ich setzte mich überrascht auf. „Wo willst du hin?“

„Ich schau kurz runter in die Eingangshalle. Mein Dad wollte mich heute anrufen und ich will nachfragen, ob er’s schon getan hat“, erklärte Nadja. „Ich komm dann wieder hoch, ja?“

„Okay.“ Ich legte mich wieder hin. „Viel Spaß.“

Dann hörte ich, wie die Tür geschlossen wurde. Es war still.

Ich seufzte und schloss entspannt die Augen. Oder ich versuchte zumindest entspannt zu wirken. Angekommen. Das war alles wahnsinnig schnell gegangen. Der Tag war so schnell vorübergezogen, ich hatte es gar nicht richtig bemerkt.

Da fiel mir ein, dass ich ja Briefe von Jake und Aniela bekommen hatte. Lächelnd griff ich in meine Tasche und holte die Umschläge heraus.

Beide waren so lieb zu mir. Was würde ich nur ohne die zwei tun? Schon so oft hatte ich Anielas Ratschläge gebraucht und Jake war immer als Kumpel für mich da gewesen und hatte jeden Scheiß mit mir gemacht. Er war so unglaublich süß.

Wäre er jetzt doch nur hier. Dann würde ich ihn ganz fest umarmen und ihn nie wieder loslassen, nie wieder.

Ich seufzte wieder und riss den ersten Umschlag auf – der von Aniela.

 

Heeey mein allergrößter Schatz!!!!

 

Ich vermiss dich jetzt schon, während ich diesen Brief schreibe.

Weißt du, ich hatte am Telefon gehofft, dass das alles nur ein Scherz war. Ein blöder Scherz vielleicht, aber immerhin ein Scherz. Nie hätte ich es für wirklich gehalten. Nie hätte ich gedacht, dass du wirklich für ein Jahr wegfährst. Und als ich gesagt habe „Nur ein Jahr“, habe ich das eigentlich eher für mich selber gesagt. Schließlich ist ein Jahr endlos. Jedenfalls endlos ohne dich.

Du bist die allerbeste Freundin, die man sich wünschen kann, glaub mir.

Und wenn wir uns in einem Jahr sehen (nach tausenden Telefonaten, E-Mails und SMS) werde ich dich gaaanz fest drücken und dich nie wieder loslassen!!!

Wenn du den Brief gelesen hast, ruf mich gleich an, ja? Du musst mir alles erzählen, alles!

Ich hab dich so unfassbar lieb!!!

 

Deine Annie <3

 

Ich strahlte und las mir den Brief nochmal durch. Er war total süß geschrieben. Typisch Aniela.

Grinsend öffnete ich den zweiten Umschlag.

 

Hi Schatz!!!

 

Gott, ich hoff der Brief hier wird nicht allzu kitschig, weil ich weiß ja, dass du nicht so auf Kitsch stehst. ;-) na ja egal.

Also ehrlich gesagt kann ich noch gar nicht glauben, dass du fährst. Ich mein, du hast es mir zwar gesagt, aber ich will es einfach nicht wahrhaben. Wir sind erst ein halbes Jahr zusammen und dann musst du schon wieder weg,

Für ein Jahr. Ein endloses Jahr. Das ist einfach nur unfair.

Aber jetzt bist du weg und ich kann nichts ändern. Am liebsten würde ich dir hinterher reisen, aber meine Eltern lassen mich nicht weg. Ich schwöre, wenn sie „ja“ gesagt hätten, hätte ich den nächsten Zug zu dir genommen.

Ich liebe dich, Lea, und ich will dich nicht verlieren. Bitte versprich mir, dass du mir treu bleibst, ja? Weil ansonsten würdest du mir das Herz brechen und –

ach verdammt, jetzt is es schon wieder kitschig geworden, sorry. Aber ich kann’s nicht anders beschreiben.

Du bist mir so unglaublich wichtig, Lea. Nicht mal tausend Worte schaffen es, zu beschreiben, was ich für dich fühle. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben und das wird für immer so sein. Wenn du nicht das gleiche empfindest, Lea, dann ist das nicht schlimm. Ich will nur, dass du glücklich bist. Wenn du glücklich bist, bin ich das auch.

Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt.

Jake

 

Ich starrte den Brief eine Weile lang an, dann las ich mir nochmal die letzten Sätze durch.

Wenn du nicht das gleiche empfindest, Lea, dann ist das nicht schlimm. Ich will nur, dass du glücklich bist. Wenn du glücklich bist, bin ich das auch.

Glaubte er etwa, ich würde ihn nicht lieben??? Nein, das konnte er nicht denken, ich hatte ihm doch so oft gezeigt, dass ich ihn liebte. Und ich sollte ihm versprechen, dass ich treu bleiben sollte? Natürlich würde ich ihm treu bleiben, was war das bitte für eine Frage?

Ich seufzte und legte die beiden Briefe auf die Seite.

Erst mal musste ich Aniela anrufen, damit sie sich keine Sorgen machte.

Ich wählte ihre Nummer schon automatisch, ich hatte sie wirklich schon x-mal eingetippt.

„LEA!!!“ Anielas Freudenschrei zerschmetterte mein Trommelfell. „Du hast wirklich angerufen, oh mann, das ist, oh mann! Ich hab dich so doll vermisst, ich dachte schon, der Zug sei entgleist oder so was, oh mann, oh mann, ich kanns noch gar nicht glauben, dass du für ein Jahr im Internat festsitzt, du musst mir alles erzählen, ja? Hast du schon Freunde gefunden? Und einen süßen Jungen? Sag schon, sag schon, ich erzähl’s auch keinem weiter, ja? Und ich – “

„Stop mal, Annie“, lachte ich. „Lass mich doch erst mal was sagen. Also ich wollte mich erst mal für den Brief bedanken, der war echt supersüß. Und ich hab schon eine Freundin, ja. Sie heißt Nadja und ist genauso alt wie ich. Aber einen süßen Jungen gibt’s hier glaub nicht. Und ich hab ja schon einen zu Hause.“

„Oh ja, Jake. Der ist total traurig, glaub mir. Der vermisst dich mega. Und ich dich natürlich auch.“

„Ich vermiss euch doch auch, mehr wahrscheinlich als ihr mich.“

„Ach, das glaub ich nicht.“

„Hm... wer weiß?“ Ich zögerte. „Was hast du heute gemacht?“

„Ach, nichts Besonderes.“ Sie hielt kurz inne. „Na ja, ich war in der Stadt, hab eingekauft, irgendwas für die Schule halt, und dann war ich noch bei Johanna.“

Ich nickte. Ja, sie hatte einen ganz normalen Nachmittag verbracht. Konnte ich mir gar nicht vorstellen. Einen normalen Nachmittag. Bei mir war gar nichts normal gewesen.

„Hey! Was ist los? Warum sagst du nichts?“, fragte Aniela besorgt.

„Ach... hab nur nachgedacht.“

„Und wie war denn dein Tag?“

„Okay.“

Okay?“ Aniela lachte. „Jetzt erzähl doch mal!”

„Na ja... die Zufahrt war einigermaßen erträglich, sagen wir’s so. Abgesehen von diesem bescheuerten Typen, der vor mir saß. Echt, der hat so was von genervt! Hat volle Lautstärke Musik gehört, dann hab ich meinen iPod laut gestellt, worauf er sein Handy angemacht hat und dann kam so ne Tussi rein und hat mich angeschrieen, nur weil dieser Vollidiot zu feige war, um zuzugeben, dass er schuld war! Und dann als wir vor dem Internat gewartet haben, hat der Typ mich dauernd verarscht! Ich mein, hallo?! Geht’s noch?!“

„Oooh super.“ Ich spürte, dass Aniela grinste. „Hast dir ja schon mal 'nen Feind gemacht.“

„Allerdings. Weißt du, der ist so einer von diesen typischen Gangstern, die sich für die Allergeilsten halten.“

„Um Gottes Willen, gibt’s da mehr davon bei dir?“

„'Ne ganze Menge sogar.“

„Wow. Hat sich deine Mum ja 'ne tolle Schule ausgesucht.“

„Oh ja.“ Ich machte ein grimmiges Gesicht. „Das war bestimmt Absicht.“

„Na klar was sonst“, erwiderte Aniela lachend. Sie machte eine kurze Pause. „Hey ähm... wie wär’s: ruf doch mal Jake an. Der ist total unglücklich, weil du weg bist.“

„Ja, das ist wohl das Beste.“ Ich fuhr mir durch meine Haare. „Ich vermiss ihn so sehr.“

„Versteh ich.“ Aniela schwieg kurz. „Also... ruf mich bald wieder an, ja?“

„Mach ich. Bis dann, Annie. Und danke nochmal für den Brief.“

„Hey, ist doch kein Problem. Mach's gut, Lea.“

Ich legte auf.

Dann wählte ich Jakes Nummer, voller Vorfreude natürlich. Ich würde seine Stimme hören – ich würde seine Stimme hören! Gerade konnte ich mich auf gar nichts anderes freuen.

„Lea?“ Jakes Stimme zitterte.

„Ähm... ja. Hi, Jake.“

„LEA!!!!!“ Jakes Stimme überschlug sich fast. „Lea, du bist es, du bist es wirklich! Ich saß hier die ganze Zeit neben dem Telefon und hab ewig darauf gewartet, dass du anrufst, mann, ich bin so froh, Gott, ich, oh, Lea, wie geht’s dir?“

„Gut.“ Ich grinste. Es war ein tolles Gefühl, wie sehr sich Jake freute. „Und dir?“

„Na ja... abgesehen von der Tatsache, dass meine Freundin für ein Jahr ins Internat geht – bestens! Ich wurde in Französisch abgefragt und wusste so ziemlich nichts, und heute Nachmittag hab ich die ganze Zeit Mathe gelernt, weil wir morgen eine Test schreiben, und kapier nicht mal die Hälfte.“

Ich grinste. „Na ja, also hier schreibt man nur Tests am Ende des Schuljahrs in jedem Fach, hat Nadja erzählt.“

„Nadja?“

„Meine Freundin, sie ist total nett, geht schon länger hier aufs Internat.“

„Ist ja gut, dass du schon jemanden hast.“

„Ja, kannst froh sein, jetzt werd ich dich nicht mehr so oft anrufen.“

Jake lachte. „Gut? Das ist doch blöd! Je öfter wir reden können, desto besser.“

Ich lächelte. „Ja, find ich auch. Ach, und danke für den Brief. Der war so schön.“

„Kein Problem. Freut mich, dass er dir gefällt.“

„Jaa, zu deinem Kommentar mit dem treu bleiben: du musst dir echt keine Sorgen machen, hier gibt es absolut keine Konkurrenz für dich. Heute auf der Zugfahrt hat mich so ein Gangster, weißt du so richtig mit weißem T-Shirt und V-Ausschnitt, so mit seinem iPod genervt, und vorher vor der Schule auch, mit Absicht, obwohl ich ihm nichts getan habe!“ Ich holte kurz Luft. „Und solche Idioten gibt es hier massig. Also mach dir keine Sorgen, ja?“

„Okay.“ Jake lachte. „Aber trotzdem hak ich da lieber nochmal nach... Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Ich verdrehte die Augen. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mit solchen Sprüchen um dich werfen?“

„Tut mir leid.“

„Passt schon. Und ich verstehe wirklich nicht, warum du so besorgt bist, wie gesagt, es gibt wirklich keinen Grund für-“

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

Ich zuckte zusammen und wandte mich um. „Kannst reinkommen, Nadja!“

Doch es war nicht Nadja.

„Was willst du denn hier?“, zischte ich verärgert. „Das ist unser Zimmer.“

„Alter, reg dich bloß nicht auf, du hast gesagt, ich kann reinkommen“, meinte Christoph mit Unschuldsmiene.

„Ich hab Nadja gesagt“, erinnerte ich ihn. „Heißt du Nadja?“

„Nein?“

„Also.“ Ich sah ihn wütend an. „Und außerdem telefonier ich gerade.“

„Mit wem?“, fragte Christoph sofort.

„Mit Jake.“ Ich verdrehte die Augen.

„Gib mal her.“ Er streckte die Hand nach dem Handy aus.

„Nein!“, rief ich wütend.

Doch er riss es mir einfach aus der Hand und sagte laut in den Hörer: „Ehy Jake, du also, Lea ist gar nich mehr interessiert an dir und findet dich voll ätzend, also lass meine Freundin in Ruhe, klar?“

„Halts Maul, Christoph!“, rief ich genervt, nahm ihm das Handy weg und knurrte in den Lautsprecher: „Sorry, Jake, der Typ hat Probleme.“

„Schon okay“, meinte Jake, doch ich hörte seinen misstrauischen Unterton.

„Mann, Jake, da ist nichts zwischen uns, der labert nur Schwachsinn vor sich hin“, erklärte ich.

Christoph grinste.

„Hau ab, Christoph“, wiederholte ich.

„Wow, is ja gut, keep cool!“ Dann marschierte er lachend aus dem Zimmer.

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „'Keep cool', hast du das gehört? Idiot.“

Jake sagte nichts.

„Wehe, du glaubst jetzt, da würde was laufen.“

„Na ja... ich... nein, natürlich nicht.“

„Gut“, seufzte ich.

Jake atmete tief aus. „Ich liebe dich, Lea.“

„Und ich dich erst.“ Lächelnd strich ich über die Rückseite des Handys. „Mach’s gut, Jake. Wir telefonieren bald wieder, ja?“

„Ist gut.“ Jake schwieg kurz. „Oh, und... erzähl mir alles, ja? Alles, was bei dir so passiert.“

„Mach ich“, antwortete ich. „Kein Problem.“

„Also... bis dann!“

„Ja, bis – “

Doch Jake hatte schon aufgelegt. Zornig starrte ich das Handy an. Na super. Jetzt dachte Jake, ich hätte da was mit Christoph. Nur weil dieser Vollidiot... grrrrrr. Nie wieder würde ich mit ihm reden, nie wieder.

Da wurde die Tür erneut aufgerissen.

Ich kniff die Augen zusammen, wandte mich drohend um und wollte gerade laut losschreien, als ich merkte, dass Nadja im Türrahmen stand.

„Oh, du bist es.“ Ich seufzte er erleichtert.

„Äh ja? Mit wem hast du denn gerechnet?“, fragte Nadja irritiert.

„Mit Christoph. Der kam gerade einfach in mein Zimmer spaziert, während ich mit Jake telefoniert habe, und dann hat er mir mein Handy weggenommen und hat Jake gesagt, ich hätte kein Interesse an ihm und er solle seine Freundin, sprich mich, in Ruhe lassen. Hallo?!“

Nadja schüttelte den Kopf. „Ja, das sieht Christoph ähnlich. Er legt es darauf an, Leute an die Grenzen ihrer Nerven zu bringen. Keine Ahnung, wieso.“

„Ich merk’s.“ Verbissen starrte ich auf mein Handy. „Ich hasse ihn.“

„Ach was.“ Nadja warf sich auf ihr Bett und machte einen Briefumschlag auf, den sie von unten mitgenommen hatte.

„Von wem?“, fragte ich neugierig.

„Meinem Vater.“ Nadjas Augen flogen über das Papier und während sie las, kam mir der Gedanke, auf den Brief von Jake eigentlich auch jetzt schon antworten könnte.

Also holte ich aus meiner Tasche den Spiralblock, ein Federmäppchen und fing an zu schreiben.

 

Hi Jake!

Und wie geht’s? Danke nochmal für den süßen Brief. Hier im Internat gibt’s im Moment nix Neues. Na ja bin auch gerade erst eine halbe Stunde hier, wenn überhaupt.

Was machst du heute noch so? Ich wahrscheinlich nur noch schlafen, bin total müde.

Und das mit dem Telefon... im Ernst, da läuft nichts zwischen Christoph und mir. Christoph ist ein arroganter Idiot, der nur Aufmerksamkeit will. Ich halte nicht viel von ihm. Und das mein ich im Ernst. Frag Nadja – oder Annie. Die haben gehört, wie bescheuert ich ihn finde. Wirklich Jake. Ich liebe dich über alles und das wird sich nie ändern, nie.

Oh und noch zu deinem Brief: was hast du damit gemeint „Wenn du nicht das gleiche empfindest, Lea, dann ist das nicht schlimm. Ich will nur, dass du glücklich bist. Wenn du glücklich bist, bin ich das auch.“ Denkst du etwa wirklich, ich liebe dich nicht? Ich war echt ein wenig enttäuscht, als ich das gelesen hab. Ich dachte, wir vertrauen einander und... na ja, egal.

Ich hoffe, wir hören bald wieder voneinander.

Ich liebe dich <3

Lea

 

Ich las mir den Brief nochmal durch. Ja, das genügte. Jake würde verstehen, wie sehr ich in liebte. Und wenn nicht... ja, dann hatte er Pech gehabt.

„An wen schreibst du da?“, fragte Nadja neugierig.

„Jake.“ Ich faltete das Papier und schob es in den Umschlag. „Ich muss ihm irgendwie beibringen, dass zwischen mir und Christoph absolut nichts läuft.“

„Das wird schwer. Dein Freund scheint ja ein ziemlich eifersüchtiger Typ zu sein.“ Nadja setzte sich im Schneidersitz aufs Bett und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Obwohl – Christoph hat ja nichts Verdächtiges getan, oder?“

„Außer gesagt, dass ich seine Freundin bin.“ Ich seufzte. „Aber Jake wird es verstehen. Er muss es verstehen.“ Dann setzte ich mich plötzlich kerzengerade auf und starrte Nadja erschrocken an. „Oh Gott, stell dir mal vor, Jake wird sich von mir trennen!!!“

„Ach Lea, er wird sich nicht von dir trennen. Dafür liebt er dich zu sehr.“

„Ja, er liebt mich.“ Irgendwie musste ich da gar nicht nachdenken, ich wusste es einfach. Jake liebte mich, das war so, wir gehörten zusammen.

Nadja sah mich bewundernd an. „Das ist schön, wenn man sich da so sicher sein kann.“

„Ja, ist es.“ Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster. Es fühlte sich an, als würde Jake zurückblicken, wie als würde der Regen und der Wind sein Gesicht formen. Ich lächelte breit. „Ja, ist es.“

Nadja grinste. „Du bist echt total verknallt.“

Ich warf ihr einen Seitenblick zu. „Verboten?“

„Nö.“ Sie lehnte sich wieder zurück und holte eine Tafel Schokolade aus ihrer Tasche. „Willst 'n Stück?“

„Ja.“ Ich stützte mich auf dem Bett und nahm das Schokoladenstück entgegen. „Von Milka?“

„Ach was.“ Sie zeigte mir die Packung.

„Lindt? Magst du das?“

„Meine absolute Lieblingsschokolade. Wenn du’s nicht magst, gib’s mir. Ich hab kein Problem damit, den Rest aufzuessen.“

Ich lachte. „Nee, du, das ess ich schon selber!“

„Ach so.“ Gespielt enttäuscht wandte sich Nadja von mir ab. Dann grinste sie. „Na ja, ich hab ja noch 'n paar andre Tafeln dabei.“

Zufrieden lächelnd schloss ich die Augen. Erst einmal musste ich schlafen. Schlafen, schlafen, schlafen. Ich war todmüde.

„Sag bloß, du pennst gleich ein?“

„Ich bin müde“, betonte ich. „Tut mir leid.“

Nadja kicherte.

„Ja... witzig...“ Ich gähnte laut. „Sehr... witzig...“ Dann wurde alles schwarz um mich.

 

„Lea? Lea??? LEA!!!“

Ich zuckte zusammen und fuhr hoch. „Was... was ist?“

Nadja stand mit veraschränkten Armen vor mir. „Es gibt Abendessen.“

„Ach so.“ Ich streckte mich und schloss wieder die Augen. „Hab ich lang geschlafen?“

„Nur ne halbe Stunde.“

Ich nickte zufrieden.

„Komm jetzt“, drängte sie mich. „Sonst bekommen wir keine Plätze mehr.“

„Ist doch egal...“ Ich gähnte. „Kannst du nicht sagen, dass ich keinen Hunger hab?“

Nein.“

Ich seufzte. „Na schön.“ Ich setzte mich auf und stieg aus dem Bett. „Uhr?“

„18:24 Uhr und... 36 Sekunden.“

„So genau wollt ich’s gar nicht wissen“, erklärte ich und blinzelte verschlafen.

Nadja zuckte die Achseln. „Egal, jetzt weißt du's trotzdem.“

Ich gähnte erneut.

„Komm jetzt!“, sagte Nadja laut und zog mich an der Hand aus dem Zimmer.

Auf dem Gang war kein Mensch zu sehen. Auch aus den Zimmern kamen keine Geräusche.

„Wo sind die alle?“, wollte ich überrascht wissen.

„Speisesaal“, antwortete Nadja knapp. Ihre Miene verdunkelte sich aus irgendeinem Grund.

„Bist du schlecht drauf?“, fragte ich.

„Nein.“ Nadja lief angespannt neben mir her.

„Doch, irgendwas ist doch“, meinte ich bestimmt.

Nadja warf mir einen kurzen Blick zu. „Wir sind nicht alleine.“

Ich zog die Brauen hoch. „Hä?“

„Hey, Lea!“

Mein Magen rutschte zwei Etagen tiefer und ich biss mir auf die Lippen. Meine persönliche Nervensäge war im Anmarsch.

Nadja atmete tief aus. „Reicht dir das als Antwort?“

Ich brummte etwas Unverständliches.

Die unheilverkündenden Schritte waren dicht hinter mir.

„Und, wie geht’s?“

„Gut, danke.“

„Ehy, sei nich' so unhöflich!“

Ich fluchte und beschleunigte meine Schritte.

„Weißt du“, meinte Christoph, der jetzt direkt neben mir lief, „ich find dich irgendwie lustig.“

„Ja, ich mich auch“, erwiderte ich genervt.

„Mann, komm schon!“ Er nahm meine Hand und hielt mich zurück. „So schlimm bin ich doch gar nicht, oder?“

Ich wandte mich zu ihm um und starrte in sein Gesicht. Seine Lippen zogen sich zu einem breiten Grinsen.

Nein, so schlimm war er eigentlich gar nicht.

Bitte was?!

„Und?“, fragte er ungeduldig. „Bin ich schlimm?“

Nein.

„Ja“, sagte ich laut, mehr zu mir selbst als zu ihm.

Christoph zog eine Schnute. „Schön.“ Erhobenen Hauptes stolzierte er an mir vorbei und um die Ecke.

Nadja verzog angewidert das Gesicht. „Er ist so... einzigartig nervtötend.“

„Ja, allerdings.“ Ich sah nachdenklich auf die Ecke, wo Chris gerade noch gewesen war.

„Das 'einzigartig' war nicht positiv gemeint!“, sagte Nadja schnell.

Aber ich war in Gedanken ganz woanders. „Einzigartig...“

Nadja zog die Brauen hoch. „Du verhältst dich irgendwie verdächtig, Lea.“ Sie sah mich schief an. „Willst du mir irgendetwas sagen?“

Nadja grinste und ich lief knallrot an. „Sehr witzig.“

„Find ich auch.“

Zornig marschierte ich in Richtung Speisesaal. „Er ist nicht einzigartig und verdächtig hab ich mich auch nicht verhalten.“

„Dohoch!“, flötete Nadja und sie tänzelte neben mir her.

Ich warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Woher willst du das denn wissen?“

Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, sieht man dir einfach an.“

Schlecht gelaunt lief ich weiter.

War ich echt so durchschaubar?

Ganz toll.

„Weißt du“, meinte Nadja, während wir um eine Ecke bogen, „ich glaub, Christoph mag dich.“

„Das hast du mir schon mal gesagt“, sagte ich verbissen.

„Ist das schlimm?“

„Nein“, meinte ich und verdrehte die Augen. „Jeder sagt mal was zweimal.“

Nadja lachte. „Das hab ich eigentlich nicht gemeint.“

„Was dann?“, fragte ich.

„Ich wollte wissen... ob das so schlimm ist, dass Christoph dich mag?“

Ich seufzte. Nein, es war nicht schlimm.

Trotzdem versuchte ich, ein wütendes Gesicht zu machen. „Ja, es ist sehr schlimm.“

„Okay, wenn du meinst“, meinte Nadja mit einem leicht zickigen Unterton. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief mit verschränkten Armen zwei Meter vor mir weiter.

„Mann“, sagte ich genervt, „musst du immer so nachbohren?“

Nadja verzog keine Miene.

„Ich find ihn wirklich schlimm!“

Sie biss sich auf die Lippen und ging noch schneller.

Im Gegensatz dazu beschleunigte ich meine Schritte ebenfalls. „Ist das so schwer zu verstehen?“

„Ja“, knurrte Nadja.

Ich seufzte. Wieso wusste sie nur, dass ich gelogen hatte? „Ich sag dir wirklich die Wahrheit.“

„Na klar“, brummte Nadja und sie lief jetzt so schnell, dass vier Meter Abstand zwischen uns waren.

Ich vergrößerte mein Tempo auch, sodass wir jetzt beide sozusagen durch die Gänge joggten.

„Wenn ich die Wahrheit sagen würde, würde ich es nicht sagen“, erklärte ich.

Nadja blieb stehen und warf mir einen verwirrten Blick zu. „Hä?“

„Ich mein damit... wenn ich wirklich vorgehabt hätte, die Wahrheit zu sagen, würde ich es nicht sagen. Also ich würde dann lügen.“

„Und hattest du gerade vor, die Wahrheit zu sagen?“

Ich zögerte. Irgendwann würde ich sowieso einen verräterischen Fehler machen. „Ja, hatte ich vor.“

Nadja grinste und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. „Wusst ich’s doch.“

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. „Aber es ist einfach nur idiotisch, wenn ich so denke.“

„Quatsch“, widersprach Nadja mir. „Mir ging es damals doch genauso. Christoph hat einfach einen gewissen Charme, es ist beinahe unmöglich ihn nicht zu mögen.“ Sie zwinkerte mir zu. „Dass du ihn auch magst, ist also völlig in Ordnung.“

Ich stöhnte und schlug mir gegen die Stirn. „Nein, ist es nicht! Ich hab zu Hause 'nen Freund, Nadja!“

Nadja verdrehte die Augen und setzte ihre Schritte in Richtung Speisesaal fort.

Ich ging ihr wütend nach, „Was nervt dich denn daran?“

Nadja schüttelte den Kopf. „Du bist echt besessen von dieser Beziehung, oder? Dass Jake der einzige Junge für dich auf dieser Welt ist, verstehe ich ja. Aber das heißt doch nicht, dass du alle anderen Typen ignorieren oder nicht mögen sollst!“

„Aber das tue ich doch gar nicht, ich mag andere Typen auch!“

„Und wieso stört es dich dann so bei Christoph?“

„Na ja, weil ich...“

„Ja?“ Nadja sah mich von der Seite her an. „Warum?“

„Weil ich...“ Ich erwiderte ihren Blick. Dann atmete ich tief aus. „Ich habe keine Ahnung.“

 

Der Speisesaal war vollbesetzt. Schüler und Schülerinnen lachten, aßen und redeten.

„Wohin?“, fragte ich unsicher.

„Da drüben.“ Nadja deutete nach ganz hinten. „Letzte Reihe, letzter Platz.“

„Wie einzigartig“, meinte ich grinsend.

„Einzigartig.“ Nadja stieß mich an. „Wie Christoph.“

„Wenn du nicht gleich die Klappe hältst, dann –“

„Ehy, macht mal Platz da!“ Jemand schubste mich grob auf die Seite. Wir blickten auf.

Es war einer der Gangster.

Natürlich.

Wütend sah ich ihn an und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Nadja schüttelte warnend den Kopf. Ich klappte den Mund wieder zu.

„Kluge Entscheidung, Mädels“, sagte der Gangster mit einem dermaßen arroganten Tonfall, dass ich ihn nur ungäubig anstarren konnte. Diese Typen hatten echt ein Wahninnsselbstbewusstsein. „Eine falsche Bemerkung und isch würde euch hier voll aus'm Fenster rausschmeißen un so.“

„Ja, klar“, erwiderte ich. „Die Fenster liegen ja nur in drei Meter Höhe und haben Gitter vor den Scheiben, aber...“, ich sah ihn provozierend an, „aber wenn du die Kraft besitzt, uns da rauszuwerfen, dann wow, verdienst du meinen vollen Respekt.“

Der Typ warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Hast 'n Problem mit mir?“

„Ähm...“ Er starrte mich durchdringend an. Irgendwie machte er mir jetzt Angst. „Äh nein...?“

„Dein Glück.“ Der Typ grinste mich schräg an. „Ehy, aber wenn du was gegen misch hast, ja, sag’s lieber gleich, bevor isch’s von jemand andrem erfahr, kapiert? Weil sonst hast wirklich 'n Problem mit mir.“

„Und dabei hätten wir so gute Freunde werden können“, sagte ich sarkastisch.

„Ehy vorsischt, Alte!“ Er sah mich drohend an. „Pass auf, was du sagst. Unterschätze misch nischt.“

„Lern erstmal deutsch“, erwiderte ich genervt.

„Okay, wie du willst.“ Der Typ riss die Hand zurück und ließ sie mit aller Kraft vorschnellen.

Erschrocken riss ich die Augen auf, als die Faust mit voller Wucht meinen aufgeklappten Mund traf.

„Au, au, au!“, jammerte ich und schlug die Hand vors Gesicht. Ich spürte, wie mir Blut aus den Mundwinkeln sickerte.

„Was fällt dir eigentlich ein???“, kreischte Nadja.

„Willste auch 'n Kinnhaken?“, drohte der Typ.

„Alter, lass sie in Ruhe, Marc!“ Das war eine andere Stimme. Ich blickte auf und starrte in Christophs wutverzerrtes Gesicht.

„Alter, das Mädchen hat misch voll produziert, das lass isch mir nischt bieten ehy!“

Christoph funkelte ihn an. „Verpiss dich, Marc. Sonst bekommst du noch einen Kinnhaken.“

Marc blickte ihn ungläubig an. Ich merkte, dass er einerseits lieber weg wollte, offenbar wollte er nicht geschlagen werden, aber andererseits nicht als Feigling dastehen wollte. „Ach, du verteidigst die Mädschen?“

Christoph biss sich auf die Lippen. „Hau ab.“

„Ja, kein Stress ehy.“ Marc warf mir noch einen vernichtenden Blick zu, wandte sich dann um und verschwand in der Menge.

Christoph drehte sich zu mir um. „Wie geht’s dir?“

Bestens“, nuschelte ich zornig. Was war das für eine dumme Frage?

„Geh besser zum Arzt“, meinte Christoph leise. „Das sieht nicht so gut aus.“

„Tja.“ Ich funkelte ihn an. „Da musst du dich bei deinem Kumpel bedanken. Ihr seid doch alle gewalttätig!“

„Sorry, Alter.“ Es klang aufrichtig. „Das wollte ich nicht. Marc hat viel... Temperament.“

„Allerdings“, fauchte Nadja.

Er zog schuldbewusst die Achseln hoch. „Ich red mit ihm, ja? Tut mir echt leid. Und geh jetzt zum Arzt.“ Dann ging er.

Ich sah ihm kopfschüttelnd nach. „Er ist irgendwie komisch. Nervig und süß.“ Sofort verfluchte ich mich für das, was ich gesagt hatte. „Äh, das war 'n Witz.“

Nadja grinste nicht, was ich eigentlich vermutet hatte. Sie sah mich nur besorgt an. „Du solltest wirklich zum Arzt gehen.“

„Nein!“, fuhr ich sie an. „Es ist nicht schlimm!“

Nadja zog die Augenbrauen hoch und ich senkte den Blick. „Na schön.“ Langsam trottete ich zur Speisesaaltür. „Kommst du mit?“

„Nein, tut mir leid“ Sie nickte zum Buffet. „Hab tierischen Hunger. Aber du wirst das Zimmer schon finden. Erster Stock, Nummer 12.“

„Okay.“

Lustlos durchquerte ich den überfüllten Saal und machte mich auf den Weg in Richtung Krankenzimmer. Ich begegnete keiner Menschenseele, was mir ganz recht war. Auf blödes Geglotze hatte ich nämlich überhaupt keine Lust.

Ich stapfte die Treppe hoch in den ersten Stock und stieß bei jeder Stufe ein wütendes Grummeln aus. Ich war so dermaßen schlecht drauf.

Der erste Grund war Marc und meine geschwollene Lippe. Der zweite war einzig und allein die Tatsache, auf diesem bescheuerten Internat am Bodensee und damit weg von Jake zu sein. Und der dritte Grund war schlicht und einfach der, dass Christoph hier war. Hier, auf diesem Internat. Ausgerechnet hier.

Und das ließ lauter blöde Gefühle in mir auftauchen: eine ungewollte, viel zu starke Anziehungskraft, die von Christoph ausging und mich traf, wie zwei Magneten; schlechtes Gewissen, weil ich eben diese Anziehungskraft verspürte, obwohl ich ja mit Jake zusammen war; und dann, einfach nur Wut. Ich war extrem wütend, auf alles, was mir ins Auge fiel. Und das war alles Christophs Schuld. Wenn er nicht gewesen wäre, dann... dann... dann wäre einfach alles anders gekommen.

Ich seufzte und blieb vor der Tür mit der Nummer 12 stehen.

Ja, das war auch so eine blöde Sache.

Der erste Abend hier und schon eine Verletzung geholt. Das hatte ich mal wieder klasse hingekriegt.

Was Jake wohl dazu sagen würde. Oder meine Mutter.

Wobei, die würde sich wahrscheinlich auch noch freuen.

Langsam klopfte ich an die Tür und sofort sprang sie auf.

Eine große, dürre Frau mit einen streng zusammengebundenem Knoten aus schwarzen Haaren stand da. Es war die Frau vom Zug, die mir fast eine Strafarbeit verpasst hatte.

Spöttisch grinsend blickte sie auf mich herab.

„Hallo, Lea.“

Woher kannte sie meinen Namen?! „Hallo, Frau... öhm ...“ Kannte ich ihren Namen? „Äh... na ja... hallo.”

„Ich bin Frau Eberling, die Oberschwester.“

„Ja, ähm... Könnte ich vielleicht ein Pflaster haben?“ Ich deutete auf meine Lippen.

„Natürlich.“ Immer noch mit einem leichtem Spott als Unterton führte sie mich in einen großen, weißen Raum, der vollgestapelt war mit einem Schrank, einem Bett, einem Stuhl, einer Lampe, einem Schreibtisch und einem Sitzkissen. Alles schneeweiß.

Mir stieg ein unangenehmer, typischer Arztgeruch in die Nase. Der Geruch von Desinfektionsmittel. Ohne es zu beabsichtigen, verzog ich das Gesicht.

„Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du auch wieder gehen“, fuhr Frau Eberling mich an.

„Nein, nein, ist schon okay hier.“ Ich lächelte breit. „Es ist ganz fantastisch.”

 

Zehn Minuten später lag ich auf meinem Bett und starrte schlecht gelaunt auf die Decke.

„Ach, komm, so schlimm ist er nicht.“ Nadja setzte sich neben mich aufs Bett. „Du findest ihn doch auch ganz gut, oder?“

Ich seufzte und schloss die Augen. „Ja, er ist schon in Ordnung. Im Großen und Ganzen und wenn man ein paar Einzelheiten weglässt.“

Nadja grinste. „Siehst du.“

„Das heißt aber nicht, dass ich ihn auf diese Weise mag“, meinte ich gereizt.

„Aber du hasst ihn nicht!“, flötete Nadja.

Ich verdrehte die Augen. Da hatte sie recht.

In dem Moment flog die Tür auf und Marc stand breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Händen im Rahmen.

Ich biss mir auf die Lippen und versteckte mich halb hinter meinem Kissen. Auf einen zweiten Kinnhaken hatte ich keine große Lust.

„Marc, was willst du hier?“, fragte Nadja genervt.

„Na ja... isch ähm...“ Er räusperte sich und warf mir einen unsicheren Blick zu. Ich erwiderte ihn ebenso schüchtern. „Isch wollte misch nur bei dir entschuldigen un so.“

„Sehr schön.“ Nadja zwinkerte mir zu. „Das hatte ich auch erwartet.“

Marc schob leicht die Unterlippe vor und kam ein paar Schritte auf mich zu. „Sorry, Lea.“

„Schon okay.“ Ich lächelte unsicher.

Er reichte mir die Hand und ich schüttelte sie vorsichtig.

Dann grinste Marc breit. „Und jetzt lass isch euch wieder alleine.“ Er wandte sich um und war schon fast raus aus dem Zimmer, als er sich nochmal umdrehte und mich anblickte. „Ah ja, und Lea: schöne Grüße von Christoph.“

Ich verengte die Augen, warf mich ganz aufs Bett und versteckte mich unter dem Kopfkissen.

Ich hörte ein leises Kichern – vermutlich von Nadja – dann fiel die Tür ins Schloss.

„Was ist denn das für eine Reaktion?“, fragte Nadja belustigt.

„Das ist eine ganz normale Reaktion beim Thema Christoph.“ Ich biss mir auf die Lippen. „Jedenfalls für mich.“ Ich wartete kurz. „Warum schickt er jetzt überhaupt seinen Kumpel, um mich zu grüßen? Kann er doch selber kommen.“

„Viellicht weil er schüchtern ist.“ Jeanice grinste. „Weil er dich mag.“

Ich schlug mit der Faust wütend auf das Bett, riss das Kissen weg und starrte Nadja zornig an. „Er mag mich nicht!“

„Doch.“

„Nein!“

„Doch.“

„Nein!!!“

„Lea, ich diskutier nicht mit dir.“

„Ich aber mit dir!“

„Lea!“

„Nadja!“

„Er mag dich, was ist daran so schlimm?!“

„Er mag mich NICHT!!!“

Nadja seufzte und schloss die Augen. „Na schön. Denk, was du willst.“

Ich stieß einen wütenden Laut aus und ließ mich wieder aufs Bett sinken. „Gute Nacht.“

„Nacht.“ Nadja klang bedrückt. Hatte ich sie verletzt?

Unsicher sah ich zu ihr hinüber, aber sie hatte ihr Gesicht hinter ihrem Buch versteckt.

Ich seufzte. Ja, ich hatte sie verletzt.

Ergeben stand ich auf und setzte mich neben sie. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien.“

„Das ist doch in Ordnung. Ich war zu aufdringlich, schon klar.“

Ich seufzte. „Nein, du warst nett, du warst verständnisvoll. Und du hattest recht.“

Nadja grinste mich an. „Siehst du jetzt, dass er dich mag? Ich bemerke so was schon früher. Ich kann mich gut in andre Leute hineinversetzen.“

„Das ist schön für dich.“ Ich unterdrückte ein Gähnen, doch Nadja sah es.

„Geh ruhig schlafen.“

„Nein, das ist...“ Jetzt musste ich wirklich gähnen. „Okay, hast recht.“

Ich trottete hinüber zu meinem Bett, kuschelte mich unter die Decke, schloss die Augen und murmelte ein „Gute Nacht“.

„Nacht.“

Es war ein anstrengender Tag gewesen – und ein trauriger. Abschied von Jake, das war nicht einfach gewesen. Aber ich hatte Nadja. Sie würde das Jahr einigermaßen erträglich machen, das wusste ich.

Ich dachte noch einmal an Jake, an sein Lächeln, seine Stimme.

Dann fiel ich ins Schwarze.

Nächtliche Sehnsucht

 

Nächtliche Sehnsucht

 

Oh nein!“, stöhnte ich. „Mathe in der ersten Stunde! Das darf doch wohl nicht wahr sein!“

„Hast recht“, gähnte Nadja und schnitt sich ein Stück von ihrem Brot ab.

Wie alle im Speisesaal überflogen wir unsere frisch gekriegten Stundenpläne – und wir waren höchst unzufrieden.

„Und dann Doppelstunde Französisch.“ Verzweifelt blickte ich auf die Dienstagspalte. „Was ist heute nur für ein bescheuerter Tag?“

„Dienstage waren schon immer blöd.“ Nadja lugte über meine Schulter. „Aber Freitag ist cool.“

Mein Blick wanderte nach rechts. „Hm... Doppelstunde Sport, Kunst, Englisch, Geschichte und Religion.“ Ich verzog das Gesicht.

„Was ist?“, fragt Nadja überrascht. „Der Tag ist doch super.“

Super?“, wiederholte ich ungläubig.

„Ja, super.“

„Wir haben Doppelstunde Sport!“

„Eben.“ Nadja strahlte mich an. „Mein Lieblingsfach.“

Ich schüttelte den Kopf. „Lieblingsfach – Sport. Wie blöd kann man sein.“

„Was ist dein Lieblingsfach?“

„Kunst und Französisch. Und Geschichte.“

„Geschichte? Bist du gut in Lernfächern?“

„Na ja, durchschnittlich. Aber Geschichte ist so ein Laberfach. Da kann man wenigstens schlafen.“

„Dann kennst du unser Internat aber schlecht.“ Nadja deutete auf unsere Lehrerin. „Frau Eichenstädt ist schrecklich.“

„Wieso?“

„Sie ermahnt dich wegen jeder Kleinigkeit. Letztens hat sie einem Schüler eine Strafarbeit gegeben, weil er seinen Stift fallen gelassen hat. Das hätte ihren Unterricht gestört.“

Ich zuckte die Achseln. „Na ja, aber beim Schlafen kann man nicht viel falsch machen.“

„Abgesehen von der Tatsache, dass man schläft.“

Ich warf ihr einen genervten Blick zu. „Sie muss doch selber wissen, dass sie ein Laberfach hat. Wahrscheinlich hat sie’s deswegen genommen.“

„Ach Quatsch.“ Nadja schüttelte den Kopf. „Na ja, in einer Sache ist sie cool: sie macht ständig Exkursionen.“

„Ehrlich? Wohin?“

„In Ausgrabungen, Museen und so.“

Ich verdrehte die Augen. „Langweilig.“

„Gar nicht.“ Nadja grinst mich an. „Da kannst du nämlich schlafen, da sagt sie nichts.“

„Wieso denn nicht?“

„Na ja, sie stellt sich einfach vorne hin, während wir uns irgendwo hinsetzen. Dann redet sie... und nach einer Weile hört ihr niemand mehr zu. Und sie bemerkt es nicht.“

Ich lachte. „So einen Lehrer haben wir daheim auch. Allerdings läuft das bei dem auch so im Unterricht ab.“

Nadja zuckte die Achseln. „Bei der Eichenstädt lernst du aber richtig viel über die Antike – und es macht auch Spaß.“

„Ich dachte, sie sei so streng?“

„Ist sie auch. Aber wenn du nichts machst, ist sie eigentlich ganz cool.“

Ich seufzte und schloss die Augen.

Für mich war das alles viel zu viel. Einen Tag war ich gerade mal hier und schon ging hier alles richtig alltäglich ab. Konnten die Lehrer uns nicht wenigstens noch einen Tag frei geben?

Offensichtlich nicht. Und dann ging es auch noch mit Mathe los.

In diesem Moment ließen laute Glockenschläge ein Schauder durch den Saal laufen.

Alle zuckten zusammen und es wurde totenstill. Von einer Sekunde auf die andere.

Verwirrt blickte ich um mich. Was sollte das denn jetzt?

Nachdem alle einige Sekunden geschwiegen hatten, erhob sich der gesamte Tisch auf der anderen Seite. Die Schüler falteten die Hände und senkten den Blick.

Sollte das ein Frühgebet sein?

Ich war nie sonderlich gläubig gewesen und ging normalerweise auch nie in die Kirche, deshalb konnte ich mir ein leises Kichern nicht unterdrücken.

Ein paar Schüler funkelten mich wütend an, andere zuckten nur kurz mit der Wimper, konzentrierten sich dann aber wieder auf das Gebet.

War das hier etwa Tradition?

Ich drehte mich um, um Nadja zu fragen, was denn los sei, als ich verblüfft feststellte, dass auch sie sich erhoben hatte, und nicht nur sie, der ganze Tisch – die ganze Halle stand da und betete.

Ich schluckte und senkte betreten den Blick.

Viel zu spät erhob ich mich ebenfalls, doch gerade, als auch ich die Hände gefaltet hatte, setzten sich alle schon wieder.

Rasch tat ich es ihnen gleich. Ich wollte nicht auffallen. Okay, das war ich vermutlich schon, aber dann wenigstens nicht so, dass es peinlich wurde.

Als alle saßen, ging das Geschnatter wieder los und jeder benahm sich so wie vor dem Gebet. Ein paar Jungen und Mädchen warfen mir immer noch ein paar Mal wütende Blicke zu.

Nadja lachte über meine beschämte Miene.

„Mach dir nichts drauß, Lea, das Internat hier ist eben nur mal ein Kloster.“

Ich brauchte ein paar Sekunden, um das zu verarbeiten. „Äh was?“ Ich starrte sie entsetzt an. „Ein...“ Ich holte tief Luft. „Oh, ich bring sie um!“

„Hä?“

„Meine Mutter, ich bring sie um! Niemand hat mir davon erzählt, dass das hier ein Kloster ist.“ Ich schüttelte mich. „Bah, Kloster! “

Nadja sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der mit sagte, dass ich sie persönlich verletzt hatte. „Oh...“ Ich sah sie entschuldigend an. „Bist du auch so 'ne Gläubige wie die andren hier?“

„Wir respektieren ihn eben und sehen ihn als unser Oberhaupt.“

„Oberhaupt?“ Ich runzelte die Stirn. „Ist das nicht der Bundespräsident?“

„Oh, Lea!“ Nadja schüttelte den Kopf und sah mich mitleidig an. Fand sie meine Vorstellung von Gott etwa erbärmlich? „Gott ist der Oberhaupt der Religion – jedenfalls für Christen.“

Ich zögerte. „Ich glaube, ich bin Christ.“

Nadja starrte mich entgeistert an. Die anderen am Tisch taten es ihr gleich.

Ich spürte, wie ich knallrot im Gesicht wurde. „Na ja...“, stotterte ich. „Ich weiß nicht... ich denk schon... oder?“

Ein Junge lachte laut auf. „Du weißt nicht, welcher Religion du angehörst, ist das dein Ernst?“

Ich schluckte. „Na ja, ich geh fast nie zur Kirche und ich... keine Ahnung, daheim sprech ich nie darüber.“

„In welchen Religionsunterricht gehst du denn?“, fragte ein Mädchen neugierig.

„Ähm...“ Ich dachte kurz nach. „Evangelisch, glaub ich.“

„Dann bist du Christ“, versicherte mir der Junge von vorhin. „Ich heiß übrigens Lukas.“

Ich lächelte schwach und fing dann an, meine Finger zu kneten – ich war extrem nervös.

Die Schüler beruhigten sich wieder und aßen dann gemütlich weiter.

Ich schwieg und versuchte angestrengt, niemanden anzusehen. Bestimmt warfen mir ständig Leute Blicke zu.

„Hast du keinen Hunger mehr?“, fragte Nadja vorsichtig.

„Nein“, murmelte ich. Der erste Morgen und schon ein peinliches Erlebnis. Es konnte nur besser werden.

 

„Cooler Auftritt heut Morgen.“

„Ha, ha, ha“, brummte ich und lief mit schnellen Schritten durch den Gang. „Wirklich saucool.“

„Ja, echt.“ Christoph grinste mich an. „Jemanden, der so schwer von Begriff ist, hatten wir schon lang nicht mehr.“

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. „Schwer von Begriff, ja?“

Christoph zuckte die Achseln. „Klar. Schließlich wusstest du nicht einmal, dass du Christ bist. Und, ehy, eigentlich sieht man doch, dass das hier ein Kloster ist.“

„Nein, offenbar nicht.“

„Hier hängen überall Kreuze, Lea.“

Ich sah mich um. Tatsächlich. Kreuze verschiedener Art – überall. Ich biss mir auf die Lippen. Verdammt.

Christoph grinste. „Du wirst dich damit abfinden müssen.“

Wir bogen um eine Ecke und steuerten auf eine große Tür zu, dahinter würden wir Mathe haben.

Christoph pfiff fröhlich vor sich hin. „Bist du gut in Mathe?“

„Nö.“ Ich warf einen ungeduldigen Blick nach hinten. Eigentlich wollte Nadja schon längst da sein. Solange konnte man doch nicht mit einem Lehrer reden!

„Auf wen wartest du?“, fragte Christoph sofort, kaum hatte ich mich umgedreht.

„Auf Nadja.“ Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und starrte auf meine Füße. „Sie wollte schon längst da sein.“

„Oh, tut mir leid.“ Es klang nicht danach, aber ich erwiderte mal nichts. Streit konnte ich jetzt nicht gebrauchen.

Schweren Herzens betrat ich das große Klassenzimmer und suchte mir sofort einen Platz in der letzten Reihe. Das war schon Angewohnheit bei Mathe.

„Du willst nach hinten?“, fragte Christoph ungläubig. „Alter, da kriegst du doch nichts mit.“

Ich zuckte die Achseln. „Das ist dann ja mein Problem.“

Christoph starrte mich kopfschüttelnd an.

Ich ignorierte ihn und rannte schnell nach hinten, um die Plätze nicht weggeschnappt zu bekommen. Doch da hätte ich vermutlich auch im Schneckentempo laufen können.

Kein einziger Schüler wollte nach hinten, das Gedränge ging in der ersten Reihe los.

Verwirrt betrachtete ich die Jungen und Mädchen, die mit aller Kraft versuchten, nicht weit hinten zu landen.

Lag es an mir? Wollte niemand zu der dummen, unchristlichen Neuen?

Na ja, das könnte wahrscheinlich sogar stimmen.

Doch am Ende ergaben sich die übrig gebliebenen Schüler und setzten sich in die letzte Reihe, darauf bedacht, dass sie möglichst weit weg von mir entfernt saßen.

Ich starrte zu Boden. Wenn ich nicht beliebt war – und das war ich daheim auch nie gewesen – sollte es mir nur recht sein. Immer noch besser, als tausende Schüler, die einen zutexteten.

Nadja war immer noch nicht da. Verdammt, wo blieb sie nur?

„Hallo, Lea.“

Ich zuckte zusammen und wandte mich um. Neben mir saß Lukas und lächelte mich an.

Seine blonden Haare leuchteten im Sonnenlicht und in seinen grünen Augen spiegelte sich mein rotes Gesicht.

Ich war rot? Mann, wie peinlich.

„Oh... hi.“

Ich sah wieder vor zur Tafel. Herr Ludwig war gerade angekommen und hatte seine Schultasche abgelegt.

Ein unangenehmes Gefühl stieg mir in den Nacken, als ich bemerkte, wie Lukas mich immer noch anstarrte. Es war merkwürdiger Blick, so durchdringend und bewundernd.

„Du bist irgendwie komisch, weißt du das?“

Ich sah ihn an. Sein Blick war unergründlich. „Ähm... wieso?“

Lukas lachte leise. Es klang hell und verlockend. „Ich mein ja nur... du bist so anders, als die anderen Schüler hier.“

„In welchem Sinn?“, fragte ich. Meine Stimme hörte sich zittrig an, ohne, dass ich den Grund dafür wusste.

Lukas’ grüne Augen bohrten sich in meine und hielten mich fest. „Na ja... alle wollen im Klassenzimmer nach vorne – du nicht. Alle haben heute morgen gebetet und sind strenggläubige Christen – du nicht.“

„Na ja... ich schätze, dass das daran liegt, dass ich neu bin.“

„Hm...“ Lukas sah mich nachdenklich an. Ich fühlte mich irgendwie befangen. „Möglich.“

Ich schluckte und wandte mich mit Mühe von ihm ab. Der Junge war mir irgendwie unheimlich.

Doch ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, Herr Ludwig hatte den Unterricht begonnen.

Es fing mit einem Begrüßungsgebet an – natürlich, hätte ich mir ja denken können.

Mir fiel auf, dass es allerdings kein Gebet aus einem Gebetsbuch war. Es war eine Bibelstelle. Nicht, dass ich die Stelle kannte. Aber es war eine Art Geschichte, kein Gebet eben.

„Heute les ich die Geschichte aus dem Hohelied 3, 1 – 4. Nächtliche Sehnsucht.“ Herr Ludwig räusperte sich. „Nachts auf meinem Bett sehnte ich mich nach meinem Liebsten. So gern wollte ich bei ihm sein, doch er war nicht da. ‚Ich will aufstehen, die Stadt durchstreifen, durch die Gassen und über die Plätze laufen. Meinen Liebsten muss ich finden!’ Ich suchte nach ihm, doch vergebens. Bei ihrem Rundgang griff die Wache mich auf: ‚Habt ihr meinen Liebsten gesehen?’, fragte ich sie. Kaum war ich an ihnen vorbei, da fand ich ihn, dem mein Herz gehört. Ich hielt ihn fest und ließ ihn nicht mehr los. Ich führte ihn in das Haus meiner Mutter, in jene Kammer, in der sie mich geborgen hat.“

Herr Ludwig konnte diese ganze Stelle auswendig.

Als er geendet hatte, murmelten alle ein kurzes „Amen“, grüßten dann den Lehrer und setzten sich wieder.

Ich brauchte dafür etwas länger. Diese Bibelstelle gab mir etwas zum Nachdenken. Es hatte von Sehnsucht gehandelt... Sehnsucht nach dem Liebsten.

Nachts auf meinem Bett sehnte ich mich nach meinem Liebsten. So gern wollte ich bei ihm sein, doch er war nicht da.

Ja, so ging es mir letzte Nacht auch. Und ich wäre am liebsten auch aufgestanden und ihn suchen gegangen. Aber ich hätte ihn sowieso nicht gefunden, egal was ich versucht hätte.

Herr Ludwig erzählte der Klasse etwas von seiner Tochter, die er letztes Wochenende besucht hatte und berichtete, wie sie auf einer Bananenschale ausgerutscht und sich die Hand gebrochen hatte. Alle lachten.

Ich runzelte die Stirn. Was war denn jetzt schon wieder so lustig? An der Geschichte war doch nichts Witziges. Denn dass die Tochter ausgerutscht war, war Ungeschicklichkeit und nicht zum Totlachen. Ich nahm das Thema Ungeschicklichkeit sehr ernst und hatte deshalb keine große Lust, mich darüber lustig zu machen.

Selbst Lukas lachte neben mir, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich eher über mein Gesichtsausdruck amüsierte, als über den Witz, der nicht witzig war.

Ich stützte den Kopf in meine Hände. Was hatte mir meine Mutter da nur angetan?

„Psst“, flüsterte Lukas.

Ich wandte mich zu ihm um. Er schob mir einen Zettel zu.

Wieso bist du auf dem Internat? Du glaubst doch nicht an Gott wie wir alle.

Ich verdrehte die Augen.

Ich kann nichts dafür, meine Mutter hat mich hierher geschickt, ich hatte doch keine Ahnung, was das hier für eine Schule ist.

Dann schob ich den Zettel Lukas zurück.

Als sein Blick über die zwei Zeilen wanderte, verdunkelte sich seine Miene.

Er kritzelte schnell über das Papier, er schien aufgewühlt.

Das ist doch nur ein Kloster, Lea, ist doch nicht schlimm, oder?

Sorry, aber ich glaub eben nicht so an Gott wie ihr alle, also kann ich über euch denken, wie ich will.

Lukas schüttelte verzweifelt den Kopf und schrieb eine rasche Antwort.

Mann, versteh doch, wenn du dich über das Internat aufregst und die Lehrer kriegen das mit, hast du ein großes Problem! Sie hassen unchristliche Menschen und behandeln sie wie Dreck. Willst du das etwa?

Ich zog die Augenbrauen zusammen. Meinte er das ernst?

Sorry, aber ich interessier mich nun mal nicht für Gott und daran wird dieses Kloster hier auch nichts ändern.

Es ist nur zu deinem Besten.

Das ist meine Angelegenheit. Trotzdem danke für deinen Rat.

Lukas überflog die Sätze und warf mir dann einen ungläubigen Blick zu. Ich wartete auf eine Antwort, doch er zerriss den Zettel nur und warf die Schnipsel auf den Boden. Seine Augen sprühten Funken und sein Gesicht war wutverzerrt.

Für den Rest der Stunde war ich wie Luft für ihn.

Als es endlich klingelte, sprang Lukas sofort auf und stürmte aus dem Zimmer.

Verbissen räumte ich mein Zeug in die Tasche und verließ mit gesenktem Kopf den Raum. Super. Feind Nummer drei.

Als ich durch den Gang lief, spürte ich die Blicke der Schüler in meinem Nacken und versuchte sie zu ignorieren, was gar nicht so einfach war.

Ein paar sahen wütend aus, andere mitfühlend.

„Hey, Lea!“

Ich blieb stehen und verschränkte die Arme. Die konnte sich jetzt auf was gefasst machen.

Nadja stoppte kurz neben mir und sah mich entschuldigend an. „Du, es tut mir so verdammt leid, aber ich –“

„Wo warst du?“, unterbrach ich sie gereizt.

„Das wollte ich dir doch gerade sagen“, meinte Nadja leicht genervt. „Weißt du, Frau Eichenstädt hat solange auf mich eingeredet, ich konnte mich nicht losreißen, und dann war die Stunde schon fast zu Ende und Frau Eichenstädt hat dann gesagt, jetzt müsse ich auch nicht mehr in den Unterricht.“

Ich sah sie kopfschüttelnd an.

War das jetzt eine blöde Ausrede oder die Wahrheit? Ich tippte auf das Erste, sagte aber nichts.

„Bist du jetzt sauer?“, fragte Nadja vorsichtig.

„Nein, natürlich nicht.“

„Danke“, sagte Nadja erleichtert und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Allerdings erreichte es ihre Augen nicht.

Dann fing sie an zu reden, ununterbrochen erzählte sie mir vom Unterricht, von den Lehrern, den Schülern und über ihre Familie, all das, was sie mir wahrscheinlich schon gestern hatte sagen wollen.

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, ich wusste nicht, was ich von ihr halten sollte. Ihr Geplapper kam mir etwas zu künstlich vor, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, schließlich war ja die ganze Schule schon auf mich sauer.

Es könnte ja sein, dass Nadja mich auch nicht mochte, aber dachte, sie war mir noch etwas schuldig und musste jetzt ernsthaft nett zu mir sein. Oder sie wollte mich nur absichtlich nerven und lachte sich dann später womöglich mit ihren Freundinnen über mich kaputt. Oder sie mochte mich wirklich.

Ich verzog das Gesicht. Letzteres bezweifelte ich stark, ließ mit aber möglichst nichts anmerken. Ich konnte ja nicht erwarten, dass ich schon nach einem Tag echte Freunde finden würde. Schließlich hatte ich mich schon mit Christoph und Lukas verfeindet, und auch mit Julia. Ich kam hier eindeutig nicht gut an.

Doppeltstunde Französisch war jetzt angesagt. Das konnte man noch eher überleben als Mathe. Schließlich stand ich in Französisch immer auf einer Eins und in Mathe auf einer Vier. Zugegeben, letzteres war keine besonders tolle Note, aber in anderen Fächern war ich dafür um einiges besser.

„Wir machen gerade die Zahlen in Französisch“, erklärte Nadja eifrig. „Habt ihr die schon gelernt?“

Es war das erste Mal während ihrem Gerede, dass sie mich etwas fragte, deshalb brauchte ich etwas länger, um zu antworten. „Öhm... ja, schon.“ Ich dachte kurz nach. „Ja, klar, die haben wir schon vor 'ner Ewigkeit gelernt!“

„Echt?“, fragte Nadja erstaunt. „Wir sind so langsam, das sagen alle!“ Sie verzog das Gesicht.

„Und woran liegt das?“ Ich fragte nicht aus Interesse, eher um das Gespräch aufrecht zu erhalten.

Doch Nadja durchschaute mich und lächelte gezwungen. „Du brauchst dich nicht für mich zu verstellen.“

„Und du dich auch nicht für mich.“ Die Worte waren herausgekommen, bevor ich auch nur richtig darüber nachgedacht hatte.

Sie starrte mich überrascht an. „Ich? Hä?“

„Ach, ich...“ Ich winkte ab. „Vergiss es, ja?“

„Ich will’s aber wissen.“

Ich zuckte die Achseln und marschierte an ihr vorbei in den Klassenraum. Natürlich schritt ich geradewegs auf die letzte Reihe zu.

Ich wusste, dass ich mich albern benahm und dass das total arrogant rüberkommen musste, aber ich war einfach mies drauf und dann führte ich mich eben so auf – da konnte niemand etwas dagegen machen.

„Mann, Lea!“, stöhnte Nadja. „Jetzt komm mal wieder runter.“

Ich biss mir auf die Lippen. Das sollte ich wahrscheinlich wirklich, aber es ging nicht.

Ohne zu antworten, setzte ich mich auf einen Platz, ganz außen.

„Bist du jetzt beleidigt?“, fragte Nadja zögernd.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu. Das reichte ihr offenbar als Antwort.

Sie drehte sich um und ließ sich auf einen Platz in der dritten Reihe nieder.

Mann, was machte ich nur? Wieso musste ich sie so anzicken? Vielleicht wollte sie ja wirklich nur nett sein.

Ich versuchte einfach, nicht darüber nachzudenken, holte meine Sachen raus und lehnte mich dann mit verschränkten Armen zurück. Ein ruhiger Platz hinten und alleine war eindeutig entspannter als der Platz neben Lukas in Mathe.

Ich sah mich um. Wo war er eigentlich? Und wo war Christoph? Waren die gar nicht mit mir in der Klasse? Aber Lukas war doch vorher noch da gewesen!

Ich seufzte, wandte mich wieder nach vorne und plötzlich lief mir ein Schauder über den Rücken, ohne dass ich wusste, woher es kam.

Etwas prickelte in meinem Nacken und ich bekam eine Gänsehaut.

Ich wirbelte herum.

Lukas’ grüne Augen starrten mich durchdringend an.

Schnell drehte ich mich wieder nach vorne. Bitte nicht der schon wieder. Jetzt konnte ich mich wieder auf psychisches Gelaber gefasst machen.

„Darf ich mich neben dich setzen?“, fragte Lukas’ sanfte Stimme.

Ich presste die Lippen aufeinander. Mein gesamtes Inneres war dagegen und sträubte sich gegen das Wort „ja“.

Bitte“, sagte Lukas eindringlich. „Ich muss mir dir reden.“

Ich seufzte. Dann nickte ich ergeben.

„Danke.“ Mit einer unglaublichen Leichtigkeit sprang er über den hinteren Tisch und ließ sich neben mir nieder. „Und, bist du gut in Französisch?“

Offenbar hatte er beschlossen, die kurze Diskussion von vorher zu vergessen.

Ich seufzte. Das war mir nicht recht, er hätte mich ruhig ignorieren können. Dann wäre ich wenigstens nicht so vom Unterricht abgelenkt.

„Lea?“

„Ja, geht schon. Du?“

„Ich bin eigentlich ganz gut. Obwohl... zur Zeit läuft es ziemlich schlecht.“

„Wieso?“

„Weiß nicht. Bin zu faul, um zu lernen.“

Ich sah ihn verwundert an. „Ich dachte, dass hier wäre ein Kloster? Muss man da nicht fleißig sein und gute Noten schreiben?“

„Ach was!“ Lukas lachte. „Du musst nur viel beten, regelmäßig in die Kirche gehen und in Religion gut sein.“

„Das ist mehr als genug“, meinte ich verbissen. Beten und Kirche. Super. „Und was ist, wenn man in Religion schlecht ist?“

„Dann musst du Nachhilfe nehmen.“

„In Religion?“, fragte ich verblüfft. Ich war gewohnt, zu hören, dass man in Französisch oder Mathe oder Deutsch oder Latein, manchmal auch Englisch Nachhilfe nahm. Aber Religion?

„Ja, klar. Das ist das wichtigste Fach.“

Ich zog die Brauen hoch. „Wozu braucht man denn Religion im Leben?“

„Wenn du zum Beispiel Priester werden willst“, meinte Lukas. „Oder Religionslehrer.“

Ich lachte laut auf. „Und wer will das bitteschön werden?“

Lukas verzog keine Miene. Er fand das offenbar nicht sehr witzig. „Ich hatte mir das überlegt, aber da das schon die meisten in meiner Jahrgangsstufe machen wollen, habe ich vor, Mönch zu werden.“

Ich versuchte angestrengt, nicht zu grinsen. „Na dann. Gutes Gelingen.“

„Danke.“ Lukas holte nun auch seine Sachen heraus und, wandte sich zu Monsieur Rollin, der gerade das Zimmer betreten hatte.

Ich tat es ihm gleich und versuchte dabei, mich nicht von ihm ablenken zu lassen. Es war sehr schwer, denn ich spürte immer wieder seinen Blick auf mir.

Natürlich schaute ich extra nicht zu ihm, denn ich befürchtete, wieder anfangen müssen zu grinsen, wenn ich sein Gesicht sah.

Das alles hier war irgendwie absurd und gleichzeitig irre komisch. Alle hier waren so felsenfest von Gottes Liebe überzeugt und von Religion, dass es schon wieder zum Lachen war.

Monsieur Rollin begann seinen Unterricht ganz normal – mit Gebet. Das war hier schließlich normal.

Dann kam eine kurze, schmerzlose Abfrage über die Zahlen von eins bis hundert. Es war das Mädchen von heute früh, das ausgefragt wurde. Ich vermutete, dass sie eine Drei hatte – ein paar Zahlen hatte sie komplett falsch gesagt, andere konnte sie nicht schreiben. Wenn der Lehrer gerecht war, würde es eine Drei geben. Wäre er ungerecht, wohl eher eine Vier.

Dann kam die Korrektur der Hausaufgabe.

Ich seufzte gelangweilt und starrte aus dem Fenster. Es regnete in Strömen, dicke Tropfen prasselten an die Fensterscheibe.

Plötzlich traf mich etwas an der Stirn.

Ich blickte verwundert um mich und entdeckte ein zusammengeknülltes Papier auf meinem Tisch.

Überrascht sah ich mich in der Klasse um, doch niemand schien sich auffällig zu verhalten.

Aus den Augenwinkeln blickte ich zu Lukas, doch der bemühte sich, bei den Hausaufgaben mitzukommen. Wäre ja auch unlogisch, wenn er mir einen Zettel zuwerfen würde, er saß ja neben mir.

Neugierig faltete ich das Papier auseinander und begann zu lesen.

Kannst du mir mal erklären, warum du neben Lukas sitzt? Er ist ein totaler Vollidiot! Was findest du an ihm? Nadja

Ich warf einen möglichst unauffälligen Blick zu Lukas herüber.

Er starrte mich fragend an. „Was ist?“

„Nichts, nichts“, sagte ich rasch und beugte mich wieder über den Zettel.

Na ja, ich find ihn schon okay, n bisschen komisch, aber ich kenn ihn ja noch nicht. Wieso ist er ein Idiot? Was hat er getan?

Dann knüllte ich das Papier wieder zusammen und wartete darauf, dass Monsieur Rollin nicht herschaute.

„Von wem ist der Brief?“, fragte Lukas neugierig und sah zu mir hinüber.

„Nadja.“ Ich trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Der Franzose redete und redete über diese blöden Zahlen und blickte die Klasse dabei mit strahlendem Lächeln an.

Lukas’ Miene verfinsterte sich. „Was schreibt sie?“

„Das geht dich doch nichts an“, sagte ich leicht genervt.

„Und ob.“ Lukas streckte die Hand aus und riss mir das Papier aus den Fingern.

Verblüfft starrte ich ihn. Vielleicht hatte Nadja recht – er war wirklich ein Vollidiot. „Gib mir den Zettel wieder.“

„Erst will ich ihn lesen.“ Er begann, den Zettel auseinander zu falten.

„Nein!“, flüsterte ich panisch und versuchte, an das Papier zu gelangen – erfolglos. Ich hatte das ungute Gefühl, Nadja würde in Schwierigkeiten geraten, wenn Lukas das Geschriebene zu Gesicht bekam.

„Ach, es steht also was Schlimmes drin?“, fragte Lukas mit blitzenden Augen.

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Wieso sollten wir etwas über dich schreiben?“

Lukas zuckte die Achseln und er machte sich wieder daran, den Zettel zu lesen.

„Gib her!“, zischte ich wütend, stieß ihm mit den Ellenbogen in die Rippen und riss ihm das Papier aus der Hand.

„Hey!“ Lukas packte meine Finger und versuchte, sie auseinander zu bringen.

Ich blickte hektisch zu Monsieur Rollin. Er stand mit dem Rücken zu uns. Das war die Chance.

Während ich mit Lukas rangelte, versuchte ich, Nadja auf mich aufmerksam zu machen. Es funktionierte nicht. Sie schrieb schnell mit, was der Lehrer an die Tafel kritzelte.

Also warf ich den Brief einfach über die Köpfe der Schüler hinweg.

Unglücklicherweise traf er den Kopf des Jungen, der vor Nadja saß.

Er wandte sich überrascht um und starrte mich an.

Ich schluckte und spürte, wie ich rot im Gesicht wurde. Es war Christoph.

Mit umständlichen Handzeichen versuchte ich, ihm deutlich zu machen, dass der Zettel an Nadja gerichtet war. Er kapierte es nicht.

Er grinste nur und begann, den Brief zu lesen.

 

„Ach, ja, an Nadja also?“, fragte Lukas wütend nach der Stunde, als ich hinter der Tür stand und auf Nadja wartete.

„Ja-ha.“ Ich war total genervt. Lukas beschwerte sich schon seit fünf Minuten.

„Und wieso durfte Christoph ihn dann lesen und ich nicht?“

„Zum tausendsten Mal, er war nicht an Christoph gerichtet, er hat Nadja nur verfehlt! Was hätte ich denn tun sollen? Aufstehen und ihm den Brief entreißen?“

„Zum Beispiel.“

„Dafür, dass du Mönch werden willst, bist du aber ganz schön undiszipliniert“, fuhr ich ihn an. Das saß. Lukas starrte mich hasserfüllt an.

„Du hast doch keine Ahnung“, zischte er. Sein Anblick machte mir Angst. In seinen grünen Augen loderte Feuer auf und ein Knurren kam aus seiner Brust.

Ich starrte ihn ängstlich an. Er erinnerte mich irgendwie an Edward aus Twilight. So musste Edward auch ausgesehen haben, als er James beim Basketballspielen gesehen hatte und der fremde Vampir Bella bedroht hatte.

Hatte ich Lukas so sehr verletzt? Ja, offenbar schon.

Er presste die Lippen aufeinander und kam einen winzigen Schritt auf mich zu. Seine Hände bebten vor Spannung.

Wie erstarrt stand ich da und blickte ihn an. Was hatte er jetzt vor?

Lukas streckte seinen Arm aus und packte meine Hand. „Warum denkst, dass ich undiszipliniert bin?“

Seine Stimme zitterte und hörte sich kalt und angsteinflößend an.

Ich schluckte. „Na ja...“ Meine Stimme zitterte auch. Aber nicht vor Wut. „Du hast ja... irgendwie gesagt, ich sollte im Unterricht aufstehen, aber... das wäre ja dann gegen die Regeln... und als Mönch muss man ja die Regeln beachten... oder?“ Unsicher blickte ich zu ihm hoch.

Er starrte mich zornig an.

Dann, ohne Vorwarnung, nahm er mein Gesicht in seine warmen, bebenden Hände und presste seine Lippen auf meine.

Ich konnte mich nicht bewegen, es ging alles so schnell.

Seine Lippen lagen drängend und sehnsüchtig auf meinen und sein warmer, süßlicher Atme blies mir ins Gesicht.

Ich versuchte, die Hände von ihm loszuwerden, doch ich war zu schwach.

Er hielt meine eine Hand fest, die andere legte er um seinen Nacken.

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stießen. Warum tat er das? Gerade war er doch so wütend gewesen... wollte er mich etwa ärgern, vor der ganzen Schülerschar, die sich um uns herum angesammelt hatte, blamieren?

Ich hörte jetzt schon das Geplapper.

„Habt ihr schon gehört, die Neue hat Lukas geküsst!“ ... „Ja, nach Französisch, sah total lustig aus.“

Lustig? Oh ja, sie mussten wohl komisch aussehen, wie sie beide so dastanden. Lukas drängend und mich antreibend und ich hingegen total verklemmt und unsicher.

Wahrscheinlich würden mich alle für total bekloppt halten. Einen Tag hier und schon jemanden aufgerissen. Na toll. Meine Beliebtheit sank wirklich rasend schnell. Gut, sie hatte auch nicht sehr hoch angefangen. Vielleicht gerade beim Nullpunkt. Jetzt lag ich wahrscheinlich bei –8. Mit der Zeit würde es entweder bis auf –20 sinken oder auf +1 steigen. Mehr verbessern oder verschlechtern würde ich mich höchstwahrscheinlich nicht.

Lukas’ Lippen wanderten zu meinem rechten Ohr.

„Na, was ist denn, Lea? Das kannst du doch bestimmt besser“, flüsterte er mit einen leisen Lächeln.

Ich schauderte. Lukas war so unheimlich... und was hatte er gegen mich?

„Lass mich in Ruhe!“, zischte ich.

„Wieso sollte ich das?“, fragte Lukas und seine Lippen legten sich sanft auf meine Kehle. „Du hast mich geärgert, jetzt darf ich das auch bei dir tun.“

Ich biss mir auf die Lippen. Dann hatte ich also recht gehabt – er wollte mich nur wütend machen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, nahm alle Kraft auf mich und stieß Lukas von mir weg. Diesmal klappte es.

Lukas taumelte zurück und starrte mich ungläubig an. „Ach, das war’s schon oder wie?“

Ich schüttelte leicht den Kopf und ungewollt wurden meine Augen feucht. „Es hatte doch noch gar nicht angefangen.“

Lukas’ Augen verfinsterten sich und er ballte die Hände zu Fäusten. Es sah so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann entschied er sich doch um.

Immer noch zitternd kehrte er mir den Rücken zu und marschierte mit schnellen Schritten davon. Ich hörte immer noch das leise Knurren aus seiner Brust kommen.

Mein ganzer Körper bebte und mein Herz klopfte schnell und unregelmäßig.

Erst mal musste ich den Schock verarbeiten.

Ich konnte immer noch nicht ganz begreifen, warum Lukas das getan hatte und warum er so wütend geworden war. Er musste doch verstehen können, dass ich nicht so gläubig war wie er und nicht viel davon verstand.

Angewidert starrte ich auf die Ecke, wo er gerade verschwunden war. Lukas war mit Abstand der schlimmste Junge, der mir je begegnet war. Er übertraf sogar Christoph – und das mochte schon etwas heißen.

Plötzlich legte sich mir eine Hand auf die Schulter.

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Was unerlaubte Berührungen betraf, würde ich in nächster Zeit wahrscheinlich noch etwas empfindlich sein.

Doch es war nur Nadja.

Ich seufzte erleichtert und umarmte sie ganz fest – das war einfach so ein Reflex.

Doch sie ließ es zu und strich mir über die Haare. Das tat gut. Jemand, der nicht böse auf mich war. Plötzlich fiel mir der kurze Streit von vorher wieder ein und ich merkte, wie ich rot wurde. Eigentlich müsste Nadja ja wütend auf mich sein. Doch sie war es nicht, ganz und gar nicht. Sie war viel zu lieb zu mir.

„Tut mir leid“, flüsterte ich.

„Was? Was tut dir leid?“ Nadjas Stimme war beruhigend.

„Das vorher, ich war... ich weiß nicht...“ Urplötzlich stiegen Tränen in mir auf und liefen über. „Es war so gemein von mir, ich hab dich so angezickt und...“

„Schschsch, ist doch in Ordnung... beruhig dich, Lea.“ Nadja küsste mich sanft auf die Wange.

Auch da lief mir ein Schauder über den Rücken. Das tat mir natürlich leid für Nadja, aber ich konnte nicht anders. Vielleicht würde sie es verstehen.

„Jetzt komm mit ins Zimmer. Ich entschuldige dich.“

„Nein!“, protestierte ich. „Das ist doch albern!“

„Du bist total aufgewühlt, so lass ich dich nicht in den Unterricht“, beschwichtigte Nadja mich und dabei klang sie wie meine Mutter. „Komm jetzt.“ Sie nahm meine zitternde Hand und zerrte mich mit sich. „Aus dem Weg da!“

Erst jetzt fielen mir die vielen Jungen und Mädchen auf, die einen Kreis um uns gebildet hatten und mich mit offenem Mund anstarrten.

Ich wurde rot und blickte auf meine Füße. Sie mussten mich für total übergeschnappt halten.

Möglichst darauf bedacht, niemanden anzusehen, folgte ich Nadja durch den Gang hoch in den ersten Stock. Das war wieder mal oberpeinlich gewesen.

Als keine Schüler mehr zu sehen waren, fragte Nadja mich trotzdem leise: „Was war das denn? Wieso hast du Lukas geküsst? Ich dachte, du hättest schon einen Freund!“

„Hab ich ja auch“, zischte ich. „Dieser Depp hat mich einfach so geküsst – gegen meinen Willen! Ich war zu schwach, ich konnte mich nicht gegen ihn wehren! Also hab ich es über mich ergehen lassen. Er war so... so wütend...“

„Ja, allerdings“ Nadja warf mir einen forschenden Blick zu. „Wieso eigentlich? Er ist normalerweise nie wütend.“

„Na ja, ich hab gesagt... dass er sich undiszipliniert aufführt, dafür, dass er... ähm... dafür, dass er Mönch werden will.“

„Oh nein, Lea!“, stöhnte Nadja und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Du hättest doch wissen müssen, dass ihn das verletzt!“

„Nein, woher denn? Er hat doch total überreagiert!“

„Hat er nicht“, widersprach Nadja mir. „Was das Thema anbelangt, sind wir alle wie sehr empfindlich.“

„Du auch?“ Nadja kam mir mit ihren roten, verwuschelten Haaren, ihren frechen Sommersprossen und ihrem fröhlichen Lachen irgendwie nicht sonderlich gläubig vor.

„Klar.“ Ich sah sie ungläubig an und sie fügte hinzu: „Gut, nicht so extrem wie die meisten hier, aber eben schon... mehr als du.“

„Ja, das ist auch nicht schwer“, grinste ich.

Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Stattdessen runzelte sie nachdenklich die Stirn. „Das ist wohl wahr. Und das macht mir Sorgen.“

„Hä?“

„Na ja, wenn du irgendwann mal wieder so was in der Art sagst, wie heute zu Lukas, dann könnte das wirklich böse enden – vielleicht sogar mit einem Verweis.“

„Und wenn schon? Dann bin ich hier wenigstens weg.“ Die Vorstellung gefiel mir. Nadja offenbar nicht.

„Ich hoffe, du bleibst noch länger. Ich mag dich wirklich, so jemanden gab’s schon lange nicht mehr hier... eigentlich noch nie. Normalerweise kommen die alle her, weil sie wollen. Und du kommst, weil du musst.“ Sie blickte mich weich an. „Du bist jetzt schon meine beste Freundin, obwohl wir uns erst ein Tag kennen. Ich will dich nicht verlieren.“

Ich sah sie lange an und senkte dann den Kopf. Klar, ich mochte Nadja, aber eben nicht so, als dass ich sie als meine beste Freundin bezeichnen könnte – so weit war es noch lange nicht. „Ja... weißt du, ich mag dich auch ziemlich gerne, aber... aber eben nicht... nicht so.“

Nadja nickte. „Klar, das versteh ich. Du hast ja deine Freundinnen zu Hause. Aber weißt du, das hier ist mein zu Hause. Und hier hab ich niemanden. Und bei meinen Eltern in Hamburg kenn ich auch so gut wie keinen.“

Ich nickte verständnisvoll. „Klar. Es tut mir leid. Aber vielleicht ändert sich meine Einstellung ja am Ende des Jahres.“ Ich konnte mir das gut vorstellen – Nadja war ein unglaublich toller Mensch.

Nadja lächelte leicht. „Ja, vielleicht.“

Wir betraten unser Zimmer und schlossen dann leise die Tür hinter uns.

Ein paar Sekunden lang blieben wir einfach stehen, dann wandten wir uns um und jeder setzte sich auf sein Bett.

Wir schwiegen kurz. Jeder dachte über das gerade eben Gesprochene nach. Ich fand es schön, dass Nadja mir so offen gesagt hatte, wie sehr sie mich mochte. Das hatte nämlich fast noch nie jemand gesagt. Außer Jakob und Aniela.

Jakob... Ich ließ den Namen durch mein Gedächtnis wandern und ein Bild von Jake erschien. Ein Bild, wo er lächelte. Das Bild bei unserem Picknick.

Ja, das war eine wunderschöne Nacht gewesen. Natürlich auch traurig, aber irgendwie auch schön. Jake... wie sehr ich ihn vermisste.

Das Gebet heute früh hatte meine Verzweiflung von gestern Abend wieder hervorgerufen.

Nachts auf meinem Bett sehnte ich mich nach meinem Liebsten. So gern wollte ich bei ihm sein, doch er war nicht da.

Dieser Satz würde mir wahrscheinlich für immer im Gedächtnis bleiben. Dann würde ich immer an dieses eine Internatjahr denken. Womöglich auch, wenn ich neunzig war. Wenn ich so alt werden würde.

Ich lächelte leicht. Würde ich mich dann eigentlich noch an Jake erinnern? Würde ich dann nicht nur noch an meinen Mann denken?

Ich zuckte vor der Vorstellung zurück. Oh Gott, ja. Irgendwann würden Jakob und ich uns trennen, das würde keine ewige Beziehung sein. Das klappte sowieso nicht oft, sagte man zumindest.

Aber wenn Jake und ich uns trennen würden... ich würde nicht diejenige sein, die Schluss machte, ganz bestimmt nicht. Ich würde für immer mit ihm zusammen sein wollen. Aber... heiraten? Nein, das konnte ich mir auch nicht vorstellen, beim besten Willen nicht. Jake und ich vor dem Altar.

Ich kicherte bei dem Gedanken. Nein, das passte nicht.

Aber wenn Jakob nur dann ewig mit mir zusammen sein wollte? Nur, wenn wir heirateten? Würde er mich dazu zwingen? Ich schrak zurück. Nein, wie konnte ich das denken! Jakob würde mich nie zu etwas zwingen, nie.

„Woran denkst du?“, fragte Nadja. Ihre Stimme klang belustigt.

Ich wandte mich zu ihr um. Sie grinste. „Ähm... an Jake, wieso?“

„Du hast eine merkwürdige Art, an Leute zu denken“, stellte Nadja fest. „Entweder du bist traurig, dann machst du plötzlich ein ganz erschrockenes Gesicht und dann fängst du an zu lachen!“

Ich wurde rot. Sah ich gerade wirklich so aus? Oh Gott. Ich durfte nicht mehr sooft an Jake denken. Ach, das brauchte ich mir gar nicht erst vornehmen – es würde eh nicht klappen.

„Da, schon wieder!“

Ich sah Nadja überrascht an. „Was?“

„Du hast gegrinst!“

„Hab ich nicht.“

„Doch!“

„Nein!“

„Aber wenn ich es doch sage!“

„Ich wird doch wohl wissen, ob ich grinse oder nicht“, widersprach ich.

Nadja zog eine Schnute. „Du hast aber gegrinst. Ich hab’s gesehen.“

Ich senkte den Blick. Hatte ich gegrinst? Mein Gott, und ich merkte es nicht mal.

„Ja, du hast gegrinst“, wiederholte Nadja lächelnd.

Ich schwieg. Super.

„Ist doch nicht schlimm, wenn du grinst. Dann weiß man, dass du dich über Jake freust.“

Ich verzog das Gesicht, schließlich wollte ich der Welt doch nicht meine Gefühle preisgeben.

Nadja zuckte die Achseln, nahm sich ihr Buch und begann zu lesen.

„Was liest du da?“, fragte ich neugierig.

Herr der Ringe, wieso?“

„Ach, nur so.“

„Du?“

Erdbeerpflücker.“

„Kenn ich nicht.“

„Ist total cool, muss ich dir mal ausleihen.“

„Okay.“

Dann herrschte Stille. Nadja las und ich dachte nach. Jetzt war sie wenigstens abgelenkt und konnte sich nicht über mich aufregen.

Ich schloss die Augen und legte mich hin. Eigentlich taten wir hier etwas Verbotenes: wir schwänzten den Unterricht. Toll. Und Nadja war strenggläubige Christin? Ganz bestimmt nicht.

Meine Gedanken schweiften hinüber zu dem Kuss. Igitt. Wie konnte Lukas das nur wagen? Mich einfach so zu küssen – vor allen Leuten! Er war doch so unheimlich, all seine Berührungen, bah!

Ich schauderte bei der Vorstellung und zog mir die Decke über den Kopf.

Und dann musste ich in den nächsten Stunden Mathe und Französisch auch noch neben ihm sitzen.

Oh – mein – Gott. Das würde lustig werden.

Ach, ich würde morgen fragen, ob ich mich woanders hinsetzen könnte. Aber wieso fragen? Ich würde es einfach tun.

Und nur, weil ich ihn verletzt hatte. So ein Vollidiot. Da hatte Nadja wohl recht gehabt.

Ich gähnte leise. Bitte? Ich war müde? Hallo?? Es war mitten am Vormittag!

Widerwillig strampelte ich die Decke weg, setzte mich mit verschränkten Armen hin und legte meinen Kopf auf die spitze Kante des Holzpfosten. So würde ich ganz bestimmt nicht einschlafen. War viel zu unbequem. Also konnte ich zulassen, dass ich die Augen schloss.

Jake saß jetzt im Unterricht. Geschichte. Toll, der durfte natürlich schlafen.

Und ich musste mich extra auf einen spitzen Pfosten legen, um nicht einzuschlafen. Die Welt war doch nicht fair.

Ich seufzte. Nein, die Welt war nicht fair, das stimmte. Ich musste aufs Internat und alle anderen durften auf unserer normalen Schule bleiben. Und ich saß hier in einem Kloster fest. Na, vielen Dank.

Wäre Jake jetzt doch wenigstens hier. Dann könnten wir uns zusammen über das Internat lustig machen. Aber hier hatte ich niemanden außer Nadja und mit der konnte man sich ja leider nicht so gut über das Internat amüsieren.

Ja, ich vermisste Jakob sehr, viel zu sehr. Aber ich konnte nichts dagegen machen. Ich konnte nicht einfach aufstehen und ihn suchen.

Nachts auf meinem Bett sehnte ich mich nach meinem Liebsten. So gern wollte ich bei ihm sein, doch er war nicht da.

Begehrt zu sein

 

Begehrt zu sein

 

Und, wo isst du Mittag?“, fragte Christoph mich.

Wir liefen gerade von unserer fünften Stunde, Biologie, zu unserer letzten Stunde, Mathe.

Mathe. Super. Das rief mir natürlich gleich wieder Lukas in Erinnerung.

Bei den restlichen Stunden heute saß Lukas zum Glück nicht neben mir, extra. Und ich war heilfroh. Ich hatte mich überall neben Nadja und an den Rand gesetzt.

Die einzigen Fächer, wo ich nicht neben ihr saß, waren Französisch, Mathe und Kunst. Französisch und Mathe saß ich ja neben... na ja... chrm... Lukas und in Kunst neben Christoph.

Der hatte sich einfach neben mich gesetzt, – ohne zu fragen – aber Nadja hatte es, wenn auch etwas widerwillig, akzeptiert.

Nadja hatte sich gerade befreien lassen – Kopfschmerzen. Das hieß, ich war jetzt in Mathe auf mich allein gestellt. Gut, das war ich gestern auch gewesen. Aber ich war allein gegen Lukas. Na ja, Christoph war ja da. Aber der war vermutlich keine große Hilfe.

„Lea? Krieg ich heute noch eine Antwort?“

„Öhm... ja, ja, klar. Ich geh... in den Speisesaal.“ Was für eine blöde Frage. Wo könnte ich sonst hingehen?

„Ach so.“

„Du?“

Er sah mich an, als wäre das eine total überflüssige Frage. „Ich geh in die Stadt.“

„Man darf hier weg?“, fragte ich begeistert. Warum hatte mir das Nadja nicht erzählt? Riesige Begeisterung stieg in mir auf. Das machte das Leben hier natürlich viel einfacher! Ich konnte raus, in die Freiheit, konnte Shoppen gehen, ins Kino, Eis essen, an den See und –

„Mann, natürlich darfst du nicht raus, Lea.“

Meine Freude verpuffte. „Ja... und wie willst du dann in die Stadt kommen?“

„Abhauen. Das mach ich immer wieder mal, ist ganz easy.“

Ich zog die Brauen hoch. „Abhauen?“

„Ja.“

„Easy?“

„Yep.“

Stirnrunzelnd betrat ich das Klassenzimmer. „Und wie?“

„Das sag ich dir dann“, flüsterte Christoph verschwörerisch. „Kommst du also mit?“

Ich dachte kurz nach. „Gut, von mir aus.“

„Danke.“ Christoph zwinkerte mir zu und gesellte sich dann zu seinen Kumpels.

Ich seufzte und marschierte mit gesenktem Kopf in die letzte Reihe.

Lukas war schon da, doch als ich mich setzte, beachtete er mich nicht weiter, wie in Französisch. Mir war es sehr recht.

Es war schrecklich unangenehm, neben ihm zu sitzen. Ständig hatte ich Wahnvorstellungen, er würde die Hand ausstrecken und mir übers Gesicht streichen. Zum Glück waren es nur Wahnvorstellungen... und hoffentlich würden es auch welche bleiben.

Der Kuss hatte nicht nur mich und Nadja schockiert – auch Jake war nicht sonderlich begeistert gewesen. Ich hatte gestern noch eine halbe Stunde mit ihm diskutiert, bis ich ihn davon überzeugt hatte, nicht an den Bodensee zu kommen. Es war schwer gewesen. Wenn Jakob sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, dann tat er das gewöhnlich auch.

Herr Buhl schlenderte gut gelaunt in die Klasse.

Sofort standen alle auf und grüßten ihn. Ich tat das wie gestern nur halbherzig. In Mathe sank meine Stimmung normalerweise immer wieder auf den Nullpunkt.

Herr Buhl klatsche fröhlich in die Hände. „Wisst ihr was? Heute hab ich keine Lust auf Mathe. Deshalb hab ich vor, eine Bibelstunde zu machen!“

Ich stöhnte unwillkürlich auf. Zum Glück hörte das keiner, denn in dem Moment der Ankündigung waren alle in Jubelrufe ausgebrochen. Alle außer mir... und Lukas.

Der starrte verbissen an die Tafel und hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Lag es an mir?

Hm, egal. War ja seine Schuld.

„Also“, begann Herr Buhl, „jeder von euch sucht sich jetzt einen Spruch aus der Bibel raus, den er dann vorstellt und sagt, wieso er ihm gefällt.“ Er strahlte in die Klasse. „Los geht’s!“

Sofort hörte man Geraschel und Poltern – jeder holte seine Bibel raus.

Ratlos blickte ich auf mein Tisch. Ich hatte keine Bibel.

„Oh, du brauchst noch eine, richtig.“ Herr Buhl griff in das Regal und kam mit einer alten, verstaubten Bibel zurück. „Viel Spaß, Lea. Ich hoffe, du findest dich hier zurecht.“

„Klar“, murmelte ich und nahm die Bibel. Gott, war die schwer! Schon leicht keuchend legte ich sie ab und öffnete die erste Seite. Der Ledereinband war schon rissig und blätterte ab, genau wie die goldenen, verschlungenen Lettern auf der Vorderseite.

Ich seufzte. Ich würde einfach den erstbesten Spruch nehmen und mir irgendein passendes Argument für ihn ausdenken.

Gelangweilt blätterte ich die Seiten durch, bis zu dem Teil mit den Sprüchen kam. Mann, das waren ganz schön viele. Zum Glück hatten sie verschiedene Überschriften.

Mein Blick fiel auf einen kleinen Spruch auf der Seite 739, Spruch 22.

Für den Dummkopf ist Weisheit unerreichbar; wenn Wichtiges besprochen wird, dann bleibt ihm nur eins übrig: Schweigen!

Das so etwas in der Bibel stand, wunderte mich. Aber was soll’s, die Bibel war allgemein etwas seltsam. Ich schmunzelte über den Spruch. Der Verfasser der Bibel hatte also Humor gehabt. Das war schon mal ein Pluspunkt.

„Was ist so lustig?“

Ich zuckte zusammen. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Lukas mit mir redete, dass er mich überhaupt ansah. „Ach, der Spruch hier ist witzig.“

„Die Sprüche sollen nicht witzig sein“, erinnerte Lukas mich. „Sie sollen einem etwas lehren.“

Ich starrte ihn verdattert an. „Aber ich kann den Spruch doch trotzdem witzig finden, oder?“

„Wie du meinst.“ Lukas zuckte die Achseln und wandte sich wieder von mir ab.

Ich verdrehte die Augen. Immer wieder erstaunlich, dass es auch männliche Zicken gab.

Schnell nahm ich mir einen Stift und kritzelte den Spruch in mein Matheheft. Den musste mir gut merken und ihn dann Nadja vortragen. Oder Christoph. Die würden sich bestimmt auch darüber amüsieren.

Herr Buhl sah mich überrascht an. „Du bist schon fertig?“

„Öhm... ja, schon.“

„Ist ja schön.“ Herr Buhl hob die Stimme. „Alle herhören, Lea möchte uns ihren Spruch vortragen!“

Sofort schwiegen alle und drehten sich zu mir um. Die einen wirkten neugierig, andere eher skeptisch. Schön, sollten sie eben sehen, dass ich mich auch ein wenig auskannte.

Ich räusperte mich. „Chrm, also, das ist mein Spruch, Nummer 22: Für den Dummkopf ist Weisheit unerreichbar; wenn Wichtiges besprochen wird, dann bleibt ihm nur eins übrig: Schweigen!

„Und wieso hast du den Spruch gewählt, Lea?“

„Weiß nicht...“ Ich warf einen raschen Blick auf Lukas. Er sah mich wütend an. „Ich fand ihn irgendwie lustig.“

Die Klasse sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Auch Herr Buhl schien über den Grund nicht sehr erfreut. „Aha. Sehr... öhm... schön, Lea.“

„Danke“, murmelte ich. Mein Gesicht glühte und meine Hände fingen an, zu zittern.

 

„Wie bist du auf den Spruch gekommen?“, fragte Christoph kopfschüttelnd nach der Stunde. Er grinste immer noch.

„Tja“, sagte ich steif. „Jeder hat eben seine Ansichten.“

„Ja, allerdings.“ Christoph beäugte mich misstrauisch. „Aber wieso bist du nur so anders?“

„Ich bin neu, okay?“, meinte ich genervt. „Da ist man nun mal anders.“

Christoph seufzte. „Vielleicht hast du recht.“

„Hab ich.“

Wir marschierten über den Schlossgarten in Richtung Tor.

Christoph hatte mich dazu überredet, gleich zu gehen, anstatt sich noch bei Nadja zu melden. Und ich war natürlich auch neugierig, wie Christoph es anstellen wollte, einfach so abzuhauen. Er schien sich seiner Sache ja sehr sicher zu sein.

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte ich, als wir vor dem undurchdringbarem Eisengitter Halt machten.

„Wir...“ Christoph senkte die Stimme. „... überlisten die Wache.“

Ich lachte laut auf. „Ja, schon klar. Jetzt mal im Ernst, was machen wir?“

„Hab ich dir gerade eben gesagt.“

„Was machen... was... du... hä?!“ Ich starrte in völlig perplex an. „Wie willst du denn die Wachen überführen?“

„Ganz einfach: du gehst zu ihnen und fragst nach irgendwas, was weiß ich. Der andere geht schnell in ihr Wachhäuschen und holt ihren Schlüssel und dann –“ Christoph klatschte in die Hände. „Krass, oder?“

Meine Vorfreude auf einen exzellenten Ausbruch verpuffte auf einem Schlag. „Christoph, das haut nicht hin.“

„Oh doch. Das hab ich schon oft gemacht.“

Ich stöhnte auf, als er meine Hand nahm und mich zu den Wachen herüberschleifte. „Christoph, das ist total verrückt!“

„Ehy, ich mach das fast immer!“

„Fällt das nicht auf?“, fragte ich zweifelnd.

„Boah, was du laberst! Die sind so verpeilt, da bemerkt keiner was.“ Er grinste mich an und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Ich geh jetzt hinters Haus. Ich vertrau dir.“ Dann wandte er sich um und lief mit großen Schritten an dem Haus vorbei nach hinten.

Ich blieb unschlüssig stehen. Mein Inneres sagte mir, dass das ein total blödsinniger Plan war und es eh nicht klappen würde. Aber mein Herz – das hörte sich jetzt komisch an – widersprach dem. Mein Herz vertraute Christoph voll und ganz. Fast zu sehr. Und das mache mir schon wieder Angst.

Ich kannte ihn doch erst zwei Tage lang. Und da war er meistens eine zeimliche Nervensäge gewesen. So ähnlich wie Stechmücken, das Summen der Stechmücken war so ähnlich wie die Stimme von Christoph.

Und trotzdem, ja, trotzdem vertraute ich diesem Jungen – voll und ganz.

Ich seufzte und bewegte mich etwas unsicher zum Wachhäuschen.

Ein dicker Mann saß davor und rauchte eine Zigarre. Als er mich sah, breitete sich an Lächeln auf seinem runzligen Gesicht aus.

„Hallo, junge Dame. Was kann ich für dich tun?“

„Ich wollte fragen, ob Sie mir... öhm...“ Was sollte ich fragen? Im Improvisieren und Schauspielern war ich eine absolute Nullnummer. „Na ja, können Sie mir sagen, wie man von hier zur Innenstadt kommt?“

„Innenstadt? Wieso willst du das wissen? Man kommt hier doch sowieso nicht weg.“

„Ja, ja, schon klar... aber, ich... chrm... ein Kumpel von mir will hierher kommen und... er braucht den Weg.“

„Okay...“ Der Mann überlegte kurz.

Hinter ihm sah ich eine dunkle Gestalt aus dem Häuschen laufen. Sie hatte etwas Kleines in der Hand. Es hatte also geklappt. Erleichterung durchströmte mich, sodass ich fast schon wieder vergessen hätte, dass ich ja noch die Antwort brauchte. Na ja, brauchte wohl nicht. Ich musste so tun, als ob.

„Ja, genau: du läufst von hier einfach zum Bäcker, das ist die Straße nach links, dann bis zum Feuerwehrhaus und dann zweimal nach links.“

„Dankeschön“, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln.

„Kein Problem.“ Der Mann lächelte zurück. „Gott segne dich.“

„Ähm... ja... danke.“ Etwas verstört wandte ich mich um und lief rasch zum großen Tor zurück. Gott segne dich?! Ernsthaft?

Christoph erwartete mich schon – mit dem Schlüssel in der Hand. Er sah mich in einer Mischung aus Strenge und Bewunderung an. Eine seltsame Mischung.

„Was ist?“, fragte ich und bemühte mich, Christoph Rückenstellung zu geben, sodass der Wachmann nichts sah.

„Kannst du damit nicht mal aufhören?“, fragte Christoph, wandte sich zum Schloss und steckte den Schlüssel hinein.

„Womit?“

„Die Leute so aus der Fassung zu bringen“, antwortete Christoph.

Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was er meinte. „Aus der Fassung? Christoph, der Typ war nur nett zu mir!“

Christoph warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Jaah, sicher. Andere Mädchen motzt er nur an.“

„Vielleicht hatte er heute einen guten Tag.“

„Alter, das wäre dann der erste gute Tag seit einem Jahr.“

Ich schluckte und sah unauffällig hinüber zu dem Mann. Erschrocken stellte ich fest, dass er mich mit größtem Interesse beobachtete.

Schnell sah ich auf meine Füße. „Oh.“

Christoph seufzte. „Hast ja schnell bemerkt.“

„Das war aber keine Absicht.“

„Schon klar. Aber das musst du jetzt immer machen, dann ist er noch mehr abgelenkt.“

Ich biss mir auf die Lippen. „Ha, ha.“

„Und das machst du nicht zum ersten Mal“, meinte Christoph und öffnete das Tor. Ich warf einen kurzen Blick nach hinten – der Mann war verschwunden.

„Was?“

„Jemanden aus der Fassung bringen.“ Er packte meine Hand und schubste mich durch den Türspalt. Dann schloss er sorgfältig wieder das Tor und lief los, die Straße entlang. Ich folgte ihm etwas langsamer.

„Hä? Wen denn sonst noch?“

Christoph sah mich an. „Hast du das nicht bemerkt?“

Ich dachte angestrengt nach. Wer hatte sich noch auffällig verhalten? Mir fiel nur eineinziger ein. „Nein.“ Ich schüttelte bestürzt den Kopf. „Lukas mag mich nicht.“

Christoph zog die Brauen hoch. „Und wieso hat er dich dann geküsst?“

„Er wollte mich ärgern. Hat er selber gesagt.“

„Und du glaubst ihm?“ Christoph steckte die Hände in seine Hosentaschen und marschierte schnell in die Richtung eines kleinen Cafès. Es war lag auf der anderen Straßenseite.

„Ja...“ Ich sah vorsichtig zu ihm auf. „Irgendwie schon. Aber glaubst du, er hat gelogen?“

„Mann, das weiß ich.“

„Aber sonst hab ich niemanden aus der Fassung gebracht!“, beteuerte ich.

„Bist du dir da so sicher?“

Ich zögerte. „Ja, bin ich.“

„Du durchschaust Menschen sehr schlecht, nicht wahr?“

Ich sah ihn überrascht an. „Gibt es noch jemanden? Aber das ist dann wirklich der Letzte.“

„Ob es der Letzte ist, weiß ich leider nicht. Aber ich weiß, wer es ist.“

„Ja?“ Ich sah ihn fragend an.

„Vielleicht... vielleicht sollte ich es dir nicht sagen.“

„Das mit Lukas hast du mir aber auch gesagt.“

„Alter, den kenn ich auch nicht so gut.“

„Oh... du kennst denjenigen gut? Ist es dein Freund?“

„Joa, gewissermaßen schon.“

Ich runzelte die Stirn. „Gewissermaßen? Heißt das jetzt ja oder nein?“

„Manchmal ist er ein ziemlicher Idiot. Aber manchmal ist er echt voll krass drauf.“

„Aha.“ Ich dachte nach. Da erkannte man schon wieder eine meiner Schwächen: Ratespiele. „Sag jetzt, bitte!“

„Kannst du dir das nicht denken?“ Er sah mich an durchdringend an. Ich starrte zurück.

Unsere Augen verschmolzen miteinander und brachten uns beide zum Zittern. Christoph errötete leicht und ich merkte, wie auch mein Gesicht anfing zu glühen. Natürlich. Es war ja so offensichtlich gewesen. Mein Gedanke fiel auf das, was Nadja an unserem ersten Tag hier gesagt hatte.

Nichts hat er gegen dich. Er ärgert jedes Mädchen, dass er süß findet.

Süß. Na klar. Nadja hatte die ganze Zeit recht gehabt. Christoph liebte mich. Er liebte mich. Warum war ich da nicht schon früher draufgekommen? Es war doch so was von klar gewesen. Und ich war gegenüber von ihm so... so zickig und abweisend gewesen, dabei hatte er doch nur versucht, gut bei mir anzukommen. Der Arme.

Ich senkte den Kopf. Jetzt war natürlich alles klar. „Ach so.“

Christoph seufzte. „Und ich hab mich wie der letzte Depp verhalten, stimmt’s?“

„Na ja...“ Natürlich hatte er sich so aufgeführt. „Es geht.“

Christoph sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich fügte rasch hinzu: „Okay, du warst ziemlich nervig. Ziemlich extrem nervig.“

„Tut mir echt leid.“

„Ach, ist doch okay.“ Ich zögerte. „Aber was hat das gebracht?“

„Ich weiß es nicht.“

Christoph öffnete die Tür des Cafès und eine laute Klingel ertönte.

Wir suchten uns einen Tisch in der hintersten Ecke und setzten uns hin. Das tat gut. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Spaziergang zu anstrengend für mich gewesen war, obwohl der Weg sehr, sehr kurz gewesen war. Wahrscheinlich die Nerven.

Ich schüttelte den Kopf. Christoph in mich verliebt? Irgendwie war ich immer noch fassungslos darüber.

„Was ist?“, fragte Christoph. Er sprach plötzlich sehr leise, obwohl das überflüssig war: das Cafè war unbesucht.

„Nichts...“ Ich begann, meine Finger zu kneten. „Ich fass es nur nicht, dass du... na ja... ich mein, was ist an mir so toll?“

Christoph sah mich kopfschüttelnd an. „Dass du das nicht selber erkennst.“

Ich blickte ihn fragend an. An mir war doch wirklich nichts besonders begehrenswert. Mein Aussehen, meine Klamotten, meine Art, meine Intelligenz – absolut durchschnittlich, alles.

„Ich kann das so schlecht sagen“, erklärte Christoph. „Wenn ich dich beschreibe, hört sich das wahrscheinlich total schnulzig an, weil ich ja in dich... du weißt schon...“ Er amtete tief ein und aus. „Weil du in mich verliebt bist?“ Jetzt sprach ich plötzlich auch leise. Und jetzt wusste ich auch den Grund: für uns beide war es etwas Neues und wir wussten beide nicht, wie wir damit umgehen sollten. Es war die Anspannung.

„Ja... genau.“ Christoph sah mich entschuldigend an. „Aber wenn du es wirklich wissen willst...“

„Bitte.“ Ich verschränkte die Arme, lehnte mich zurück und starrte ihn erwartungsvoll an.

„Also.“ Er räusperte sich und blickte mich von oben bis unten an. Ich fühlte mich irgendwie unwohl.

„Es ist... na ja... erst mal siehst du ziemlich gut aus.“

Ich schloss entnervt die Augen. Ah ja.

„Ey, das ist echt so!“, beteuerte Christoph. „Du siehst voll geil aus, so ein Mädchen hab ich schon ewig nicht mehr gesehen. Es ist echt krass – deine Ausstrahlung! Die haut einen wirklich um. Du betrittst einen Raum und dann –“ Er ruderte mit den Armen. „Plötzlich sind alle Blicke auf dich gerichtet.“

„Ach echt?“ Ich runzelte die Stirn. Das war mir noch nie aufgefallen.

Normalerweise war es immer so, dass die Leute, wenn ich den Raum betreten hatte, laut anfingen zu lachen, weil ich entweder über etwas stolperte oder gegen jemanden lief oder dass mir allgemein immer irgendwas Doofes passierte. Wahrscheinlich meinte er das: deswegen waren alle Blicke auf mich gerichtet. Weil mir immer etwas Peinliches passierte.

„Hast du das noch nie bemerkt?“ Er schüttelte den Kopf. „Du bist ein sehr unaufmerksamer Mensch, Lea.“

Ich schob leicht die Unterlippe vor, doch ich konnte nicht beleidigt sein. Das, was er gesagt hatte, erfreute mich zu sehr. Allein, dass er fand, dass ich geil aussah... und dass ich eine besondere Ausstrahlung hatte... so süß hatte das noch nicht mal Jakob zu mir gesagt.

„Jedenfalls“, fuhr er fort, „deine Art ist so... so unbeholfen und gleichzeitig so selbstbewusst.“

„Hä?“ Das gab in meinem Kopf keinen Sinn.

„Ja, echt. Einerseits hat man das Gefühl, du bräuchtest dringend Hilfe, und andererseits löst du die Probleme dann schon von selber. Das kommt nicht oft vor.“

Ich versuchte, das zu verstehen. Selbstbewusst und unbeholfen? Tolle Eigenschaften. Sehr begehrenswert.

Als er schwieg, fragte ich: „Sonst noch was?“

„Oh, es gibt noch Einiges, dass ich über dich sagen könnte. Aber ich lass es lieber.“

Ich zog eine Schnute. „Bitte. Das ist das erste Mal, dass ein Junge mir das so richtig sagt.“

„Und dieser Jake?“, fragte Christoph skeptisch.

„Der hat das auch schon zu mir gesagt, aber nicht so. Deine Art ist irgendwie... viel schöner.“

Christoph lächelte und errötete leicht.

Ich unterdrückte den Drang, ihm über das Gesicht zu streichen. Er war irgendwie total süß. Es kam mir so vor, als wäre er unbeholfen und selbstbewusst zugleich.

Er seufzte und starrte auf den Tisch. „Ja, mehr gibt’s nicht zu sagen.“

„Schade.“

Christoph grinste. „Frag doch mal Lukas, der hat sicher noch mehr Dinge.“

„Oh ja, ganz bestimmt.“ Meine Miene verfinsterte sich. „Lukas ist der größte Vollidiot der Welt.“

Christoph schmunzelte leicht. „Und ich? Bin ich auch ein Vollidiot?“

„Was ist denn das für eine dumme Frage?“, fragte ich wütend.

„Na ja... ich hatte den Eindruck, du magst mich nicht. Jedenfalls warst du nicht zufrieden, als ich mich in Kunst neben dich gesetzt habe.“

„Das lag daran, dass ich an dem Tag sehr genervt von dir war.“

Er seufzte. „Ich wünschte, ich könnte das rückgängig machen. Dann hättest du mich vielleicht von Anfang an gemocht.“

Ich lächelte und beugte mich leicht zu ihm vor. „Aber jetzt mag ich dich, Christoph – wirklich. Das ist es doch auch wert, oder?“

„Ja... das ist mir wohl etwas wert. Sehr viel wert sogar.“ Er sah mich mit unergründlichem Gesichtsausdruck an. Dann beugte auch er sich zu mir vor, sodass unsere Lippen nur Zentimeter von einander entfernt waren.

Ich fing an zu zittern.

Nein, Lea, reiß dich zusammen und lehn dich wieder zurück!

Die eine Seite – und das war die vernünftigere – meines Inneren protestierte lautstark gegen das, was ich gerade tat.

Die andere, weniger heldenhafte Seite hingegen feuerte mich regelrecht an.

Ja, sehr gut, Lea, lass deinen Gefühlen einfach freien Lauf!

Freien Lauf? Was redest du denn da, ich liebe doch Jake!

Christoph nahm seine eine Hand und strich leicht, ganz leicht, über meine Haare. Ich schauderte.

Ach was, das sieht man doch! Du liebst Christoph total! Sonst würdest du ihn doch wegschubsen!

Tja, vielleicht schubs ich ihn ja nicht weg, weil ich ihn nicht verletzen will!

Hm, genau, wer’s glaubt.

Meine Hand wanderte jetzt auch ganz langsam zu Christophs Gesicht. Kurz vor seinen schwarzen Haaren hielt sie inne, dann strich auch sie darüber. Wie weich seine Haare doch waren ...

Lea, hör auf damit!

Lass mich doch.

Nein, das ist falsch! Denk an Jake!

Der sieht mich ja nicht.

Geht's noch?!

Ich schloss die Augen und versuchte, die vernünftige Seite zu überhören. Ich würde das jetzt tun, egal was ich dachte.

Meine Hände schlangen sich um Christophs Nacken und zogen ihn zu mir her.

Ich spürte seinen warmen Atem auf meinem glühend heißem Gesicht und jetzt berührten mich auch zwei Hände – eine an der Schulter, die andere meine Stirn.

Meinen Gefühlen freien Lauf lassen – das musste ich.

Lea, nein, nein, nein!!!

Doch.

Nein... du versaust alles... du zerstörst deine Liebe zu Jake...

Tu ich nicht. Und jetzt sei still, ich will den Moment genießen...

Lea – NEIN!!!

Ich zuckte zurück.

Christoph öffnete die Augen und sah mich mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung an.

„Tut mir leid...“, stotterte ich und spürte, wie ich noch röter wurde. „Aber... ich... ich kann das nicht. Und ich liebe dich einfach nicht. Das ist nun mal so und... ja. Wir kennen uns einfach noch zu wenig.“

„Schon klar.“ Christoph lehnte sich zurück und blickte mit unergründlicher Miene aus dem Fenster. Das hatte ihn offenbar tief getroffen.

Schuldbewusst zog ich den Kopf ein. „Weißt du, ich... ich mag dich ja – wirklich. Aber eben nicht in dem Sinn wie du.“

Christoph seufzte und senkte den Blick. Überrascht sah ich in seinen blauen Augen Tränen glitzern. „Es war ja nur ein Versuch. Ehrlich gesagt hatte ich nie richtig gedacht, du würdest es tun. Dieser Jake“ – er sprach den Namen mit solch einem Hass aus, dass es in mir schmerzte – „hat es wirklich gut getroffen. Mich würde es interessieren, was er hat, das ich nicht habe.“

Ich biss mir auf die Lippen und versuchte angestrengt, ihn nicht anzusehen. Es war ein total schreckliches Gefühl, das in mir auftauchte und nicht wieder verschwinden wollte. Das Gefühl, Christoph zurückgewiesen zu haben, ihn verletzt zu haben. Ich wusste nicht, wieso mich das so beschäftigte und ich wusste auch nicht, wieso mir das genauso weh tat wie vermutlich ihm. Ich wusste nur, dass es so war. Und das es schrecklich war.

„Es... ich weiß nicht. Aber ich kann dich nicht einfach küssen. Das hat Jakob nicht verdient.“

Christoph sah mich mit einer Mischung aus Verachtung und widerwilliger Bewunderung an. „Ah ja. Nicht verdient.“ Er fand das offenbar nicht passend.

„Nein, er hat es nicht verdient“, wiederholte ich. Es war meine Angelegenheit. Nicht die von Christoph.

„Na dann.“ Christoph erhob sich. „Dann geh ich wohl besser mal.“

Natürlich war ich dagegen, ich wollte, dass er da blieb. Aber es war schon klar, das er jetzt allein sein wollte. Und ich wollte ihm nicht im Weg stehen. Also nickte ich nur.

Christoph wandte sich um und verließ mit schnellen Schritten das Cafè.

Ich sah ihm nicht hinterher, das würde mir nur noch mehr Schmerzen bereiten.

Stattdessen blickte ich teilnahmslos auf ein großes Bild an der Wand. Es war ein langer Weg in ein Gebirge dargestellt, dahinter die helle Sonne. Es war ein fröhliches Bild. Und es erinnerte mich an die Bibel. Vielleicht war das helle Licht ja Gott. Und der Weg war... der Weg zu ihm? Das Leben? Und am Ende der Tod? Und das Gebirge ein Zeichen dafür, wie steinig der Weg des Lebens war. Einleuchtend.

Ich schüttelte den Kopf. Oh mann. Ich musste schon sehr verzweifelt sein, wenn ich schon anfing, Bilder zu interpretieren.

Mein Gedanken fiel auf das, was ich vorher zu Christoph gesagt hatte.

Und ich liebe dich einfach nicht. Das ist nun mal so und... ja. Wir kennen uns einfach zu wenig.

Wieso hatte ich das nur gesagt? Hätte ich es nicht schonend sagen können? Ich Depp.

Für den Dummkopf ist Weisheit unerreichbar; wenn Wichtiges besprochen wird, dann bleibt ihm nur eins übrig: Schweigen. Ja, genau. Ich hätte schweigen sollen.

Verstört erhob ich mich nun ebenfalls und verließ mit unschlüssigen Schritten das kleine Lokal. Irgendwie wusste ich nicht recht, was ich jetzt tun sollte.

Wenn ich ins Internat zurückkehren würde, würde ich das Risiko eingehen, Christoph über den Weg zu laufen. Und das wäre dann eine äußerst peinliche und unangenehme Situation – musste vermieden werden.

Aber ich konnte auch nicht einfach teilnahmslos durch die Stadt laufen – nach einer Weile würden die vom Internat aufmerksam werden.

Erschrocken stellte ich fest, dass ich ja gar nicht den Schlüssel zum Tor hatte. Verdammt. Und wie sollte ich jetzt reinkommen?

Wie erstarrt blieb ich auf dem Gehweg stehen und starrte auf die andere Straßenseite auf das Eisengitter. Super. Da hatten wir ja gut mitgedacht.

Da vibrierte es in meiner Hosentasche. Ich schloss die Augen. Natürlich wusste ich, wer da anrief.

„Hallo?“

„Hey, ich bin’s. Wie geht’s?“, fragte Jakobs fröhliche Stimme. Es tat so gut, sie zu hören.

„Oh... ja, passt schon.“ Mein Versuch, glücklich zu klingen, war mal wieder sehr erbärmlich.

Jake seufzte. „Was ist denn?“

„Öhm... nichts, eigentlich ist alles okay.“ Ich konnte es ihm nicht erzählen, da war so eine Blockade in meinem Kopf.

„Ach ja?“ Jakobs Stimme klang natürlich äußerst misstrauisch. „Deine Stimme hört sich aber ganz anders an.“

Jake kannte mich eindeutig zu gut. „Na ja... vielleicht liegt das daran, dass... ähm...“

„Ja?“

„Ach, weißt du, wahrscheinlich liegt es daran, dass...“ Ich wollte es zurückhalten, aber irgendwann würde Jake sicher draufkommen, also sprach ich es gleich aus – und schnell. „... dass Christoph und ich uns fast geküsst hätten.“

Stille.

„Na ja... aber eben nur fast.“

„Ach, Lea... kannst du dich nicht mal zusammenreißen?“

„Bei was denn?“, fragte ich erstaunt.

„Musst du andere Jungen immer aus der Fassung bringen?“

„Tu ich doch gar nicht!“, jammerte ich. „Ich bin ganz normal!“

Eben“, sagte Jake eindringlich. „Und damit verdrehst du Jungs den Kopf.“

„Kann ich ja nichts dafür“, meinte ich schmollend. Dass man mir einen Vorwurf für etwas konnte, was ich nicht wirklich steuern konnte, verletzte mich.

Jakob seufzte leise. „Weiß ich doch. Und solange du dich nicht auf die Leute einlässt, ist es mir ja egal.“

„Gut“, sagte ich zufrieden. „Ich werde mich auch nicht auf sie einlassen.“ Ich schwieg kurz. „Aber ich hoffe, dass Christoph trotz allem noch mit mir befreundet sein will.“

„Das könnte aber schwer werden“, erwiderte Jake. „Nur Freunde, wenn man verliebt ist? Ich weiß nicht...“

„Ich kann ihm doch nicht einfach die Freundschaft kündigen!“, rief ich geschockt aus.

„Nein, nein, natürlich nicht“, beschwichtigte Jake mich rasch. „Aber er dir.“

„Das... das würde er doch nicht tun... oder?“, fragte ich unsicher.

„Tja, das ist eben die Frage. Ob er dich so liebt, dass er noch bei dir bleibt, um dich nicht zu verletzen, oder dass er dich so liebt, dass er nicht bei dir bleiben kann, weil er sich dann selbst verletzen würde.“

„Dann wäre er ja voll egoistisch.“ Ich überlegte kurz. „Halt, nein – wenn er weggehen würde, dann würde er es mir ja auch leichter machen!“

„Du willst, dass er geht?“, fragte Jakob überrascht. „Ich dachte, er sei dein Freund!“

„Ist er ja auch.“ Ich seufzte. „Aber wenn er noch da ist, dann... dann ist es ja für mich auch schwierig, weil er ja leidet, und dann leide ich ja auch.“

„Aha.“ Jake hielt kurz inne. „Du, da kann ich dir nicht helfen, das musst du selber entscheiden. Beides hat seine Vor – und Nachteile.“

„Stimmt.“ Ich blickte gedankenverloren auf das Eisentor. „Und beides ist total bescheuert.“

„Richtig.“ Jake lachte leise. „Was hab ich doch für eine begehrte Freundin.“

Ich biss mir auf die Lippen. „Und ich dachte immer, das sei gut. Jetzt weiß ich es zum Glück besser: es ist ein absoluter Nachteil.“

„Und auch ein Vorteil“, ergänzte Jake. „Wenn du jetzt nicht so wärst, wie du jetzt bist, wäre ich vielleicht nicht in dich verliebt.“

„Wohl wahr“, bestätigte ich.

Wir schwiegen eine Weile.

Ich starrte auf die Straße, auf die vorbeirasenden Autos, auf die genervt und gehetzt dreinschauenden Passanten und auf das alte, hinter Bäumen versteckte Internat. Eine ganze Lebensveränderung würde das hier werden, da war ich mir sicher. Hier würden noch einige Probleme auf mich zukommen, was Liebe betraf. Auch sicher.

Ich seufzte. „Ich mach jetzt Schluss, okay?“

„Alles klar. Ich muss sowieso noch Mathe lernen. Bis bald, ich ruf dich heut Abend nochmal an, ja?“

„Ist gut. Ich liebe dich, Jake.“

„Und ich dich erst. Bis dann.“

Gedankenverloren legte ich auf und ließ das Handy in meiner Hosentasche verschwinden.

Irgendwie fühlte ich mich benommen und verwirrt. Wahrscheinlich lag es daran, dass Jakes Stimme verschwunden war. Er war immer so ein Trost für mich, wie eine Droge.

Ich lächelte selig vor mich hin. Ach, Jake ... es tat so gut, ihn vor mir zu sehen, seine braunen Haare, seine dunklen Augen, sein fröhliches Lachen ...

Halt. Ich durfte nicht mehr so viel an ihn denken, ich würde die Zeit hier unerträglich machen. Sehr, sehr extrem unerträglich.

Ich presste die Lippen aufeinander, blickte nach links und rechts und überquerte dann rasch die Straße. Entweder war Christoph gemein und hatte das Tor wieder zugeschlossen, damit ich nicht reinkonnte, oder er war nett und wartete vor dem Tor auf mich.

Aber da ich nirgendwo einen Christoph sehen konnte, stellte ich mich auf das Erste ein. Danke, sehr nett.

Wütend marschierte ich auf das große Tor zu und rüttelte an der Klinke – verschlossen. So ein Vollidiot.

Und wie sollte ich jetzt bitteschön reinkommen? Das Tor war zu.

Erste Möglichkeit: ich kletterte darüber. Aber als ich nach oben schaute und feststellte, dass das Tor so um die drei Meter hoch war, strich ich diese Theorie weg.

Zweite Möglichkeit: ich blieb solange hier draußen stehen, bis jemand kommen würde und mich reinlassen würde. Das könnte sich natürlich noch um Stunden handeln, aber es war immer noch ratsamer als die erste Theorie.

Und die dritte Möglichkeit: ich fragte den Wachmann. Der würde wahrscheinlich sehr wütend werden, wenn er erfahren würde, dass Christoph und ich ihn vorher nur ausgetrickst hatten, aber wenn es stimmte, was Christoph gesagt hatte und er an mir interessiert war (mir lief bei dem Wort ein leichter Schauder über den Rücken), würde er etwas sanfter reagieren. Vielleicht.

Also, die Möglichkeiten.

Die erste war sehr unrealistisch, also weg.

Die zweite war zwar nicht ganz unlogisch, aber würde sicher auch eine kalte, dreckige und langweilige Angelegenheit werden.

Also blieb die dritte. Und die war mir irgendwie unangenehm. Aber blieb mir etwas anderes übrig – die blöden anderen zwei Theorien? Nein. Also.

Ich seufzte, wandte mich um und stiefelte hinüber zum Wachhäuschen.

Dank Gott, der Mann saß davor. Und zwar der gleiche Mann. Der dicke.

Ganz fest kniff ich die Augen zusammen, bevor ich den Mund aufmachte. Du schaffst es, Lea, nur Mut, nur Mut.

„Ha... hallo, Sir.“

Der Mann zuckte mit dem Kopf und drehte sich überrascht zu mir um. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Guten Tag, junge Dame.“

„Hey, Wachmann“, sagte ich. 'Hey Wachmann?!' Gott, klang das bescheuert. „Öhm... könnten Sie mir vielleicht das Tor aufmachen?“

„Wie bist du denn da rausgekommen?“, fragte der Mann neugierig.

„Ach, tja, also...“ Ich war doch so schlecht im Lügen! „Ich hab vorher...“ Komm schon, sag irgendwas, irgendwas. „... ich hab... Ball gespielt.“

„Ball gespielt?“, fragte der Mann misstrauisch. „Und wo? Hab dich gar nicht gesehen.“

„Ach, da drüben... beim Gewächshaus“, meinte ich rasch.

„Gewächshaus?“, wiederholte der Mann spöttisch. „Wir haben doch gar kein Gewächshaus.“

Oh scheiße. Sag einfach irgendwas, irgendein Schwachsinn. „Nein, ich mein dieses Haus dahinten... da ganz da hinten, ich weiß nicht, was das sein soll.“ Hoffentlich klang das überzeugend.

„Meinst du vielleicht die Turnhalle?“, wollte der Mann mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.

„Äh... genau, die Turnhalle“, sagte ich mit etwas hoher Stimme – wie immer, wenn ich log.

„Und was war dann mit dem Ball?“

„Der ist hier rübergeflogen.“

„Aha.“ Der Mann starrte auf meine leeren Hände. „Und wo ist er jetzt?“

„Ach...“ Ich lachte leicht hysterisch. „Wenn ich das nur wüsste, ich hab ihn nicht gefunden.“

„Alles klar...“ Der Mann dachte scharf nach und musterte mich misstrauisch.

Ich versuchte, ein verführerisches Lächeln aufzusetzen. Es musste bescheuert aussehen, ich hatte keine Ahnung, wie man so was anstellte, doch es schien ein wenig zu bewirken.

„Schön, diesmal will ich dir nochmal glauben.“ Er erhob sich und watschelte zum Tor. Ich ging hinter ihm her. „Aber wenn du das nächste Mal Ball spielst –“ Bei den Worten warf er mir einen skeptischen Blick zu. „– dann pass besser auf deinen Ball auf.“

„Oki doki“, sagte ich mit piepsiger Stimme.

Bitte? Oki doki? Alles klar, Lea.

Der Mann öffnete das Tor und ich schlüpfte rasch hinein.

„Danke, Wachmann“, sagte ich und große Erleichterung durchströmte mich.

„Bitte, Schülerin“, erwiderte der Mann augenzwinkernd. „Tschüss.“

„Tschüss“, sagte ich und meine Stimme klang zum Glück wieder einigermaßen normal.

Mit schnellen Schritten ging ich auf das Internat zu. Das war nochmal gut gegangen, obwohl ich mir sicher war, dass der Mann mir kein Wort geglaubt hatte.

Ich schmunzelte leicht. Da hatte ich noch einen Vorteil, begehrenswert zu sein. Gut, vielleicht war es ja doch nicht so schlimm. Es war ja eigentlich ganz cool.

Ich kicherte leise über die Miene des Mannes, als er mich zum ersten Mal gesehen hatte. War ja eigentlich voll auffällig gewesen. Warum ich da nicht selber draufgekommen war ... wahrscheinlich hatte ich es nicht wahrhaben wollen. Konnte ich mir gut vorstellen.

Ich seufzte und kickte einen kleinen Stein von mir weg.

Das Leben war ja doch ganz schön, das musste ich zugeben.

Und es war wirklich ganz okay, begehrt sein.

 

Klare Worte

 

Klare Worte

 

Nadja prustete laut los. „Fast geküsst?! Du und Christoph?? Mann, wieee geil!“

Ich seufzte. „Na ja, so geil war das nicht. Im Gegenteil. Es war bescheuert. Ich hab mich so schrecklich gefühlt, als ich ihm gesagt habe, dass es nicht geht. Er war so... so verletzt.“

Nadja klatschte in die Hände. „Das ist so... so... oh, Lea! Ich bin stolz auf dich!“

„Stolz?“ Ich sah sie ungläubig an. „Nadja, du weißt ja gar nicht, wie sehr ich ihn verletzt habe. Das kann ich mir nicht verzeihen. Dieser Blick von ihm... unbeschreiblich.“

Nadja hörte auf zu lachen. „Er tut er dir leid? Sonst hat er dich doch so genervt!“

„Ja, schon, aber... aber jetzt nicht mehr. Ich will ihn doch nicht verlieren.“

„Sooo gut befreundet wart ihr aber auch nicht, oder?“, meinte Nadja.

„Nein, wir kennen uns ja noch nicht so lange. Aber ich hab trotzdem keine Lust, die Freundschaft mit ihm aufs Spiel zu setzen.“

„Dann hast du das Spiel doch schon verloren.“

Ich nickte. „Ja, hab ich wohl.“ Unwillkürlich wurden meine Augen feucht.

Nadja seufzte und legte mir einen Arm um die Schulter. „Ach, komm schon, Lea. Warum liegt er dir denn plötzlich so am Herzen? Ich versteh das nicht.“

„Ich doch auch nicht. Aber es ist einfach so.“ Gereizt wischte ich mir über die Augen. „Ich schlaf jetzt.“

„Es ist 5 Uhr Nachmittag.“

„Egal.“ Ich legte mich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf. Ich brauchte Ruhe, um über alles nachzudenken.

Nadja seufzte, erhob sich und trottete hinüber zu ihrem Bett. „Ich geh runter, ja? Nacht.“

„Nacht“, murmelte ich. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Oh mann. In was war ich da nur reingeraten?

Ich kniff mir ganz fest die Augen zusammen. Vielleicht war das ja nur ein Traum und wenn ich die Augen wieder aufmachen würde, würde ich daheim sein und in den Armen von Jake liegen.

Also öffnete ich die Augen. Doch statt den Armen von Jakob sah ich – wie zu erwarten – eine blaue Bettdecke. Kein Traum. Super.

Wieso musste das immer mir passieren? Ich war doch so normal, ich konnte damit doch am wenigsten fertig werden. Aber das kapierte wohl keiner.

Ich seufzte und drehte mich auf die Seite. Schlafen, schlafen, schlafen. Dann würde alles wieder okay sein. Alles.

Und erneut ließ ich meine Lider zufallen.

 

„Ich frag mich ganz ernsthaft, wie man am Nachmittag schlafen kann.“

„Ja, das ist allerdings seltsam.“

„Sie hat neulich auch einfach nachmittags geschlafen, das war an unserem ersten Tag hier. Verrückt, oder?“

„Stimmt.“

Kurze Stille.

„Hey, Lea, hörst du mich?“ Nadja rüttelte meinen Körper. „Es gibt Essen.“

„Hmmm?“ Ich blinzelte überrascht. „Seit wann gibt es so früh?“

„Es gibt jeden Abend so früh Abendessen, Lea.“ Nadja sah mich streng an. „Es ist 7 Uhr. Na ja. Kurz danach.“

Ich gähnte. „Wieso lässt du mich nicht einfach mal schlafen? An meinem ersten Tag hast du mich auch schon aufgeweckt. Das war nicht sehr nett.“

„Lea!“, stöhnte jemand. Es war nicht Nadja.

Verwundert drehte ich den Kopf. Es war Lukas.

Ich stöhnte unwillkürlich auf und ließ mich zurück ins Bett fallen. „Ich hab keinen Hunger, danke.“

„Siehst du“, beschwerte sich Lukas. „Es war doch keine gute Idee, mitzukommen.“

„Nadja kann nichts dafür“, knurrte ich. „Lass sie gefälligst in Ruhe.“

„Passt schon, Lea. Jetzt steh erst mal auf.“ Nadja nahm meine Hand und zog mich hoch.

Ich machte mich daraufhin extra schwer und leistete gehörig Widerstand.

Keuchend ließ Nadja mich wieder fallen. „Stur wie immer.“

„Ich helf dir.“ Kalte Hände packten mich.

„Finger weg!“, protestierte ich, sprang aus dem Bett und stapfte an den beiden vorbei in den Gang hinaus.

„Jetzt zick hier nicht rum“, meinte Lukas.

„Ich zick nicht rum“, widersprach ich. „Ich bin nur schlecht auf euch zu sprechen.“

„Das mein ich ja.“

Ich verschränkte die Arme und lief mit schnellem Tempo die Treppe hinunter in Richtung Speisesaal. So langsam fand ich mich wirklich gut zurecht. Ich wusste genau, wo die Tür zum Saal war.

„Stop, Lea! Es geht hier links, nicht rechts.“

Ich schob leicht die Unterlippe vor. Okay, vielleicht doch nicht.

Ich wandte mich um und marschierte an den beiden vorbei, ohne ihnen eines Blickes zu würdigen. Schön, vielleicht zickte ich rum. Aber wenn sie mich einfach weckten? Ihr Problem.

Ich bog um die Ecke und wäre fast gegen Julia gelaufen.

In letzter Sekunde blieb ich stehen und starrte sie an. Bei ihrem Anblick stieg sofort unerklärbare Eifersucht und Wut in mir auf. Vermutlich, weil sie so unbeschreiblich hübsch und ich so unbeschreiblich durchschnittlich war.

„Pass nächstes Mal auf, wo du hinläufst“, fuhr sie mich an. Durch den melodischen Klang ihrer Stimme hörte sich die Wut darin noch teuflischer an. „Okay?“

„Ja.“ Ich seufzte. „Kann ich jetzt vorbei?“

Sie presste die Lippen aufeinander und trat einen Schritt zur Seite.

„Danke.“ Schnell schob ich mich an ihr vorbei und betrat den vollbesetzten Saal.

Meine Augen wanderten suchend über die Tische. Moment mal – was suchte ich eigentlich?

Doch mein Gehirn gab mir schon die Antwort.

Mein Blick verharrte auf Christoph, der lachend bei seinen Gangstern saß.

Schuldbewusst stellte ich fest, dass er ja gar nicht lachte – nur seine Kumpels. Er sah hingegen total in Gedanken versunken aus.

Schnell vertrieb ich den Gedanken, dass ich schuld daran war, und eilte zu den letzten drei freien Plätzen am Tisch gegenüber von den Gangstern.

Nadja und Lukas folgten mir.

Ach ja, verdammt. Es waren drei freie Plätze. Warum hatte ich mir bloß keinen Platz mit zwei Stühlen gesucht?

Als ich mich gesetzt hatte, bemerkte ich wütend, dass ich jetzt freie Sicht auf Christoph hatte – und er auf mich. Na toll. Gut, ich würde einfach nicht in seine Richtung schauen. Dann würde es schon gehen.

In diesem Moment stieß Marc Christoph an und nickte zu mir herüber.

So ein Vollidiot.

Schnell blickte ich zu Nadja und Lukas, die kurz vor mir standen. Bloß nicht rot werden, Lea, bloß nicht.

Marc kicherte, stieß Christoph erneut an und prustete dann laut los. Okay. Wahrscheinlich war ich doch rot. Ach, egal. War ja nicht so schlimm, man sah ja schließlich sonst nicht, dass ich nervös war. Oder?

„Ehm... Lea? Wieso bist du denn so rot?“ Nadja setzte sich gegenüber von mir und versperrte mir so den Weg zu Christoph.

„Und warum zitterst du so?“, wollte auch Lukas wissen.

„Äh... was?“ Ich blickte auf und sah abwechselnd Lukas und Nadja an. „Was ist mit mir?“

Nadja verengte die Augen. „An was hast du gedacht, Lea?“

„An nichts.“ Ich versteckte das Gesicht in meinen Händen und lugte zwischen den Schlitzen hindurch hinüber zu Christoph. Doch er sah nicht zu mir – wie zu erwarten. Im Gegensatz zu Marc, der starrte mich mit großen Augen an. Super.

Die Hände wurden mir grob weggezogen und Nadjas strenge Gesicht erschien vor mir. „Lea, sprich zu uns!“

„Es ist nichts“, murmelte ich und versuchte angestrengt, nicht an Christoph zu denken. „Gar nichts. Bin nur... nur müde von dem Tag heute.“

Lukas wandte sich um und sein Blick fiel auf Christoph. Dann schaute er wieder zu mir. „Aha. Er ist es, oder?“

Mein Gesicht fing an, zu glühen. „Äh was? Nee, der doch nicht, es ist... es ist... niemand, gar nichts, ich hab doch nur –“

Nadja winkte ab. „Vergiss es. Wir haben dich schon durchschaut.“

Ich zog eine Schnute und lehnte mich zurück. „Und? Darf ich nicht ab und zu an meine Kumpels denken?“

Lukas zog die Brauen hoch. „Ach, komm, da läuft doch sicher noch mehr.“

„Nein, da läuft nichts!“, zischte ich.

„Und was war das dann mit dem Kuss heut Mittag?“, fragte Nadja skeptisch.

Ich warf ihr einen verärgerten Blick zu. Wieso musste sie das auch noch vor Lukas sagen?! „Das war kein Kuss. Nicht ganz jedenfalls.“

„Kuss??“ Lukas starrte mich entsetzt an. „Du hast Christoph geküsst?“

„Quatsch.“ Ich schüttelte rasch den Kopf. „Christoph, also bitte.“

„Sie hat ihn fast geküsst“, erklärte Nadja augenzwinkernd.

Nadja!“, fuhr ich sie an. „Muss das denn sein?“

Sie zuckte die Achseln. „Er hätte es sowieso jedem erzählt.“

Ich presste die Lippen aufeinander. „Schön, dass es Christoph verbreitet, ist nicht sonderlich verwunderlich. Aber dass es du machst!“

Nadja seufzte. „Tut mir leid.“ Sie drehte sich zu Lukas um, der immer noch völlig schockiert aussah. „Du, Lukas, würdest du das bitte keinem erzählen?“

Oder zumindest nicht der Presse, fügte ich im Stillen hinzu.

„Was? Niemandem? Sorry, das kann ich nicht. Diese Geschichte ist zu aufregend.“

„Aufregend?“, wiederholte ich. „Wieso das denn? Hier passieren doch sicher ständig Liebesgeschichten, oder?“

„Doch nicht auf einem Kloster.“ Nadja schüttele den Kopf. „Hier ist es verboten, Beziehungen zu führen.“

Ich starrte sie mit offenem Mund an. „Bitte?! Aber Julia und Christoph sind doch auch –“

„Die treffen sich eben außerhalb. Und da im Zug hat’s ja keiner gesehen.“

Ich schüttelte angewidert den Kopf. „Verrückt. Das ist echt verrückt. Meine Mutter will mich hier echt zu Tode foltern.“

Lukas wirbelte zu mir herum. „Ach ja?? Hier wird man gefoltert?! Vielen Dank auch!“ Er sprang wütend auf und rannte aus dem Saal, vorbei an den Tischen und vorbei an den Gangstern. Alle starrten ihm entsetzt nach. Offenbar kein normales Verhalten von ihm.

„Meine Güte, Lea.“ Nadja schüttelte genervt den Kopf. „Jetzt hast du aber echt übertrieben.“

„Ja?“ Ich verschränkte die Arme. „Ich hab kein Mitleid. Sein Problem, er tut mir nicht leid. Auf eine Entschuldigung kann er ewig warten.“

„Lea“, stöhnte Nadja auf. „Das wird Lukas jetzt überall rumerzählen! Und das wird ernsthafte Konsequenzen für dich und Christoph haben – eine Beziehung hier, das darf man eben nicht.“

„Das ist keine Beziehung. Und woher soll ich das denn wissen?!“, rief ich empört aus. „Dass man hier immer betet ist ja noch einigermaßen erträglich, aber... ich mein... wie haltet ihr das hier aus? Ohne Beziehungen?“

„Wir warten bis zum Abitur. Das ist hier eben Tradition.“

„Du warst doch auch mal mit Christoph zusammen, oder?“

„Stimmt. Aber wie bei Julia und ihm haben wir es eben geheim gehalten.“

„Ihr tut mir leid“, seufzte ich. „Wie gut, dass ich nach einem Jahr wieder gehen kann. Ich glaub nicht, dass ich das sonst überleben würde.“

Nadja funkelte mich an. „Gibt es für dich etwa nichts Wichtigeres, als Beziehungen zu führen?“

„Natürlich, es gibt eigentlich viele wichtigere Sachen“, erwiderte ich rasch. „Aber stell dir vor, du bist in jemanden verliebt und derjenige auch in dich und ihr dürft keine Beziehung führen. Ist doch bescheuert, oder?“

Nadja nickte. „Okay, stimmt auch wieder.“

In diesem Moment vibrierte etwas in meiner Tasche.

„Ach, super!“, freute ich mich, nachdem ich auf den Display geschaut hatte. „Mit der wollte ich sowieso mal wieder telefonieren!“ Oder bessergesagt: jetzt hab ich eine Ausrede, um nicht weiter mit Nadja diskutieren zu müssen, fügte ich im Stillen hinzu.

Schnell drückte ich auf den grünen Knopf. „Hey, Annie!“

„Hi, Lea!“, ertönte Anielas fröhliche Stimme aus dem Hörer. „Und, wie geht’s?“

„Och, ja, ganz gut. Ich ess grad mit Nadja Abend. Du?“

„Hab vor ner halben Stunde gegessen. Morgen schreiben wir ne Mathe-Prüfung. Total scheiße, ich blick diese Formeln nicht!“

„Hier schreibt man nur am Ende des Schuljahrs Prüfungen.“

„Ich weiß. Voll unfair, Jake hat gesagt, er würde das alles voll kapieren. Nen richtigen Streber hast du da an deiner Seite.“

„Hey, halt bloß die Klappe! Jake ist kein Streber, er ist nur gut in der Schule.“

„Ja, ja.“ Aniela hörte sich irgendwie unruhig an.

„Was willst du mir sagen?“, fragte ich seufzend. Aniela war wahrscheinlich noch besser zu durchschauen als ich und das mochte schon was heißen.

„Ach, ich... du... ich... weißt du...“ Sie rang nach Worten. „Es ist so schwer...“

„Was denn?“ Aniela schien psychische Probleme zu haben, das hörte man. „Was ist denn los?“

„Ich... ich... oh, ich kann das nicht sagen, du hasst mich dann bestimmt.“

„Ach, Annie, das könnte ich niemals, egal um was es geht.“

„Aber...“ Aniela holte tief Luft. „Okay, ich sag’s dir. Aber bitte, bitte, versprich mir, dass du nicht ausrastest, ja?“

„Okay“, erwiderte ich etwas verwundert. „Schieß los.“

„Ich hab mich... also... ich glaube, ich hab mich in Jake verliebt.“

„Was???“, schrie ich geschockt aus. Normalerweise schrie ich nie, aber das kam jetzt so überraschend, das war zu schnell für mich. „Du hast dich in... bitte – was?!“

„Ich kann auch nichts dafür!“, jammerte Aniela. „Es kam so plötzlich!“

„Wie... wie...“ Mir hatte es wohl die Sprache verschlagen. Kein Ton brachte ich heraus. Aniela stand auf Jakob? Meine beste Freundin war in meinen festen Freund verknallt?!

„Es tut mir ja so leid“, flüsterte Aniela. „Ich hätte es dir nicht sagen sollen, oder?“

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Das ist so was von dämlich, Annie.“

„Dämlich?“, fragte Aniela empört. „Hör mal, glaubst du, ich mache das absichtlich?“

„Ja, es ist dämlich. Überleg doch mal: ich bin seit einem halben Jahr mit Jake zusammen und jetzt, wo ich auf einem Internat bin, fängst du an, mir zu beichten, dass du auf Jakob stehst? Hallo???“

„Ja, ich bin doch erst seit einer Woche in ihn“, erklärte Aniela seufzend. „Es war in der Pause am Montag. Weißt du, er wollte sich den Atlas nehmen und dabei haben sich unsere Hände berührt und dann... dann hab ich so ein Kribbeln gespürt...“

Oh nein. Jetzt kamen wieder Anielas berühmte Liebesvorträge. „Alles klar. Du, ich hab jetzt echt keine Zeit dafür, ich muss noch –“

„Und dann in Mathe hat er mich angeschaut, Lea! Verstehst du? Und dann hat er auch noch gelacht! Ich weiß nicht, wieso, aber es lag vielleicht an mir! Kann schon sein, ich hatte an dem Tag zum ersten Mal meine neue Hose in der Schule an und vielleicht war er so hingerissen und... ach, ich weiß auch nicht. Er ist einfach sooo süß.“

„Ja, Annie, das hab ich schon vor einem Jahr bemerkt.“

„Und, oh, ja, apropos: es tut mir ja sooo leid, dass ich dich immer angemotzt habe, wenn du von ihm geschwärmt hast, das war ja so falsch! Jetzt versteh ich dich so richtig. Er ist wirklich umwerfend, braune Haare, so schöne, dunkle Augen und sein Lachen... dass mir das noch nicht früher aufgefallen ist...“

„Bitte, Annie, reiß dich mal zusammen!“, sagte ich streng. „Das alles weiß ich inzwischen, denn wie du vielleicht bemerkt hast, bin ich mit ihm zusammen, okay?! Und zwar glücklich, ich liebe ihn und er liebt mich! Also bitte hör auf, dir einzubilden, du würdest auf ihn stehen!“

„Ich steh aber auf ihn! Und das bild ich mir nicht ein. Und du will meine beste Freundin sein?!“

Ich amtete schwer ein und aus. Das war hier ein großes Problem. „Annie, ich versuch doch nur, unsere Freundschaft aufrecht zu erhalten. Denn wenn du wirklich in Jake verliebt bist, dann... ich mein... ich werde ihn nie wieder vor dir küssen können. Was glaubst du, wie groß mein schlechtes Gewissen gerade ist!“

„Schlechtes Gewissen?“, wiederholte Aniela ungläubig. „Du kannst doch nichts dafür. Ich hab Mist gebaut, ich hab mich in deinen Freund verknallt. Lea, ich will nicht, dass du dich von ihm trennst. Vielleicht ist das ja nur so eine Phase von mir.“

„Ich hoff’s.“ Die Chancen waren sehr gering, denn wenn Aniela sich mal verliebte – was nicht oft vorkam – dann blieb sie es auch mindestens ein Jahr lang so. „Aber ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Das alles erst mal verarbeiten.“

„Ist gut. Ich dachte nur, ich sag’s dir lieber mal. Mach’s gut. Und stell nichts Dummes an, ja? Bei dir weiß man ja nie.“

„Klar“, murmelte ich. „Tschüss.“

Dann legte ich auf.

Langsam schob ich das Handy in meine Tasche.

„Was ist denn jetzt passiert?“, fragte Nadja neugierig. „Du siehst ziemlich... schockiert aus.“

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, als wollte ich bewirken, dass der Schock so wegging. Doch stattdessen stießen mir Tränen in die Augen.

Das war offenbar sichtbar, denn Nadja sagte leise: „Hey, was ist denn los?“

Ich schluchzte leise und wippte auf meinem Stuhl auf und ab.

„Lea?“

„Annie...“, murmelte ich.

„Was ist mit ihr?“

Ich holte zitternd Luft und wischte mir über die Augen. „Sie steht auf Jake.“

„Oh nein“, flüsterte Nadja und schlang die Arme um meinen Körper. „Beruhig dich, Lea, ja? Es wird schon alles gut. Sie... das ist bestimmt nur so eine Phase.“

Ich schüttelte den Kopf. „Bei Annie nicht.“ Verzweifelt sah ich Nadja an. „Was soll ich denn jetzt machen?“

„Sprech deine Freundin besser nicht darauf an und... denk nicht darüber nach. Wenn du heimkommst, ist vielleicht alles wieder okay.“

„Ja?“ Zweifelnd sah ich sie an. „Und was, wenn nicht?“

„Dann...“ Nadja dachte nach. „Dann musst du einfach mit ihr und Jake reden. Irgendwann legt sich das ja wieder.“

„Aber was mach ich, wenn Jake sich auch in Annie verliebt?“, fragte ich mit leicht hysterischem Unterton.

Nadja seufzte. „Wird er nicht. Dafür liebt er dich doch sicher viel zu sehr, oder?“

Ich nickte. „Ich hoff’s.“ Mit niedergeschlagener Miene starrte ich auf meinen Semmel. „Das Leben ist so kompliziert.“

„Wohl wahr.“ Nadja setzte sich wieder gegenüber von mir hin. „Aber das wird schon wieder. Schreib ihm halt einen Brief.“

Ich nickte. „Gute Idee.“ Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich ja schon länger nichts mehr von Jake gehört. Ob er mich vergessen hatte? Vielleicht war er ja schon mit Aniela zusammen!

Ich stieß unwillkürlich einen lauten Schluchzer aus. Nein, das konnte doch nicht sein. So was würde Jakob doch nie tun... oder? Und ausgerechnet jetzt war ich in diesem verdammten Internat!

„Lea, bitte“, sagte Nadja eindringlich. „Die gucken alle schon.“

Verwirrt blickte ich auf. Tatsächlich. Mehrere Schüler hatten sich neugierig zu mir umgedreht. Manche von ihnen kicherten leise, anderen wirkten eher bestürzt.

Christoph hingegen sah mich völlig teilnahmslos an. Entweder er war in Gedanken versunken oder ihm war es einfach egal, was ich fühlte. Na toll. Das auch noch.

Wütend blitzte ich ihn an und verschränkte die Arme. Etwas zuckte um Christophs Mundwinkel. Ein Lächeln? Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich wieder nur diese neutrale Miene. Wie gemein. Als ob es ihn nicht interessieren würde, was mit mir geschah. Und er hatte mir leid getan? Mein Gott, war ich bescheuert gewesen.

„Komm, gehen wir hoch. Ich muss noch auf morgen lernen.“ Nadja erhob sich und reichte mir die Hand.

Ich ergriff sie, doch anstatt im normalen Schritttempo den Saal zu verlassen, stolzierte ich erhobenen Hauptes nach draußen in die Eingangshalle. Christoph sollte ruhig merken, dass ich stocksauer auf ihn war. Das geschah ihm ja ganz recht.

„Kannst du nicht normal laufen?“, fragte Nadja gereizt, als wir in unserem Zimmer angekommen waren.

„Natürlich kann ich das. Aber mir war eben nicht danach zumute.“

„Ich hab’s gemerkt.“ Nadja runzelte die Stirn. „Und was für einen Grund hatte das speziell?“

„Tja.“ Ich setzte mich auf mein Bett, holte Briefpapier und Stifte und blickte sie an. „Das ist eben die Pubertät.“

„Du bist 17“, erwiderte Nadja. Sie ließ sich auf ihr Bett nieder. „Was willst du mir da mit Pubertät kommen?“

„Tja“, sagte ich wieder. „Das ist eben so bei mir.“

„Das sehe ich.“

Während ich mir den passenden Stift aussuchte, spürte ich ihren forschen Blick auf mir. „Du brauchst mich nicht so anzugucken. Mir geht’s gut.“

Entschlossen drehte ich ihr den Rücken zu und begann meinen Brief zu schreiben. Und ganz ehrlich, es brauchte ewig, bis ich einen halbwegs vernünftigen Brief zusammengestellt hatte.

 

 

Hey Schatz!

 

Und, wie geht’s dir so?

Mir ganz gut. Na ja, eigentlich geht’s mir nicht so toll, weil

Also mir geht’s ganz okay. Abgesehen von diesem Telefongespräch neulich...

Weißt du, Annie hat bei mir angerufen und gesagt, sie sei voll in dich verknallt und

Weil da hat eben Annie angerufen und sie hat gesagt ... na ja, dass sie sich in dich verliebt hat. Und das ist

Ich mein, das ist total scheiße, dieses Gefühl und so...

Kannst du mir vielleicht irgendwie Tipps ge

Kannst du mir vielleicht irgendwie helfen, weil ich weiß nicht was ich machen soll... ?

Ich hab nämlich voll Angst, dass Kitty und ich

Ich mein, stell dir vor, unsere Freundschaft geht kaputt. Die von Annie und mir. Was soll ich dann machen???

Das wär total scheiße und... bestimmt der Weltuntergang, weil

Ich mein, was soll ich nur ohne Annie... ?

Bitte helf mir!!! Und was hältst du davon?

Ich liebe dich und ich

Du fehlst mir. Schreib bald zurück.

 

Lea

 

Nicht so toll, oder? Egal. Er wird es schon verstehen. Ich hätte ja eigentlich gleich wissen müssen, dass das schwierig wird, also wäre es sicher besser gewesen, wenn ich mit Füller geschrieben hätte. Aber gut, Kugelschreiber tut’s ja auch. Jake wird es verstehen. Ganz sicher.

„Les mal vor“, bat Nadja

„Nein“, sagte ich steif.

„Wieso?“, fragte Nadja.

„Weil“, antwortete ich gereizt.

„Bitte, Lea.“

Ich warf ihr einen Blick zu. Sie war meine Freundin. Also – warum nicht?

„Na schön.“

Während ich vorlas, verfinsterte sich Nadjas Miene immer mehr. Am Ende blitzte sie mich fast hasserfüllt an.

Verwundert starrte ich sie an. „Was ist? So schlecht?“

Ohne auf meine Fragen einzugehen, meinte sie: „Du bist nicht sauer?!“

„Auf wen denn?“, fragte ich überrascht.

„Na, auf Annie!“ Sie sagte das so, als wäre es das Normalste auf der Welt.

„Aber sie hat doch gar nichts gemacht“, meinte ich verwirrt.

„Sie hat sich in deinen Freund verliebt“, erklärte Nadja leise.

„Und? Da kann sie doch nichts dafür.“ Allmählich dämmerte es mir, worauf Nadja hinauswollte. Ich grinste. „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“

„Quatsch“, brummte Nadja, versteckte sich aber gleich hinter ihrem Buch.

Oh mann. Typisch, Nadja. Natürlich würde sie nie zugeben, was in ihr vorgeht.

Ich kicherte, stand auf, sagte kurz „Ich werf den Brief ein“ und verließ dann das Zimmer.

Doch kaum war ich auf dem Gang, bereute ich, schon losgegangen zu sein.

Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte in Christophs blaue Augen. Er schien ungefähr genauso froh zu sein, mich zu sehen, wie ich ihn.

„Hi“, sagte ich nach einer Weile.

Christoph biss sich auf die Lippen, wandte sich ab und lief mit schnellen Schritten weiter.

Ich seufzte. Okay. Das mit uns würde wohl noch etwas dauern.

Langsam folgte ich ihm. Wieso bedrückte mich es so sehr, dass Christoph sauer auf mich war? Was war an ihm denn so besonders? Er war ein Junge wie jeder andere. Oder?

Energisch schüttelte ich den Kopf. Albern. Sooo traurig war ich ja eigentlich nicht. Ich mein, okay, ich war schon verletzt, dass er nicht mal „Hi“ zu mir gesagt hatte, aber das hatte ja nichts zu bedeuten. Ich wäre doch sicher auch verletzt, wenn Lukas mich nicht gegrüßt hätte. Obwohl... war ich damals verletzt? Nein, nicht so sehr wie jetzt bei Christoph.

Verdammt, was sollte das?! Wieso machte er mir so zu schaffen? Irgendwie dachte ich ja die ganze Zeit an ihn. Oder ziemlich oft. Hm.

Am Sekretariat angekommen, holte ich nochmal tief Luft. Ich musste von Christoph loskommen, anders ging es nicht. Und vielleicht war es ja gar nicht so schlimm mit ihm wie ich dachte.

Entschlossen machte ich die Tür auf.

Oh Gott. Hätte ich doch noch eine Minute gewartet.

Christoph starrte mich misstrauisch an. Was dachte er jetzt wohl von mir? Dass ich ihm nachspionierte?

Christoph wandte sich wieder zu der Sekretärin. „Ist gut. Richten Sie ihr schöne Grüße aus, wenn sie anruft. Und sagen Sie ihr, dass ich mich schon sehr auf sie freue, besonders, wenn sie mich dieses Wochenende besuchen kommt. Vielen Dank, das ist sehr freundlich.“ Er legte einen Briefumschlag auf das Tresen, drehte sich um, warf mir einen kurzen Blick zu und verließ dann eilig das Zimmer.

Ich blickte ihm nachdenklich nach.

Als Christoph die Tür schloss, hatte ich den Eindruck, dass ein Lächeln um sein Gesicht huschte.

Doch gerade als ich genauer hinsehen wollte, hatte er die Tür schon zugeschlagen.

Was sollte das denn? Richten Sie ihr schöne Grüße aus. Und sagen Sie ihr, dass ich mich schon sehr auf sie freue, besonders, wenn sie mich dieses Wochenende besuchen kommt. Hatte er etwa schon eine neue Freundin? Und Julia? Das durfte doch nicht wahr sein! Wieso war Christoph so ein Arschloch? Wieso wechselte er die Freundinnen so schnell? Erst Nadja, dann Julia und jetzt die da. Und... war er nicht auch mal in mich verliebt? Neulich? Gestern? Nee, heute!

„Also, Lea, was gibt’s denn?“, fragte die Sekretärin leicht genervt.

„Äh... ich... ich wollte einen Brief abgeben“, stammelte ich.

„Na dann immer her damit“, grinste die Dame und winkte mich näher her.

Das war auch gut so. Jetzt hatte ich bessere Sicht auf den Briefumschlag. Er war schneeweiß, mit einem roten Siegel zugeklebt. Siegel? Wer nahm denn heute noch Siegel? Das bedeutete, dass entweder Christoph oder das Internat verrückt war. Nach meinen bisherigen Erlebnissen würde ich sagen, dass beides gut in Frage kam.

„Also, wo ist der Brief?“, fragte die Sekretärin.

„Hier.“ Ich reichte ihr den langweilig grauen Briefumschlag. Hm. Ich hielt den Kopf schräg. Vielleicht sollte ich auch mal Siegel verwenden. Dann würde es etwas bunter aussehen... und vielleicht würde sich Jake ja über Siegel freuen. Obwohl: so gestört wie Christoph war Jakob ja lange nicht.

„Okay... Jakob...“ Die Dame sah mich über ihre Brillengläser hinweg scharf an. „Ist das dein Freund?“

„Ja“, sagte ich leichthin. Was ging sie das an?

„Weißt du denn nicht, dass es hier auf dem Internart verboten ist, Beziehungen zu führen?“, wollte die Sekretärin mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.

„Doch, klar weiß ich das“, erwiderte ich. Nadja hatte schließlich nur gesagt, dass man das hier auf dem Gelände nicht durfte.

„Und warum tust du es dann?“

„Er wohnt doch außerhalb. In Berlin. Das gilt doch nicht.“

„Für uns schon.“

Ich biss mir auf die Lippen. Warum hatte Nadja mir das verschwiegen? „Na toll. Und wie soll ich dann mit ihm kommunizieren? Ich hab ihm versprochen, einen Brief zu schreiben.“

„Dann telefonier doch mit ihm“, schlug mir die Dame vor.

Ich verdrehte die Augen. „Aber ich will ihm einen Brief schicken. Da ist... da ist etwas Wichtiges drin.“

„Ach ja? Und was?“

„Geht Sie das etwas an?“

„Ja, ich denke schon.“

„Ich aber nicht.“

„Dann kannst du das mit dem Abschicken vergessen.“ Die Dame blickte mich triumphierend an.

„Oh mein Gott, echt.“ Wütend starrte ich sie an.

Sie schaute ebenso zornig zurück. „Bitte, was?“

„Was?“, fragte ich zurück. Was hatte ich jetzt schon wieder falsch gemacht?!

„Was hast du gerade eben gesagt?“

„Öhm... ich weiß nicht, was Sie meinen“, stotterte ich.

„Hast du gerade Oh mein Gott gesagt?“, fragte die Dame scharf.

„Keine Ahnung, schon möglich“, sagte ich achselzuckend.

„Du leugnest es also nicht?“, hakte die Sekretärin nach.

„Äh. Nein?“

Die Dame schlug sich mit der Hand auf den Mund, setzte sich rasch auf ihren Drehstuhl und blickte mich schockiert an. „Mädchen... was...“

„Entschuldigung, hab ich was Falsches gesagt?“

„Ja, allerdings. Falsch. Das ist noch untertrieben.“

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Du hast Oh mein Gott gesagt.“

„Ich weiß.“

„Und du hast es nicht geleugnet.“

„Ich weiß.“

„Und du weißt nicht, was daran so schlimm ist.“

„Stimmt.“

Die Dame atmete schwer ein und aus. „Kind, bitte! Ist das so schwer zu verstehen?“

Ich dachte nach. Dann nickte ich.

„Lea.“ Die Dame senkte die Stimme, als hätte sie Angst, jemand könnte sie belauschen. „Du hast den Namen Gottes missbraucht. Zweites Gebot.“

Ich musste ein Lachen unterdrücken. Deswegen das ganze Drama. Weil ich ein Gebot außer Acht gelassen hatte. Unwillkürlich grinste ich.

Die Sekretärin sah mich so an, als wollte sie sagen, dass sie das überhaupt nicht lustig fand.

„Na ja...“ Schnell setzte ich wieder eine ernste Miene auf. „Es tut mir leid. Ich werde den Namen Gottes nicht mehr missbrauchen.“ Erwartungsvoll sah ich sie an. Hoffentlich reichte ihr das.

„Na schön. Du bist neu. Das lass ich mal durchgehen. Aber das nächste Mal passt du bitte besser auf, ja? Nicht alle sind so gnädig wie ich“, erklärte die Dame seufzend.

„Geht klar“, murmelte ich. „Könnte ich den Brief jetzt... ich mein...“

„Von mir aus.“ Die Sekretärin wandte sich um und warf den Brief zu einem anderen Stapel vieler Umschläge. „Das war aber der Letzte.“

„Vielen, vielen Dank“, strahlte ich. „Sie haben noch was gut bei mir!“

„Kein Problem.“ Die Dame lächelte.

In diesem Moment lugte ein Lehrer um die Ecke. „Frau Müller? Kommen Sie bitte mal? Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.“

„Ist gut.“ Frau Müller erhob sich, warf mir noch einen kurzen Blick zu und verließ eilig den Raum.

Etwas unentschlossen blieb ich zurück. Schon verrückt, das alles hier. So ein Aufstand wegen einem Oh mein Gott.

Verrückt.

Mein Blick fiel auf den Siegelumschlag von Christoph an das unbekannte Mädchen.

Nein, das war gemein. Christoph hatte auch seine Privatsphäre. Ich durfte nicht einfach so in sie eindringen, das ging doch nicht.

Dennoch streckte ich meine Hand aus und zog den Umschlag rasch zu mir.

Neugierig war ich schon, zugegeben. Was Christoph wohl jemandem schrieb, in den er verliebt war? Ich konnte mir ihn gar nicht romantisch vorstellen, überhaupt nicht.

Nervös blickte ich nach rechts und links. Keiner war zu sehen.

Rasch schnellte ich herum und sprintete aus dem Sekretariat, durch den Gang, durch die Eingangshalle und hinein in unser Zimmer.

Schnell knallte ich die Tür zu und ließ mich auf mein Bett fallen. Immer noch ein wenig außer Atem – ich hatte noch nie eine starke Kondition – griff ich in meine Hosentasche und holte den Umschlag heraus.

„Wolltest du den nicht einwerfen?“, fragte Nadja mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich grinste sie an. „Das ist nicht meiner. Den hier hab ich aus dem Sekretariat geklaut. Christoph hat ihn an irgendein Mädchen geschrieben.“

„Na, damit ist die Sache klar“, meinte Nadja lässig. „Du stehst voll auf ihn.“

„Ich steh nicht auf ihn“, widersprach ich. „Mich interessiert nur, was... was...“

„Mit wem er zusammen ist“, ergänzte Nadja. „Das mein ich ja.“

„Nein“, schmollte ich. „Ist nicht wahr.“

„Doch, ist wahr. Und zwar sehr, sehr wahr“, erwiderte Nadja und wandte sich wieder ihrem Herr der Ringe-Buch zu. „Aber es ist ja deine Beziehung.“

Ich warf ihr einen genervten Blick zu. Jawohl. Meine Beziehung. Brauchte sie sich gar nicht einmischen.

Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Brief.

Liebevoll strich ich über das Papier. Christoph hatte ihn zugeklebt. Mit dem Siegel... mmmh... er hatte dieses Papier berührt...

Ich zuckte zusammen. Okay das reichte.

Ich zögerte noch kurz, dann riss ich den Brief auf.

Nadja schielte zu mir rüber, als ich das Papier entfaltete. Ha. War sie also auch neugierig.

Ich begann zu lesen.

Hey Melly!

Und wie geht’s? Ich hab mich heut wieder total gelangweilt. Schule, beten, Hausaufgaben, immer das gleiche. Hoffentlich ist es bei dir abwechslungsreicher. Hatte heute wieder Stress mit Lea.

Ich erstarrte. Er redete mit seiner Freundin über mich? Wieso das? Und warum redete er überhaupt über mich?

Wir haben uns nämlich total gestritten. Ich weiß nicht, es ist alles schief gegangen. Du hast zwar gesagt, ich sollte ihr sagen, dass ich in sie verliebt bin, aber sie hat nicht so gut darauf reagiert. Sie ist ... ich weiß nicht ... irgendwie hat sie das glaub ich mitgenommen. Aber was hätte ich tun sollen? Wenn nicht mal mehr deine Tipps helfen, dann weiß ich echt nicht mehr weiter. Aber Lea hängt ja eh nur an ihrem blöden Jake oder wie der auch immer heißt. Sie hat einfach einen besseren verdient.

Wow. Christoph hörte sich ja total niedergeschlagen an. Der Arme. Und alles nur wegen mir? Schlechtes Gewissen entfaltete sich in mir.

Ich glaub du hast recht. Mit der Liebe will es bei mir nicht klappen. Sicher, Julia sieht hammer aus, aber was will ich mit einem noch so schönen Girl, wenn es nicht den Charakter hat, den ich mir wünsch? Irgendein Mix aus Nadja, Julia und Lea. Das war das Traumgirl schlechthin. Julia hab ich ja schon mal, bei Nadja sieht’s kritisch aus. Seit ich mich von ihr getrennt hab, will die nix mehr von mir wissen. Und bei Lea ... das kann ich vergessen. Und ich schätze, 98% des Traumgirls würde aus Lea bestehen, der Rest aus Julia und Nadja. Aber ... Lea is ja nicht an mir interessiert. So ein Mist ...

 

Schuldbewusst strich ich über das Papier. Ich wäre 98% seines Traumgirls? Wow. Das nenn ich Liebeserklärung. Wieso konnte Christoph nicht so romantisch sein, wenn er vor mir stand?

Ich glaub, ich sollte es einfach lassen. Ich verunsicher Lea ja nur. Und das will ich ja auch nicht. Lea hat es verdient, glücklich zu sein.

Danke für deine Tipps. Es ist doch toll, eine große Schwester zu haben.

Große Schwester??? Na super. Ich war doch etwas voreilig.

Lass bald von dir hören. Grüße an Philipp.

Christoph

Ich lächelte. Und irgendwie wurden auch gleichzeitig meine Augen feucht. Schön und traurig war der Brief. Schaurig. Ich schluckte. Dass ich Christoph so verletzt hatte, war mir nie so bewusst. Oh Gott, wäre ich doch nicht so hart gewesen! Er war derjenige, der eine Bessere verdient hätte. Wieso hatte er sich auch in mich verliebt? Wieso rannte er mir hinterher? Ich war nicht gut genug für ihn! Er sollte jemand anderes kriegen. Nadja. Nadja wäre gut.

Da fiel mir auf, dass Christoph noch ein P.S. geschrieben hatte.

P.S.: Und hat dir der Brief gefallen, Lea? Ich wusste doch, dass du ihn liest. Ich kenn dich gut genug, du bist so leicht zu durchschauen. Weißt du, ich kann dir das alles doch nicht einfach sagen, oder? Deshalb wollte ich es in einem Brief machen. Ich hoffe, es war einigermaßen ... na ja ... weiß nicht, ich hoff jedenfalls, er war schön. Ich liebe dich, Lea.

Christoph

Ich merkte, wie ich anfing zu zittern. Oh Gott.

Unwillkürlich flossen Tränen über meine Wangen. Ich schniefte laut.

Nadja sah mich bestürzt an. „Oh... so traurig?“

Ich schüttelte rasch den Kopf. „So romantisch.“

„Ah ja.“ Nadja erhob sich und sprang zu mir herüber. Ich spürte, wie sie sich über meine Schulter beugte, um den Brief zu lesen.

Ich konnte währenddessen nichts sagen. Immer wieder musste ich mir über die Augen wischen. Christoph war so toll... und so romantisch. Wieso hatte ich das nicht früher bemerkt?

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal wegen Romantik hätte weinen können. Aniela weinte wegen jeder Kleinigkeit. Titanic – das war ja noch verständlich. Aber die Merci-Werbung?? Das ging doch mal gar nicht. Und ich hatte noch nie geweint. Noch nie. Ehrlich. Und jetzt weinte ich wegen einem Jungen. Unglaublich. Aniela würde sich darüber aufregen. Oder freuen. „Toll.“ Nadjas Ton klang so, als würde sie genau das nicht fühlen. „Ist ja sehr romantisch geschrieben.“

„Nicht wahr? Wir haben uns so in ihm geirrt. Wie soll ich das nur wieder gutmachen?“, fragte ich verzweifelt. „Ich muss mit ihm reden. Irgendwie.“

Nadja zuckte die Achseln, wandte sich um und begann zu lesen.

„Ist irgendwas mit dir?“, fragte ich neugierig.

Nadja zuckte die Achseln. „Ist schon okay. Ehrlich.“

„Na dann.“ Ich legte mich auf mein Bett und schloss die Augen.

Christoph war süß. Süßer als süß. Der süßeste Mensch der Welt? Nein – das auf jeden Fall nicht. Dazu müsste er sich schon etwas mehr anstrengen. Aber es war unmöglich, Jakes Platz zu stehlen. So romantisch und süß und toll wie Jakob – das konnte niemand sein. Nicht mal Christoph.

Und er war wirklich an mir interessiert. Wow. Er meinte es ernst.

Aber mir war klar, dass das nicht so weitergehen konnte. Ich konnte ja nicht einfach mit Christoph zusammen sein. Ich liebte Jake. Das war so und Christoph durfte diese Liebe nicht zerstören. Das ging nicht.

Ich seufzte und drehte mich auf die Seite.

Das mit den Jungs war schon so eine Sache. Einfach kompliziert. Und wieso war das Leben kompliziert? Wegen der Liebe, ganz klar. Die Liebe war an alldem schuld. Aber mal angenommen, es gäbe die Liebe nicht. Das wäre doch auch schrecklich, oder? Dann wäre ich jetzt nicht mit Jake zusammen – ein noch schrecklicherer Gedanke. Hm. Die Liebe war schon ganz cool, aber eben auch kompliziert. Na ja. Niemand konnte etwas dagegen tun. Und schon gar nicht Gott. Da konnte dieses Klosterinternat so viel reden, wie es wollte, Gott war nicht allmächtig. Er konnte die Liebe nicht wegnehmen.

Tja.

Du kannst eben nicht alles haben.

Mein soziales Umfeld

 

Mein soziales Umfeld

 

Firau Eichenstädt marschierte in den Klassenraum. Sie war mal wieder bestens drauf und grüßte jeden mit einem zuckersüßen Lächeln auf dem Gesicht.

Oh Gott. Nadja hatte erzählt, dass sie nur so guckte, wenn sie etwas sehr, sehr mathematisches vorhatte. Und das konnte nur etwas Schlechtes bedeuten.

Misstrauisch folgte ich ihr mit den Augen.

Frau Eichenstädt knallte die Schultasche auf ihr Pult und holte eine dicke, grüne Mappe heraus. Was war das denn? Normalerweise kam bei diesem Moment immer ihr brauner Ordner zum Vorschein.

„Oh nein!“, stöhnte Lukas neben mir auf.

„Was denn?“, fragte ich erstaunt. Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich womöglich bestätigt.

„Sie schreibt einen Test“, klärte Lukas mich auf.

„Was?!“, rief ich erschrocken aus. „Macht ihr das nicht immer am Ende des Schuljahrs?“

„Eigentlich schon“, seufzte Lukas, klappte sein Buch zu und räumte es samt seinen Heften in seinen Schulranzen. „Aber die Lehrer können trotzdem einen Test schreiben und auch eine Note darauf geben. Die meisten machen das nicht, aber die Eichenstädt... du siehst es ja.“

Entsetzt blickte ich auf Frau Eichenstädt, die anfing, die Blätter auszuteilen und die Schüler dazu aufzufordern, ihre Mathesachen wegzuräumen.

Ein Test? Na super. Wenn wir in Mathe einen unangesagten Test schrieben, konnte ich genauso gut ein leeres Blatt Papier abgeben.

„Ich will aber nicht“, flüsterte ich Lukas zu. „Lass mich abschreiben.“

„Was? Abschreiben? Bist du verrückt? Das sieht Frau Eichenstädt doch!“ Abschreiben war hier offenbar nicht sehr gewöhnlich.

Ich winkte ab. „Kein Problem. Das sieht die hundertprozentig nicht. Ich bin Profi im Abschreiben.“

„Ach ja?“ Lukas sah mich kritisch an. Offenbar zweifelte an meinen Fähigkeiten. „Schön. Aber nur dieses eine Mal.“

„Danke.“ Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Dafür hast du noch was gut bei mir.“

Lukas lief leicht rötlich an und schaute schnell auf das Blatt, das Frau Eichenstädt ihm reichte.

Ich nahm ebenfalls mein Blatt, zückte den Kugelschreiber und schielte sofort auf Lukas’ Blatt.

Dieser seufzte schwer und schob es weiter zu mir her. Dann begann er schnell zu schreiben.

Der Test lief im Allgemeinen also perfekt. Ich hatte so ziemlich alles von Lukas abgeschrieben.

Und Mathe war glücklicherweise fast zu Ende. Nur noch drei Minuten.

Lukas schob mir in diesem Moment einen kleinen Zettel zu.

Verwundert blickte ich ihn an, doch er grinste nur und seine Augen leuchteten voller Vorfreude. Was sollte das denn?

Hey ich fände es – weil du ja von mir abgeschrieben hast – gerecht, wenn ich auch einen Wunsch freihätte.

Ich seufzte. Na super. War ja klar.

Was denn?

Ich wünsch mir einen Kuss von dir. Nach der Stunde, auf dem Gang. Versprochen? Sonst sag ich Frau Eichenstädt alles.

Ich warf Lukas einen verärgerten Blick zu.

Auf dem Gang?! Musste das sein?

Lukas erwiderte meinen Blick völlig gelassen. Er würde sich nicht davon abbringen lassen.

Na schön. Aber nur, weil er mir geholfen hatte.

Ich nickte langsam und Lukas’ Lächeln wurde breiter.

Nach der Stunde packte ich meine Sachen extra langsam ein. Lukas sollte ruhig noch etwas draußen auf mich warten. Wenn ich Glück hatte, standen da dann ja nicht mehr so viele Schüler herum.

„Auf was wartest du denn?“, fragte Nadja ungeduldig. „Bis du das Tempo einer Schnecke erreicht hast? Ist dir gelungen, herzlichen Glückwunsch. Können wir jetzt gehen?“

Seit dem Brief von Christoph war Nadja unangenehm kühl zu mir. Das fühlte sich schrecklich an. Ich mochte Nadja so gerne, aber wenn sie auf einen sauer war, dann war das richtig schlimm. Es machte mich traurig, wenn Nadja in so einem verächtlichem Ton mit mir sprach.

„Ich komm ja schon“, murmelte ich, erhob mich und trottete mit Nadja – oder bessergesagt hinter Nadja, denn die ließ es nicht zu, dass ich mich ihr näherte – aus dem Klassenzimmer.

Draußen stand, wie zu erwarten, Lukas und grinste mich breit an.

Ich seufzte und stakste auf ihn zu.

„Wo gehst du hin?“, fragte Nadja misstrauisch.

„Ach, ich komm gleich nach“, erwiderte ich.

„Ist gut.“ Nadja hörte sich erleichtert an. Sie ging rasch davon.

Und ich wandte mich wieder zu Lukas. „Gut, aber mach’s kurz, ja? Ich will keinen ewig langen Kuss.“

„Hey“, flüsterte Lukas und beugte sich zu mir herunter. „Es war mein Wunsch, okay? Deshalb werde ich die Länge entscheiden.“

Ich biss mir auf die Lippen.

Doch ehe ich etwas erwidern konnte, lagen Lukas’ Lippen schon auf meinen, drängend und sehnsüchtig, wie beim letzten Mal.

Am liebsten würde ich seine kalten Hände wegdrücken und kreischend in mein Zimmer laufen, aber ich wusste, dass ich das jetzt durchstehen musste. Und ohne Einwende. Lukas wollte, dass es vollkommen war und echt. Das spürte man.

Widerwillig legte ich die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss, allerdings konnte ich den leichten, kalten Druck nicht verbergen.

Doch Lukas spürte es natürlich und umklammerte wütend mein Handgelenk. Wollte er mir jetzt auch noch die Hand zerquetschen?

„Mmmh... das machst du gut, Lea... viel besser als beim letzten Mal“, raunte Lukas mir ins Ohr.

Ich schauderte leicht. „Gut. War’s das jetzt?“

„Hast du es denn so eilig? Gerecht wäre es eigentlich, wenn wir hier eine Dreiviertelstunde stehen würden. Genau wie die Schulstunde.“

Das war zu viel.

Wütend schubste ich ihn von mir weg und blitzte ihn an. „Das ist nicht das Gleiche. Abschreiben und küssen kann man nicht vergleichen.“

„Ich schon“, erwiderte Lukas kalt, packte erneut meine Hände, legte sie grob um seinen Nacken und begann mich wieder zu küssen.

Ich versuchte mit aller Kraft, den Impuls zu unterdrücken, ihm auf den Kopf zu schlagen und wegzulaufen.

Es ging. So einigermaßen.

Nach ungefähr zehn Minuten – so kam es mir jedenfalls vor – ließ er endlich von mir ab. Sein Lächeln glänzte allerdings immer noch auf seinem blassen Gesicht.

„Ich bin stolz auf dich, Lea. Noch ein bisschen Übung und schon denken alle, wir seien ein echtes Paar“, grinste er.

Ich presste die Lippen aufeinander. „Ich geh jetzt. Tschüss.“

Dann wandte ich mich um und wollte gerade mit viel Theatralik davonrennen, als mein Blick auf Christophs geweitete Augen fiel.

Gott, wie peinlich.

„Äh... hi“, sagte ich zögernd.

Christoph verengte seine Augen. „Da haben wir’s also. Die Wahrheit. Du und Lukas, richtig?“

„Gott, nein!“, sagte ich schnell. „Das war doch nur so eine blöde Abmachung, weißt du, ich durfte von ihm in Mathe abschreiben und deswegen –“

„Lass gut sein, Lea“, murmelte Christoph. „Ich hab schon verstanden.“ Er warf einen abfälligen Blick auf Lukas. Dann drehte er sich um und marschierte eilig durch den Gang.

„Christoph!“, rief ich flehend. „Komm zurück!“

Doch er hörte natürlich nicht auf mich.

„Christoph, bitte!“ Ich stampfte mit dem Fuß auf. „Bitte!“

Er lief einfach weiter. Tatsächlich.

Ich verengte die Augen. Der sollte mir nicht davonkommen.

Dann fing ich an zu rennen.

Komisch, denn ich war eigentlich ein totaler Anti-Sportler. Und trotzdem – es grenzte schon an einem Wunder – sprintete ich durch den Gang hinter Christoph her. Er durfte doch nicht einfach weggehen, jetzt, wo ich doch endlich kapiert hatte, wie viel ich ihm bedeutete. Und... wie viel er mir bedeutete.

Ja, das war jetzt klar.

Ich rannte weiter, lief fast gegen umstehende Schüler und keuchte schon schwer. Mein Herz hämmerte gegen die Brust und mein Atem ging ungewöhnlich flach. Genau deshalb hasste ich Rennen. Wegen dem Schmerz und so weiter.

Christoph lief ungefähr fünf Meter von mir entfernt im Schritttempo. Das hieß schon mal, dass ich äußerst langsam war.

Ich keuchte und stützte mich ab. „Christoph! Bitte, jetzt sei doch nicht so kindisch!“

Keine Reaktion. Verdammt.

„Wieso glaubst du alles, was du siehst? Ich bin nicht mit Lukas zusammen! Ich kenn ihn doch gar nicht richtig! Ich... ich bin nicht an ihm interessiert! Wirklich nicht! Wieso glaubst du mir denn nicht? Christoph, bitte!“

Endlich. Christoph blieb stehen und drehte sich langsam zu mir um.

„Weißt du, Lea, das ist eine gute Frage.“ Er lächelte kaum merklich. „Wieso glaube ich alles, was ich sehe, hm? Tja. Das tue ich für gewöhnlich nicht, aber...“ Er nickte zu mir. „... das sah schon sehr echt aus.“

„Wieso um alles in der Welt sollte ich Lukas freiwillig küssen wollen? Er ist doch total gar nicht mein Typ“, erklärte ich kopfschüttelnd. „Ich wollte nur, dass er mich in Mathe abschreiben lässt und als Dank wollte er einen Kuss, mehr war das nicht. Keine Liebe – kein bisschen.“

„Er liebt dich.“

„Aber ich nicht ihn!“, rief ich gereizt aus. „Lukas ist... er ist einfach komisch, ich kann ihn echt nicht ausstehen! Und ich will mich nicht wegen so jemandem mit dir zerstreiten!“

„Wir waren nie wirklich befreundet“, erwiderte Christoph kühl.

„Waren wir... waren wir nicht?“, fragte ich überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Nein, tut mir leid.“

Ich spürte, wie meine Beine zitterten. Kälte packte mich und ich schauderte leicht. Was hatte er gesagt? Mein Gehirn begriff es nicht, es stellte sich dumm.

Christoph sah mich forschend an. „War das alles, was du zu sagen hast?“

Noch etwas verwirrt von seiner Aussage, stammelte ich: „Äh... ja, ja, glaub schon.“

„Na dann.“ Er nickte mir zu. „Tschüss, Lea.“

Ich starrte ihm fassungslos nach, während er um die Ecke bog.

Wie bitte?! Keine Freunde... hatte er das ernst gemeint? Nein, das konnte nicht sein, das... doch ich wusste eigentlich, dass Christoph nicht gelogen hatte.

Vielleicht waren wir mal befreundet gewesen, ein bisschen befreundet. Aber er hatte mir sagen wollen, dass wir jetzt nicht mehr befreundet waren. Es war aus mit der Freundschaft, Liebe, aus mit allem. Das hatte er mir gerade sagen wollen.

Aber wieso tat er das? Normalerweise war er doch immer zu Scherzen aufgelegt und hätte mir doch nur spöttisch auf die Schulter geklopft und irgendeinen nervigen Spruch abgelassen.

Und jetzt? Wieso reagierte er jetzt so extrem? War das etwa fair? Nein, überhaupt nicht. Ich hatte ihm doch nichts getan, das war doch nur Lukas’ blöde Bedingung. Aber mir glaubte ja keiner. Natürlich. Wenn ich log, sah das jeder, aber wenn ich die Wahrheit sagte, nicht. Ganz toll.

Etwas verstört machte ich mich auf den Weg ins Zimmer. Das durfte doch nicht wahr sein. Wieso ging hier alle schief? Das Internat war verflucht, eindeutig. Und jetzt konnte ich mich noch nicht mal bei Nadja ausheulen. Die war ja auch noch sauer auf mich. Na toll.

Wütend riss ich die Tür auf und knallte sie hinter mir zu. Das war einfach zu viel für mich. Schluss, aus, amen. Ich hatte Nadja und Christoph verloren. Sozusagen. Hm. Und das musste ich jetzt noch ein Jahr aushalten. Klasse. Gut gemacht, Lea.

Ich seufzte, ließ mich auf mein Bett nieder – wobei ich versuchte, Nadja nicht anzuschauen – und holte mein Handy heraus. Ich brauchte jetzt einen Ratschlag von Aniela. Es war lebenswichtig.

„Ich komm gleich wieder“, murmelte ich Nadja zu. Dann verließ ich eilig das Zimmer. Nadja durfte das Gespräch ja nicht mitkriegen. Das wäre ja sonst total bescheuert.

Schnell wählte ich draußen im Gang Anielas Nummer.

„Hallo?“, fragte meine beste Freundin etwas verschlafen. „Wer ist da?“

„Hey, ich bin’s“, sagte ich mit etwas gedämpfter Stimme.

„Lea?!“, rief Aniela überrascht aus. „Mensch, ich hab ja schon ewig nichts mehr von dir gehört! Wie geht’s dir? In der Schule? Mit deinen Freunden? Erzähl!“

„Ach, in der Schule läuft’s mäßig und mit meinen Freunden... eher schlecht.“

Aniela seufzte. „Du brauchst meinen Ratschlag.“ Das war keine Frage.

„Ja.“ Ich kratzte mich am Kopf. „Es geht um Christoph... und Nadja. Und vielleicht auch ein bisschen um Jake.“

„Na dann schieß los“, meinte Aniela, bereit auf einen langen Vortrag.

Und ich erzählte ihr alles. Mit jedem Detail. Und Aniela unterbrach mich kein einziges Mal.

Am Ende sagte sie nur: „Wow. Das ist echt scheiße.“

Ich wartete. Als nichts Weiteres mehr kam, fragte ich: „Und? Was ist jetzt dein Ratschlag?“

„Ach so, ja... klar...“ Aniela überlegte. „Ja, das ist eigentlich einfach: du musst mit Christoph reden. Logisch, oder? Da hättest du auch alleine draufkommen können.“

„Aber wie soll ich denn mit ihm reden?“, jammerte ich. „Er läuft bestimmt vor mir weg!“

„Puh.“ Aniela dachte wieder nach. „Dann... weiß ich auch nichts. Du musst es einfach versuchen. Bei einer Gelegenheit, wo er nicht einfach davonlaufen kann.“

„Toll“, maulte ich. „Hast du nichts Besseres zu bieten?“

„Hey, wieso sollte ich denn deine Arbeit machen?“, fragte Aniela empört. „Mach doch, was du willst. Oder red mit Jakob. Ich muss jetzt zum Tennis. Tschüss.“ Und schon hatte sie aufgelegt.

Verbissen starrte ich das Handy an.

Jetzt war auch noch Aniela auf mich sauer! Aaah, ich könnte schreien! Wieso kam ich mit meinem sozialen Umfeld einfach nicht zurecht?! Was war so falsch?

Und mit Jakob sollte ich reden? Der würde sich vielleicht aufregen, wenn er mitbekäme, dass ich Lukas geküsst hatte. Oder bessergesagt: dass Lukas mich geküsst hatte.

Nein, das ging auch nicht. Ach, verdammt.

Ich war ein Mensch von der Sorte, die es immer schafften, Leute wütend zu machen, obwohl sie es nicht wollten.

Wenn ich jetzt Jake noch anrufen würde, dann konnte ich mich endgültig von meinem sozialen Umfeld verabschieden. Dann waren alle sauer auf mich, alle. Und meine Mutter sowieso. Und Julia auch. Alle, die ich kannte, waren sauer auf mich. Überrascht stellte ich fest, dass Jakob ja nur noch der Einzige war, der mir blieb. Zugegeben, ich hätte mir Jake sowieso rausgesucht. Aber das mit Aniela und Nadja war schon ziemlich blöd gelaufen. Und das mit Christoph auf jeden Fall auch.

Aber konnte ich vor Jakob auch einfach gar nichts sagen? Das war fast unmöglich – Jake spürte immer, wenn es mir schlecht ging.

Hoffentlich rief Jakob also nicht an. Das wäre dann mein Weltuntergang.

Wie, als könnte er meine Gedanken lesen, klingelte mein Handy. Jakob, wie zu erwarten.

„Heeey du...“, sagte ich etwas zittrig.

„Hi, Schatz“, grüßte Jake mich. „Wie geht’s?“

„Passt schon.“ Eine klägliche Schauspielkunst. Aber egal.

Jake schwieg eine Weile. „Ich frag mich, wieso du mir deine Probleme nicht gleich sagst? Du weißt doch ganz genau, wie gut ich dich kenne.“

Ich seufzte. Und damit hatte er genau das ausgesprochen, vor dem ich Angst gehabt hatte. „Ich hab wirklich ein Problem. Oder bessergesagt: mehrere Probleme.“

„Und die wären?“

„Wenn ich’s dir sag, bist du bestimmt sauer.“ Bei der Vorstellung grauste es mich schon.

„Mal schauen.“ Jakob hielt kurz inne. „Aber könntest du mir mal erklären, wie du es immer schaffst, dich in solche Situationen zu verwickeln? Wieso kannst du nicht mal eine Woche ohne Probleme leben?“

„Das frag ich mich doch auch. Und ich hab das Gefühl, dass es irgendwie immer nur mir so geht.“

Jake lachte. „Ach was. Es gibt bestimmt noch mehrere Menschen, denen es genauso geht.“ Er machte eine kurze Pause. „Na ja, auch wenn es bei denen wahrscheinlich nicht ganz so schlimm ist wie bei dir.“

„Dankeschön.“

„Bitteschön.“

Ich seufzte. Jetzt würde es gleich kommen. Die Frage. „Was ist das Problem?“. Ich wartete.

„Also, Lea“, meinte Jakob schließlich. „Was ist das Problem?“

Ich kniff die Augen zusammen. „Okay, ich erzähl’s dir. Aber bitte nicht ausrasten.“

Und dann berichtete ich ihm alles, was passiert war. Genauso detailliert wie bei Aniela. Allerdings vermied ich es, zu sagen, was ich gefühlt hatte, als Christoph mir das mit der „nie-da-gewesenen“-Freundschaft gesagt hatte.

Als ich geendet hatte, herrschte lange Stille am anderen Ende der Leitung.

Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst: das letzte Mitglied meines sozialen Umfelds würde sich auch noch von mir verabschieden. Dann könnte in meinem Kopf gleich eine Trauerzeremonie des sozialen Umfelds stattfinden. Auch wenn wahrscheinlich gar keine Gäste kommen würden.

Na toll. Jetzt fing ich schon an in meinem Kopf Partys zu feiern. Erste Zeichen des Wahnsinns, eindeutig.

„Lea“, sagte Jakob schließlich.

Ich zuckte zusammen. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich wollte es nicht hören. Es fühlte sich an wie bei der Herausgabe von Tests. Man wollte die Note nicht wissen. So ging es mir jetzt auch.

„Lea“, setzte Jake noch mal an. „Bitte, wieso lässt du dich so leicht beeinflussen?“

„Hä?“, machte ich.

„Na, schau doch mal: dieser Lukas macht irgendwas für dich und bekommt dann alles von dir, was er will. Oder?“

„Doch nicht alles“, widersprach ich.

„Aber küssen zum Beispiel.“ Jake stieß einen missbilligen Laut aus. „Das ist für dich offenbar nicht so schlimm. Ich mein, küssen, das ist ja gar nichts. Einfach mal einen anderen Jungen küssen, was ist schon dabei?“

„Jake, bitte, es tut mir leid“, flüsterte ich.

„Tut es dir das nicht immer?“, fragte Jakob matt. „Weißt du, ich hab schon so vieles bei dir durchgehen lassen. Meinst du nicht, ich sollte mal etwas konsequenter sein?“

„Was... was meinst du jetzt konkret?“, fragte ich ängstlich.

„Du weißt, dass du einen, oder bessergesagt mehrere, Fehler begangen hast, richtig?“

„Richtig.“ Ich spürte, wie ich blass wurde.

„Und du weißt, dass ich... das nicht immer durchgehen lassen kann.“

„Weiß ich.“ Meine Stimme wurde schon leicht hysterisch.

„Deshalb glaube ich...“ Er machte eine kurze Pause. „... dass ich eine Auszeit brauche.“

„Was für eine Auszeit?“ Ich schluckte. „Wie meinst du das genau?“

„Nicht lange, nur für... ein paar Wochen. Ich glaube, dass tut mir ganz gut.“

„Was?“, rief ich entsetzt aus. „Mehrere Wochen?“ Solange nicht die Stimme von Jakob hören? Unmöglich. „Nein, das kannst du doch nicht machen!“

„Tjaaa. Ich muss einfach etwas konsequenter mit dir sein“, meinte Jake und ich merkte, dass er grinste. „Tut mir echt leid, aber Strafe muss sein.“

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Er war also nicht wirklich böse auf mich. „Danke“, murmelte ich.

„Ist schon in Ordnung.“ Jetzt klang Jakes Stimme wieder ernst. „Und stell nächstes Mal bitte nicht wieder so was Dummes an, ja?“

„Ich versuch’s.“ Und das meinte ich im Ernst. Ich nahm mir vor, Jakob nie wieder so wehzutun. Nie wieder. Das hatte er nicht verdient. Wirklich nicht.

 

Mit Jake hatte ich mich also wieder einigermaßen vertragen, was allerdings nichts an meinem Streit mit Christoph, Lukas und Nadja änderte.

Und das mit Aniela. Verdammt, die war ja auch noch sauer auf mich.

Das war jetzt alles ein Tag her. Der ganze Streit. Und irgendwie hatte sich nichts geändert.

Missmutig stocherte ich in meinem Abendessen herum. Nudelauflauf. Früher hatte ich das gemocht. Jetzt hatte ich gar keine Lust mehr auf gar nichts.

Wieso konnte man die Zeit nicht einfach vorspulen? Dann wären jetzt vielleicht nur noch zwei Monate bis zu meinem Abreisetag. Das wäre dann erträglich.

Aber man könnte die Zeit natürlich auch zurückspulen. Dann wäre ich schlauer und würde alles ändern, was ich getan hatte: ich würde nicht von Lukas abschreiben. Dann bekam ich zwar eine schlechte Note, aber Lukas hätte dann zumindest keinen Grund mich zu küssen. Und so wäre Christoph auch nicht sauer auf mich. Und Christophs Brief hätte ich natürlich nicht vor Nadja gelesen, sondern irgendwo anders. Und bei Anielas Anruf hätte ich ja dann gar keine Probleme gehabt, die ich ihr hätte sagen müsste. Dann wäre jetzt alles glatt gelaufen.

Ich würde hier mit Nadja, Lukas und vielleicht sogar mit Christoph sitzen, wir würden uns unterhalten, würden lachen, und uns alle gut vertragen.

Wieso war das nicht gleich so gelaufen? Weil ich einfach nicht mit meinem sozialen Umfeld zurecht kam – ganz klar. Ich sollte nächstes Mal nachdenken, bevor ich irgendwas sagte oder tat. Aber hätte ich das alles denn voraussehen können?

Nachdenklich schaute ich zu Nadja hinüber, die zusammen mit Lukas an einem Tisch saß und sich mit ihm unterhielt.

Hätte ich denn ahnen können, dass Nadja so auf den Brief reagieren würde? Hätte ich nicht erwartet, dass sie sich für mich freut? Doch, natürlich hätte ich das. Wieso hatte Nadja mich eigentlich nicht unterstützt?

Das war eine gute Frage.

Ich legte mein Besteck zur Seite und stand auf. Ich musste irgendwohin, wo es ruhig war und wo ich mich konzentrieren konnte, weil ich brauchte jetzt wirklich Zeit zum Nachdenken.

Entschlossen ging ich durch die Halle, öffnete die Tür und wäre wieder mal fast in Julia reingelaufen.

Wieso stand sie eigentlich immer hinter den Türen oder Gängen, wo ich hinging?

„Ach, hallo, Lea“, begrüßte Julia mich. Komisch. Kein gemeiner oder spöttischer Unterton. „Mit dir wollte ich sowieso nochmal reden.“

Ich zog eine Braue hoch. „Aha?“

„Ja... es geht um Christoph.“ Sie sah mich forschend an.

Na toll. War ja irgendwie klar gewesen, was sonst verband Julia und mich? „Aha“, sagte ich wieder.

„Nun gut. Also. Ich glaube... ich glaube, dass Christoph mehr für dich empfindet als Freundschaft.“

Ich biss mir auf die Lippen. Das wusste ich ja auch schon. „Aha.“

Julia seufzte und warf ihre goldenen Locken nach hinten. Ein paar Jungen hinter ihr fixierten sie schüchtern, die Mädchen eher frustriert.

„Also, Lea.“ Sie blickte mich durchdringend an. „Deshalb wollte ich dich fragen... was du für ihn empfindest.“

Ich zuckte die Achseln. Das ging Julia doch wirklich nichts an.

„Komm schon. Ich sag’s ihm auch nicht.“ Sie schenkte mir ein breites Lächeln, für das jedes Model der Welt alles gegeben hätte.

Ich warf ihr einen verärgerten Blick zu. Vielleicht hatte sie gedacht, sie könnte mich mit ihrem Lächeln faszinieren wie die anderen, aber da täuschte sie sich gewaltig. „Was interessiert dich das?“

„Ich mach mir so schreckliche Sorgen um Christoph.“ Tatsächlich sah ich ihn Julias Augen Schmerz aufflackern. „Er benimmt sich so komisch... und ich sehe, dass er ungemein traurig ist. Und ich glaube, dass es...“ Julia seufzte. „Ich glaube, es ist wegen dir. Er hat Liebeskummer.“

„Ich mach doch gar nichts!“, widersprach ich. Denn für den Kuss mit Lukas konnte ja nicht wirklich was. Es war ja sein Wunsch gewesen.

„Er denkt, du bist mit Lukas zusammen“, klärte Julia mich auf.

„Ich bin aber mit Jakob zusammen!“, rief ich wütend aus. „Es ist mir doch egal, was Christoph denkt!“ Das stimmte zwar nicht, aber Julia musste ja nicht alles wissen. „Wenn er alles glaubt, was er sieht, ist er selber schuld!“

Julia musterte mich scharf. „Du... du liebst Christoph gar nicht, oder?“ Damit hatte sie offenbar überhaupt nicht gerechnet.

„Natürlich nicht“, sagte ich leicht zitternd.

Stimmte das? Ich wusste selber nicht, ob ich gerade log oder nicht.

„Oh okay.“ Julia senkte langsam den Kopf. „Na ja... ich... ich... dann kann ich es ihm ja sagen.“

„Was?“

„Dass du ihn gar nicht liebst.“

„Ach so.“ Ich zögerte. Christoph war sowieso schon sauer auf mich, also würde es ihm nicht viel ausmachen, wenn er das auch noch erfuhr. Obwohl, eigentlich wusste er das doch schon, oder? Hm.

„Ähm... ja, klar, sag’s ihm.“

Julia nickte, warf mir noch einen durchdringend Blick zu und rauschte dann an mir vorbei in den Speisesaal.

Ich senkte den Blick. Ich wusste nicht, ob ich gerade richtig oder falsch gehandelt hatte. Christoph würde sich sicher nicht freuen, aber Julia hatte ich wahrscheinlich beruhigt.

Kopfschüttelnd lief ich nach draußen in den Garten.

Es war schön hier.

Ein kühler Wind strich über mein Gesicht, der lange Bach vor mir plätscherte fröhlich vor sich hin und ein paar Vögel flogen zwitschernd über mich hinweg. Kein anderer Mensch war sonst noch hier.

Erleichtert und mit einem unbekannten freien Gefühl schlenderte ich zu einer großen Trauerweide, deren Zweige tief in den Bach hineinhingen.

Ich tauchte meine Hand in das kühle Wasser. Schön erfrischend war das.

Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich an den alten Baumstamm.

Jake würde das hier sicher auch gefallen. Denn er war ja – das hatte man an dem Picknick gesehen – auch eher der romantische Typ.

Ich lächelte. Ja, mit Jakob hier zu sitzen wäre bestimmt schön.

Meine Hand war schon auf halbem Weg zu meinem Handy, als mir einfiel, dass Jakob ja nicht mehr mit mir redete.

Aber ich musste zugeben, dass ich mir das selber eingebrockt hatte. Und Jake war ja eigentlich viel zu lieb gewesen. Wäre es nicht gerechter gewesen, wenn er mich gleich verlassen hätte? Ja, das wäre vermutlich das Beste gewesen. Also, das Beste für ihn. Sonst könnte es ja sein, dass ich ihn nochmal verletzen würde, irgendwann. Das hatte Jake einfach nicht verdient. Und Christoph auch nicht.

Wieso hatten die zwei sich nur ausgerechnet in mich verliebt?! Es wäre eindeutig besser, wenn sie sich in zwei andere Mädchen verliebt hätten. Nadja und Aniela zum Beispiel. Die zwei hatten mich auch nicht verdient.

Mein Blick fiel auf etwas, das im Gras lag.

Es war ein kleines, leichtes Buch mit schwarzen Ledereinband.

Überrascht hob ich es hoch und drehte es um. Ich stöhnte auf. Das war ja so was von klar gewesen.

Die silbernen Lettern blätterten schon etwas ab, aber man konnte trotzdem noch die Wörter Die Bibel erkennen.

Ich schlug das Buch auf und überflog die Seiten. Wer las das denn freiwillig? Das war doch wirklich nicht sonderlich spannend.

Da stutzte ich. Hatte da jemand reingekritzelt?

Ja, tatsächlich. Pfeile gingen quer über die Seiten, durch das halbe Buch, bis zu einer Seite. Der Pfeil deutete auf einen Abschnitt des Hohelieds.

 

Sehnsucht

Ich ging hinunter ins Tal, in den Garten, wo die Walnussbäume stehen. Ich wollte sehen, ob die Bäume schon blühen, ob der Weinstock neue Blätter treibt und ab am Granatbaum Knospen sprießen. Ohne dass ich es merkte, trieb mich die Sehnsucht zu meinem Mädchen, hin zu meiner Liebsten.

 

Ich musterte den Abschnitt scharf.

Wem gehörte diese Bibel? Wer hatte diesen Abschnitt eingemerkt?

Entschlossen stand ich auf und machte mich auf den Weg ins Sekretariat. Ich würde die Bibel dort einfach abgeben, dann würde ich warten, bis der Besitzer die Bibel abholte.

Schon süß irgendwie. Eigentlich ganz nette Gedichte oder Lieder oder was auch immer das war. Vielleicht war die Bibel ja doch nicht so schlimm. Zwar ich würde ich wahrscheinlich nie auf die Idee kommen, die Bibel ganz durchzulesen, aber ein paar Sachen waren sicher ganz nett geschrieben.

Im Sekretariat angekommen reichte ich der Dame hinter dem Tresen die Bibel.

Sie sah mich überrascht an. „Wo hast du die denn gefunden?“

„Die lag draußen am Bach“, meinte ich achselzuckend. „Und ich dachte, wenn jemand die vermisst, dann kann er sie hier abholen.“

„Das ist aber schön, dass du sie nicht selber eingesteckt hast“, meinte die Dame lächelnd.

Ja, als ob ich das tun würde. „Hm-mmh“, erwiderte ich nur.

Die Sekretärin legte die Bibel auf ihren Schreibtisch. „Brauchst du sonst noch irgendwas?“

„Nein, das war alles. Tschüss.“

„Mach’s gut, Lea”, lächelte die Sekretärin.

Ich wandte mich um und verließ eilig den Raum. Eine gute Tat am Tag – nicht schlecht für mich.

Gut gelaunt marschierte ich in unser Zimmer. Mir war es relativ egal, ob Nadja darin war. Wenn sie nicht mehr mit mir redete, warum sollte ich mich dann um sie scheren?

Ich öffnete die Tür und... erstarrte.

War das hier eine Versammlung? Eine Verschwörung gegen mich?

Nadja, Lukas, Julia und Christoph saßen alle zusammen im Kreis in dem Raum und hatten die Köpfe zusammen gesteckt.

Jetzt fuhren sie alle zusammen und starrten mich entsetzt an.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Äh... hi...?“

Christoph verengte seine Augen und wandte sich von mir ab.

Ich blickte schnell zu Julia. Sie zuckte die Achseln und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Aha. Sie hatte es ihm also doch gesagt.

Nadja und Lukas musterten mich abschätzend. Offenbar waren sie auch nicht sonderlich begeistert, mich zu sehen.

„Lasst euch nicht von mir stören“, sagte ich leicht zitternd, ließ mich auf mein Bett fallen und holte mein Buch heraus.

Die vier sahen sich stirnrunzelnd an. Dann meinte Lukas leise: „Ist doch egal. Sie kann es ja hören.“

„Ja?“ Nadja klang unsicher.

Ich schaute nicht zu ihnen herüber und tat so, als wäre ich vollkommen gefesselt von der Geschichte.

Schon bald fingen alle vier an zu flüstern, immer wieder hörte man das Rascheln eines Blocks oder das Kratzen von Stiften auf den Blättern.

Ich hörte mit Absicht weg. Ich hatte kein Interesse, alles mit zu kriegen, was sie über mich redeten.

Doch dann wurden wir alle durch einen schrillen Ton unterbrochen.

Ich spürte, wie ich leicht rot anlief, holte schnell mein Handy aus der Hosentasche und blickte auf den Display. Ich stockte und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Jakob rief an? Hatte er nicht gesagt, er wollte nicht mir mit mir reden?

Ich strahlte, drückte auf den grünen Knopf und sagte: „Na, das ist aber mal eine Überraschung.“

„Ich hab es selber nicht ausgehalten“, lachte Jake. „Ich wollte wissen wie’s so mit Christoph und Nadja geht.“

„Öhm...“ Ich starrte hinüber zu den vieren. Alle blickten scharf zurück. „Tja... sie sind immer noch sauer auf mich, aber das ist ja egal. Ich verbring das restliche Jahr einfach mit Telefonaten mit dir und Annie und dann wäre es, als wären Annie und du auch hier.“

Jakob lachte wieder. „Gute Taktik.“ Er hielt kurz inne. „Sind sie denn gerade hier?“

„Ja... sie sitzen alle vier neben mir. Lukas und Julia sind auch da.“

„Julia?“

„Christophs Freundin.“

„Ach so.“

Christoph und Julia sahen mich stirnrunzelnd an.

„Ja... und wie geht’s dir so?“, fragte ich unschlüssig. Ich wusste nicht, wie viel ich erzählen konnte.

„Ach, ganz gut. Ist halt etwas stressig mit der Schule und so.“

„Hm...“ Das Gespräch war nicht sehr einfallsreich.

„Ist Christoph auch da?“

„Ja, der auch.“ Ich starrte Christoph wütend an. „Leider.“

Christoph erwiderte den Blick ebenso giftig.

„Ist er sehr sauer auf dich?“

„Ja.“

„Und wieso?“

„Weil er denkt, dass ich mit Lukas zusammen bin.“ Jetzt schaute ich Lukas zornig an und der blickte schnell auf seine Hände. Er war anständig.

„Und was ist mit Nadja?“

Ich sah meine ehemalige Freundin fragend an. Nadja zuckte die Achseln. Aber wenigstens war ihr Blick nicht wütend. „Ich weiß es nicht. Wir reden halt nicht mehr miteinander.“

„Das tut mir leid. Und Annie?“

„Ach, Annie...“ Ich seufzte. „Ich weiß auch nicht, die hatte gestern eben so einen Zickenanfall, du kennst sie ja. Ich denke, dass legt sich schnell wieder.“

„Hoffentlich. Das wird sicher schon wieder. Ich glaub an dich.“ Jake hielt kurz inne. „Und ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Ich schlug die Augen nieder. „Weißt du, Jake, was ich mich manchmal frage?“

„Nein.“

„Ich frage mich manchmal, was aus uns mal später wird.“

„Ah... und zu welchem Ergebnis ist du gekommen?“

„Ich weiß es nicht.“ Wieder schaute ich zu Christoph. Dieses Mal war sein Blick nicht wütend. Eher enttäuscht. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass Jakob am Telefon war.

„Ich glaub nicht, dass wir das jetzt regeln müssen“, meinte Jake nach einer Weile.

„Ich auch nicht.“ Ich wandte mich an Nadja. „Und du richtest Annie Grüße aus, okay?“

„Mach ich.“

„Ich mach jetzt Schluss, Jake.“

„Okay... aber meld dich bald wieder.“

„Du wärst mit der Strafe nie zurecht gekommen“, lachte ich.

„Nein, und du sicher auch nicht.“ Jake grinste offenbar auch.

„Also, mach’s gut. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch. Pass auf dich auf.“

Dann legte er auf.

Ich lächelte, steckte das Handy zurück in meine Tasche und warf den vieren einen kurzen Blick zu. „Ihr könnt ruhig weitermachen, lasst euch von mir nicht ablenken.“ Dann schnappte ich mir wieder das Buch.

Gleiche Gefühle

 

Gleiche Gefühle

 

Es waren jetzt genau zwei Monat vergangen. Zwei Monate. Und das war vermutlich die schlimmsten Monate meines Lebens gewesen.

Denn Nadja, Christoph und Lukas redeten immer noch nicht mit mir. Sie waren immer noch sauer, beleidigt, enttäuscht, keine Ahnung. Und ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich hatte in diesen Monaten schon so oft versucht, mit ihnen zu reden, aber es hatte ja alles keinen Sinn. Wahrscheinlich würden wir uns nie wieder vertragen. Oder zumindest nicht in den nächsten zehn Monaten.

Wenn ich mal genau drüber nachdachte, war unser Streit total albern.

Nur wegen einem Brief gleich beleidigt sein? Nur wegen einem Kompromiss nicht mehr mit einem reden? Und nur wegen einer Liebe zu jemand anderem, einen ständig in blöde Situationen bringen? Und ganz im Ernst: wieso war Julia jetzt auch noch sauer auf mich? Klar, sie mochte mich noch nie – was ich ehrlichgesagt nie wirklich verstanden hatte – aber neulich da hinter der Tür war sie ja etwas aufgeschlossener gewesen. Und jetzt? Jetzt schien sie mich plötzlich noch mehr zu hassen. Na klasse. Vier gegen einen. Ich hatte ja gleich gesagt, dass das mit dem Internat nicht hinhauen würde.

Jedenfalls herrschte jetzt hier absolute Funkenstille. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich die gesamte Jahrgangsstufe gegen mich verschworen hatte. Wahrscheinlich hatten die vier irgendwas über mich erzählt, weil wieso sonst würden mich alle wütend anschauen, wenn ich an ihnen vorbeiging?

Und meine Leistungen in der Schule waren auch schlechter geworden. Denn es hatte sich herausgestellt, dass viele Lehrer hier doch kleine Tests zwischendurch schrieben.

Das sei jetzt eben so in der 11. Klasse, behaupteten alle.

Wir hatten in diesem Monat bestimmt schon ungefähr zehn Tests geschrieben. Zehn Stück!!! Und es waren so ziemlich alle bescheuert gelaufen. In Mathe stand ich inzwischen auf einer Fünf. In den anderen Fächern stand ich entweder auf einer Drei oder auf einer Vier. Bestenfalls eine Zwei aber das kam nur ganz selten vor. Meine einzig guten Fächer waren Französisch und Deutsch.

In den anderen Fächern konnte ich mich einfach nicht mehr konzentrieren. Immer wenn ich versuchte zu lernen, schweiften meine Gedanken zu den vieren, was sie machten und wie es weitergehen würde. Und in Mathe war ich sowieso nie eine große Leuchte gewesen. Das Gute war, dass meine Stärken in Sprachen lagen, sodass ich auf Deutsch und Französisch nicht sonderlich viel lernen musste und trotzdem eine gute Note schrieb. Das war sehr praktisch.

Aber – und das war etwas, das ich nie gedacht hätte – ich stand in Religion ebenfalls auf einer Eins. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das hinbekommen hatte, aber in dem letzten Test hatte ich volle Punktzahl bekommen und inzwischen fing ich an, die Bibelstellen, die wir bearbeiteten, zu verstehen und auch manchmal zu mögen. Vielleicht war die Bibel doch relativ hilfreich. Oder jedenfalls nicht so blöd, wie ich am Anfang geglaubt hatte.

„Lea, was hältst du davon?“, fragte Frau Eichenstädt lächelnd.

Ich fuhr zusammen und blickte hoch. Schon wieder war ich mit den Gedanken abgeschweift. „Äh, ich weiß nicht...“ Verstört versuchte ich mich daran zu erinnern, was ihre Frage gewesen war.

„Hast du mal wieder an etwas Anderes gedacht, meine Liebe?“

„Hm-mmh“, machte ich.

„Tut mir leid, Lea, aber“, meinte Frau Eichenstädt und wandte sich um, „du bist in letzter Zeit sooft unaufmerksam, ich habe das Gefühl, du bekommst gar nichts mehr vom Unterricht mit.“

„Hm-mmh“, machte ich wieder.

Frau Eichenstädt sah mich an, ihre Miene verfinsterte sich. „Ich fürchte, dafür muss ich dir einen Brief nach Hause schicken.“

Ich nickte. „Ist gut.“

Mir war es total egal, ob ich einen Brief bekam. Was machte das schon in Mathe aus? Eine Strafe mehr oder weniger – das änderte eh nichts mehr an meiner Note. Und ganz ehrlich: was bedeuteten schon Noten?

Frau Eichenstädt fand meine Reaktion offenbar sehr unpassend. „Ist dir ein Warnbrief denn völlig egal?“

„Warum?“, fragte ich teilnahmslos. „Sollte er denn wichtig sein?“

Frau Eichenstädt schürzte die Lippen. „Übermorgen ist er da.“

„Klar“, murmelte ich.

Dass ich so leise sprach, verstand sie offenbar so, dass es mir doch nicht recht war und dass ich mich schämte. Sie grinste mich triumphierend an. „So und jetzt fahren wir fort mit dem Stoff.“

Nach der Stunde – es war zum Glück die letzte gewesen – marschierte ich schnell ins Sekretariat. Das machte ich jetzt schon automatisch nach einem Monat. Ich wollte immer wissen, ob ein Brief für mich angekommen war. Natürlich nicht von Aniela, das erwartete ich ja im Leben nicht, aber Jakob wollte mir mal wieder schreiben.

Ich klopfte an die Tür. Doch gerade, als ich sie aufmachen wollte, wurde sie schon von innen aufgerissen.

Christoph rempelte mich grob an und stampfte dann regelrecht den Gang entlang.

Verwundert blickte ich ihm nach.

Was war denn mit dem los? Irgendwas beschäftigte Chris, das hatte ich schon in letzter Zeit bemerkt. Immer wieder blickte er grimmig vor sich hin, fing an, nicht mehr mit Nadja, Lukas und Julia zu reden und manchmal sah ich ihn vom Fenster aus im Internatsgarten, wie er an der Trauerweide saß und nachdachte. Es würde mich zwar interessieren, was ihn so beschäftigte, aber ich wagte es nicht, ihn anzusprechen.

„Ach, hallo, Lea“, sagte die Sekretärin freundlich. „Hier ist tatsächlich ein Brief für dich.“

Die Sekretärin hatte sich schon an mich gewöhnt und ich brauchte gar nicht mehr zu fragen, sie sagte mir die Antwort schon vorher.

Und jetzt hatte sie endlich den Satz ausgesprochen, auf den ich ein Monat lang gewartet hatte.

Strahlend hüpfte ich auf sie zu, riss ihr den weißen Umschlag aus der Hand, rief ein kurzes: „Danke!“ und tänzelte aus dem Raum. Ein Brief, ein Brief, ein Brief!!!

Strahlend blickte ich auf den Absender... und erstarrte.

Bitte? Wie... was... hä?!

 

Aniela Berger

 

Da stand tatsächlich der Name meiner besten Freundin! Hatte sie es sich anders überlegt? Wollte sie mir wieder verzeihen? Oder war das ein Wutbrief? Na ja, egal, hauptsache es war ein Brief von ihr! Das hieß schon mal, dass sie mich nicht vergessen hatte.

Eifrig riss ich den Umschlag auf, entfaltete das Papier – merkwürdigerweise war es rosa – und fing an zu lesen.

 

 

Hey , Lea.

 

Du wunderst dich bestimmt, dass ich dir schreib, aber ich hab mich jetzt endlich entschieden.

Und zwar wollte ich mich bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid, ich hab am Telefon richtig überreagiert, es tut mir so leid. Wirklich. Ich weiß auch nicht, wieso ich so komisch war, aber ... ich glaub, ich war zur Zeit einfach schlecht auf dich zu sprechen. Du weißt ja ... das mit Jakob. Ich fühl mich einfach bescheuert.

Die ganze Zeit trauert er dir nach und lässt mich irgendwie völlig im Stich, er ... er beachtet mich einfach nicht und ich hab keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Weißt du, du hast es echt gut. Nicht, dass du jetzt im Internat bist – das ist ja echt scheiße :-) – sondern, dass du mit Jake zusammen bist. ich wünschte, ich hätte auch so einen Freund. Vielleicht sollte er nicht die gleichen Haare haben (ich steh nicht so auf braune Haare), aber zumindest Jakes Charakter. Du hast es so gut. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen Freund und bei dir ist der erste gleich ein Volltreffer. Wie machst du das?! Kannst du mir nicht irgendwelche Tipps geben?

Tut mir leid, wenn ich dich jetzt damit nerve, aber ich ... ich wollte das nur mal loswerden. Und ich hoffe, dass unsere Freundschaft dadurch nicht kaputt geht, also sprich, ich hoffe, dass ich mich noch einigermaßen zusammenreißen kann.

Ich hab dich sehr lieb, Lea, und ich will dich nicht verlieren.

Schreib schnell zurück oder ruf einfach an. Ich hab mein Handy ja immer bei mir.

Grüße an Nadja und Christoph und all die anderen.

 

Annie

 

 

Ich seufzte und steckte den Brief ein. Ja, mit so was hatte ich wohl schon gerechnet. Tief in mir drin. Aniela war immer noch in Jake verliebt, da konnte ich nichts machen.

Und was sollte ich ihr zurückschreiben? Hey, Annie, tut mir leid, aber du kriegst Jakob nicht und so einen tollen Menschen wie ihn gibt’s kein zweites mal auf der Welt.

Ich biss mir auf die Lippen und lehnte mich an ein Fenster. Ich hoffte inständig, dass Aniela sich bald wieder beruhigte. Sonst könnte es bald so weit sein, dass ich mich zwischen Jakob und Aniela entscheiden musste. Und das könnte ich nicht, nie. Beide waren mir unglaublich wichtig und... oh Gott. Wenn das wirklich kommen würde, dann... das hieß ja, ich würde einen von beiden verlieren! Vielleicht sogar für immer.

Nein, ich musste etwas unternehmen.

Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster. Ich stutzte, blinzelte und starrte angestrengt zum Bach runter. Tatsächlich. Da saß schon wieder Christoph.

Ich kniff die Augen zusammen. Und was hielt er da in der Hand? Ein Buch?

Schnell öffnete ich das Fenster und beugte mich über den Rand heraus nach unten.

Ja, das war anscheinend ein Buch. Aber nicht irgendein Buch. Es war die Bibel. Und zwar die Bibel. Tatsächlich.

Moment mal – hieß das, dass er das gewesen war??? Er hatte diese Stelle mit der Sehnsucht eingemerkt? Christoph war das gewesen?

Na klar! Deshalb hielt er auch die Bibel in der Hand. Und deshalb war er auch so wütend aus dem Sekretariat gestampft – weil er erkannt hatte, dass jemand die Stelle gelesen hatte.

Ich lächelte. Christoph hatte eine so romantische Stelle gelesen? Und sich gemerkt? Wie süß!

Entschlossen wandte ich mich um und lief mit schnellen Schritten zum Ausgang. Jetzt musste ich mit ihm reden, unbedingt. Denn irgendwie bekam ich das Gefühl nicht los, dass die Stelle irgendetwas mit mir zu tun hatte. Das hörte sich jetzt komisch an, aber vielleicht hatte er ja bei der Stelle an mich gedacht...?

Ich öffnete das Tor und trat hinaus in den Garten. Da saß Christoph immer noch, er hatte die Augen geschlossen, das sah ich schon von Weitem.

Christoph bemerkte mich nicht, als ich neben ihm stand. Er hatte die Augen immer noch geschlossen. Die helle Sonne glänzte auf seiner leicht bräunlichen Haut und seine Hände umklammerten tatsächlich dieselbe Bibel, die ich neulich gefunden hatte.

Ich legte den Kopf leicht schief und versuchte mich möglichst leise neben ihn zu setzen. Ich schaffte es sogar trotz meiner Ungeschicklichkeit. So konnte ich ihn besser betrachten.

Christoph sah gut aus. Sehr gut sogar.

Seine schwarzen Haare standen zwar nach allen Seiten ab, aber ich hatte das Gefühl, dass das zu seiner Persönlichkeit gehörte wie seine Cap, die er im Moment allerdings nicht aufhatte.

Ich seufzte leise, setzte mich auf einen großen Stein gegenüber von Christoph und tauchte mit meiner Hand in das kühle Wasser. Mmmh... wenn Christoph jetzt nicht sauer auf mich wäre und wüsste, dass ich hier saß, könnte das sogar eine sehr romantische Szene werden. Könnte.

Und dann passierte natürlich das, was passieren musste.

Ich wollte mich an einer Wurzel abstützen, hatte aber nicht bedacht, dass das Holz sehr glitschig und mit Moos bedeckt war.

Also rutschte ich natürlich ab, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem lauten Schreckensschrei und einem großen Platscher – wobei auch blöderweise Wasser auf Christophs Gesicht fiel – in den Bach.

Oh mann, war der Bach tief, das hätte ich nie gedacht.

Ich tauchte vollständig unter. Blind streckte ich die Hände aus und griff in irgendwas Spitzes hinein.

Ich stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, von dem man aber zum Glück nichts außer großer Blubberblasen merkte. Wütend stieß ich mich vom Boden ab und stieg nach oben durch die Wasseroberfläche.

Bah. Kaltes Wasser. Ich hasste es.

Sofort fing ich an zu zittern und blickte auf meine Hand. Tatsächlich steckte eine große, schwarze Dorne in der Haut und die Innenfläche der Hand war mit Blut überströmt. Ich verzog das Gesicht und zog die Dorne schnell heraus.

Ein leichter Schmerz durchzuckte mich, doch ich presste meine Lippen aufeinander – möglichst darauf bedacht, keinen Schmerzensschrei auszustoßen, schließlich saß Christoph ja direkt neben mir. Oh Gott. Stimmt ja. Christoph saß neben mir!

Ich wirbelte schnell herum – etwas zu schnell. Ich wankte sofort wieder, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig an der Wurzel festhalten, an der ich vorher abgerutscht war.

Christoph hatte die Augen geöffnet und blickte mich irritiert an. Wie peinlich. Sein gesamter Körper war mit Wassertropfen bedeckt und auch seine Bibel war etwas durchnässt.

Ich spürte, wie ich rot anlief, und senkte schnell den Kopf. „Tut mir leid.“

Christoph seufzte, legte seine Bibel auf die Seite und fuhr sich über seine Haare. Wassertropfen flogen durch die Gegend. Sah irgendwie elegant aus.

Ich lächelte unwillkürlich.

„Was ist?“, fragte Christoph scharf.

„Nichts“, sagte ich hastig. „Ich hab mir nur gedacht, dass... ach, egal.“

Christoph starrte mich unverwandt an. Dann ließ er sich wieder nieder und klopfte auf den Platz neben sich. „Willst du nicht mal rauskommen? Ich glaub, das Wasser ist etwas zu kalt für Mädchen.“

Ich verdrehte die Augen. Typisch. Und dennoch konnte ich der Aufforderung nicht widerstehen, denn vielleicht hieß das, dass Christoph sich wieder mit mir vertragen wollte.

Rasch sprang ich aus dem Wasser und stolperte natürlich sofort über diese blöde Wurzel. Doch bevor ich hart auf meiner verletzten Hand landen konnte, hatte Christoph mich schon aufgefangen.

Schon wieder wurde ich rot. „’tschuldigung.“

„Kein Problem“, grinste Christoph. Er hatte sich offenbar amüsiert.

Wäre ich jetzt nicht scharf darauf gewesen, mich wieder mit ihm zu vertragen, wäre ich jetzt wahrscheinlich entschlossen davonstolziert.

Ich seufzte und setzte mich neben ihn. „Hab ich dich vorher erschreckt?“

„Schon“, nickte Christoph. „Das nächste Mal wendest du aber bitte eine freundliche und weniger aufwändige Geste an, um mich zu begrüßen, ja?“ Dann setzte er mein Lieblingslächeln auf.

Es war so schön, dass ich mich gar nicht über seine Bemerkung aufregen konnte. „Geht klar.“

Christoph wandte sich wieder von mir ab und starrte auf den blauen Himmel. Heute war er mal wieder nicht sehr gesprächig.

Ich wischte mir über die Haare. Pitschnass. War so klar, dass mir das passieren würde.

Dann wandte ich mich wieder an Christoph.

„Worüber hast du vorher nachgedacht, als ich hergekommen bin?“, fragte ich neugierig.

„Alles mögliche“, sagte er achselzuckend. Doch ich hatte das Gefühl, dass er nicht ganz die Wahrheit sprach. „Über dich, mich, Nadja, Lukas, Jakob, keine Ahnung...“ Seine Augen nahmen einen merkwürdigen verträumten Ausdruck an. Was dachte er wohl jetzt schon wieder?

Ich lächelte schwach. „Warum warst du eigentlich so sauer auf mich?“ Es war das Thema, das ich eigentlich gerne übergangen hätte, aber ich wusste, dass wir uns darüber aussprechen mussten.

„Hast du das immer noch nicht begriffen?“, fragte Christoph kopfschüttelnd.

Ich seufzte. „Ich hab nicht verstanden, warum du so extrem reagiert hast. Du weißt doch ganz genau, dass zwischen Lukas und mir nichts läuft.“

„So?“ Christoph drehte sich zu mir um. „Vielleicht wusste ich das. Aber ich wollte das eben lieber kontrollieren.“

„Ich würde nie etwas mit einem anderen Jungen anfangen“, erklärte ich Christoph. „Ich bin mit Jake zusammen. Ich glaube, so gut kennst du mich schon.“

„Ja, so gut kenne ich dich.“ Christoph blickte wieder in den Himmel. „Tief in mir drin wusste ich auch, dass du nie etwas mit jemand anderem anfangen würdest.“

„Aber wieso... wieso hast du dann so reagiert, wenn du es doch wusstest? Ich mein... ich würde nichts mit ihm anfangen, niemals.“

„Das weiß ich.“ Christoph senkte den Blick. „Aber ich habe vielleicht gehofft, dass du anders denkst. Auch wenn ich in meinem Inneren sicher war, dass du es nicht tust.“

Er blinzelte und biss fest auf seine bebenden Lippen.

Automatisch griff ich nach seiner Hand. So gerne würde ich ihn glücklich machen. Aber ich wusste nicht wie. Und wenn ich ihn so leiden sah, würde ich am liebsten die Arme ausbreiten und ihn ganz fest umarmen. „Was kann ich für dich tun?“

Er schüttelte leicht den Kopf. „Gar nichts. Es ist schon okay.“

Ich seufzte und lehnte mich an seine Schulter und er legte seinen Arm um mich. Es war schön, hier mit ihm zu sitzen. Zu schön, das wusste ich. Ich empfand viel zu viel für ihn, das durfte ich eigentlich nicht. Und doch konnte ich nichts dagegen machen.

„Ich dachte schon“, sagte ich leise, „wir wären für den Rest des Jahres zerstritten.“

„Das hätte ich niemals ausgehalten“, erwiderte Christoph wahrheitsgemäß.

„Ich auch nicht.“ Nein, das hätte ich allerdings nicht. „Aber was mach ich jetzt mit Nadja? Die wird jetzt den Rest des Jahres nicht mehr mit mir reden.“

Bei der Vorstellung traten mir Tränen in die Augen.

„Quatsch.“ Christoph strich mir liebevoll über die braunen Haare. „Sie hat schon oft gesagt, dass sie sich wieder mit dir vertragen will und aber Angst hat, dass du nichts mehr von ihr wissen willst.“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie kann sie das nur denken? Sie ist doch irgendwie fast meine beste Freundin!“

„Fast?“

„Ja. Meine beste Freundin ist schließlich Annie. Aus Berlin, weißt du?“, klärte ich ihn auf.

„Und mit der verstehst du dich im Moment besser?“

„Öhm...“ Ich überlegte. „Mehr oder weniger. Zur Zeit waren da ein paar... Komplikationen...“

„Tut mir leid.“ Es klang aufrichtig. „Was war denn los?“

„Ach, das war ne echt blöde Geschichte...“ Ich seufzte. „Annie hat sich in Jake verliebt.“

„Oh.“ Christoph senkte den Blick. Offenbar hatte er auf eine Geschichte gehofft, die nichts mit Jakob zu tun hatte. „Verstehe. Und jetzt?“ Es klag wieder desinteressiert.

„Jetzt haben wir uns wieder vertragen.“ Ich holte den Umschlag heraus. „Sie hat mir einen Brief geschrieben.“

„Zeig mal.“ Er nahm mir den Brief aus der Hand und holte das rosa Papier heraus. Er zog die Augenbrauen hoch.

Ich kicherte. „So ist sie eben.“

„Ah ja.“ Christoph entfaltete den Brief und begann zu lesen.

Jetzt war er beschäftigt.

Ich lehnte mich zurück. Glücksgefühle durchströmte mich. Ich hatte mich wieder mit Christoph vertragen. Und mit Aniela. Wenn ich Nadja jetzt auch noch fragen würde, ob wir wieder befreundet sein könnten, wären die wichtigsten Personen wieder gut auf mich zu sprechen. Das mit Lukas und Julia war ja nicht sonderlich schlimm.

Ich seufzte erleichtert und umklammerte Christophs linken Arm.

Christoph blickte skeptisch auf mich herunter. „Alles klar bei dir?“

„Jaha“, flötete ich.

Christoph grinste und küsste mich auf die Stirn. Einfach so.

Und ich hatte nichts einzuwenden.

 

Eine halbe Stunde später liefen wir nebeneinander durch die Gänge der Schule. Wir redeten über alles Mögliche. Christoph hatte mir ein paar Tipps zum Thema Aniela und Nadja gegeben, von wegen, ich sollte ihnen einfach auf den Kopf zu sagen, wie blöd sie sich verhalten hatten.

Ich hielt das zwar für nicht sehr originell, aber ich war im Moment einfach nur froh darüber, dass er überhaupt wieder mit mir redete.

Gerade waren wir beim Thema Julia angelangt.

„Wieso ist sie eigentlich so sauer auf mich?“, wollte ich wissen.

„Sie ist eifersüchtig“, erklärte Christoph lässig. „Sie denkt, wir seien zusammen.“

„Ach so.“ Langsam nervte mich das ganze Gerede darüber, mit wem ich denn angeblich alles zusammen wäre.

„Ist total lustig, oder? Ich mein, wir machen nichts Auffälliges und trotzdem denken das viele.“

„Viele?“, fragte ich verwundert.

„Na ja, Lukas denkt das auch und Nadja auch und-“

„Nadja?“, fragte ich verblüfft. Das mit Lukas überraschte mich nicht sonderlich, der war ja eifersüchtig auf jeden und alles, aber Nadja?

„Ja, Nadja auch“, bestätigte Christoph achselzuckend. „Ich find’s auch sehr absurd.“

„Allerdings. Das ist total absurd, wir haben seit Wochen nicht mehr miteinander geredet, wir verhalten uns doch überhaupt nicht wie ein Paar.“

Christoph blinzelte nach unten zwischen uns.

Ups. Schnell löste ich meine Hand von seiner und steckte sie in meine Hosentasche. Peinlich. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich seine Hand umklammert hatte.

Christoph lächelte mich an. „Du bist so süß, Lea.“

„Ach ja?“ Mein Gesicht fing an zu glühen.

„Ja“, flüsterte Christoph und küsste mich sanft auf die Haare.

Ich schloss die Augen. Irgendwie fühlte ich mich gut, wenn er das tat.

Da fiel mir etwas ein.

„Ach, du...“ Ich sah ihn von der Seite her an. „Ich wollte dich mal was fragen.“

„Ja?“

„Kann es... kann es sein, dass du in der Bibel so eine Stelle eingemerkt hast?“

Christoph drehte sich blitzschnell zu mir um. Sein Blick war starr und seine blauen Augen vor Überraschung geweitet.

Ich sah ihn unsicher an. „Alles klar?“

„Hast du die Stelle gelesen?“, flüsterte Christoph, sprachlos vor Entsetzen.

„Öhm... ja, schon. Aber ich mein, ich fand die Stelle schön und jetzt weiß ich auch endlich genau, wie du... Christoph?“ Überrascht sah ich in Christophs blauen Augen Tränen glitzern. „Christoph, was ...“

Er seufzte und verbarg sein Geicht in den Händen.

Erschrocken starrte ich ihn an. „Christoph?“ Ich zerrte an seinen Händen. „Was ist denn?“

„Ich... ich...“ Er blickte auf und sah mich durchdringend an. „Das findest du bestimmt kindisch, oder? In der Bibel Stellen einmerken, nur um... nur um seine Gefühle irgendwie...“ Er brach ab und stützte seinen Kopf auf die Hände.

„Kindisch?“ Ich schüttelte lächelnd den Kopf. „Quatsch. Ich finde das so romantisch.“

„Romantisch?“ Christoph sah mich erstaunt an. „Im Ernst?“

„Ja, klar.“ Ich küsste ihn sanft auf die Wange. „Hätte ich von Anfang an gewusst, dass die Stelle von dir war, hätte ich die Bibel nie im Sekretariat abgegeben. Ich hätte den Spruch erst mal abgeschrieben und ganz groß von Christoph drüber gemalt.“

Christoph lachte. „Oh ja, bestimmt.“

Ich grinste ebenfalls. Es war so einfach, Christoph glücklich zu machen. Dann wurde ich auch fröhlich. Das verband uns irgendwie.

Vielleicht tat es mir deshalb so gut, mit ihm zusammen zu sein. Weil ich mich so gut in ihn hineinversetzen konnte. Wenn er traurig war, fühlte ich mich plötzlich auch so schlecht. Und wenn er glücklich war, wurde ich auch besser gelaunt – wie gerade eben.

„Woran denkst du?“, fragte Christoph leise.

„Ich weiß nicht.“ Ich blickte zu ihm hoch in seine blauen Augen. Und plötzlich hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl... als würden meine Knochen plötzlich schmelzen. Ich schwankte leicht.

Christoph hielt mich sofort fest. „Geht’s dir gut?“ Er klang besorgt.

„Ja, ja“, sagte ich schnell .Wieso waren eigentlich alle immer so übertrieben fürsorglich?

Wir liefen weiter und ich versuchte angestrengt, nicht mehr in seine Augen zu schauen.

Chris legte wieder seinen Arm um mich. Leichtigkeit durchströmte mich und ich unterdrückte den Impuls, seine Hand zu nehmen. Ich wusste nicht wieso, aber plötzlich kam mir alles viel einfacher vor. Strahlend lief ich neben ihm her. Die Schüler starrten uns verwundert nach. Wahrscheinlich hatten sich jetzt ihre Vermutungen über Christoph und mich – von wegen, wir wären ein Paar – bestätigt. Egal, wo wir hinkamen, überall neugierige Blicke und Getuschel. Ich grinste.

„Ist das nicht ein merkwürdiges Gefühl?“, raunte Christoph mir zu. „Wenn alle um dich herum das Falsche denken?“

„Mm-hmm“, machte mich. So schlimm war es ja eigentlich nicht.

 

Dann nach ungefähr einer Stunde – es war bestimmt länger aber mir kam er komischerweise so kurz vor – stoppten wir unseren Spaziergang vor meinem und Nadjas Zimmer.

„Was jetzt?“, fragte ich.

„Ich muss noch auf morgen lernen“, erklärte Christoph. „Tut mir leid. Aber du kannst jetzt ja mit Nadja reden.“

„Ich versuch’s“, murmelte ich. „Tschüss. Und viel Spaß.“

„Danke“, grinste Christoph, beugte sich zu mir herunter, küsste mich sanft auf die Wange, drehte sich dann um und ging eilig davon.

Ich legte den Kopf schräg und blickte ihm nach. Schon merkwürdig. Gestern um diese Zeit hätte ich am liebsten geheult, weil Christoph nicht mehr mit mir redete. Und jetzt? Jetzt küsste er mich schon auf die Wange.

So schnell kann es gehen.

Seufzend öffnete ich die Tür und betrat das Zimmer.

Und kaum hatte ich die Tür geschlossen, als mehrere rote Haare mir schon die Sicht nahmen.

Nadja war auf mich zugesprungen und um den Hals gefallen.

Ich war so verdattert, dass ich mich nicht rühren konnte. Was war das denn jetzt? Ein Ablenkungsmanöver? Würde jetzt gleich jemand von hinten kommen und einen Eimer Farbe über mich kippen? Nein, es schien eine normale Begrüßung zu sein.

„Äh... Nadja?“, fragte ich unsicher und drückte sie leicht von mir weg. „Was ist jetzt los?“

„Ach, Lea!“, weinte Nadja. Tatsächlich, Tränen strömten über ihr sommersprossiges Gesicht. „Es tut mir ja so leid!“

„Was?“ Ich nahm ihre Hand und zerrte sie mit aufs Bett. „Was tut dir leid?“

„Dass ich mich so blöd verhalten habe“, schluchzte Nadja und lehnte sich an meine Schulter. „Es war einfach nicht gerecht du kannst ja nichts dafür, dass ich so eifersüchtig auf Aniela bin!“

„Eifersüchtig? Auf Annie?“ Überrascht starrte ich sie an. „Wieso das denn?“

„Na ja, ich... das ist doch klar...“ Nadja schob leicht ihre Unterlippe vor. „Ich hab eben keine richtig beste Freundin und... jetzt dachte ich eben, dass du und ich... irgendwie...“

Ich seufzte und strich ihr über die roten Haare. „Nadja... ich kenn dich einfach noch nicht so lang und... Annie und ich sind schon beste Freundinnen seit wir zwölf sind, verstehst du? Und jetzt kenn ich dich ein bisschen länger als zwei Monate, da kann ich nicht sagen, dass du meine beste Freundin bist.“

Verunsichert sah ich sie an. Hoffentlich kam das nicht zu hart.

„Ach so.“ Nadja seufzte und senkte den Blick. „Dir kommt es auf die Länge der Freundschaft an.“

„Nein, so ist es nicht, aber...“ Ich rang nach Worten. „Ich kenn Annie einfach besser. Das wollte ich sagen.“

„Ach so“, wiederholte Nadja. „Ist schon in Ordnung.“ Dann sah sie mich aus einer Mischung aus Trauer und Hilflosigkeit an. Das löste bei mir irgendwie einen Beschützerinstinkt aus. Ich breitete die Arme aus und umarmte Nadja ganz fest.

Sie lächelte. „Danke, Lea. Das tut richtig gut.“

Eine Weile saßen wir so da und keiner sagte etwas.

Ich war überglücklich. Jetzt hatte ich mich auch wieder mit Nadja vertragen, nach zwei Monaten Funkstille.

Strahlend fuhr ich ihr immer wieder durch die rote Haarmähne. Wir gehörten hier alle irgendwie zusammen, keiner konnte ohne den anderen richtig zurecht kommen.

„Weißt du was?“, fragte Nadja leise lächelnd. „Ich mag dich, auch wenn du mit Christoph zusammen bist.“

Ich stöhnte auf, drückte sie von mir weg und stand auf. „Fang du nicht auch noch an!“

„Was denn?“ Nadja zwinkerte mir zu. „Ihr benehmt euch schon auffällig, weißt du? Jeder weiß, dass ihr ein Paar seid.“

„Wir sind kein Paar!“, erwiderte ich zornig. „Wieso denken das alle?“

„Na ja...“ Nadja sah mich unsicher an. „Ihr lauft händchenhaltend durch die Gegend, sitzt eng umschlungen am Bach und ihr lächelt euch immer so verträumt an.“

„Jaa klar, sehr witzig.“ Ich verschränkte die Arme. Ich wusste zwar, dass alles stimmte, was Nadja gesagt hatte, aber so direkt wollte ich das lieber nicht aussprechen.

„Ist doch so, komm schon.“ Nadja lächelte und streckte die Hand nach mir aus.

Ich blitzte sie an und trat einen großen Schritt zurück.

Nadja starrte mich ungläubig an. Langsam zog sie die Hand wieder zurück und ihre Miene verfinsterte sich. „Ah ja. So gern hast du mich also.“

Ich seufzte. „So war das doch nicht gemeint, nur –“

„Ach, schon klar.“ Nadja funkelte mich an. „Ich weiß ja, dass du Aniela lieber magst.“

„Natürlich mag ich sie lieber!“, rief ich genervt aus. „Das hab ich dir doch schon mal gesagt!“

„Jaa, weil wir uns noch nicht so lange kennen, richtig?“

Ich wollte den Mund öffnen, um zu wiederholen, was ich vorher gesagt hatte, doch gerade hatte ich so eine Wut auf Nadja, dass ich laut sagte: „Tja, überleg doch mal. Vielleicht liegt es daran, dass Annie mich nicht andauernd nervt, von wegen, ich sei mit Christoph zusammen und dass Annie sich auch noch nie von mir abgewandt hat und dass ich besser mit ihr reden kann und dass... ach, vergiss es doch einfach! Ich glaube, jetzt versteh ich, warum du keine Freunde hast!“

Schmerz durchzuckte Nadjas Gesicht und ich sah Tränen in ihren Augen glitzern.

Oh nein.

„Tut mir leid“, sagte ich schnell. „Das war nicht so gemeint, ich... mir ist das nur alles zu viel und –“

Nadja senkte den Blick. „Nein, ist schon okay. Ich weiß schon. Mit mir will niemand befreundet sein.“

„Nein, so ist es nicht“, versuchte ich sie zu beruhigen.

Doch sie starrte mich nur traurig an. Ich hatte sie verletzt. Und zwar sehr.

Sie holte tief Luft. „Und ich dachte, wir könnten echte Freundinnen werden. Wie sehr man sich doch in Menschen täuschen kann.“ Dann lief sie aus dem Zimmer. Schnell und mit in den Händen verborgenen Gesicht. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass ich sah, dass sie weinte.

Die Tür wurde zugeknallt. Stille herrschte.

Ein großer Fehler

 

Ein großer Fehler

 

Missmutig starrte ich auf die verschlossene Tür. Na das hatte ich ja wieder mal klasse hingekriegt.

Ich hatte Nadja verletzt. Schon wieder. Ich war egoistisch. Ich tat anderen Menschen weh, die nur das Beste für mich wollten. Ich verletzte die Menschen, die ich liebte. Warum war ich nur so blöd?!

Weil ich nur an mich selbst dachte. Ich versuchte, das Beste für mich zu finden, nicht für die anderen. Aber warum? Wieso konnte ich mich nicht ändern?

In diesem Moment sprang die Tür auf und ich senkte sofort den Blick. Ich wollte Nadja nicht anschauen. Ich wollte ihr verletztes Gesicht nicht sehen. Es würde mich nur noch verzweifelter machen.

Da! Schon wieder! Ich hatte an mich gedacht. Verdammt.

„Lea? Alles in Ordnung?“

Überrascht blickte ich auf, denn es war nicht Nadja, die da gesprochen hatte. Sie hatte nicht so eine beruhigende Stimme.

„Oh. Du bist das.“

„Ähm... ja. ich bin das.“ Christoph grinste. „Wen hast du denn erwartet?“

„Nadja natürlich.“ Ich blickte Christoph wütend an. Da hätte er auch selber draufkommen können. Ich wusste nicht, wieso ich plötzlich so schlecht auf ihn zu sprechen war. Wahrscheinlich die Nerven.

„Ach so.“ Christoph sah sich im Zimmer um. „Habt ihr aufgeräumt? Es ist so ordentlich hier.“

„Ja, soll vorkommen“, meinte ich verbissen.

„Hey, sei mal nicht so unhöflich, ich hab dir nichts getan“, sagte Christoph mit erhobenen Händen.

Ich verdrehte die Augen. „Nee, gar nicht.“

Christoph sah mich irritiert an. „Was ist denn plötzlich mit dir los?“

„Das weißt du doch selber am Besten, oder?“, fauchte ich. „Und was willst du hier überhaupt?“

Christoph blickte mich vorsichtig an. „Ich wollte nur schauen... ob’s dir gut geht.“

Ich zog die Brauen hoch. „Ja, klar.“

Er senkte den Blick. Er schien verlegen. „Nein, wirklich. Ich hatte das Gefühl, dass du dich in letzter Zeit nicht so gut fühlst und dann dachte ich, ich könnte dich einfach... fragen.“

„Mir geht’s gut, danke.“

Christoph fuhr sich über seine schwarzen Haare, wie üblich standen sie in alle Richtungen ab. „Okay.“ Er warf mir einen unsicheren Blick zu. „Dann geh ich mal wieder.“

„Tu das.“

Christoph nickte, wandte sich um und lief zur Tür.

Doch gerade als er die Hand auf der Klinke hatte, durchströmte mich ein merkwürdiges Gefühl.

Tränen schossen mir in die Augen und Schmerz durchzuckte mich, von den Beinen bis zu meiner Stirn, in der es nun stark pochte.

Ich keuchte und fiel auf die Knie.

Christoph drehte ich entsetzt um. „Lea??? Lea, was ist los?!“

Ich gab keine Antwort, ich brachte kein Wort heraus. Meine Beine gaben nach und ich lag nun, mich mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmend, auf dem Boden.

Christoph riss die Hand von der Klinke und setzte sich sofort neben mich auf den Boden. „Lea?“ In seinem Gesicht spiegelte sich Besorgung und Entsetzen. „Lea? Was ist los? Sag doch was!“

Ich stöhnte und griff mir an den Bauch. Was zur Hölle war das??

Christoph sah mich besorgt an.

Und auch in mir entfaltete sich Sorge... um ihn?

„Lea...“ Verzweifelt griff er nach meiner Hand.

In dem Moment der Berührung verflog der Schmerz so schnell wie er gekommen war.

Ich lag ganz ruhig da, zuckend und schwitzend, aber Schmerzen hatte ich keine mehr. „Es... ich glaube, es ist weg“, sagte ich leise.

„Oh mann, Lea!“ Christoph nahm mein Gesicht in seine Hände. „Ich hatte solche Angst um dich! Was war nur los?“

„Ich weiß es nicht.“ Meine Stimme war heiser und zitterte, genau wie der Rest meines Körpers.

Christoph strich mit seiner kühlen Hand über meine heiße Stirn. „Wow shit, du hast ja Fieber!“

„Nein, nein, ist schon okay.“ Ich wehrte ab und drückte seine Hand weg. „Mir geht’s gut.“

Christoph setzte sich auf. „Und ich dachte schon, du stirbst. Das sah richtig übel aus.“

„Hat sich auch richtig übel angefühlt“, stimmte ich zu.

Christoph lächelte mich an. Das Lächeln, das ich so liebte. Moment mal - liebte? Oh Gott, nein, ich liebte es nicht, ich... ich mochte es nur. Lieben doch nicht.

Doch ich wusste, dass ich mir widersprach. Denn als ich Christoph so lächeln sah, schmolzen alle Sorgen dahin und ich musste zurücklächeln.

Christoph legte sich neben mich und nahm meine Hand.

Ich fing wieder an zu zittern. Was machten wir nur?

„Weißt du“, meinte Christoph, „als ich dich so keuchen gehört habe... da dachte ich... na ja... ich hatte total Angst um dich, verstehst du?“

Ich lächelte wieder. So mitfühlend kannte ich Christoph gar nicht. Er war richtig süß. Und romantisch. Ich zuckte zusammen. Nein, so durfte ich nicht denken.

Christoph bemerkte meine Anspannung und er sah mich wieder besorgt an. „Ganz sicher alles in Ordnung, Lea?“

„Ja, alles klar.“ Ich lehnte mich an seine Schulter. Ich konnte nichts dagegen machen, der Drang in seiner Nähe zu sein, ihn zu berühren war riesengroß.

Christoph grinste. „Du bist süß, Lea. Unglaublich süß. Weißt du das?“

Ich lachte. „Du bist mindestens genauso süß.“

Christophs Augen leuchteten. Er stützte sich auf und legte seine Hände um meinen Nacken.

Ich erschrak. Was tat er da?

Sein Gesicht kam näher und näher und ich hatte das Gefühl, dass mein Gesicht auch näher zu ihm kam.

Aber warum tat ich das? Ich durfte nicht. Ich durfte das nicht zulassen. Ich musste weg hier. Wegrennen. Aus dem Zimmer. Genau, ich musste aus dem Zimmer rennen.

Doch es ging nicht. Mein Körper bewegte sich nicht.

„Darauf habe ich solange gewartet“, flüsterte Christoph. Er drückte mich sanft auf den Boden und kam so nah, dass seine Lippen knapp über meine waren. „Ich liebe dich, Lea.“

Ich sah ihn an. In seinen blauen Augen spiegelte sich mein verträumtes und sehnsüchtiges Gesicht. Ja, ich liebte ihn auch. Von Anfang an hatte ich ihn geliebt, das war mir jetzt klar. Doch ich hatte mir selbst widersprochen. Ich wollte nur Jake lieben. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass es einen Menschen gab, den ich genauso lieben könnte. Doch hier war er. Direkt vor mir.

Christoph schloss die Augen und seine Wange strich leicht meine Stirn. „Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt.“

Ich schluckte. Es hatte keinen Sinn mehr, sich dagegen zu wehren. „Ich liebe dich auch.“

Christoph öffnete wieder die Augen und sah mich an. „Du bist so schön, Lea.“

Ich sah ihn erstaunt an. Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Jedenfalls nicht so. Auf diese Art.

„Was ist?“, fragte Christoph leise.

„Nichts.“ Ich lächelte ihn an. „Ich liebe dich, Christoph.“ Dann schlang ich die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu mir runter.

Christoph grinste.

Dann trafen sich unsere Lippen. Wir küssten uns und ich spürte die Sehnsucht in seiner und meiner Art zu küssen. Ich liebte ihn. Ich konnte nichts dagegen machen.

Und die Tatsache, dass ich ihn liebte, beantwortete nun auch die Fragen, die in den letzten Tagen immer wieder in mir aufgekommen waren.

Wieso klopfte mein Herz jedes Mal schneller, wenn ich ihn sah? Wieso kribbelte es überall in mir, wenn er mich berührte? Und wieso zog ich ihn fest zu mir her und es war mir trotzdem nicht fest genug?

Eine Antwort. Eine Antwort, die gleichzeitig schmerzte und sich gut anfühlte.

Weil ich ihn liebte. Er war ein Teil von mir geworden und ich konnte nichts dagegen tun.

Christoph küsste mich leidenschaftlich und sanft, seine Lippen wanderten meinen Hals hinunter.

Ich seufzte leise.

Er küsste meine Schulter, der eine Arm strich über meine Schulter, der andere lag immer noch um meinen Nacken.

Ich küsste seinen Hals, seine Haare, alles, was ich erwischen konnte. Wir hatten diesen Moment. Diesen einen, wunderschönen Moment.

Ich strich mit meiner Hand über seinen Rücken, mit der anderen umklammerte ich seine Hand.

Christoph lachte leise und sanft, legte seine Lippen wieder auf meine, und seine Hände wanderten über meinen ganzen Körper.

Ich erwiderte den Kuss und zog ihn so fest zu mir her, dass er laut keuchte.

„Du schnürst mir ja die Kehle zu“, sagte er mit einem sanften Lächeln.

Ich sah ihn verlegen an und wurde knallrot.

Er grinste und fing an meinen gesamten Körper zu küssen. Ich neigte den Kopf und küsste seine schwarzen, zerstrubbelten Haare.

Gerade, als Christoph wieder bei meinen Lippen angelangt war, hörte ich eine laute Stimme schreien: „WAS IST HIER LOS???“

Christoph sprang erschrocken auf und ich tat es ihm gleich.

Julia stand breitbeinig und mit Funken sprühenden Augen vor uns.

„Oh... hi.“ Ich schluckte, wurde rot wie eine Tomate und starrte auf meine Füße.

Was hatte ich mir nur gedacht?

„Hey, Julia!“, sagte Christoph fröhlich. Er schien überhaupt kein schlechtes Gewissen zu haben – im Gegenteil, offenbar machte es ihm gar nichts aus, dass seine Freundin gerade dabei erwischt hatte, wie er ein anderes Mädchen geküsst hatte.

„Christoph“, war das Einzige, das Julia herausbrachte. „Was hast du da eben getan?“

„Ich hab Lea geküsst“, meinte Christoph achselzuckend. „Ist doch nicht schlimm.“

Überrascht sah ich ihn an. Dachte er wirklich so? Oder wollte er nur cool rüberkommen? An seiner Stelle wäre ich am liebsten im Erdboden versunken und hätte Julia nie wieder in die Augen geschaut. Wie konnte er nur so gelassen sein!

„Nicht schlimm?“ Julias Augen sprühten Funken. „Das ist sehr wohl schlimm!“

„Find ich nicht.“ Christoph grinste. „Ach komm, hast du ernsthaft geglaubt, ich würde dich lieben?“

Ich starrte ihn entsetzt an. Julia ebenfalls. Was hatte er da gesagt? Er liebte Julia nicht? Überhaupt nicht? Er hatte nur mit ihr gespielt?

Schockiert wich ich einen Schritt vor ihm zurück. Christoph warf mir einen überraschten Blick zu.

„Hey!“ Er griff nach meiner Hand. „Was ist?“

„Du... liebst sie gar nicht?“, fragte ich leise.

Christoph lachte laut. „Hältst du mich für blöd?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Bis jetzt hatte ich das nicht gedacht. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“

Christoph sah mich irritiert an. „Wie meinst du das?“

„Sag ehrlich: liebst du mich?“

„Was? Was soll das denn für ne Frage sein?“

„Beantwort sie mir, dann sag ich dir den Grund.“

„Ja klar liebe ich dich“, meinte Christoph sofort. „Das weißt du doch.“

Ich schluckte. „Aber Julia hast du auch nicht geliebt. Woher soll ich dann wissen, dass du es ernst mit mir meinst?“

„Mann, Lea!“ Christoph nahm meine andere Hand und zog mich zu ihm her. „Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt, das weißt du doch!“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das weiß ich nicht.“

Christoph sah mich fassungslos an. „Lea, wie... wie soll ich es dir beweisen?“

„Denk drüber nach. Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn ich es nicht sicher weiß.“

Mann, was redete ich da bloß? Ich konnte gar nicht mit ihm zusammen sein! Ich war mit Jake zusammen! Verdammt, Lea, was ist nur mit dir los?!

Christoph schluckte, seine blauen Augen wurden feucht und ich spürte, wie seine Hand zitterte. Offenbar hatte ich ihn tief getroffen.

Als ich ihn so leiden sah, fingen auch meine Augen an zu brennen.

Ich biss mir auf die Lippen. Nein, es geschah ihm ganz recht so zu leiden. Und mir geschah es auch recht. Mit ihm zu leiden.

Julia blickte abwechselnd ihn und mich an. „So. Kann mich mal jemand aufklären? Oder habt ihr beschlossen, mich zu ignorieren?“

Ich schüttelte den Kopf, riss mich zusammen und meinte: „Ist schon okay, da war nichts zwischen uns. Christoph kann’s dir ja erzählen.“

Seine Hand löste sich von meiner und ich warf ihm einen kurzen Blick zu.

Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er wischte sich über seine Augen. Er zitterte am ganzen Körper.

Um zu vermeiden, dass er sah, wie Tränen über meine Wangen flossen, wandte ich mich schnell um und stürmte aus dem Zimmer.

Ich trieb meine Füße an, weiter und weiter, vorbei an Schülern, die mich mit großen Augen anstarrten.

Ich rannte nach draußen in den Garten, hinüber zu dem Bach und setzte mich keuchend unter die große Trauerweide.

Mein Herz klopfte rasend schnell, der Atem ging flach und meine Augen waren schon alarmierend voll mit Salzwasser.

Ich lehnte mich an den Baum und atmete beruhigend ein und aus. Doch ich konnte es nicht vermeiden, so sehr ich mich zusammenreißen versuchte, ich zitterte, meine Augen brannten und ich spürte schon den ersten Tropfen auf meiner Wange.

Das war ein anderer Schmerz. Nicht der gleiche wie bei Nadjas Streit. Nicht zu vergleichen.

Es war ein Schmerz, der sich in meinem ganzen Körper ausbreitete, er war überall.

Dann kam der Dammbruch. Tränen strömten über mein Gesicht und ich weinte, weinte, weinte. Meine Hände krallten sich in die Erde, ich biss die Zähne zusammen und mein Schal wurde durchnässt.

Ich ließ mich auf den Boden fallen und starrte durch einen Tränenschleier auf den plätschernden Bach.

Wieso war das alles nur so kompliziert? Wieso konnte ich nicht einfach so fühlen wie jeder normale Mensch? Wieso reagierte ich nur so empfindlich?

Ich legte meine Hand auf die Brust, um meinen Atem zu beruhigen. Er war völlig außer Kontrolle, ging schnell und rasselnd. Auch mein Herzschlag ging unregelmäßig und das Herz schlug hart gegen meine Haut.

Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen, was nicht sehr leicht war, aber es ging.

Nach fünf Minuten atmete ich wieder normal und mein Herz schlug regelmäßig. Langsam öffnete ich wieder die Augen. Ja, der Tränenschleier war auch weg.

Aber aufstehen wollte ich trotzdem nicht. Ich blieb einfach liegen. Einfach nur liegen blieben, das war jetzt das Einzige, was ich wollte.

Und jetzt konnte ich gar nicht verstehen, wie ich vorher so angespannt sein konnte. Es war so beruhigend hier. Man hörte das Rauschen des Baches, ein kühler Wind strich über das Gesicht und sonst war es still um mich herum, keine Stimmen, keine Motorgeräusche, nur Laute der Natur.

Ich könnte den ganzen Tag so liegen blieben. Doch ich wusste, dass ich zum Essen erscheinen musste, außer, ich würde mich krank melden, doch selbst dann würde Nadja mich suchen. Und Christoph vielleicht auch.

Christoph.

Bei dem Gedanken an Christoph fing mein Herz wieder alarmierend schnell zu pochen und ich biss mir schnell auf die Lippen. Damit musste jetzt Schluss sein – endgültig. Ich musste Christoph vergessen. Ich durfte nicht mit ihm zusammen sein, ich konnte es nicht. Ich liebte Jake. Ich liebte ihn mehr als Christoph.

Und das musste Christoph einsehen. Wir beide mussten es einsehen. Anders ging es nicht.

„Lea?“

Ich zuckte nicht mal zusammen. Ich hatte schon damit gerechnet, dass Nadja irgendwann mal hier auftauchen würde.

Ich spürte, wie sie sich neben mir auf die Erde niederließ.

Sie strich mit ihrer warmen Hand über mein eiskaltes, feuchtes Gesicht. „Ach, Lea.“

Jetzt hatte sie Mitleid mit mir. Wieso nur? Ich hatte sie vorher so sehr verletzt. Wie konnte sie das schon wieder vergessen haben? Und woher wusste sie überhaupt, was geschehen war?

„Ich kenne dieses Gefühl. Man fühlt sich schrecklich, nicht wahr?“

Oh ja.

„Zwischen zwei Jungen zu stehen, ist nicht immer leicht, Lea. Aber ich schätze, das hast gerade selbst gemerkt.“

Hatte ich.

„Weißt du, du hättest mit mir reden sollen. Ich kenne Christoph gut, sehr gut. Ich hätte dir viel über ihn erzählen können.“

Aber was hätte das daran geändert, dass ich ihn liebte?

„Und irgendwie hatte ich mir schon gedacht, dass du ihn irgendwann mal küssen würdest. Ich hatte es im Gefühl, aber dass es heute wäre, damit hatte ich nicht gerechnet.“

Woher wusste sie nur davon?!

„Julia hat es mir erzählt, was vermutlich deine Frage beantwortet. Sie kam völlig aufgelöst aus unsrem Zimmer gerannt und hat gesagt, du und Christoph hättet euch geküsst. Ich war entsetzt, das muss ich zugeben. Und als ich dann ins Zimmer kam, stand Christoph da, zitternd und total schockiert und er litt, so kam es mir jedenfalls vor.“

Ja, er litt. Nur wegen mir.

„Wahrscheinlich wegen dir, dachte ich mir. Christoph hat mich nur angeschaut, und er hat sogar geweint. Wenn du an seiner Liebe zu dir zweifelst, dann kannst du jetzt sicher sein: wenn Tränen fließen, ist Liebe im Spiel. Richtige Liebe.“

Toll. Aber lieben durfte ich ihn ja trotzdem nicht.

„Lea.“ Ihre Stimme hörte sich so mitfühlend an. Das war nicht fair. „Es tut mir so leid.“

„Verdammt, hör auf damit!“

Nadja zuckte erschrocken zurück. „Lea... geht’s dir gut?“

„Nein, mir geht’s nicht gut, das siehst du doch!“ Verzweifelt schlug ich auf die Erde. „Ich hasse mich! Ich schaff’s immer, anderen weh zu tun, wie bei dir vorher! Und jetzt bei Christoph! Und Jake hab ich jetzt womöglich auch noch verletzt, weil ich es ihm sagen muss!“ Ich zitterte wieder und wieder konnte ich mich nicht zurückhalten. Ich fing wieder an zu weinen.

Nadja nahm mein Gesicht in ihre Hände und legte meine Kopf in ihren Schoß. Sie küsste meine Haare und flüsterte: „Es wird alles gut, Lea.“

Ich war zu verzweifelt, um auch noch sauer auf sie zu sein, weil sie schon wieder mitfühlend war. Ich weinte einfach nur, wie vorher.

Aber jetzt war es etwas anders. Nadja war da.

Ich konnte nicht aufhören zu weinen und ich machte mir auch gar nicht erst die Mühe, das zu versuchen. Es würde sowieso nicht klappen.

Ich wollte einfach nur hier liegen bleiben, bei Nadja, und ich wollte weinen.

Und obwohl mein Ausbruch kein Ende fand, blieb Nadja bei mir, tröstete mich, beruhigte mich und strich über meine Haare. Die ganze Zeit.

 

Nach ungefähr einer halben Stunde, so kam es mir jedenfalls vor, waren meine Augen ausgetrocknet. Mein Herz und mein Atem beruhigten sich wieder, ich hörte auf zu zittern und die letzte Träne tropfte auf meinen klitschnassen Schal.

Nadja war immer noch da. Sie küsste meine Stirn. „Jetzt hast du es überstanden. Das war der schlimmste Dammbruch, glaub mir. Du wirst ihn vergessen.“

An dem letzten Satz zweifelte ich zwar, nickte jedoch. „Ja.“ Meine Stimme war heiser. „Du hast recht.“

„Hab ich.“ Sie nahm meine kalte Hand. „Willst du noch hier bleiben? Ich kann den anderen sagen, du wärst krank.“

„Nein“, sagte ich sofort. „Ich komm mit.“

„Du musst nicht.“

„Weiß ich.“ Ich richtete mich auf. „Aber ich will nicht krank sein, nur wegen Liebeskummer.“

„Liebeskummer ist eine scheußliche Krankheit.“ Nadja lächelte mitfühlend. „Schlimmer als Grippe, wenn du mich fragst.“

Ich seufzte. „Ja, das ist wahr. Aber ich will trotzdem mit.“

„Wenn du meinst.“ Nadja stand auf und streckte mir ihre Hand entgegen. Ich ergriff sie und erhob mich ebenfalls. Meine Beine wackelten und ich hielt mich an der Trauerweide fest.

„Geht’s?“, fragte Nadja besorgt.

„Ja“, meinte ich etwas genervt. Ich wollte nicht als Schwächling rüberkommen.

Nadja sah mich zögernd an. „Okay.“ Sie wandte sich um und trieb ihre Schritte in Richtung Schloss. Ich folgte ihr, allerdings beeilte ich mich nicht. Einen kurzen Weg wollte ich alleine zurücklegen, einfach für mich selber denken.

Als aller erstes fiel mein Gedanke natürlich auf Christoph. Was er wohl gerade machte? Würde er auch essen? Ich hoffte inständig, dass er keinen Hunger hatte, denn ich fürchtete einen erneuten Ausbruch, wenn ich ihn sehen würde. Und das musste vermieden werden. Womöglich würde ich ihn dann noch mehr verletzen.

Und Julia? Sie war ebenfalls eine Gefahr für einen Dammbruch. Nicht, wenn ich sie sehen würde, das war kein Problem, dann würde ich nur ein schlechtes Gewissen bekommen. Aber dieses schlechte Gewissen würde mich wieder zu Christoph bringen und dann... ja.

Also hoffte ich, dass beide zufällig keinen Hunger hatten.

Nadja drehte sich zu mir um und lief rückwärts weiter. „Weißt du, Lea, du bist echt ein begehrtes Mädchen.“

Ich schluckte. „Nein, bin ich nicht. Es sind nur zwei Jungen.“ Und Lukas.

„Das ist doch schon mal was. Und es gibt bestimmt noch mehr Jungen.“

Ich seufzte und starrte in den Himmel. „Und wenn das so ist, wenn es wirklich so ist, dann frag ich mich, warum. Ich mein – ich hab echt keinen schönen Charakter, ich tu anderen weh, warum versteht ihr das alle nicht?“

„Du hast keinen schlechten Charakter“, meinte Nadja, blieb stehen und nahm meine Hand. „Du bist eine tolle Freundin.“

„Und was war das vorher? Du warst doch sicher verletzt, nicht wahr?“

„Ja, ich war verletzt.“ Nadja starrte auf ihre Füße und zum ersten Mal sah ich Tränen in ihren Augen glitzern. „Aber das spielt keine Rolle. Jeder macht mal Fehler. Und ich bin dir nicht böse, nur weil du Aniela lieber magst als mich, das ist ja normal. Du kennst sie schon länger und hast schon viel mehr mit ihr durchgemacht. Und vielleicht kann man wirklich besser mit ihr reden als mit mir und vielleicht versteht sie Menschen wirklich besser als ich, das kann ja stimmen. Und wahrscheinlich hat sie dich wirklich nicht mit der Sache mit Christoph genervt. Also bin ich dir nicht böse.“

Kopfschüttelnd sah ich sie an. „Du bist so verrückt, Nadja. An deiner Stelle würde ich nicht mehr mit mir reden.“

„Dann wäre ich keine echte Freundin“, erklärte Nadja. „Freundinnen müssen einsehen, dass die andere auch mal Fehler macht. Und wegen so einer Sache sollte man nicht gleich alles über den Haufen werfen. Das ist jedenfalls meine Ansicht.“

Ich blickte sie eine Weile lang ratlos an, dann lächelte ich. „Ja, du hast recht.“ Ich blieb stehen und umarmte sie ganz fest. „Es tut mir leid.“

Nadja lachte leise in mein Ohr. „Ist schon okay.“

Wir lösten uns voneinander und unsere Blicke trafen sich. Dann lächelten wir.

Verzicht

Verzicht

 

 

Der Speisesaal war schon vollbesetzt, als Nadja und ich eintraten und uns auf den Weg zum Buffet machten, um Essen zu holen.

„Hältst du es nicht für klüger, dass einer einen Platz freihalten sollte, während der andere Essen holt?“, fragte ich unsicher und sah mich um. „Es sind nicht mehr viele Plätze frei.“

Nadja warf einen Blick über die Schulter. „Du hast recht. Kann ich gehen?“

Ich nickte, sie wandte sich um und wollte gerade losgehen, als sie dann plötzlich wieder innehielt und leise meinte: „Ach weißt du, ich glaube, du solltest lieber gehen.“

„Wieso?“, fragte ich verwundert.

Nadja nickte nach vorne und ich folgte ihrem Blick. Sofort klopfte mir mein Herz bis zum Hals.

„Ja... vielleicht hast du recht.“ Schnell quetschte ich mich nach links durch die Menge, duckte mich, um ja nicht von Christoph gesehen zu werden, und lief schnell zu den ersten zwei freien Plätzen, die mir in den Blick fielen. Dummerweise saßen davor die restlichen der Gangster und ich hatte das ungute Gefühl, Christoph würde sich zu ihnen setzen. Aber als ich mich umsah, entdeckte ich keinen weiteren freien Platz.

Widerwillig ließ ich mich auf einen der beiden Stühle plumpsen und versuchte instinktiv in eine andere Richtung als geradeaus zu schauen, in der Hoffnung, die Jungs würden mich nicht erkennen. Aber wie üblich hatte ich Pech.

„Ehy, wen ham wir denn da?“, gluckste Marc.

„Die heiße Braut von Christoph“, dröhnte ein anderer.

Der Rest lachte laut.

Ich biss mir auf die Lippen, fest entschlossen, kein Wort mit ihnen zu wechseln.

„Alter, kannst du auch sprechen?“, fragte Marc.

„Bei deinem Anblick hats ihr die Sprache verschlagn“, grölte der andere. Er boxte Marc freundschaftlich in die Rippen.

Der Rest lachte wieder.

Ich verschränkte die Arme, lehnte mich zurück und starrte an die Decke.

„Alter Phil, jetzt isse voll beleidigt“, stellte Marc spöttisch fest.

„Wir ham sie gekränkt, Marcy“, gluckste der andere, der Phil hieß.

Der Rest lachte erneut.

Ich atmete tief ein und aus. Das war auch wirklich alles sehr witzig.

„Ehy, Christoph!“, rief Marc plötzlich. „Deine heiße Braut hat sich zu uns gesetzt, komm ma' her!“

„Du musst 'n bisschen für uns übersetzen!“, erklärte Phil gackernd. „Sie will nischt sprechen!“

Der Rest kicherte verdruckst.

Ich kniff die Augen zusammen und sah geradeaus, bereute es aber sofort, als mein Blick auf Christophs ausdrucksloses Gesicht fiel.

Schnell schaute ich woanders hin. Dummerweise in Julias verärgerte Miene, die am Tisch nebenan saß und mit ihren Freundinnen tuschelte.

Ich seufzte, schloss die Augen und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

„Lea? Alles in Ordnung?“ Nadja setzte sich neben mich und stieß mich leicht in die Seite.

Ich gab nur ein unverständliches Grummeln von mir.

„Aha, verstehe.“ Nadja grinste, das hörte man.

Wütend setzte ich mich wieder auf und zog eine Schnute.

„Willst du nichts essen?“ Nadja hielt mir ein Brötchen hin.

„Nein“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. „Will ich nicht.“

„Okay.“ Nadja biss in das Brötchen. „Wie du willst.“

Ich warf ihr einen bösen Blick zu. „Können wir uns nicht woanders hinsetzen?“

„Siehst du hier einen freien Platz?“

Ich sah mich um. Doch wie vorher war alles besetzt.

Mein Blick fiel wieder auf Christoph, der sich mit seinen Kumpels unterhielt und offenbar genauso darauf achtete, mich nicht anzuschauen, wie ich ihn.

Doch blöderweise spürte er meinen Blick, sah auf und wir starrten uns einen Moment lang an.

Da durchzuckte mich ein Schmerz, mein Körper zitterte und ich schnappte nach Luft. Nicht schon wieder, bitte nicht.

Doch mein Körper verkrampfte sich immer mehr, ich keuchte und hielt mich verbissen an der Stuhlkante fest, um nicht umzufallen.

„Lea!?“ Das waren die entsetzten Stimmen und Christoph und Nadja.

Ich gab keine Antwort, ich konnte es nicht. Ich fasste mir an den Bauch und kniff die Augen fest zusammen. Warum passierte mir das schon wieder? Was war das??

Ich öffnete leicht die Augen und sah verschwommen Christophs Gesicht vor mir. Er war besorgt. Genau wie Nadja, die meine Hand hielt und über mein Gesicht strich.

„Es wird alles gut“, flüstere Christoph und nahm ebenfalls meine Hand.

Wie ein Wunder verflog der Schmerz erneut wie beim letzten Mal. Nur durch Christophs Berührung?

Ich lächelte ihn schwach an. „Danke.“

Christoph starrte mich überrascht an. „Danke? Wofür?“

Ich richtete mich langsam wieder auf und strich über Christophs geschocktes Gesicht. „Für alles.“

Dann schloss ich die Augen, beugte mich zu ihm herüber und legte meine Lippen auf seine.

Ich spürte die Verlegenheit in seiner Art zu küssen und ich legte meine Lippen beruhigend auf seine Wange. „Mir geht’s gut, Christoph.“

„Ja... das ist, ähm... schön.“ Einen kurzen Augenblick lang starrten wir uns an. Ich sah die Überraschung und Unsicherheit in seinen Augen. Und ich sah die Hoffnung.

Ich senkte den Blick. Ich hatte ihm falsche Hoffnungen gemacht, ich Idiotin. Hätte ich doch nur die Klappe gehalten. Tada. Schon wieder hatte ich meine Begabung bewiesen, nicht mit meinem sozialen Umfeld zurecht zu kommen.

Christoph seufzte, warf einen kurzen Blick auf Nadja und nickte dann kaum merklich. Ich sah Nadja erstaunt an, doch sie war gerade damit beschäftigt, das Brötchen aufzuschneiden. Sie schnitt ziemlich hart – zu hart. Ich blickte wieder zu Christoph.

Er stand auf und setzte sich schnell wieder auf seinen Platz.

Verstört blickte ich auf meine Hände. Irgendwie fühlte ich mich komisch, extrem komisch. Alles war schief gegangen. Ich hatte Christoph erneut geküsst, das hatte mich verwirrt und ihn offenbar auch.

Sogar Nadja warf mir ständig unsichere Blicke von der Seite her zu.

Ich musste endlich von ihm loskommen. Aber wenn immer Schmerzen kamen, wenn ich ihn verletzte oder wenn wir uns nicht gut verstanden oder bei so etwas und nur seine Berührung mich heilen konnte, dann... dann war es fast unmöglich ohne ihn zu leben.

Wenn nur seine Berührung mich heilen konnte. Jetzt wurde ich aber sehr theatralisch.

Ich seufzte. Aber mit ihm... das ging auch nicht. Und das wollte ich auch nicht. Ich wollte mit Jake leben, ich wusste es. Und ich hatte jetzt ehrlichgesagt keine große Lust, das alles nochmal durchzuarbeiten, wie vorher. Meine Entscheidung stand, auch wenn es mir schwer fiel.

„Ich geh hoch ins Zimmer“, sagte ich nach einer Weile leise zu Nadja.

Sie nickte.

Ich erhob mich rasch und lief auf den Ausgang des Saals zu.

„Hey, Lea! Warte!“

Ich beschleunigte meine Schritte, in der Hoffung, Christoph würde stehen blieben.

Doch ich hörte seine Schritte hinter mir her eilen.

„Warte doch!“

Schnell schlüpfte ich durch den Türspalt und jetzt rannte ich durch die Eingangshalle und die Treppe rauf.

„Nein, Lea, bitte, warte!“

Christophs flehende Stimme durchbohrte mich, doch ich lief tapfer weiter.

„Lea, lass uns reden! Bitte.“

Ich blieb stehen und wandte mich um. Christoph stand drei Meter von mir entfernt und sah mich an.

„Worüber denn?“, fragte ich mit zitternder Stimme.

„Über das gerade eben.“ Er kam einen Schritt auf mich zu. Im Gegensatz dazu ging ich einen Schritt zurück. „Ich hatte Angst um dich. War es das Gleiche wie... vorher?“

Ich nickte verbissen. „Es war schon okay.“

„Und –“

„Christoph, das hatten wir schon mal!“, mahnte ich ihn.

Christoph senkte den Blick. „Warum hast du mich geküsst?“

„Keine Ahnung, das war so ein Reflex, hatte nichts zu bedeuten.“

„Nichts zu bedeuten?“ Christoph lachte. „Ach, komm schon!“

Er kam noch einen Schritt auf mich zu, doch gerade, als ich auch einen Schritt nach hinten machen wollte, sprang er auf mich zu und nahm meine Hand.

„Lea, versteh doch, was wir für eine Zukunft hätten!“

„Zukunft?“ Ich lachte trocken auf. „Wir sind 17!“

„Und? Was macht das für einen Unterschied?“

Ich presste die Lippen aufeinander.

Christoph nahm mein Gesicht in seine Hände. „Du bist die Liebe meines Lebens, das weiß ich! Wir können uns ein Haus in... in Paris kaufen! Magst du Frankreich? Paris ist echt toll! Oder wie wär’s mit Italien? Sag doch was! Lieber Paris, oder? Und dann kaufen wir uns eine Villa! Wir können heiraten und wir... wir werden eine riesige Hochzeit feiern und wir werden glücklich zusammenleben! Für immer! Das wird wunderschön, Lea.“

Ich sah ihn verzweifelt an. Er verstand es nicht. Ich konnte einfach nicht mit ihm zusammen sein, das musste er doch kapieren können! „Nein, Christoph, das geht nicht. Ich hab einen Freund, das weißt du doch. Und ich liebe ihn.“

Christoph ließ sich davon nicht beirren. „Ist doch egal! Wir brennen durch!“

Ich sah ihn entsetzt an. Er war wirklich überzeugt von dieser Vorstellung. „Christoph“, flüsterte ich eindringlich. „Das geht nicht, versteh doch. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, ich will nicht mit dir zusammen sein. Ich werde dich vergessen, du wirst mich vergessen, wir werden jemand anderen heiraten und mit demjenigen eine glückliche Zukunft haben. Du gehst in eine Villa in Paris und feierst eine große Hochzeit. Aber nicht mit mir.“

Christoph sah mich bestürzt an. „Dir ist nicht klar, dass du die Liebe meines Lebens bist, oder?“

„Doch.“ Unsicher sah ich ihn an. „Aber Jake ist auch die Liebe meines Lebens.“

Christophs Augen verengten sich. „Jake. Der ist doch egal. Er will doch eh nichts von dir!“

„Doch!“ Wütend sah ich ihn an. „Er liebt mich und ich liebe ihn! Daran kannst du leider nichts ändern, Christoph!“

„Ich könnte ihn... aus dem Weg schaffen!“

Ich zog die Brauen hoch. „Als ob du so etwas tun würdest.“

„Oh doch.“

„Ach, hör auf so einen Schwachsinn zu reden. Und überhaupt, was würde es dir bringen? Dann würde ich dich erst recht nicht heiraten.“

„Lieber sehe ich dich ohne mich an der Seite als mit ihm.“

„Du kennst ihn doch gar nicht!“, rief ich verzweifelt. „Er ist der tollste Mensch, den ich kenne!“

„Ah ja? Aber glaub mir, wenn er merkt, dass er Konkurrenz bekommen hat, wird er nicht mehr so toll sein!“, widersprach er mir.

„Aber du bist keine Konkurrenz!“

Er starrte mich an. „Ach ja?“

Jetzt hatte ich ihn eindeutig verletzt. Er zitterte.

Ich schluckte. Tränen schossen mir in die Augen und ich blickte auf meine Füße. Ich wollte ihn nicht schon wieder leiden sehen. Aber anders ging es einfach nicht.

„Es tut mir so leid, Christoph.“ Ich blickte zu ihm auf. „Ich kann es nicht ändern.“

Er sah mich an. Tränen liefen ihm die Wange hinunter.

Ich würde ihn am liebsten umarmen, ihm die Tränen wegküssen und ihn trösten, doch ich musste dagegen ankämpfen. Das nächste Jahr oder zwei Jahre, vielleicht auch länger, musste ich dagegen kämpfen.

„Ich liebe dich, Christoph.“

„Warum können wir dann nicht zusammen sein? Du liebst mich, ich liebe dich, was wünscht du dir mehr?!“

„Eine Beziehung mit Jake.“

Christophs Körper bebte. „Jake, Jake, immer Jake! Mann, der Typ fängt an, mir auf die Nerven zu gehen! Ich schwöre, wenn er mir mal über den Weg läuft, bring ich ihn eigenhändig um!“ Er sah gerade wirklich bedrohlich aus.

Verwzeifelt sah ich ihn an. „Christoph... versteh doch. Du kannst mir nicht ausreden, mit Jakob zusammen zu sein. Ich liebe ihn einfach.“

„Aber mich liebst du auch!“

„Ja, aber nicht... nicht so.“

Christoph zog die Brauen hoch. „Und was hat dieser Jake, was ich nicht habe?“

„Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht beschreiben.“

„Ah ja.“ Christoph steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Na dann.“ Er machte einen Schritt zurück. „Dann haben wir das ja geklärt, oder?“

Ich nickte. „Vermutlich.“

„Schön.“ Christoph biss sich auf die Lippen. „Sehr schön.“ Seine blauen Augen sprühten Funken. „Dann geh ich jetzt. Und du wirst keine Chance mehr haben, zu mir zurückzukommen, okay? Vergiss es, ja?“

Ich zitterte. Er war so verletzt. Und er litt so sehr. „Christoph... es... es tut mir wirklich leid.“

„Ach ja?“ Christophs Lippen bebten und eine Träne kullerte über seine Wange. „Es tut dir leid?“

Verzweifelt nahm ich seine Hand, doch er wich aus.

Jetzt quollen auch aus meinen Augen Tränen heraus. „Christoph, versteh mich doch! Ich liebe dich! Weißt du nicht, wie schwer es für mich ist?“

„Was ist so schwer daran, jemandem zu sagen, dass man nicht mit ihm zusammen sein will?“, fragte Christoph wütend.

„Ich will doch mit dir zusammen sein!“, rief ich, es schüttelte mich schon am ganzen Körper und mein Atem ging schon unheilverkündend unregelmäßig.

„Ach, komm schon, du versuchst es mir doch nur möglichst schonend beizubringen!“

Ich seufzte und senkte den Blick. Er verstand es wirklich nicht. „Nein, tu ich nicht. Es ist einfach nur so, dass ich Jake schon länger kenne und dass wir uns schon ewig lieben, ich kann gar nicht mehr ohne ihn. Und wir zwei... das war so spontan und deshalb... weiß ich, dass das keine lange Beziehung wird.“

Christoph biss sich auf die Lippen. „Ist gut.“ Er senkte den Blick. „Hab verstanden.“

Ich sah zu ihm auf, doch ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich wusste, was er zu verbergen hatte. Genau das Gleiche, das mir gerade über den Augenrand kullerte. Tränen. Er weinte. Und er wollte es mir nicht zeigen.

„Geh schon“, flüsterte Christoph. Seine Stimme zitterte. „Verschwinde.“

Ich wich einen Schritt zurück.

„Mach schon!“ Christoph blickte auf. „Geh einfach!“

Ich brachte kein Wort heraus.

Auch Christoph sagte nichts mehr. Er sah mich einfach nur an. Kullernde Tränen auf den Wangen.

Dann wandte ich mich um und lief, ohne mich noch einmal umzudrehen, in mein Zimmer. Ich würde ihn vergessen müssen. Für immer.

 

Geständnis

Geständnis

 

 

Wütend und mit Tränen auf dem Gesicht starrte ich an die Decke. Ich fühlte mich so elend. Irgendwie war alles schief gegangen. Warum musste ich immer so Probleme mit der Liebe haben? Warum ich? Und Christoph... okay... dem ging es auch nicht anders. Der hatte auch Pech mit der Liebe. Aber er hatte noch Julia. Oder Nadja. Schließlich wollte sie ja mal was von ihm – oder wollte immer noch was von ihm. Sekunde – immer noch? Oh mein Gott!

Blitzschnell setzte ich mich auf.

Vielleicht war Nadja ja immer noch in Christoph verliebt! Und ich hatte ihn geküsst! Vor ihren Augen! Oh nein... ich musste sie fragen, wenn ich sie das nächste Mal sah.

Es war halb neun und ich lag schon ca. eine Stunde hier im Bett und dachte nach. Über Christoph... Christoph... Christoph... zur Zeit dachte ich an wirklich nichts anderes mehr. Das machte mir große Angst. Denn wenn ich es nicht mal aufbrachte, an Jake zu denken, dann... dann musste ich Christoph ja ganz schön lieb – nein. Ich liebte ihn nicht mehr, ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich liebte Jake mehr als ihn. So.

„Lea?“

Ich zuckte zusammen und wandte mich um.

Nadja sah mich vorsichtig an. „Geht’s dir gut?“

Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Stattdessen lief eine Träne über meine Wange.

Sie seufzte und nahm meine Hand. „Lea. Es wird alles gut, ja?“

„Ach, hör auf, mich zu beruhigen. Ich muss leiden. Ist ja meine Schuld, dass Christoph so leidet. Alles meine Schuld. Ich hab alles falsch gemacht. Ich hätte ihn nie küssen dürfen, ich hätte ihn nie berühren dürfen, nie mit ihm reden dürfen. Und ich habs trotzdem getan. Das hab ich jetzt davon. Einen leidenden Christoph, eine leidende Lea, einen leidenden Jake und vermutlich noch eine leidende Nadja.“

„Eine leidende Nadja?“ Nadja kicherte. „Was soll das denn?“

Ich sah ihr in die Augen. Langsam wurde ich ganz gut im Leute durchschauen. „Du liebst ihn noch, stimmt’s? Und du wolltest es mir nicht sagen, weil du Angst hattest, unsere Freundschaft würde kaputt gehen.“

Nadja schluckte und ihr Lachen verschwand. Sie warf mir einen unsicheren Blick zu. „Da hast du wohl recht. Aber ich konnte eure Liebe nicht zerstören, du warst so glücklich. Und ich... es war ja meine Schuld, dass er Julia bekommen hatte. Ich bin einfach nicht gut genug. Ich bin Nadja, nur Nadja.“

„Nein, nicht nur Nadja.“ Ich richtete mich auf und küsste ihre Stirn. „Du bist die tollste Nadja, die es gibt.“

Sie strahlte mich an. „Im Ernst?“

„Klar, voll im Ernst.“ Ich brachte ein etwas schiefes Lächeln zustande. „Und jetzt geh zu ihm. Gesteh ihm deine Liebe. Vielleicht erwidert er sie ja, deine Gefühle.“

„Jaa, als ob.“ Nadja lachte trocken. „Der Typ liebt nur dich.“

„Woher willst du das wissen? Vielleicht ist er ja ganz froh darüber zu wissen, dass es noch andere außer mir gibt, die an ihm interessiert sind.“

„Das weiß er doch eh schon. Hallo, wir reden hier von unsrem Oberstecher.“

„Aber...“ Ich setzte mich auf. „Aber er weiß ja nicht, dass du noch an ihm interessiert bist. Und du bist ja nicht irgendein Mädchen für ihn. Er hat dich auch mal geliebt.“

„Ja, das stimmt schon, aber...“ Nadja sah mich an. „Nein. Jetzt nicht. Das ist zu früh.“

Ich sah sie an. „Wie du meinst.“

Nadja nickte. „Es ist besser so, glaube ich. Für alle.“

In diesem Moment klingelte mein Handy. Es war Jakob.

„Ich lass dich kurz alleine“, murmelte Nadja und stand auf. „Bis nachher.“

„Okay“, erwiderte ich und wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Dann nahm ich ab.

„Hey, Jake.“

„Hi, Schatz! Und, wie geht’s?“

„Gut, prima, fantastisch geht’s mir“, log ich und versuchte, meine Stimme möglichst normal und ohne Zittern klingen zu lassen.

„Aha...“ Okay, langsam sollte ich wirklich aufhören, ihm etwas vorzumachen.

„Wirklich!“, sagte ich schnell. „Mir geht’s echt... großartig!“

„Lea?“, fragte Jake mit diesem Ich-bin-nicht-blöd – Tonfall.

„Ja?“, fragte ich, möglichst unschuldig, zurück.

„Was ist los? Sag’s mir.“

„Nichts.“

„Lea! Ich will das Spiel nicht nochmal spielen!“

„Mir geht’s echt total gut.“

„Ich leg gleich auf, wenn du’s nicht sagst!“

„Das ist gemein.“

„Tja.“

Ich seufzte. „Okay. Du hast recht. Mir geht’s nicht gut.“

„Und wieso?“

„Kann man nicht beschreiben... es ist so ein... doofes Gefühl.“

„Ein doofes?“, fragte Jake belustigt.

„Das ist alles andere als witzig, Jake!“, sagte ich wütend.

„Tut mir leid“, sagte er aufrichtig.

Ich stöhnte. „Du kriegst es echt immer hin, alles dazu zu wenden, dass du dich bei mir entschuldigen musst!“

„Was ist denn daran falsch?“, fragte Jake überrascht.

„Dass ich mich eigentlich bei dir entschuldigen muss!“

„Wieso?“

„Weil... weil...“ Ich schaffte es nicht. Ich konnte es nicht.

„Weil?“

„Ich... hab...“

„Du hast?“

„Mann, Jake! Hör auf mich mit Fragen zu löchern!“

„Aber ich will wissen, warum du dich bei mir entschuldigen musst!“, verteidigte sich Jake.

„Weil halt.“

„Lea, ich mein’s ganz im Ernst: wenn du’s mir nicht sagst, leg ich auf und dann nehm ich nie wieder ab.“

„Jake, nein!“

„Oh doch.“

Ich knurrte.

Jake kicherte.

„Okay.“ Ich holte tief Luft. „Willst du es wirklich wissen?“

„Ja.“

„Okay... ganz im Ernst?“

„Ja, verdammt.“

„Schön, okay.“ Ich räusperte mich. „Aber du bist dir schon sicher, oder?“

„Lea!“

„Es ist so schwer“, jammerte ich.

„Sag.“ Jakes Stimme hörte sich jetzt wirklich ernst an.

Ich kratzte mich am Kopf und dachte nach. Wie sollte ich anfangen? „Also...“ Schnell überlegte ich hin und her. „Heute ist da was passiert... was Schlimmes...“

„Was Schlimmes?“ Jetzt klang er besorgt.

„Ich... hab... ich... hab...“

„Lea!!!“

„Ich hab Christoph geküsst.“

Stille.

„Aber nur... nur ganz kurz.“ Das war zwar gelogen, aber ich musste es ihm ja nicht noch schwerer als nötig machen.

Immer noch Stille.

„Jake, sag doch was!“

„Na ja...“ Seine Stimme war belegt. Er litt. Das hörte man. „Ich fürchte, du wirst zu erst etwas sagen müssen.“

„Echt?“ Ich zitterte. „Und was?“

„Na ja...“, sagte er wieder. „Zum Einen... wieso hast du das getan? Liebst du ihn mehr als mich? Und wann war das? Und warum, Lea? Warum? Kriegst du echt keine Fernbeziehung hin?“

Ich schluckte und Tränen stießen mir in die Augen. „Doch... ich liebe dich. Und zwar mehr als ihn. Aber das ging so schnell... er kam ins Zimmer... und dann... ich weiß nicht... er, er kam zu mir runter... und dann hat er gesagt, dass er mich liebt... und da hab ich auch gefühlt, dass ich ihn... dass ich ihn...“ Ich brachte das Wort nicht über mich.

„Dass du ihn was?“

„Dass ich ihn... ihn...“ Ich schaffte es nicht. Eine Träne kullerte über meine Wange. Mein Herz pochte. Der Atem ging unregelmäßig. Ich fing an zu zittern.

„Lea?“

Kein einziges Wort brachte ich heraus. Stattdessen schluchzte ich laut.

Jake seufzte. „Dass du ihn auch liebst, nicht wahr?“

Ich gab keine Antwort. „Jake...“

„So ist es doch, oder? Du liebst ihn.“

Erst kam die zweite Träne, dann der nächste Schluchzer und dann fing ich an zu weinen. Schon wieder. Ein riesiger Dammbruch. Tränen strömten über mein blasses Gesicht und ich konnte nicht sprechen.

„Lea... hör auf, bitte...“

„Ich...“ Doch weiterreden konnte ich nicht. Zu viel Tränen flossen über meine zitternden Lippen.

Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Nadja ins Zimmer kam. Stocksteif blieb sie stehen und starrte mich bestürzt an.

„Es... geht nicht...“, schluchzte ich. „Alles... meine... Schuld...“

„Lea, bitte.“

„Ich... hab... alles... kaputt... gemacht... tut mir so leid... ich liebe dich... so sehr...“

„Ich dich auch, Lea“, sagte Jake leise.

„Nein... darfst... du nicht... meine Schuld...“

„Hör auf zu weinen, Lea.“

„Aber ich... hab doch... und du...“

„Ach, Lea...“ Er versuchte angestrengt, mich zu beruhigen.

„Jake...“

Nadja legte den Kopf schief, nickte dann und verließ langsam das Zimmer.

„Jetzt hör mir mal zu.“ Jakes Stimme hörte sich jetzt eher streng an. „Dass du Christoph geküsst hast, war zwar ein verdammt großer Fehler, aber du kannst es leider nicht rückgängig machen. Und... das mit uns beiden...“

„Jake“, sagte ich mit zitternder Stimme, „wenn du mich jetzt verlässt, dann bring ich mich um. Ich will nicht ohne dich leben, ich kann es nicht.“

„Lea, sag mir jetzt bitte ehrlich, ganz ehrlich: liebst du mich mehr als ihn?“

Ich musste gar nicht nachdenken. „Ja.“

„Warum hast du ihn dann geküsst?“

„Na ja... eigentlich war es ja so, dass er mich geküsst hat und ich den Kuss erwidert habe...“

„Das beantwortet nicht meine Frage.“

„Ich hab ihn geküsst, weil... weil ich ihn liebe.“

Jake holte tief Luft.

„Aber dich liebe ich mehr“, fügte ich schnell hinzu. „Viel, viel mehr.“

„Lea, das ändert doch nichts an meiner Lage!“ Er überlegte. „Einerseits hätte ich große Lust, Schluss zu machen, weil du mich... ernsthaft... verletzt hast, aber...“ Er holte tief Luft. „Ich tu es nicht. Dafür liebe ich dich zu sehr, und ganz ehrlich gesagt: ich kann auch nicht ohne dich leben.“

Erleichtert atmete ich aus. „Danke, Jake. Damit verhinderst du einen Selbstmord.“

Jake lachte zitternd auf. „Ja, womöglich.“

Wir schwiegen kurz.

„Jake...“, sagte ich dann.

„Ja?“

„Es tut mir so leid...“

„Schon okay.“ Jake seufzte. „Man kann sowieso nichts mehr ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Alles Vergangenheit.“

Ich nickte für mich selber. „Ja. Vergangenheit.“

In diesem Moment betrat Nadja wieder das Zimmer. Sie warf mir einen unsicheren Blick zu. „Und wie geht’s mit Jake?“

„Oh, bestens.“

„Gut.“ Nadja lächelte. „Was hat er gesagt?“

„Erzähl ich dir nachher und jetzt...“ Ich gab ihr eine kleine Handbewegung.

Nadja nickte. „Bin schon weg!“

„Danke.“ Ich zwinkerte ihr zu.

Sie lächelte, wandte sich um, und verließ den Raum.

Jake holte tief Luft. „Und... wirst du ihn vermissen?“

Ich zögerte. „Christoph? Ähm... na ja, also... schon, ein bisschen...“

„Okay.“ Jake überlegte kurz. „Vielleicht... vielleicht kann er dich ja mal besuchen oder so.“

„Was? Das würde dir nichts ausmachen?!“

„Nein. Solange du glücklich bist.“

„Das ist so... oh Gott, danke, Jake!“

„Ja... kein Problem.“ Er hielt kurz inne. „Ich glaub, ich mach jetzt Schluss.“

„Was? ... Nein, noch nicht!“

„Ich ruf dich bald wieder an, ja?“

„Okay...“ Ich presste die Lippen aufeinander.

„Mach’s gut, Lea. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, Jake. Wirklich.“

„Weiß ich doch.“ Ich spürte wie er lächelte. Dann legte er auf.

 

Fluchtplan

 Fluchtplan

 

 

Langsam und etwas angeschlagen trottete ich aus dem Zimmer in den Gang. Ein paar Schüler liefen herum, redeten, lachten und machten Witze.

Für sie war es ein ganz normaler Tag.

Für mich war es ein nasser, trauriger, verwirrte Tag. Ein Tag voller Liebeskummer.

Am liebsten würde ich jetzt laut schreien, mit den Füßen aufstampfen und mich weinend auf den Boden werfen. Aber das käme wahrscheinlich etwas seltsam rüber.

Verärgert schüttelte ich den Gedanken ab und marschierte in Richtung Eingangshalle.

Von draußen hörte man den Wind heulen, das laute Plätschern des Baches und das Rauschen der Blätter. Ein ganz normaler Tag.

Ich seufzte und beschleunigte meine Schritte. Ich wollte möglichst schnell raus hier, weg von den Menschen, raus in die Freiheit.

Ein paar um mich herum riefen meinen Namen, doch ich reagierte nicht. Ich lief einfach weiter, ohne sie zu beachten. Das kam jetzt wahrscheinlich etwas gestört rüber, aber es war mir egal. Es war vollkommen gleich, was die anderen dachten. Sie würden mich sowieso nicht mehr sehen. Jedenfalls nicht heute... oder morgen... vielleicht würden sie mich die ganze Woche nicht sehen.

Ich wollte nur noch weglaufen.

Tränen flossen über meine Wangen, als ich durch den Garten ging. Wie immer war kein Mensch hier draußen. Wunderschön friedlich war es und ich fühlte mich genauso wie heute vor dem Abendessen. Beruhigt und geborgen.

Ich schüttelte den Gedanken ab, bevor ich noch auf die Idee kam, doch noch hier zu bleiben. Denn das musste unbedingt vermieden werden.

Ich musste weg aus diesem Internet, ich musste nach Hause, zu Jake. Jetzt, sofort.

„Lea? Hey, wo gehst du hin?!“ Das war Nadjas Stimme.

Ich wandte mich nicht um, stattdessen rannte ich weiter, in Richtung Schlosstor. Es war offen, neben dran stand ein leeres Postauto. Das war meine Chance.

„Lea, warte!“ Ich hörte ihre rennenden Schritte auf dem Kiesweg und lief noch schneller. Weg hier, einfach nur weg. Das war das Einzige, was ich wollte.

„Bitte, Lea!“ Nadjas Schritte waren ungefähr zwei Meter von mir entfernt. „Bitte!“

Doch ich hörte nicht auf sie. Jetzt hatte ich das Tor erreicht. Schnell schlüpfte ich durch den Spalt und knallte das Tor hinter mir zu. Nadja konnte nicht hinter mir herkommen. Der Weg war versperrt.

„Lea...“, sagte Nadja flehend. Ich hörte, wie ihre Schritte sich verlangsamten, dann anhielten.

Auch ich stoppte, kurz vor der großen Hauptstraße. Ich holte tief Luft. „Was ist, Nadja?“

„Komm wieder zurück!“, bat Nadja. „Bitte!“

Ich wandte mich um. Sie stand direkt an dem vergitterten Tor und sah mich an, Tränen auf dem Gesicht.

„Nein“, sagte ich tonlos. „Ich komm nicht zurück.“

„Das ist doch albern, was du da machst!“

Ich seufzte. „Ich habe einfach diesen Entschluss gefasst. Ich will weg hier, nur weg. Das Internat hier erweckt in mir nur traurige Erinnerungen, hier ist zu viel passiert, ich will niemanden mehr von hier sehen. Denn dann würde alles wieder hochkommen. Das mit Christoph... und dir.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss nach Hause. Zu Jake.“

„Und du willst uns nie wieder sehen? Ehrlich?“

„Nie wieder kann ich nicht sagen. Vielleicht laufen wir uns zufällig mal über den Weg. Aber fürs erste will ich nichts mehr mit den Leuten vom Internat zu tun habe, okay? Das ist alles zu viel.“

„Zu viel?“ Nadja schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist nur Liebeskummer, Lea! Da muss man doch nicht weglaufen!“

„Du hast doch keine Ahnung!“, rief ich wütend. „Bist du schon mal zwischen zwei Jungen gestanden, die du unsterblich liebst?“

Nadja öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Sie schüttelte den Kopf.

„Eben.“ Ich starrte in den grauen Himmel. „Sei froh drüber.“

„Und... für wen entscheidest du dich jetzt?“, fragte Nadja unsicher.

„Für Jake natürlich.“ Ich schluckte. Es fiel mir schwer, das zu sagen. „Ich liebe zwar beide, aber... das mit Jake... das will ich einfach nicht aufgeben.“

Nadja sah mich an, offenbar immer noch total baff darüber, dass ich weglaufen wollte. „Und du... ich meine... dann können wir zwei doch trotzdem befreundet sein, oder“

„Nein, eben nicht“, meinte ich leicht genervt. „Wenn ich dich wiederseh, dann erinner ich mich sofort an Christoph, und dann... bekomm ich vermutlich wieder Liebeskummer.“

Nadja seufzte. „Denk doch mal, was wir davon halten. Ich zum Beispiel werde nur weinen, wenn du wegläufst. Ist dir das denn egal?“

Ich biss mir auf die Lippen. Da hatte Nadja einen Nerv getroffen. Mir war alles egal. Einerseits störte mich das, andererseits konnte ich nicht viel dagegen machen. „Es tut mir leid.“

Nadja wischte sich die Tränen weg. „Wieso...?“

Ich holte zitternd Luft. „Ich meine es im Ernst, du wirst mir dankbar sein. Eines Tages wirst du mir dankbar sein, weil dann... vergisst mich Christoph irgendwann und ihr zwei könnt zusammen sein.“ Ich versuchte zu lächeln. „Das ist doch toll, oder?“

Nadja schluchzte laut. „Nein, ist es nicht! Weil dann werde ich immer ein schlechtes Gewissen haben, weil ich weiß, dass du weggegangen bist, damit ich mit Christoph zusammen sei kann. Damit ich glücklich bin.“ Sie sah mich lange an, dann starrte sie auf ihre Füße. „Weißt du, ich dachte immer... dass wir zwei Freundinnen für immer sein werden. Wir haben uns so gut verstanden, diese Wochen.“ Sie schluckte. „Aber bei mir war es schon immer so. Ich hatte schon so viele Freundinnen auf diesem Internat. Alle, wirklich alle, sind nach einem Jahr gegangen. Und ich war wieder allein. Na ja... und jetzt... dachte ich eben... bei dir wäre es anders, weil... ich bei dir eine echte Freundin gefühlt habe, anders als sonst... und... jetzt...“ Tränen strömten über ihr Gesicht. „... jetzt läufst du weg... einfach so. Und wenn ich nicht hier hergekommen wäre, dann... dann hättest du dich nicht mal verabschiedet.“

Ich seufzte. „Dann wäre es anders gewesen, besser. Ich habe mir gewünscht, du würdest mich nicht sehen. Weil so ist es viel schlimmer für mich und für dich.“

Nadja sah mich flehend an. „Bitte, Lea, bleib hier.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“

Nadjas Lippen bebten. „Du lässt dich nicht umstimmen, oder?“

Ich schüttelt erneut den Kopf.

„Das könnte niemand? Nicht mal Christoph?“

Ich holte tief Luft. „Nein, der auch nicht.“ Auch wenn ich mir nicht sicher dabei war.

„Okay.“ Nadja senkte den Kopf und faltete die Hände, als wolle sie beten.

Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Vielleicht betete sie wirklich.

Langsam, ganz langsam, machte ich ein paar Schritte rückwärts, in der Hoffnung, Nadja würde es nicht merken.

Doch Pustekuchen. Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Geh ruhig.“

Ich starrte auf meine Füße. „Ja... bis dann.“ Leb wohl traf es zwar besser, aber ich sagte es lieber nicht. Stattdessen machte ich noch zwei Schritte nach hinten.

„Ähm... Lea?“

„Ja?“

„Du...“ Nadja sah mich unsicher an. „Du läufst gerade mitten auf der Straße.“

Ich zuckte zusammen und wandte mich um. Tatsächlich. Autos rasten an mir vorbei und ich befand mich auf einem weißen Streifen in der Mitte der Hauptstraße.

„Willst du nicht lieber runtergehen?“, fragte Nadja.

„Ja, ja.“ Ich lief schnell wieder in Richtung Gehweg. In diesem Moment hörte ich ein lautes Motorgeräusch.

Erschrocken drehte ich mich um. Ein großer LKW raste auf mich zu. Ich schrie entsetzt auf.

„Lauf doch!“, rief Nadja verzweifelt.

Doch meine Beine waren wie an den Boden gewachsen. Ich konnte sie nicht bewegen und der LKW war nur noch vier Meter von mir weg. Wieso hielt er denn nicht an?

„LEA!!“, schrie Nadja.

Doch ich wusste, dass es zu spät war. Ich zitterte am ganzen Körper, meine Beine versagten und ich ließ mich auf die Straße fallen. Mach’s gut, Christoph. Mach’s gut, Jake. Mach’s gut, Nadja.

Das Letzte, was ich wahrnahm, waren zwei helle Lichter, ein schepperndes Geräusch und ein lauter Schrei... von mir? Doch ich konnte nicht mehr denken.

Alles wurde schwarz um mich.

 

Das letzte Mal

Das letzte Mal

 

 

Wie geht’s ihr?“ Das war Christophs Stimme. Ich lächelte in mich hinein. Es tat gut, zu wissen, dass er in meiner Nähe war.

„Es geht ihr den Umständen entsprechend“, erklärte der Internatsarzt Dr. Buchmüller. „Sie hat zwei gebrochene Rippen, eine gebrochene Hand und eine leichte Gehirnerschütterung. Eigentlich hat sie Glück gehabt.“

Ich kniff die Augen fest zusammen. Ich hatte eine gebrochene Hand? Das wollte ich früher immer haben, damit ich in der Schule nicht schreiben musste. Aber jetzt fand ich es ganz und gar nicht gut. Was Jakob wohl denken würde, wenn ich in diesem Zustand nach Hause kam.

„Ist sie wach?“ Das war wiederum Nadjas Stimme. Sie zitterte, das hörte man.

„Keine Ahnung“, meinte Christoph. „Lea? Hörst du mich?“

Ich gab keine Antwort, ich hatte keine große Lust zu reden.

„Na ja, dann warten wir eben“, meinte er. Stühle knarrten, die zwei hatten sich offenbar hingesetzt. „Du hast es gesehen, oder?“, fragte Christoph dann.

„Ja. Es ging total schnell.“

Christoph zögerte. „Warum war sie eigentlich auf der Straße?“

„Na ja... kann man schlecht beschreiben. Zuerst haben wir uns darüber unterhalten, warum sie... na ja... weglaufen wollte.“

„Weglaufen?“

„Ja, sie sagte, dass...“ Nadja holte tief Luft und ich tat es ihr gleich. Wie würde Christoph wohl reagieren? „Sie sagte, dass sie einfach weg will, vom Internat. Da wären zu viele Erinnerungen an dich und mich. Und sie wollte zurück zu... Jake.“

Ich hörte wie Christoph die Zähne zusammenbiss.

„Und wie kam es zu dem Unfall?“, fragte er. Seine Stimme bebte und ich merkte, dass ihn meine Entscheidung weh tat. Am liebsten würde ich jetzt die Augen aufschlagen, ihn ganz fest umarmen und ihn einen langen, sanften Kuss geben.

„Sie ist rückwärst weiter gegangen, als ich kurz abgelenkt war. Sie dachte, ich würde es nicht merken.“ Nadja lachte kurz. „Und dann stand sie mitten auf der Straße und sie ist nicht weggegangen, keine Ahnung, warum.“

„Vielleicht wollte sie Selbstmord begehen, das kommt zur Zeit häufig vor“, meldete sich Dr. Buchmüller. Verächtlich schüttelte ich den Kopf. Selbstmord? Was bildete sich der bloß ein?

„Lea?“, fragte Christoph belustigt. „Bestimmt nicht. Die weiß doch gar nicht, wie das geht.“

Ich verdrehte innerlich die Augen. Vielen Dank.

„Also, ich sehe später wieder nach ihr.“ Dr. Buchmüller klatschte in die Hände. „Bis dann.“

„Tschüss“, sagten Christoph und Nadja gleichzeitig. Die Tür viel laut ins Schloss. Dann herrschte Stille.

Ich seufzte.

Vielleicht würden sie ja noch etwas Interessantes sagen. Okay, das war etwas gemein, weil ich ja einfach lauschte, aber... na ja, selbst wenn ich wach wäre, oder wenn sie es wüssten, dann wäre ich sowieso zu faul um zu reden. Sie konnten sich nicht beschweren.

Es sagte immer noch keiner was. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet.

„Meinst du, sie hat Schmerzen?“, fragte Christoph unsicher.

„Na ja... ist sicher nicht sonderlich angenehm, zwei gebrochene Rippen, eine gebrochene Hand und ne Gehirnerschütterung zu haben.“

„Sie soll aufwachen“, meinte Christoph ungeduldig. „Ich will mit ihr reden.“

„Sie wird sich nicht umentscheiden“, erklärte Nadja.

„Wer weiß. Manchmal tut ein Schlag auf den Kopf ganz gut.“

Unwillkürlich musste ich grinsen. Das war wieder ein typischer Kommentar von Christoph.

„Lea?“, fragte Nadja begeistert. „Du bist wach?“

Ich seufzte. Ich hatte einfach keine Lust den Mund und die Augen aufzumachen.

„Lea?“, fragte jetzt auch Christoph. Jemand zwickte mich in den Arm. Wütend verzog ich das Gesicht.

Chris kicherte.

Ich biss mir auf die Lippen. Der konnte auch nich aufhören zu nerven.

„Mann, Christoph, lass sie doch.“

„Ja, ja, schon gut.“ Eine kühle Hand strich über mein Gesicht. Das war Christophs Hand. Diese Haut kannte ich. Sie war so schön glatt.

Ich lächelte wieder.

„Da geht’s uns doch schon viel besser, oder?“, meinte Christoph belustigt.

„Ha, ha, ha“, brummte ich.

„Komm, jetzt mach mal die Augen auf“, drängte Nadja.

Ich stöhnte leise und blinzelte gegen das Sonnenlicht. Ich lag in einem großen Zweibettzimmer eines Krankenhauses. Niemand war hier abgesehen von uns dreien.

Beide sahen mich an. In ihren Augen spiegelte sich Sorge und Unsicherheit.

„Mir geht’s gut“, betonte ich.

„Ja, klar, das sehen wir“, meinte Christoph spöttisch.

Ich warf ihm einen genervten Blick zu. „Das ist nicht witzig.“

„Find ich auch nicht“, stimmte Nadja mir zu und küsste meine Stirn. „Tut dir nichts weh?“

„Na ja...“ Ich drehte meine eingegipste Hand hin und her. „Zwickt ein wenig. Und Kopfweh hab ich auch. Aber sonst fühl ich mich bestens.“

„Klasse!“ Nadja strahlte mich an. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht, weißt du, dass sah richtig übel aus.“

Ich lächelte schwach. „Hm... hab nicht sonderlich viel davon gefühlt. Ich war schon bewusstlos.“

„Du Glückliche“, meinte Nadja.

„Tja.“ Ich grinste stolz. „Eine gute Eigenschaft von mir. Ich hab immer Glück im Unglück.“

„Das kann man wohl sagen“, sagte Christoph grinsend.

Es herrschte kurz Stille. Dann ergriff Nadja das Wort. „Ähm... du... hast du eigentlich immer noch vor... wegzugehen?“

Ich seufzte und schloss die Augen. „Ich weiß es nicht.“

„Du fährst doch morgen sowieso nach Hause“, meinte Christoph.

Überrascht blickte ich auf. „Was? Wieso?“

„Du bist verletzt.“ Er deutete auf meine Hand. „Und deine Mutter hat darauf bestanden, dass du nach Hause kommst, weil du dort ja in besseren Händen seist.“

„Das hat meine Mutter gesagt?“, fragte ich verblüfft.

„Ja.“ Nadja grinste mich an. „So schlimm wie du immer sagst, ist sie wohl doch nicht.“

Ich lachte trocken. „Das wird sich daheim wieder ganz schnell ändern, glaub mir.“ Ich setzte mich auf und sah die beiden an. „Ich werde euch vermissen. Ganz ehrlich.“

„Wir dich auch.“ Nadja nahm meine Hand und lächelte mich an.

Christoph sagte nichts.

Nadja boxte ihn in die Seite. „Wir beide, oder?“

Er antwortete immer noch nicht.

Ich seufzte, beugte mich vor und küsste ihn sanft auf den Mund. „Ich liebe dich, Christoph. Egal ob ich zuhause bin, oder hier bei dir. An meinen Gefühlen wird sich nichts ändern. Das verspreche ich dir.“

Christoph sah mich an. „Und was nützt mir das? Du hast dich für Jake entscheiden. Du brauchst mich nicht mehr.“

„Was redest du denn da?“ Ich setzte eine wütende Miene auf. „Natürlich brauche ich dich noch! Nur weil ich nicht mir die zusammen sein werde, heißt das doch nicht, dass ich nichts mehr von dir wissen will, oder?“

„Aber du hast dich gegen mich entschieden. Weil du Jake mehr liebst als mich.“

Ich seufzte. „Ja, das stimmt.“ Ich blickte ihn an. „Aber ich möchte den Kontakt zu dir trotzdem noch aufrecht erhalten. Es wird trotzdem funktionieren mit uns. Irgendwie.“

Christoph erwiderte meinen Blick. Er versuchte, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, doch ich sah den Schmerz in seinen Augen. „Wenn du das sagst.“ Seine Lippen bebten und er biss fest darauf. „Ja, vielleicht hast du recht.“

Ich griff nach seiner Hand. „Danke, Christoph. Damit machst du es mir um Einiges leichter.“

Da flog die Tür auf und Dr. Buchmüller kam herein. „Da ist ein Anruf für dich, Lea.“

„Oh... ähm... danke.“ Neugierig nahm ich den Hörer entgegen. Eigentlich ahnte ich schon, wer es war.

„Ha – “ Doch ehe ich weiterreden konnte, wurde ich von einer aufgelösten Stimme unterbrochen.

„Mann, Lea, was machst du nur für Sachen? Ich komm grad heim, da ruft ein Dr. Buchmüller an und sagt mir, dass du von einem LKW angefahren wurdest?! Lea, weißt du, wie erschrocken ich war!? Ich hab mir solche Sorgen gemacht, was ich natürlich immer noch hab, aber... ich mein... wieso??? Wie kommst du auf die Idee, über eine Straße zu laufen und dann mittendrin stehen zu bleiben?! Im Ernst, dass ist nicht lustig! Und außerdem – “

„Hey!“, unterbrach ich Jake lachend. „Mir geht’s echt gut.“

„Und du denkst, dass ich dir das glaube? Du liegst im Krankenhaus, hast zwei gebrochene Rippen, eine gebrochene Hand und eine Gehirnerschütterung!! Und da sagst du, dass es dir gut geht!“

Jake war völlig aus dem Häuschen. „Aber... chrm...“ Er holte tief Luft. „Okay, jetzt mal langsam. Wie ist das eigentlich passiert?“

Ich seufzte. Dann erzählte ihm alles.

Danach herrschte kurzes Schweigen.

„Du... du...“ Jake zögerte. „Du entscheidest dich also für mich?“

„Natürlich für dich!“ Ich warf Christoph einen kurzen Blick zu. Er starrte anscheinend gelassen auf seine Hände. Aber ich merkte, dass er zitterte. „Auch wenn es mir etwas... schwer fällt.“

Jake seufzte. „Klar. Wenn du nicht willst, dann –“

„Ich will, du Idiot.“

„Schön.“ Jake hörte sich glücklich an. „Ist Christoph gerade da?“

„Ehm... ja. Wieso?“

„Kann ich ihn mal kurz sprechen?“

„Bitte was?“

„Du hast schon richtig gehört. Gib ihn mir mal.“

„Jake... ich weiß nicht...“

„Lea“, mahnte Jake. „Bitte.“

„Na schön.“ Ich wandte mich zu Christoph. „Hey, ähm... Jake will dich sprechen.“

Er zog die Brauen hoch. „Ach ja? Und wieso?“

„Keine Ahnung. Frag ihn doch selber.“

Christoph seufzte. „Na, das kann ja interessant werden.“ Er nahm den Hörer. „Hallo?“

Angespannt saß ich im Bett. Was Jake wohl zu sagen hatte? Leider konnte ich ihn nicht hören.

„Hm...“ Christoph runzelte die Stirn. „Das ist schon okay, ich mein - was? Ach so, ja, klar. ... Ja gut, das tut mir auch leid.“ Er grinste. „Aber du hast es ja viel öfter und darfst es ja auch noch länger... was? Ja, wahrscheinlich werd ich das, wenn’s dich nicht stört... echt? Ja, hab davon gehört.“

Ich runzelte die Stirn. Es war kindisch, aber ich fühlte mich ausgeschlossen.

„Alles klar... ja, gut, ich geb sie dir wieder... ciao.“ Er reichte mir den Hörer.

Verwirrt fragte ich in den Lautsprecher: „Muss ich das verstehen?“

„Ich hab ihm nur gedankt, weil er deine Entscheidung so bereitwillig aufgenommen hat.“

„Ach ja?“

„Gut, bereitwillig sicher nicht. Aber er ist nicht ausgerastet.“

„Nicht ganz ausgerastet.“

„Mein ich ja.“ Jake seufzte. „Und er hat sich dafür entschuldigt, dass er dich geküsst hat und dass du wegen ihm im Krankenhaus liegst.“

Ich lachte. „Das wurde ja auch mal Zeit.“

„Und ich hab ihm gesagt, dass er dich auch mal besuchen kommen soll. Ich will ihn schließlich mal kennenlernen, den tollen, großen Christoph.“

„Na ja...“ Ich warf Christoph einen kritischen Blick zu. „... sooo groß und toll ist er ja auch nicht.“

Christoph funkelte mich an und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich sagte schnell: „War 'n Scherz. Er ist echt cool.“

Christoph zog die Brauen hoch. Ich zwinkerte ihm zu.

„Kann ich mir vorstellen“, meinte Jake gelassen. „Typen, die du küsst, können ja nur cool sein.“

„Passt schon, Jake.“

„Was denn? Stimmt doch. Das war nicht arrogant gemeint oder so.“

„Ne is klar.“ Ich grinste. „Aber eigentlich wirst du Christoph ja auch am Bahnhof kennenlernen.“

„Wieso? Fährt er morgen mit nach Berlin?“

„Ähm...“ Ich wandte mich zu Christoph. „Willst du morgen mitfahren?“

Christoph runzelte die Stirn. „Ähh... klar. Wenn’s dir nichts ausmacht.“

Ich strahlte. „Ja, er fährt mit.“

„Cool.“

Ich zögerte. „Aber ihr werdet... na ja... ihr werdet euch ja nicht prügeln, nicht wahr?“

Christoph verkniff sich das Lachen und ich warf ihm einen wütenden Blick zu.

„Quatsch. Warum sollten wir uns prügeln? Ich hab keinen Grund dazu.“

„Aber er vielleicht.“

„Dann frag ihn und nicht mich.“

„Du hast recht.“ Ich seufzte. „Christoph?“

„Was?“

„Ihr werdet euch morgen nicht prügeln oder so, gell?“

Christoph prustete erneut los. Das war Antwort genug für mich.

„Nein, werdet ihr nicht“, erklärte ich Jake.

„Da bin ich ja beruhigt.“ Er grinste offenbar. „Du, ich muss jetzt Schluss machen, okay?“

„Geht klar“, sagte ich.

„Ist doch nicht schlimm, oder?“

„Nein, nein“, log ich. Denn ich musste zugeben, dass ich enttäuscht war. Am liebsten hätte ich noch ewig mit ihm telefoniert.

„Okay. Dann sehen wir uns ja schon morgen. Ich warte am Bahnhof. Und... gute Besserung.“

„Dankeschön.“

„Stell nichts Blödes an.“

„Ich versuch's.“

Jake lachte. „Ich liebe dich, Lea.“

„Und ich dich erst“, murmelte ich so leise, dass Christoph es nicht hören konnte. Dann drückte ich auf den roten Knopf und legte das Telefon beiseite.

„Und, wie wars?“, fragte Nadja neugierig.

„Alles okay.“

„Das ist gut.“ Christoph streckte sich. „Ich werde nie wieder ein schlechtes Gewissen haben, jetzt, wo alles geklärt ist.“

Ich grinste.

In diesem Moment klingelte Nadjas Handy. Überrascht hob sie ab. „Ja? ... Nein, ich bin doch gerade erst gekommen... Mann... Ja, gut... Bis gleich.“ Sie legte auf und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Sorry, aber ich muss gehen. Wir sehen uns später, ja?“

„Schon gut.“ Ich lächelte sie an. Eigentlich war ich froh, dass sie wegging, was nichts gegen sie persönlich war. Aber ich musste mit Christoph unter vier Augen reden. Das würde die Situation entspannter machen, denn ich wusste, dass er viel zu sagen hatte... und ich auch.

„Danke.“ Sie beugte sich zu mir runter und küsste meine Stirn. „Mach’s gut. Ciao, Idiot!“

„Ciao!“ Christoph hob grinsend die Hand.

Dann verließ Nadja mit schnellen Schritten das Zimmer. Die Tür fiel ins Schloss. Eine Weile lang sagten wir beide gar nichts. Niemand traute sich anzufangen. Eigentlich hätte ich das tun sollen, weil alles meine Schuld war, aber ich brachte es nicht über mich. Also fing Christoph an.

„Weißt du, Lea“, begann er, „ich hatte mir gewünscht, dass uns noch mehr Zeit bleibt.“

Ich schwieg. Ja, das hatte ich auch. Aber irgendwann musste es so weit gewesen sein.

„Ich war nicht darauf vorbereitet, dass es so bald sein würde. Alles kam so überraschend... der Kuss... die Trennung... der Unfall...“ Er hielt kurz inne. „Und ich muss zugeben, dass mir deine Entscheidung nicht gefällt.“

Klar, mir würde es auch so gehen.

Immer noch sagte ich nichts.

„Deshalb glaube ich nicht... dass wir lange miteinander befreundet sein können.“

Ich zuckte zusammen. „Was?!“

„Du hast mich schon verstanden: keine Freundschaft. Jedenfalls nicht ewig.“

Ich zitterte. „Wieso?“

„Ich glaube nicht, dass ich das aushalten würde. Es tut mir leid.“ Er meinte es wirklich ernst. „Aber bis zum Bahnhof fahr ich morgen trotzdem mit dir. Schließlich wollen wir beiden Krieger uns ja auch mal kennenlernen.“ Er grinste. Wahrscheinlich wollte er mich aufheitern, aber mir war ganz und gar nicht nach Lachen zu Mute.

„Das ist gemein.“

„Lea.“ Christoph beugte sich vor und rückte näher zu mir. „Versteh doch, wie schwer es für mich wäre. Und für dich wahrscheinlich auch.“

„Klar, versteh ich ja“, brummte ich. „Aber gemein ist es trotzdem.“

„Das stimmt.“ Christoph seufzte. „Ich wünschte, es wäre anders gekommen.“

„In welchem Sinne?“

„Na ja... ich glaube, es wäre besser gewesen, wir hätten uns im Zug gar nicht erst kennengelernt.“

Ich grinste gezwungen. „Glaubst du allen Ernstes, ich hätte diese schauderhafte Musik über mich ergehen gelassen? Da kennst du mich aber schlecht.“

„Ich kenn dich aber sehr gut, Lea.“ Er legte die Hände um meinen Nacken. „Das weißt du auch.“

„Schon.“ Ich zögerte. Wäre ich vernünftig, hätte ich ihn von mir weggeschoben. Aber leider war ich wie immer unvernünftig.

„Mmmh...“, murmelte er und küsste meine Wange.

„Christoph...“, warnte ich. „Wir tun es schon wieder.“

Er seufzte und ließ seinen Kopf auf meinen Oberkörper sinken. „Ich weiß, es ist falsch. Aber es ist einfach schwer.“

„Versteh ich.“ Schließlich ging es mir nicht anders.

Ich schlang die Arme um seine Taille und küsste seine schwarzen Haare.

„Ah, Lea...“, murmelte Christoph und küsste meinen Hals. „Ich kann dir einfach nicht widerstehen... warum musst du nur so sein?“

„Mir geht’s mit dir doch genauso so.“

Chris reckte sich und rollte mich herum, sodass er auf mir lag. Sehnsüchtig legte er seine Lippen auf meine.

Ich wusste, dass wir etwas Verbotenes taten, doch ich konnte nicht anders. Soweit es meine gebrochene Hand zuließ, zog ich ihn mit aller Kraft zu mir hinunter. Ich wollte ihn nie wieder loslassen.

„Du bist so außergewöhnlich, Lea“, flüsterte Christoph an meinem Ohr.

„Ach ja?“, fragte ich ebenso leise.

„Ja...“ Er wanderte mit seinen Lippen meinen Hals entlang bis zu meiner Schulter.

„Und wieso?“, wollte ich wissen, während ich alles von ihm küsste, was ich erwischen konnte.

„Du bist einfach einzigartig. Ich hab noch nie so ein Mädchen wie dich getroffen. Du bist so liebenswürdig, so hübsch, manchmal so dämlich und trotzdem einfach begehrenswert.“

„Begehrenswert?“ Dieses Wort ging mir langsam richtig auf die Nerven.

„Für mich schon.“ Er strich liebevoll über meine braunen Haare. „Und für Jake auch.“

Ich lächelte. „Du bist auch begehrenswert, Christoph.“

„Vielen Dank.“ Er lächelte ebenfalls und küsste mich wieder auf die Lippen. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass nur coole Typen auf dich stehen?“

„Cool?“ Ich grinste. „Ja, Jake finde ich auch sehr cool.“

Christoph warf mir einen verärgerten Blick zu und wandte sich zum Aufstehen.

Schnell packte ich ihn an der Hand und zog ihn wieder zu mir herüber.

„Leaaa... das dürfen wir nicht...“, murmelte Christoph, doch ich hörte auch in seiner Stimme den Widerwillen seiner Worte.

„Ich weiß.“ Ich legte sanft meine Lippen auf seine. „Aber nur einmal, ja? Nur dieses letzte Mal.“

„Ich hab nichts dagegen einzuwenden.“

Ich grinste. „Gut, ich auch nämlich nicht.“

Dann küssten wir uns wieder. Wieder und wieder.

Es war wunderschön, aber gleichzeitig auch traurig. Ich wusste, dass es der Abschied war. Für immer. Ich wollte es nicht glauben, aber ich wusste es einfach. Schließlich hatte ich es ja die ganze Zeit gewusst.

„Weißt du...“, sagte ich leise, „... ich wünschte, das Leben wäre einfacher.“

„Das wünschen sich viele.“ Christoph legte seine weichen Lippen auf meinen Hals.

„Ich weiß.“ Gegen meinen Willen stießen mir plötzlich Tränen in die Augen. „Aber warum erfüllen sich diese Wünsche nicht?“

Christoph sah mich durchdringend an. Als er die Tränen sah, seufzte er und rollte sich von mir herunter und neben mich aufs Bett. „Ich weiß es nicht. Aber ich wüsste es gern.“

Ich holte tief und zitternd Luft. „Die Welt ist ungerecht.“

„Das kannst du laut sagen.“

Ich schluckte. Christoph hatte es am schlimmsten getroffen, das wusste ich. Und es war ein bisschen albern von mir, mich zu bemitleiden. Eigentlich musste man Christoph trösten. Natürlich. Aber ich konnte nicht anders. Ich seufzte. „Es tut mir so leid, Christoph.“

„Weiß ich doch.“ Er küsste meine Haare. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Schwerer als für mich, vermute ich.“

Ich schloss die Augen. „Am liebsten würde ich für immer und ewig bei dir bleiben. Aber dieses Gefühl, dieser Drang, auch gleichzeitig bei Jake zu sein, ist einfach so riesig. Es tut mir so leid.“

„Schon okay.“ Er strich nachdenklich über meine Wange. „Irgendwie war ich nicht ganz überrascht, als ich deine Entscheidung gehört habe. War ja von Anfang an klar gewesen.“

Ich schluchzte leise. „Es tut mir so –“

„Schschsch ...“, beruhigte Christoph mich und küsste meine bebenden Lippen. „Ich bin dir nicht böse.“

„Überhaupt nicht?“, fragte ich überrascht.

„Kein bisschen.“

„Aber... aber... wieso?“

„Na ja, weißt du... ich kann mich sehr gut in dich hineinversetzen. Weißt du noch, bei Julia und Nadja? Da ging es mir nämlich genauso. Ich wollte keine verletzen, aber ich liebte Nadja einfach mehr. Es tat mir so leid für Julia, weil ich sie auch liebte. Aber ich konnte nichts dagegen machen. So wie bei dir. Deshalb bin ich dir nicht böse. Julia war es auch nicht.“

„Und... was fühlst du dann?“, flüsterte ich. Eigentlich wusste ich es ja schon.

„Ich bin traurig, verzweifelt, enttäuscht. Aber nicht böse.“

Ich atmete schwer aus. „Puh. Zum Glück.“ Dann zuckte ich zusammen. „Äh... das war nicht so gemeint. Ich meine, zum Glück bist du nicht sauer.“

Christoph lachte leise. „Klar, versteh ich schon.“

Wir schwiegen kurz.

Dann fragte Christoph leise: „Und das war das letzte Mal, ja?“

Ich nickte.

Er stöhnte leise. „Natürlich. Wusst ich’s doch.“

Ich wischte mir über die tränennassen Augen. „Es tut mir so leid.“

„Wenn du dich nochmal entschuldigst, bin ich wirklich böse.“

Ich lächelte schwach. „Tut mir –“ Ich brach ab.

Christoph lachte. „Und trotzdem wäre es schöner, wenn es nicht das letzte Mal gewesen wäre.“

„Für mich ja auch“, murmelte ich. „Aber du weißt, dass das nicht geht. Ich muss dagegen ankämpfen.“

„Wir sehen uns doch eh nie wieder“, meinte Christoph achselzuckend. „Dann ist es doch egal.“

Ich seufzte. Die Vorstellung, Christoph nie wieder zu sehen, gefiel mir gar nicht. „Bitte bleib doch. Ich will nicht ohne dich leben.“

„Das hast du doch selber vor einer Minute beschlossen!“

„Schon...“ Ich schluckte. „Aber ich will trotzdem mit dir befreundet sein.“

Christoph nickte. „Natürlich. Klar. Versteh ich schon.“ Er starrte an die Decke des Zimmers. „Und trotzdem geht es nicht.“

Ich zitterte und eine Träne floss über meine Wange. „Das ist einfach nur unfair.“

„Ich hab ja deine Handynummer. Bei einem Notfall ruf ich dich an.“

„Notfall?“

„Wenn ich dich zu sehr vermiss.“

„Ach so.“ Ich grinste. „Und dann?“

„Dann ruf ich dich an und befehle dir, zu mir zu fahren.“

„Und wo wohnst du?“

„In München.“

„München? Wahnsinn!” Ich klatschte in die Hände. „Ich fahr auf jeden Fall mal bei dir vorbei.“

Christoph kicherte. „Dann sperr ich dich aber den ganzen Tag in mein Haus ein und lass dich keine Sekunde raus zum Shoppen, ja?“

„Das kann ich der Polizei melden.“

„Tja.“ Christoph zuckte die Achseln. „Dann bist du aber schuld, wenn ich ins Gefängnis muss. Das würdest du dir nie verzeihen, oder?“

„Kommt drauf an, wie sauer ich auf dich bin. Und außerdem würde ich dich jeden Tag besuchen.“

„Ich würde aber nicht mit dir reden wollen. Ich wäre böse.“

„Das ist gemein!“, protestierte ich. „Dann würde ich ja umkommen vor Sorge! Könnte schließlich sein, dass du dir das Leben nimmst!“

„Warum in aller Welt sollte ich das tun?“

„Weil du mich so sehr vermisst und du dir solche Vorwürfe machst.“

„Vorwürfe?“ Christoph lachte. „Bestimmt nicht. Ich fände es lustig.“

Ich biss mir auf die Lippen. „Na klar.“

„Hey.“ Er küsste mich auf die Wange. „War nur ein Scherz.“

„Und was heißt das jetzt?“

„Dass ich mir das Leben nehmen würde.“

Erschrocken sah ich ihn an. „Das darfst du nicht! Dann nehm ich mir vor Trauer das Leben!“

„Oh nein!“ Mit gespielter Theatralik schlug er sich mit der Hand auf die Stirn.

Ich funkelte ihn an. „Okay. Morgen ist mein Begräbnis.“

Er verdrehte die Augen. „Heute schlecht drauf?“

„Warum wohl?“ Ich deutete auf meine Hand, auf ihn, dann seufzte ich und lehnte mich an seine Schulter.

„Tja...“ Er grinste. „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“

Ich verdrehte die Augen. „Müssen Jungs eigentlich immer mit solchen Sprüchen um sich werfen?“

Christoph lächelte und fing an, etwas vor sich in zu summen. Ich kannte die Melodie.

„Was ist das?“, fragte ich erstaunt. Christoph sang sehr selten.

Er wiederholte das Lied und mir fiel es wider ein. Es war „My heart will go on“. So ziemlich jeder kannte ja dieses Lied. Genauso wie jeder Titanic kannte.

Ich lächelte. „Ich mag das Lied.“

„Ich nicht.“

„Und warum singst du's dann?“

„Weil ich einen Ohrwurm habe. Und irgendwie beschreibt die erste Zeile gerade ganz gut meine Gefühle.“

Ich senkte den Blick. „Every night in my dreams, I see you, I feel you”, murmelte ich.

„Genau.“

Ich biss mir auf die Lippen. Das würde auch meine Gefühle widerspiegeln – allerdings eher für Jake. Ich träumte zur Zeit oft von ihm. Von seinen dunklen Augen, seinen braunen Haaren und seinem Engelslächeln.

Christoph strich über meinen Handrücken. „Du denkst gerade an ihn.“

Ich zuckte zusammen. Eigentlich sollte es mich ja nicht mehr überraschen, dass man mich durchschaute. „Na ja... also... ja, tu ich.“

Er seufzte. „Verstehe.“ Er streckte sich und kletterte aus dem Bett.

„Hey!“ Ich setzte mich erschrocken auf, stöhnte dann aber gleich wieder auf – meine Rippen taten weh.

„Leg dich hin“, sagte Christoph beschwichtigend. „Sonst brichst du dir noch eine Rippe.“

„Hahaha.“

Er grinste. „Nur zu deiner Sicherheit.“ Dann wandte er sich zur Tür.

„Nicht gehen“, flehte ich. „Bleib hier!“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Es ist gleich Mitternacht und-“

„Mitternacht!?“ Ich konnte es nicht fassen.

„Ja, du warst lange bewusstlos.“ Er seufzte. „Der Direktor macht Ärger, wenn ich so lange weg bin.“

„Ich kann mich für dich einsetzen“, sagte ich sofort.

„Mach dir keine Mühe“, meinte er gelassen. „Ich würde ohnehin gehen.“

„Aber wieso?“, jammerte ich.

„Lea.“ Er sah mich lange an. „Erstens bin ich müde und will keine Strafarbeit bekommen und zweitens...“ Er seufzte. „... zweitens hast du wirklich recht. Du musst dagegen ankämpfen. Und ich auch. Und am besten wär es, wenn wir so früh wie möglich damit anfangen. Wir sehen uns nur noch morgen. Und dann kommt nicht alles so plötzlich.“ Er lächelte schwach.

„Aber das ist doch egal, nicht jetzt. Bleib noch hier. Ein Abschiedskuss, bitte!“, flehte ich.

Er schüttelte widerwillig den Kopf. „Du weißt ja nicht, wie gern ich das tun würde. Aber es geht nicht. Wie du vorher gesagt hast: es war das letzte Mal. Das allerletzte Mal.“ Er lächelte mir zu.

„Gute Nacht, Lea.“

Dann verließ er das Zimmer.

 

 

Eine Erinnerung

Eine Erinnerung

 

 

Der Zug hielt quietschend am Berliner Hauptbahnhof.

Voller Vorfreude starrte ich aus dem Fenster. Jake war nirgends zu sehen.

„Ist er nicht da?“, fragte Christoph hoffnungsvoll.

Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Er wird schon noch kommen.“

Dann wandte ich mich der Gepäckablage zu.

„Du bist viel zu freundlich mit ihm“, wies mich Christoph zurecht. „Der Typ verdient dich gar nicht.“

„Stimmt nicht.“ Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um den Koffer zu berühren. „Es ist eher umgekehrt.“

Keuchend versuchte ich, den riesigen Koffer aus der Gebäckablage zu zerren.

„Meine Güte, bist du schwach“, spottete Christoph, schubste mich sanft zur Seite und hob den Koffer mühelos heraus und gab ihn mir.

„Angeber“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. „Und außerdem hab ich mir die Hand gebrochen. Du musst mir nicht beweisen, wie stark du bist.“

Christoph lachte. „Sei doch froh! Ansonsten würdest du dich jetzt immer noch abplagen.“

Ich verdrehte die Augen. Seit der Hinfahrt zum Internat hatte sich Christoph wirklich null verändert.

Offenbar konnte Christoph Gedanken lesen, denn er meinte lächelnd: „Ich werde mich nie ändern, Lea.“

„Ich befürchte es.“

Christoph lächelte noch breiter. „Komm, gehen wir.“

Und so stiegen wir hinaus, in den kalten Wind aus der Stadt. Leute drängten sich auf dem Bahnsteig, es war unmöglich, Jake zu finden.

„Also, ich warte hier, bis er kommt“, entschied ich mich.

„Dann geh ich mal.“ Christoph schulterte seinen Rucksack, warf mir noch einen kurzen Blick zu und marschierte dann in Richtung Rolltreppe.

„Nein, warte doch noch!“ Schnell packte ich ihn an der Hand. „Nicht gehen!“

Er warf mir einen spöttischen Blick zu. „Sag bloß, du willst mich hier haben, bei dir.“

„Ich will dich hier haben“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Bei mir.“

Christoph seufzte und blieb stehen. „Na dann. Lass uns auf den großen Jake warten.“

Ich stieß ihm wütend in die Rippen. „Halt die Klappe, Christoph.“

Er sah mich lachend an. „Du wirst dich auch nie ändern, Lea.“

Ich zog die Brauen hoch. „Positiv oder negativ?“

„Hm... positiv... und negativ.“

Ich verdrehte die Auge. „Schon klar.“

Christoph grinste. Doch urplötzlich erlosch sein Lachen und er sah auf einmal schlecht gelaunt aus.

„Was ist?“, fragte ich überrascht.

„Nichts“, murmelte er.

Ich zog die Brauen hoch. „Ja, klar.“

„Dreh dich doch mal um, dann weißt du, was los ist.“

Verwundert wandte ich mich um und erstarrte.

Da stand er. Die gleichen braunen Haare, die gleichen dunklen Augen, das gleiche wunderschöne Gesicht. Alles war wie damals. Die zwei Monate waren mir wie ein wirkliches ganzes Jahr vorgekommen.

Nur sein Blick war anders... er war so... misstrauisch und... unsicher.

War es wegen Christoph?

Doch ich hatte keine Lust, mir darüber Gedanken zu machen, ich konnte es auch gar nicht.

Denn in dem Moment, als ich Jake sah, fing mein Herz an, schneller zu pochen, mein Atem ging unregelmäßiger und unwillkürlich musste ich lächeln, nein, sogar strahlen. Da war er, Jakob, der süßeste Junge der Welt und mein persönlicher Engel.

„Jake“, flüsterte ich. Ich konnte es nicht fassen. Briefe, Telefonate, SMSs und Karten, zwei endlose Monate lang. Und jetzt war er wieder da. Ich sah ihn, von Angesicht zu Angesicht.

Unsere Blicke trafen sich und wir starrten uns eine Weile lang, ohne dass sich einer von uns rührte.

Jake lächelte und ich lächelte zurück. Ein Glücksgefühl durchströmte mich. Unbeschreiblich schön. Jake war da. Nichts könnte mein Glück übertreffen.

Dann rannte ich los, ohne richtig zu spüren, dass meine Beine sich bewegten, ich lief einfach, ohne darüber nachzudenken, ich wollte einfach zu Jake, egal auf welche Weise.

Kurz vor ihm blieb ich stehen und sah ihn an. Das musste ein Traum sein. Jakob stand vor mir. Lächelnd, glücklich, sehnsüchtig, wie ich.

Jake breitete die Arme aus. „Willkommen zu Hause.“

Ich lächelte ihn an. „Hallo, Jake.“

Dann konnte ich nichts mehr sagen, er stürzte auf mich zu, schlang die Arme um mich und legte seine Lippen auf meine.

Wir küssten uns voller Sehnsucht, Liebe und Leidenschaft. Schon zwei Monate lang hatte ich mich auf diesen Moment gefreut und jetzt war er da. Jake... Jake... Jake...

Jakes Lippen küssten meine Stirn und er sagte leise: „Ich liebe dich, Lea.”

Unwillkürlich stießen mir Tränen in die Augen und flossen über meine Wangen, ich wusste nicht warum.

„Ich dich auch.“ Dann weinte ich, voller Glück. Jake war da, etwas Wichtigeres gab es im Moment nicht. Der Rest war einfach egal.

„Du weinst?“ Bestürzt sah Jake mich an. „Was ist los?“

„Du bist da...“, schluchzte ich.

„So schlimm gleich?“

„Nein, du Trottel.“ Dann zog ich ihn fester zu mir und küsste ihn sehnsüchtig auf die Lippen. „So schön!“

Jakob lächelte. „Du ist so süß.“

Ich lachte leise und zitternd auf. „Und du erst.“

Dann legte ich weinend und gleichzeitig lächelnd meinen Kopf auf seine Schulter. Ich brachte nicht mal mehr die Kraft auf, ihn zu küssen.

„Oh, Lea.“ Jake küsste meine Haare. Dann kicherte er.

„Was ist?“

„Ist der Typ dahinten Christoph?“

„Ja.“

„Deshalb sieht er so wütend aus.“

Ich grinste. „Ja... er mag dich nicht sonderlich.“

„Tja.“ Jakes Stimme hörte sich stolz an. „Wenn man so eine begehrte Freundin hat, gehört es auch dazu, Feinde zu haben.“

Begehrt.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich und begehrt... ich versteh’s immer noch nicht.“

„Du bist wunderschön.“ Sehnsüchtig strich er über meine braunen Haare. „Und so lieb.“

„Lieb?“ Ich lachte laut auf. „Ich hab dich betrogen, Jake!“

„Fang doch nicht wieder damit an“, flehte Jake leise. „Sonst trenn ich mich noch von dir. Und das ist im Moment das, was ich am wenigsten will.“

Ich schluckte. „Mir geht’s genauso.“

Jake machte Anstalten, in Richtung Christoph zu laufen, um meine Koffer zu holen, doch ich hielt ihn zurück.

„Was ist?“

„Geh nicht“, bat ich.

„Wieso?“

„Christoph bringt dich um.“

„Ach was.“ Er lächelte, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. „Jetzt hab ich dich gesehen, jetzt kann er mich umbringen, das Wichtigste in meinem Leben ist ja dann bei mir, bei meinem Tod. Und außerdem war er am Telefon ziemlich nett.“

Ich zog eine Schnute. „Du bist so...“ ,doof’ wollte ich sagen, aber Jake war einfach nicht doof, man konnte ihn nicht beschimpfen.

Christophs Miene verdunkelte sich noch mehr, als wir händchenhaltend auf ihn zu liefen.

Als wir dann bei ihm stehen blieben, musterte er mich kurz, schenkte Jake aber keine Beachtung.

Ich musste ein Grinsen unterdrücken.

Jake ging es offenbar genauso. Er presste die Lippen aufeinander und hob meinen Koffer hoch.

„Alles?“, fragte er.

Gerade wollte ich mich Christoph zuwenden, als mich zwei Arme von hinten packten und mich fast von den Füßen rissen.

Ein Überfall?

Ich wirbelte herum, doch ein Haufen blonder Haare verdeckten mir die Sicht.

Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.

Aniela löste sich von mir und strahlte mich an.

Und dann kreischten wir gleichzeitig los.

„Annie!“

„Lea!“

„Ich kanns nicht glauben!

„Ich auch nicht!“

„Wie...“

„Du...“

„Ich hab dich so vermisst!“

„Und ich dich erst!“

„Ich...“

„Ich...“

Wir starrten uns einen Moment lang an.

Dann stießen wir beide einen lauten Jubelruf aus und fielen uns um den Hals.

Typisch, Mädchen, ich weiß. Aber bei mir und Aniela war das einfach so. Ich war so überglücklich wie schon lange nicht mehr.

Nachdem wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten, wandte sich meine beste Freundin an Christoph. Sie zwinkerte mir zu. „Hihihi, Christoph...“ Sie drehte sich zu ihm um. „Hallöchen!“

„Hey.“ Christoph musterte Aniela, als wäre sie verrückt.

Aniela grinste mich breit an. „Wo ist Nadja?“

„Durfte nicht mit“, erklärte ich und versuchte angestrengt, die Tränen runter zu schlucken.

„Ach so.“ Aniela schob leicht die Unterlippe vor. „Dann... lass ich euch mal alleine.“ Immer noch grinsend entfernte sie sich ein paar Schritte.

Ich sah Christoph kurz an. „Tja...“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Christoph sagte nichts. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und funkelte Jake an.

Dieser lächelte ihn freundlich an. „Hallo, Christoph.“ Er reichte ihm die Hand. „Schön, dich kennen zu lernen.”

Christoph grinste spöttisch und schüttelte seine Hand. „Hey.“ Dann sah er mich erneut an.

Jake zögerte, nahm die Hand wieder zu sich und fragte mich: „Macht’s dir was aus, wenn ich schon mal vorgehe? Ich schätze, dein Freund hier will noch mal allein mit dir reden.“

„Kein Problem.“

„Gut.“ Jake gab mir einen flüchtigen Kuss und ging los.

Christoph sah ihm wütend nach. „Der macht sich voll an dich ran.“

„Er ist ja auch mein Freund“, erinnerte ich ihn zufrieden.

„Ja... das seh ich.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Gut, also... wir sehen uns.“

Ich starrte ihn überrascht an. „Soll das jetzt ein ,tschüss’ für eine ewige Zeit sein?“

Christoph zuckte die Achseln. „Wieso nicht?“

Mir stießen Tränen in die Augen. „Ich will aber nicht...“

„Was?“

„Mich von dir verabschieden...“

Christoph seufzte und strich über meine Wange. „Hey... wir sehen uns sicher wieder... irgendwann...“

Irgendwann..“ Ich holte tief Luft, um zu verhindern, loszuweinen. „Ich will aber ewig bei dir bleiben.“

Er sah mich lange an. „Du hast doch hier einen Freund, Lea. Ich find hier keinen Platz, nicht in deinem Leben.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich zitternd und griff nach seiner Hand, als wollte ich sie nie wieder loslassen, was ja eigentlich auch stimmte.

„Na ja... versteh doch: ich liebe dich, Lea. Sehr sogar. Und wenn wir noch Kontakt haben werden und uns vielleicht irgendwann wieder treffen, dann... dann wäre das schrecklich für mich. Denn am liebsten würde ich deine Hand nehmen, dich berühren, dich küssen und...“ Er seufzte. „... und dann werde ich mich daran erinnern müssen, dass du schon einen Freund hast. Und ich werde mich zurückhalten müssen und mitansehen, wie jemand anderes dich küssen darf, wie er dich küssen darf. Und das halte ich nicht aus.“ Er sah mich kurz an, und starrte dann auf seine Füße.

„Aber, Christoph!“ Verzweifelt nahm ich seine Hand.

„Lea...“ Er küsste mich auf die Wange. „Mach’s gut, ja? Wir sehen uns. Irgendwann.“

„Ganz bald, ja?“, sagte ich flehend.

„Ja... nein... ich weiß nicht.“ Er seufzte. „Es ist doch nur das Beste für dich.“

„Das Beste?“, fragte ich schrill. „Es soll das Beste sein, wenn wir uns nicht mehr sehen?“

„Lea, weißt du nicht, wie schwer das für mich ist?“

Ich zitterte. „Nein, Christoph, bitte...“ Ich strich über sein Gesicht.

Er kniff die Augen zusammen und atmete schwer. „Das meine ich, Lea...“ Er sah mich verzweifelt an. „Wenn du mich berührst, erweckst du in mir diesen Drang, dich zu küssen. Und das darf nicht passieren.“

Ich schluchzte laut. „Aber... aber... nein...“

Christoph beugte sich zu mir herunter und legte seine Lippen auf meine, ganz kurz, und ganz sanft. „Lea, das haben wir doch gestern schon besprochen.“

Ich schluckte. Er hatte recht. Ich führte mich albern auf. „Ich will nicht...“

„Mach’s gut, Lea.“

„Bleib da...“ Ich wusste, dass es kindisch von mir war, aber ich weigerte mich strickt, das Besprochene aufzunehmen. Christoph konnte nicht einfach so aus meinem Leben verschwinden, das durfte er nicht. Gestern kam mir alles so einfach vor... so... schwer zwar, aber ich hatte es akzeptiert. Und jetzt? Ich wünschte, ich könnte es Christoph leichter machen.

Er seufzte. „Pass auf dich auf, Lea.“

„Nein...“, flehte ich.

Er sah mich verzweifelt an.

Ich wischte mir über die Augen. „Wieso...?“

Er schluckte. „Tut mir leid...“

Dann wandte er sich um und lief los, in Richtung Rolltreppe.

Ich sah ihm hinterher, gab mir keine Mühe, ihn zu rufen, ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, ich hatte ihn verloren. Für immer.

„Christoph... nein... geh nicht...“ Ich redete vor mich hin, als wäre er noch da.

Stumme Tränen durchnässten mein Gesicht und tropften auf mein T-Shirt.

Es war vermutlich das letzte Mal gewesen, dass ich gesehen hatte. Das allerletzte Mal. Wie gestern.

Ich blickte auf.

Er war oben, wandte sich kurz um und sah mich an. Er litt so sehr, genau wie ich.

Christoph starrte auf seine Füße, es sah so aus, als würde er es sich nochmal anders überlegen. Doch dann drehte er sich wieder um und bog um die Ecke. Ich sah ihn nicht mehr. Er war weg.

Ich schluchzte noch lauter auf und vergrub das Gesicht in meinen Händen.

Sofort spürte ich kalte Hände auf meinen Schultern.

Ich sah nicht auf, ich wusste, dass es Jake war. Jetzt musste er das auch noch mitansehen, wie ich Christoph nachweinte, einem anderen Jungen, den ich mal geküsst hatte.

„Lea... es wird alles gut...“ Jakobs sanfte Stimme erweckte in mir ein beruhigendes Gefühl, doch meine Trauer war zu groß, um dieses Gefühl zu erhören. „Nicht weinen...“

Ich zitterte, ich brachte kein Wort heraus.

Dann blickte ich wieder auf. Zwischen einem Tränenschleier sah ich ans obere Ende der Rolltreppe. Natürlich war Christoph nicht da.

Schluchzend lehnte ich mich an Jakes Schulter. Was war nur geschehen? Zwei Monate Internat, was das alles verändern konnte. Und was ein einziger Mensch in ein paar Wochen ausrichten konnte.

Ich hatte mich doch vorher so gefreut, dass Jake da war und jetzt – eine Viertelstunde später – stand ich weinend am Bahnsteig und das nur wegen Christoph. Wegen ihm, den ich am Anfang der zwei Monate nicht leiden konnte, den, der mich immer geärgert hatte. Christoph... ich würde ihn nie vergessen, ich würde ihm nie vergessen, dass er mich verlassen hatte, nur, damit es mir gut ging.

Nein, dachte ich und nahm Jakes kalte Hand, ich werde dich nie vergessen, Christoph.

Und ich lächelte unwillkürlich, als ich Christophs Gesicht vor mir sah.

Ich öffnete die Augen und sah in Jakes besorgtes Gesicht. „Mir geht’s gut.“

Jake lächelte schwach. „Sieht aber nicht so aus.“

Ich ließ den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Sofort erschien wieder sein Gesicht, die blauen Augen und die schwarzen, zerstrubbelten Haare und ich musste feststellen, dass es mir wirklich wieder gut ging. Ich musste nur an ihn denken... nur sein Gesicht vor mir sehen, dann würde ich wieder glücklich sein... glücklich... und es würde fast so sein, als stände er vor mir... wenn ich ihn lachen sah... fast so, als würde er wieder bei mir sein... für immer.

Doch ich musste mich zusammenreißen, schließlich konnte ich nicht mein Leben lang an ihn denken. Aber für das nächste Jahr durfte ich schon noch. Vielleicht auch noch für die nächsten zwei... oder drei ... oder – NEIN! Schluss jetzt. Das mit Christoph war vorbei. Er war weg, ich würde ihn nicht mehr sehen und es war wirklich das Beste für mich, das musste ich mir eingestehen.

Ich seufzte und Jake küsste meine Haare.

Ich war glücklich mit Jakob und das würde immer so sein. Und Christoph... okay, mit ihm wäre ich auch glücklich gewesen, aber... jetzt war es zu spät. Vielleicht würde ich an ihn denken... wahrscheinlich auch ziemlich oft.

Es war eine schöne Erinnerung, sein Gesicht zu sehen, sein Lachen, seine Art. Doch es war eben nur das, und das würde es auch immer bleiben – eine Erinnerung.

 

 

 

 

 

 

 

Nachts auf meinem Bett sehnte ich mich

nach meinem Liebsten. So gern wollte ich

bei ihm sein, doch er war nicht da.

‚Ich will aufstehen, die Stadt durchstreifen,

durch die Gassen und über die Plätze laufen.

Meinen Liebsten muss ich finden!’

Ich suchte nach ihm.

Doch vergebens.

 

Hohelied 3, 1 – 4. Nächtliche Sehnsucht

 

 

 

Sinah Wiborg,

2007

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.08.2015

Alle Rechte vorbehalten

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