Geschrieben am 20.05.2012
Nachdruck, auch auszugsweise nur nach Genehmigung des Autors
Rechtschreibung nach bestem Wissen und Gewissen
Coverfoto: © / msmist.deviantart.com
Gestaltung, Satz und Bildbearbeitung: Robin Jander
Allen gewidmet,
die das Seil jeden Tag sehen,
die es nicht mehr können,
immer gerade aus,
immer einen Fuß vor den Anderen,
immer ohne hinunter zu blicken.
Die Blicke der Anderen ruhten schwer auf Niklas. Jede seiner Bewegungen, jeder Schritt den er tat wurde beobachtet. Nicht die kleinste Regung blieb dem gesichtslosen Publikum verborgen. Dies war der Moment. Der Moment, auf den er schon immer vorbereitet worden war.
Damals als er seine ersten Schritte machte, waren sie bereits da gewesen, hatten ihn betrachtet, kommentiert, reglementiert.
Nein.
Dies war das eine Wort, welches Niklas zu hassen gelernt hatte. Und doch war es, diese unscheinbaren vier Buchstaben, zu seinem Leitfaden geworden. Sie hatten ihm alles gelehrt. Sie hatten aus ihm den Seiltänzer gemacht. Jenen Mann, auf dem nun die Blicke der Menge ruhten.
Nein, da darfst du nicht hin. Schau mal da. Da musst du hin. Nein. Nicht Abbiegen. Nein. Nicht umschauen. Nein. nicht Entdecken. Nein. Nein. Nein.
Bereits als Kind war es so gewesen. Damals war es noch ein Spiel. Eine Vorbereitung auf sein Leben, wie er nun verstand. Doch hatte es vor so vielen Jahren noch so unschuldig gewirkt.
Niklas konnte sich noch immer deutlich daran erinnern. Es war eine andere Zeit gewesen. Eine Zeit der Unbeschwertheit. Seine Kindheit. Eine Zeit in der er noch den Boden hatte sehen können.
Und doch. Bereits da hatten sie ihm beigebracht immer geradeaus zu gehen. Nicht so wie er es nun tat. Nein es war nur eine Linie auf dem nackten Boden gewesen. Einer der es zu folgen galt. Einer auf welcher es zu Balancieren galt.
Keine Strafen, die ihn gezwungen hätten. Nichts, das ihn gehindert hätte die Linie zu verlassen. Und doch hatte Niklas sich schon damals begeistern lassen. Begeistern durch die Worte der Anderen. Begeistern durch die Belohnungen. Belohnungen, welche er erhielt wenn er auf der Linie ging. Belohnungen dafür nicht abzuweichen, nicht zu straucheln.
Doch mit der Zeit war aus dem Spiel ernst geworden. Umso älter Niklas geworden war desto mehr hatte er sich von jenen kindlichen Zeiten entfernt.
Die gemalte Linie war einem Seil gewichen. Zuerst nur wenige Zentimeter hoch. Dann Meter. Erst noch ein Netz, eine Balancierstange. Dann nichts mehr. Keine Sicherung, keine Hilfe.
Und doch dachte er nie daran aufzuhören. Die Bewundernderung des Publikums, ihre Blicke, ihr Applaus. Das waren die Dinge, die Niklas zum weitermachen bewegten.
Schon lange war das eigene Interesse an dieser Kunst vergangen. Schon lange machte es ihm keinen Spaß mehr auf dem Seil zu Balancieren, immer nach vorne zu gehen, immer den Blick auf den Horizont zu richten, nie einen Blick zurück, nie einen Blick um sich herum zu werfen. Einzig das Publikum, einzig die Blicke der Unbekannten, ließen ihn weiter machen.
Die Gesichtslose Menge war unlängst zu Niklas Lebensinhalt geworden. Sie nannten ihn den Großen. Den Einmaligen. Den Seiltänzer.
Niklas konnte darüber nur lachen. Er verstand nicht. Verstand nicht, warum sie ihm zusahen. Verstand nicht, warum sie ihn bewunderten. Verstand nicht, warum er ihnen gefallen wollte.
Doch was sollte er sonst tun? Die Frage schoss ihm wie ein glühender Speer durch den Kopf.
Was sollte er nur tun? Von klein auf, war er hierauf vorbereitet worden. Bereits als Kind hatte er das Seil, welches es zu bezwingen galt, zu lieben gelernt. Dies war seit jeher seine Bestimmung gewesen. Er war ein Seiltänzer. Er war dazu bestimmt, das Drahtseil zu beschreiten. Er war dazu bestimmt, das Publikum zu entzücken. Er war dazu bestimmt ihm zu gefallen.
Fallen darf man nicht!
Dieser Satz. Sooft schon hatte Niklas ihn gehört.
Er war Absolut. Eine Wahrheit, welche nicht hinweg gewischt werden konnte. Auch nicht von Niklas.
Denn wer fiel, verlor die Gunst der Zuschauer. Wer fiel, wurde von ihnen zerrissen. Wer fiel durfte sich nicht mehr frei unter ihnen bewegen. Wer fiel würde für immer von Skepsis und Argwohn verfolgt werden.
Und doch schien es Niklas so unendlich verlockend zu sein.
Endlich das Drahtsein verlassen. Nicht länger dem vorgeschriebenen Weg folgen müssen. Nicht länger das Gleichgewicht erzwingen.
Würde der der Aufprall ihn zerschmettern? Würde er Niklas befreien? Würde er einen neuen Lebensinhalt finden können? Würde er überhaupt einen Weg finden können?
Einen Weg, welchen er sich selbst suchen würde? Einen Weg, der ihm nicht vorgeschrieben würde? Einen Weg, der ihn zu dem Ort bringen würde, den er sich ersehnte?
Dort. Hoch oben auf seinem Seil konnte Niklas keine Antworten auf diese Fragen finden. Er wusste nur eines: Fallen darf man nicht!
„Warum eigentlich?“, fragte er sich selbst.
Dies war der Moment. Der Moment, auf den er im Inneren schon immer vorbereitet gewesen war. Der Moment, in dem er aufgab. Aufgab die Kontrolle behalten zu wollen. Aufgab zu balancieren. Aufgabe sich halten zu wollen.
Fallen. Befreiung. So empfand es Niklas. So empfand er es, als er den Tanz auf dem Seil Aufgab. So empfand er es sich einer neuen Welt zu zuwenden.
Einer Welt, in welcher in jede Richtung gehen konnte.
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2012
Alle Rechte vorbehalten