E
s war ein klarer Wintermorgen im Dezember 1762, kühl und rein wie eine frische Quelle, die sich leise sprudelnd aus den rauen Felsen der schroffen, in der Morgensonne rötlich leuchtenden Berge der Gegend rund um den Mt. Lozère ergießt. Schnee, so weiß wie die Wolken am östlichen Morgenhimmel, hatte sich über die erfrorene Landschaft des Gévaudan gelegt. Ein lautloser, frostiger Wind wehte über die Hügel, wie ein eiskalter Hauch, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, zu Eis erstarren lässt. Eine düstere Stille lag in der Luft. Eine Stille, die selbst für Ruhe Suchende nur schwer erträglich war. Eine Stille, die einen glauben ließ man befände sich inmitten eines unbeschreiblich angsteinflößenden unwirklichen Nichts.
Der Wald, sonst so üppig und grün, jetzt eingehüllt in tiefste Dunkelheit, war umgeben von schier undurchdringlichen Nebelschwaden, die fast jede erkennbare Form verblassen ließen und alles mit einem weißen Schleier aus Kälte und Schweigen umhüllten. Die dürren Skelette der Bäume, verhangenen mit Eis, bogen sich unter ihrer schweren Last und drohten darunter zu ersticken, klagten gar über den viel zu harten Winter, der ihnen in diesem Jahr bereits arg zugesetzt hatte. Still lag er dort, der Wald. Still wie im Traum. Ein Traum, der einen vergessen lässt. Vergessen, dass im Sommer einst die Vögel hier ihre fröhlichen Melodien zwitscherten. Und eigentlich müsste man denken, dass nichts, aber auch gar nichts diese Stille jemals hätte durchbrechen können. Dass nichts dieses scheinbar unerschütterliche Bild hätte aufwühlen können.
Doch der Nebel lichtete sich. Ein Geräusch bezwang die unerträgliche Stille. Pferdehufe! Am fernen Horizont erschienen einsam und hoch zu Ross zwei Reiter im Schnee. Die Pferde schnaubten nach Luft. Ihr weißer Atem war schon aus der Ferne zu sehen. Mit einem rasanten Tempo näherten sich die zwei berittenen Silhouetten dem Wald, der da so unberührt lag, als hätte noch nie zuvor ein irdisches Wesen seinen Fuß auf dessen Boden herabgesenkt.
Schnee wirbelte umher. Die Reiter trieben ihre Pferde an. Vorwärts! Immer weiter und immer schneller, geradewegs auf den Wald zu. Einer der beiden Reiter, bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass es sich hierbei um ein junges Mädchen handelte, trug ein langes, üppiges Gewand, purpurrot und umsäumt von edelstem samtweichem Pelz, der den Anschein machte, als wärme er die erstarrten Glieder selbst im tiefsten und kältesten Winter, und das ebenso gut, wie ein angenehm knisterndes Feuer im heimatlichen Kamin.
Der weite, ausladende Rock des leuchtend roten Gewandes wehte im Galopp hinter seiner Trägerin im Wind, wie der Schweif eines feurigen Kometen, der seine Bahnen am Himmel zieht. Die hohen, braunen Lederstiefel an ihren Füßen, gefüttert mit demselben Pelz, der auch ihr üppiges Gewand schmückte, drängten den Wallach vorwärts zu laufen. Immer schneller. Immer weiter.
Die langen kupferfarbenen Haare des Mädchens, die in der hellen Morgensonne rotgold schimmerten, hatte sie sich unter einem kleinen zierlichen Hut, schwarz und mit Spitze und Tüll kunstvoll verziert, gekonnt zu einem gleichmäßig geflochtenen Pferdeschwanz zusammengebunden. Die prachtvollen dichten Locken, die ihr an den Schläfen unter diesem Kunstwerk von einer Reiterhaube hervorquollen, wippten und wehten im Wind. Der Zopf der Reiterin flog im Galopp, gleich dem Schweif ihres Pferdes. Ein Bild, welches sogar aus der Ferne noch eine graziös anmutende Ästhetik versprühte.
Wangen und Nase der jungen Reiterin glühten rot. Vor Kälte zumeist, so sollte man meinen, doch vor allem vor Eifer und Belustigung, denn wie es schien war sie recht vergnügt über diesen Ausritt und genoss es in vollen Zügen bei diesem gar wildem Tempo durch den kalten Schnee und den eisigen Wind zu reiten. Ihre strahlenden Augen, grün wie zwei schimmernde Smaragde, glänzten im grellen Schein des Schnees, welcher das Licht der Sonne wie ein Spiegel zurückwarf. Das freundliche und zugleich höchst amüsierte Lachen des Mädchens war kaum zu überhören. Je näher die beiden Reiter dem Wald kamen, desto lauter hallte es zwischen den Bäumen hervor.
Der andere Reiter, ein wenig hinter seiner jungen Begleiterin zurückgefallen, sah eher erschöpft und müde aus, etwa so, als ob er mit einigen Mühen zu kämpfen hatte um mit seiner Gefährtin Schritt zu halten. Dennoch lachte auch er aus tiefstem Herzen, wann immer er ihre Stimme vernahm und deren Echo, wie es immer wieder aus dem dunklen Wald widerhallte und dabei die Äste der kahlen Bäume zum zittern brachte.
Der Reiter trug einen langen Mantel, rotbraun, aus bestem, dickstem Leder und einen Umhang aus feinstem schwarzem Samt, den auch er hinter sich her wehen ließ, wie eine Fahne, die sich stetig regt ein großes Ereignis anzukündigen. Seine festen, schwarzen Stiefel, mit weichem Wolfsfell gefüttert, trieben die Stute zu Höchstleistungen an. Die Hose aus rot glänzender Seide schimmerte immer wieder unter seinem aufgewirbelten Mantel hervor, der ihm bis über die Knie fiel. Auf dem Kopf, bedeckt von langen schwarzen Haaren, die ihm sonst gelockt bis über die Schultern fielen und die er nun mit einem Band aus schwarz schimmerndem Samt zusammengebunden hatte, trug der Reiter einen seltsam dreieckig geformten Hut aus dunklem Filz, die Ränder verziert mit goldenen Bändern und an den Kanten nach innen gefaltet.
Auch das Gesicht dieses Reiters war gerötet, doch bei ihm schien es mehr die Anstrengung zu sein, die ihn erröten ließ, als Belustigung oder gar Ehrgeiz. Seine blauen schmalen Augen blickten recht verzweifelt auf das Bild, welches sich ihm im Vordergrund bot, denn im Gegensatz zu seiner jungen Begleiterin, fiel er immer weiter zurück.
Die Pferde hetzten dem düsteren Wald entgegen. Es schien, als würden die beiden Reiter eine wahre Hetzjagd veranstalten, wobei es eine große und unentschuldbare Schande war, die Beute ziehen zu lassen. Unaufhaltsam preschte die junge Reiterin voran, bald wieder dicht gefolgt von ihrem unwesentlich älteren Begleiter, der sich noch immer die allergrößte Mühe gab seine Gefährtin auf schnellstem Wege einzuholen. Er atmete keuchend.
„Verflixt! Dieser Gaul ist wahrhaft nicht einzuholen!“ Der Reiter prustete erschöpft und schnappte nach Luft. Verbissen und zugleich ratlos starrte er auf die Reiterin vor ihm, die sich nun voller Elan und mit einem fast hämisch anmutenden Grinsen auf dem zarten und sonst lieblichen Gesicht zu ihm umdrehte. „Also gibst du auf?“, rief sie ihm zu und blickte ihn fordernd an, ohne sich dabei auch nur einmal nach der Richtung umzudrehen. Ein sanftes und gutmütiges Lächeln zauberte sich wiedererwartend auf dem Gesicht des Reiters ab. Er schmunzelte und versuchte dabei so gelassen wie möglich zu wirken: „Aufgeben? Ich hör wohl nicht recht! Wann hast du mich das letzte Mal aufgeben sehen?“ Diese Frage schien sie zu amüsieren. Sie wandte sich nach vorn um und brach in schallendes Gelächter aus. Ihre Augen funkelten hell, als sie ihm einen mitleidigen Blick über die Schulter zuwarf, der anmerken ließ, dass sie sich köstlichst über ihren Verfolger amüsierte. „So wie du das sagst, Bruderherz, klingt es, als könntest du schlecht verlieren!“ Sie schmunzelte.
„Das nicht, meine Liebe!“ gab er zurück, doch stockte dann. „Aber dein Gaul ist wahrhaftig zu schnell!“ Er lachte und schüttelte den Kopf, als wolle er damit sagen, dass ihm diese Tatsache ganz und gar nicht gefiel und dass es ihm lieber wäre, wenn er jetzt vorne läge.
Der Wald kam unaufhörlich näher. „Wie kannst du das wissen? Hast du dich je mit ihm gemessen?“ Die junge Reiterin kicherte leise. „Hier trifft die Schuld wohl eher deine Stute!“ In seinen Augen las man Verwunderung und zugleich Belustigung. Er begann nun langsam aber sicher aufzuholen. Zügig trieb er seine Stute an. Die Hände, eingepackt in feste Lederhandschuhe, umklammerten die Zügel und hielten sie so kurz wie möglich.
„Oh!“ staunte das Mädchen verwundert, „Du holst also auf? Hast du etwa Angst, das Rennen gegen deine kleine Schwester zu verlieren?“ Er, nun auf einer Höhe mit ihr und ihrem Wallach, blickte sie hämisch an, während beide in einem unglaublichen Tempo schon fast den Saum des Waldes erreicht hatten. Sein Haar wehte im Wind und die Sonne, die nun seitlich von ihnen am östlichen Himmel immer weiter aufging, wärmte sein angestrengtes und vor Kälte gerötetes Gesicht.
„Du weißt, gegen dich zu verlieren ist mir eine weitaus größere Freude, als dich zu schlagen! Mache ich dir denn einen solch verbitterten Eindruck?“
Sie musterte ihn grinsend. Dann hob sie die Augenbrauen, lächelte und sprach in einem Ton, der so ruhig und gefällig war, dass man, wenn man ihn hörte, hätte vermuten können, sie liege ruhig im Gras und sonne sich auf einer sommerlich grünen Wiese voller duftender Blüten.
„Du kannst es kaum ertragen, nicht wahr? Ich sehe dich doch bei der Jagd! Noch nie habe ich dich dabei so erschöpft gesehen. Gib es zu! Es missfällt dir, dass ich in Führung liege!“
Er blinzelte beschämt, versuchte aber dennoch Haltung zu bewahren und räumte ein: „Wer verliert schon gern ein Rennen? Nein, mir macht es nichts aus gegen dich zu verlieren, kleine Schwester. Nur frage ich mich, wie unser Stallbursche es immer schafft, mir den lahmsten aller Gäule zu satteln! Tut er das in der Absicht, sich bei dir einen Vorteil zu verschaffen? Oder hast du ihn wohl bestochen?“
Die Miene der Reiterin verfinsterte sich schlagartig. Mit einem Mal gab sie ihrem Pferd die Sporen und sprang in hohem Bogen davon, hinein in den im Sonnenlicht silbrig schimmernden Wald. Sekunden später war sie verschwunden. Ihren verwunderten Begleiter ließ sie zurück. Dieser war vor Schreck stehen geblieben und hatte dabei die Zügel seiner Stute so feste angezogen, dass das Tier sich kurz aufbäumte, um danach wieder mit den eisenbeschlagenen Hufen sanft im kühlen Schnee zu landen. Seinen routinierten Reiter, der derartiges von seinen Pferden gewöhnt zu sein schien, warf dies nicht aus dem Sattel. Er saß eine Weile da und starrte ratlos auf den Wald, bis er sich endlich entschloss, seiner jungen Begleiterin zu folgen. Bald war auch er im tiefen Dunkel des Waldes verschwunden.
Texte: Der gesamte Text (inklusive Titel, Untertitel, Covertext, Rückentext und Widmung) ist geistiges Eigentum von Virginia Wolfsfeder! Folglich liegen die Rechte, sowie die Verantwortlichkeit für den in diesem Buch enthaltenen Text bei der Autorin
(Virginia Wolfsfeder).
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Werk sei allen gewidmet, die mir lieb und teuer sind!