»Ohne unsere Vergangenheit zu kennen, können wir unsere Zukunft nicht gestalten.«
(Ta´elga, Sanguenritterin.)
»Mein Name ist Ta´elga. Ich bin eine Ritterin. Genauer gesagt, eine Ritterin des Sanguen. Ich bin frei, endlich frei.
Ich kämpfte gegen Menschen, Zwerge, Elfen und andere Wesen und tötete sie. Ich war ein Vasall des Magistrats. Ich tat schreckliche Dinge, die mein Gewissen plagen. Die Gräueltaten, die ich im Namen des Magistrats beging, werde ich nie wieder los. Nie wieder. Ich werde damit leben müssen, bis zum Ende meiner Existenz.
Ich kann mich nur an das Leben auf Acceras, der grauen Festung, erinnern. Woher ich stamme und wie ich hierherkam, weiß ich nicht. Von Acceras aus, zog ich in die Schlachten gegen unsere Feinde, um meine Ausbildung zur Sanguenritterin zu vollenden. Für jeden meiner siegreichen Kämpfe wurde ich von den Herrschern mit ihrem Wohlwollen belohnt.
Ich befolgte streng die Regeln der Lehre.
Ich tötete, gab dem unstillbaren Verlangen nach Gewalt, Blut und Tod nach.
Ich musste sogar eine Frau aus meinem Volk hinrichten. Die Herrscher befahlen mir ihren Tod. Es war das einzige Mal, dass ich jemanden getötet habe, der nicht gegen mich kämpfte. Nur kurz habe ich gezögert. Das Gefühl, dass es nicht richtig war, währte nur kurz. Ich tötete diese Frau mit meinem Elementumschwert. Sie verzieh mir vor ihrem Tod. Ich werde mir diese Tat nie verzeihen. Niemals.
Mein Elementumschwert ist ein mächtiges Schwert, auf das ich stolz bin, trotz allem. Ich wurde eine gute und furchtlose Kämpferin, die mit ihrem Schwert Angst und Schrecken unter den Feinden verbreitete. Ich musste viele Kämpfe bestreiten. Alle im Namen der Herrscher. Eines Tages, in meinem letzten Kampf für den Magistrat, geschah etwas.
Ich erkannte plötzlich, welchen Götzen ich gedient hatte. Ein Zauber erlöste mich. Ich schwor dem Magistrat ab. Ich war plötzlich frei. Voller Reue und mit dem festen Willen mich für die gute Sache einzubringen, für die Ehre und Wahrheit zu kämpfen, für die Freiheit in die Schlacht zu reiten, habe ich meine ganze Kraft und mein Schwert in den Dienst der Union gestellt. In einer blutigen Schlacht, die ich als Sanguenritterin an der Seite der Union geschlagen habe, fiel Acceras.
Die graue Festung ist auch unter der Flagge der Union weiterhin meine Heimat. Eine andere kenne ich nicht. Noch nicht. Bevor ich weiter für die Union kämpfen werde, beginne ich eine Reise in meine Vergangenheit. Bevor ich diese Welt für immer verlassen muss, möchte ich meine Wurzeln kennen. Ich muss wissen, woher ich komme, wer ich bin. Wer ist Ta´elga früher gewesen?
Meine erste Station wird Minae sein, die Hauptstadt der westlichen Königreiche. Ich erhoffe mir, dort mehr über meine Vergangenheit zu erfahren.«
»Fürchte nicht deine Feinde, fürchte nur die Verräter.«
(Aaghyl, Lord des Magistrats und Oberbefehlshaber.)
»Ich habe Schmach und Schande über uns gebracht. Ich habe die Schlacht verloren, die in diesem Krieg endlich die Wende bringen sollte. Ich, Lord Aaghyl, bin der Oberbefehlshaber aller Armeen des Magistrats und habe versagt.
Ich muss wohl eher sagen, dass ich noch der Oberkommandierende bin.
Was mein größter Sieg werden sollte, ist nun meine größte Niederlage geworden.
Die graue Festung Acceras ist gefallen. Kaum vorstellbar, dass dieses Bollwerk dem Feind in die Hände gefallen ist.
Der sichtbare Teil, der sich über die Gipfel des Blaugratgebirges erhebt, ist der kleinste Teil des riesigen Bauwerks. In diesem haben wir Sanguenritter gewohnt und trainiert.
Der größte Teil der Festung war in das Gebirge gebaut worden. Zur Festung gehörten riesige Höhlen, verbunden durch Gänge, die sich durch das Gebirge zogen. Dort waren unsere Schmieden, Versorgungslager und Unterkünfte für unsere Streitkräfte untergebracht. Alles weg, alles verloren.
Dabei war der Sieg schon so nahe. Nur noch wenige Längen und unsere Armeen hätten die Waffenschmiede der Union überrannt. Schon seit vielen Jahren wurde ein Tunnel in den Stein getrieben, der Acceras mit Stahlhammer, der Waffenschmiede der westlichen Königreiche, verbunden hätte.
Diese Schlacht, diese verlorene Schlacht, sollte den Feind so weit schwächen, dass er keine Ressourcen mehr gehabt hätte, um diesen Krieg noch lange fortzuführen. Doch dann wendete sich unser Glück. Ich habe immer noch keine Erklärung dafür. Meine Truppen waren klar in der Überzahl und taktisch hervorragend aufgestellt.
Wie auch immer.
Jetzt bin ich mit dem Rest meiner Streitkräfte auf dem Weg in die Hauptstadt des Magistrats, um Rechenschaft darüber abzulegen, warum ich eine kriegsentscheidende Schlacht verloren habe. Fast bin ich davon überzeugt, dass wir verraten worden sind. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wer diesen schändlichen Frevel begangen haben soll.
Die Untoten und Dämonen sind nicht fähig dazu. Vielleicht einer von den Cwoks, denn sie besitzen keine Ehre. Von uns Sanguenrittern mit Sicherheit niemand, wir sind dem Magistrat treu ergeben.
Wahrscheinlich werde ich für mein Versagen bestraft. Für Versager ist in unserem Reich kein Platz. Ich fühle mich erschöpft und leer. Ich habe viele gute Kämpfer verloren. Ich spreche nicht von den Untoten und den Dämonen, sondern von Wesen aus Fleisch und Blut. Menschen, Cwoks und Elfen waren darunter.
Ein Verlust schmerzt mich besonders. Vor vielen Jahren wurde mir eine junge und wunderschöne Frau unterstellt, die ich zur Sanguenritterin ausgebildet habe. Sie stammte aus der Union und diente dem Magistrat. Sie war sehr talentiert und wurde eine sehr gute Kämpferin. Als Ritterin des Sanguen der Festung Acceras hat sie, oft an meiner Seite, Furcht und Schrecken unter unseren Feinden verbreitet.
Im Laufe der Jahre hatte sich eine Bindung zwischen uns entwickelt. Ich fühlte mich zu dieser jungen Frau stark hingezogen und ich glaube, es war nicht einseitig.
Das ist jetzt alles vorbei, sie ist in der Schlacht gefallen. Der Verlust meiner Schülerin Taelga hinterlässt in mir eine große Leere. Ich verspüre sogar Trauer. Nie wieder wird es so sein wie früher. Die von ihr hinterlassene Lücke ist nicht nur ein Verlust für mich, sondern ich empfinde ihn auch als Bestrafung für mein Versagen.
Ich muss möglichst schnell einen Gefühlsweber aufsuchen, um diese unerwünschten Emotionen loszuwerden.
In einigen Stunden werden wir die Hafenstadt Ruslahr erreichen und uns einschiffen.
Dann endlich verlasse ich den Kontinent Telos, den Ort meiner Niederlage und meines ehrlosen Versagens.«
»Ich habe noch jede Frisur hinbekommen.«
(Jasper Scharfschere, Barbier aus Minae.)
Die Festung Acceras befand sich in einem riesigen Bergmassiv auf dem Kontinent Tellus. Schon vor Urzeiten war sie gebaut und von dunkler Magie geschützt worden.
Die feindlichen Krieger hatten bei ihrem Rückzug die unterirdischen Bereiche der Festung zerstört. Auf den Gipfeln des Gebirges war nur der sichtbare Teil von Acceras übriggeblieben. Wie ein dunkler Schatten thronte die ehemalige Bastion des Magistrats in den Bergen. Sie hatte den Sanguenrittern als Heimat und Stützpunkt gedient.
Die ehemalige Sanguenritterin war auf dem Weg zum Flugmeister. Sie hoffte, sie würde niemals nach Acceras zurückkehren müssen. Ta´elga verließ ihre Zelle, die ihr in den letzten Jahren als Unterkunft gedient hatte. An den grauen Wänden gab es weder Bilder noch irgendwelche anderen schmückenden Dinge. Nichts in diesem Raum deutete darauf hin, dass sie hier einmal viel Zeit verbracht hatte. Im Magistrat durfte sich Individualismus nur bei den Kriegskünsten zeigen.
Sie ging durch die Übungsarenen, in denen sie von erfahrenen Magiern und Kriegern des Magistrats in die Kampfkunst unterrichtet worden war. Ihre Schritte hallten durch die ausgestorben wirkenden Räume. Niemand war zu sehen, außer ein paar Wachen.
Zur Zeit der Herrschaft des Magistrats hatte es in der Festung vor Wesen und Untoten nur so gewimmelt. Hier hatten die Sanguenritter gelebt und ihre Kampftechniken trainiert, sei es mit Waffen oder mit Magie.
Sie blieb eine Weile in der Hauptarena stehen und sah sich um. An den Wänden und auf dem grauen Steinboden waren immer noch die getrockneten Blutlachen zu sehen. Sie stammten von den Gefangenen, die hier ihre letzten Kämpfe ausgetragen hatten. Mit einem speziellen Zauber wurden die gefangenen Feinde zu Untoten verwandelt. Diese waren ausgezeichnete Übungsgegner gewesen. Die Sanguenritterin hatte unzählige von ihnen mit ihrem Schwert oder mit ihrer Magie vernichtet. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht an ihnen zu trainieren, schließlich waren es Feinde gewesen. Für einen kurzen Moment verspürte die Ritterin wieder das Verlangen nach einem Kampf. »Diese Begierde wird für den Rest meines Lebens in mir brennen.«
Ta´elga vermisste diese Zeit hier nicht, aber ein wenig Wehmut erfüllte ihr Herz doch. Es hatte hier einen Sanguenritter gegeben, mit dem sie viele Schlachten gemeinsam gefochten und zu dem sie sich sehr hingezogen gefühlt hatte. Aaghyl war sein Name gewesen. Sie wusste nicht, was aus ihm geworden war. Falls sie sich jemals wiedersahen, würden sie Feinde sein.
Acceras war ein ungemütlicher Ort - grau und trist. Vor ihrer Befreiung war ihr das nie bewusst gewesen. Die einstige Magistratskriegerin ging eine breite Treppe hinauf und betrat den Greifenhorst. Grollflügel, ein geläuterter Cwok, der sich auf ein Leben in der Union eingerichtet hatte, war schon zu Zeiten des Magistrats ein Flugmeister gewesen. Allerdings gab es im Magistrat nur untote Flugdrachen. Bei dem Gedanken an diese abscheulichen Wesen, die eine Ausgeburt an Hässlichkeit gewesen waren und einen fürchterlichen Gestank verbreitet hatten, lief ihr immer noch ein Schauer über ihren Rücken. Ta´elga hatte es immer vermieden, mit diesen Wesen zu fliegen.
Der Kommandeur der Unionstruppen hatte Grollflügel einige Greife überlassen, damit er sein Geschäft weiter betreiben konnte. Greife waren in den westlichen Königreichen die bevorzugten Flugtiere. Einen Moment hielt sie inne, bewunderte die beeindruckenden Flugtiere, die hier auf ihren nächsten Einsatz warteten. Gerne hätte sie so einen Greif ihr Eigen genannt. Die etwa pferdegroßen Geschöpfe besaßen einem Vogelkopf, einen katzenähnlichen Körper und hatten ein wunderschönes bunt schillerndes, kurzes Fell.
Grollflügel musterte die Ritterin abschätzend.
»Du willst die Festung verlassen? Wo soll es denn hingehen?«
Seine Fistelstimme klang in Ta´elgas Ohren unangenehm. Sie mochte die kleinen, haarlosen und dürren Cwoks nicht. Im Magistrat waren sie loyale Soldaten, die aber keine Ehre kannten. Cwoks kämpften auf ihren Feldzügen nicht nur gegen feindliche Krieger. Sie schreckten nicht davor zurück auch Kinder zu töten. Der Flugmeister fuchtelte mit seinen dürren, langen Armen in der Luft herum. Auch wenn Grollflügel jetzt zur Union gehörte wie sie selbst auch, traute sie ihm nicht über den Weg.
»Ich möchte in die Hauptstadt der Union reisen, nach Minae.«
»Ich kann dir keinen direkten Flug dorthin anbieten. Wir gehören jetzt zwar alle zur großen Unionsfamilie, aber der Kommandeur traut mir noch nicht. Meine Greife dürfen nicht in die Hauptstadt fliegen.«
»Was also schlägst du vor?«, fragte sie ungeduldig.
»In geringer Entfernung von der Hauptstadt, in einem Dorf Namens Silberhain, gibt es eine Station für Greife.«
Sie war enttäuscht. Der Umweg würde ihre Suche verzögern.
»Na gut, dann eben nach Silberhain.«
Der Flug ging über hohe, schneebedeckte Berge, weite Steppen und dichte Wälder. Hin und wieder war ein kleines Dorf oder eine einsame Hütte unten am Boden zu sehen. Der Wind, den Ta´elga auf ihrer Haut spürte und der an ihren Haaren zerrte, gab ihr zum ersten Mal das Gefühl wirklich frei zu sein. Es war, als würden die letzten Reste ihres Lebens im Magistrat einfach davongeweht.
Die Sanguenritterin hatte auf der Festung einiges über die Hauptstadt erfahren können. Minae war die Perle der westlichen Königreiche. Dort gab es alles, was das Herz begehrte. Speis und Trank, Ausrüstung und Waffen, die feinsten Stoffe, magische Essenzen jeglicher Art. In Minae war das Leben wie ein immerwährendes, fröhliches Fest, so wurde erzählt. Dort würde sie am ehesten an für sie nützliche Informationen kommen.
Der Greif flog eine lang gezogene Rechtskurve, vorbei an den Toren von Stahlhammer, der großen Rüstungs- und Waffenschmiede der Union. Stahlhammer befand sich im Blaugratgebirge, das sich quer über den ganzen Kontinent zog und in dem auch Acceras zu finden war. Hier wurden die Waffen für die Streitkräfte der westlichen Königreiche und deren Verbündete hergestellt.
Ein goldener Schimmer erhellte den Horizont plötzlich. Das Flugtier näherte sich Minae. Bald darauf sah Ta´elga die ersten Türme und Zinnen der Hauptstadt der Union, auf deren kupfernen Dächern sich das Sonnenlicht spiegelte. Der Greif überflog den Wald von Gallwyn, in dem das Dorf Silberhain lag. Die dichten Baumkronen verhinderten eine Sicht auf den Boden. Gelegentlich lichtete sich der Wald und gab den Blick auf Bauernhöfe oder kleine Seen frei.
Das Flugtier ging in den Sinkflug über und steuerte den Greifenhorst von Silberhain an. Ta´elga war aufgeregt. Zum ersten Mal seit ihrer Entführung stand sie nicht als Kriegerin auf Unionsboden. Sie atmete tief durch und schaute sich um. Irgendwo lachten ein paar Kinder.
Der Greifenhorst befand sich am Rand eines großen Platzes, der von einigen niedrigen, ziegelbedeckten Häusern eingerahmt war. Zur ihrer Rechten stand eine Schmiede, in der ein Hammer mit Dampf betrieben wurde. Deutlich konnte sie die Schläge des Schmiedehammers hören. Der Boden vibrierte im Takt der Schmiede.
Ihr Blick fiel auf ein lang gestrecktes Gebäude aus roten Ziegeln und mit großen Fenstern. »Markthalle von Silberhain« stand in großen Lettern über dem Eingang. Unbefestigte Straßen führten in verschiedene Richtungen. Passanten liefen kreuz und quer über den Platz. Einige sahen kurz herüber und eilten weiter. Alle schienen irgendwelchen wichtigen Beschäftigungen nachzugehen.
Ta´elga beschloss, zuerst die Markthalle zu besuchen. Märkte dienten überall als Informationsbörsen, wusste sie. Im Magistrat hatten Krieger keine Zeit, um Märkte zu besuchen. Gespannt betrat sie die Halle. Durch die großen Dachfenster schien das Sonnenlicht. Viele Händler hatten in der Halle ihre Stände aufgestellt und boten lautstark ihre Waren feil. Es herrschte ein quirliges Treiben. Hier gab es Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, lebende Tiere und Gewürze.
Staunend schlenderte sie von Stand zu Stand und betrachtete neugierig die Auslagen. Das Gedränge, die Geräusche und die vielen verschiedenen Gerüche empfand sie als sehr belebend. Einige Händler hatten ihre Früchte und ihr Gemüse derart ausgelegt, dass Bilder entstanden waren, die Landschaften oder Szenen von Bauernhöfen zeigten.
Viele Verkäufer hatten aus ihren Gewürzen realistisch aussehende Regionen der westlichen Königreiche nachgebaut. An vielen Ständen durfte sie von den angebotenen Köstlichkeiten probieren. Im Magistrat war ein solcher Überfluss an Nahrung nicht bekannt. Nach vielen Jahren des Darbens im Magistrat war dieser Markt eine Orgie der Sinne. Die Gefühle, die sie in diesem Moment durchströmten, waren unbeschreiblich.
Irgendwann erreichte Ta´elga einen Bereich, der etwas dunkler war als die übrige Halle. In einer Ecke befand sich ein kleiner Stand, hinter dem eine alte, weißhaarige Menschenfrau stand. Auf dem Tisch vor der Frau lagen, säuberlich aufgereiht, unzählige Kugeln aus farblosem Glas. Sie waren etwa hühnereigroß.
»Welche Bedeutung haben diese Glaskugeln?«, fragte sie neugierig.
»Oh, das sind nicht nur einfach Glaskugeln, das sind Bindungsperlen«, antwortete die Frau geheimnisvoll.
»Was sind Bindungsperlen?«
»Eine Bindungsperle hilft dir in der Not, wenn du keinen Ausweg mehr weißt. Sie ist mit Magie gefüllt. Du kannst dir keine aussuchen, die Perle sucht sich ihren Besitzer selbst aus. Komm, versuche es«, forderte die Frau sie auf und zeigte auf die Reihen der Kugeln. Sie nahm einer der Perlen in die Hand, aber nichts passierte.
»Versuche es weiter.«
Eine Kugel nach der anderen nahm sie in ihre Hand, immer mit dem gleichen Ergebnis, es passierte nichts. Langsam verlor sie die Lust an den Perlen.
»Gib nicht auf, Kriegerin.«
Verwundert hielt Ta´elga inne. Sie war nicht bewaffnet und trug nur ein schlichtes, graues Kleid.
»Woher weißt du, dass ich eine Kriegerin bin?«
»Manche Dinge lassen sich nun mal nicht verbergen. Ich bin eine recht gute Beobachterin. Also, möchtest du es noch einmal versuchen?«
Ta´elga betrachtete die Perlen auf dem Tisch noch einmal. Dann entschied sie sich für eine Glaskugel, die ziemlich genau in der Mitte lag. Sobald sie diese Glasperle in der Hand hielt, begann diese in einem mehrfarbigen, irisierenden Licht zu leuchten, gleichzeitig verspürte sie am ganzen Körper ein angenehmes Prickeln. Überrascht schaute sie sich um, aber scheinbar hatte keiner der Marktbesucher und Händler etwas von den Vorgängen am Stand der alten Frau bemerkt.
»Wie ich sehe, habt ihr euch gefunden«, rief die Menschenfrau freudig aus und klatschte dabei in ihre Hände.
»Was soll ich jetzt tun?«
»Die Perle ist jetzt eine Bindung mit dir eingegangen. Stecke sie ein. Die Kugel wird dir helfen, wenn deine Not und Verzweiflung am Größten ist, aber nur dann und nur einmal. Danach ist ihre Magie verbraucht.«
Ta´elga konnte sich nicht erinnern, ob sie früher schon Bindungsperlen gekannt hatte, im Magistrat gab es keine. Sie fragte nach dem Preis für die Glaskugel.
»Normalerweise kostet eine Bindungsperle zwei Silbermünzen, dir überlasse ich sie für einen Silberling.«
»Warum gibst du mir die Perle für die Hälfte des üblichen Preises?«, fragte sie argwöhnisch.
»Ich sehe dir an, dass du Schreckliches durchmachen musstest. Du bist auf der Suche nach irgendetwas. Ich hoffe es zwar nicht, ich ahne aber, dass du die Bindungsperle eines Tages brauchen wirst.«
»Weißt du noch mehr von mir?«
»Nein, Kriegerin. Nur, dass du nicht weiter in Silberhain verweilen solltest. Hier gibt es nichts, dass dir bei deiner Suche helfen könnte. Gehe nach Minae, dort findest du eher etwas.«
Sie sah die alte Menschenfrau eine Weile nachdenklich an. Dann verbeugte sie sich.
»Ich danke dir. Ich wünsche dir ein gesundes und langes Leben«, verabschiedete sie sich von der Frau.
»Ich wünsche dir viel Erfolg. Mögest du finden, wonach du suchst.«
Die Kriegerin schob sich durch das Gedränge der Marktbesucher und Händler und verließ die Markthalle. Ihr Blick fiel auf einige Wegweiser. Einer wies in Richtung der Hauptstadt. Minae war nicht weit entfernt und so entschloss sie sich, den Weg zu Fuß zurückzulegen.
Die Straße zur Hauptstadt führte durch den Wald von Gallwyn. Hohe Bäume standen rechts und links am Wegesrand, ihre Kronen berührten sich über der Mitte der Allee und bildeten ein Dach aus Blättern. Eine kurze Erinnerung blitzte in Ta´elga auf. So schnell, wie der Gedanke gekommen war, entschwand er auch wieder. Sie versuchte ihn festzuhalten, doch es gelang ihr nicht.
Hin und wieder kam sie an einer Abzweigung vorbei, die zu einem der Bauernhöfe führte, die es hier in Gallwyn gab. Einige davon hatte sie schon aus der Luft gesehen. Viele unterschiedliche Pflanzen, große und kleine, standen sehr dicht zwischen den Bäumen und bildeten einen dichten Dschungel, sodass ein Blick in das Innere des Waldes nicht möglich war. Die Straße führte über eine Brücke, die einen breiten Fluss überspannte.
Von hier konnte Ta´elga die gewaltige Stadtmauer Minaes sehen. Gleich einem mächtigen Gebirge erstreckte sich das Bauwerk scheinbar endlos nach rechts und nach links. Die Mauer war mehr als fünfundzwanzig Mann hoch. Auf den Zinnen waren die für Minae typischen Kupferplatten befestigt. Auf dem Wehrgang patrouillierten Soldaten.
Sie überquerte die Brücke und ging auf das riesige Tor zur Hauptstadt zu. Die beiden eisernen Torflügel standen weit offen. Vor dem Eingang zur Stadt saßen mehrere Wachen, die in einem Kartenspiel vertieft waren. Ihre Schritte wurden langsamer. »Lassen mich die Wachen unbehelligt passieren?«
Sie ging weiter, bemüht ihre Nervosität nicht zu zeigen. Die Soldaten am Tor warfen ihr nur einen kurzen Blick zu und wandten sich dann wieder ihrem Spiel zu. Die Straße bestand jetzt aus großen Steinplatten. Ta´elgas Blick fiel sofort auf die hohen Statuen aus Stein, die den Weg säumten. Sie zeigten Krieger aus den verschiedenen Völkern der Union. Die Straße endete an einer zweiten Mauer, welche die Stadt umgab. Nahe dem Zugang zur Stadt stand die Skulptur eines Königs. Ehrfurchtgebietend schaute er auf sein Volk. Inmitten der beeindruckenden Standbilder, kam sie sich sehr unbedeutend und klein vor.
Von hier aus konnte sie die Trümmer zweier Türme sehen, die einst von den Kriegern des Magistrats zerstört worden waren. Sie hatte nie an den Angriffen auf die Hauptstadt teilgenommen, trotzdem fühlte sie sich schuldig an dieser Verwüstung. Die düsteren Gedanken verdrängend, betrat sie die Hauptstadt. Sie hatte ihr erstes Ziel erreicht. Minae, die Perle der westlichen Königreiche.
Ta´elga traf auf eine Menschenfrau in einer glänzenden, blau-silbernen Rüstung, die auf einem prächtigen Pferd saß und sie freundlich ansah. »Warum lächelt sie mich so freundlich an, kennt sie mich etwa?« Sie war stehen geblieben. Dann fasste sie sich ein Herz und ging auf die Reiterin zu.
»Ich grüße dich, mein Name ist Ta´elga, ich bin eine Reisende. Kannst du mir ein paar Auskünfte geben?«
»Willkommen in Minae, Ta´elga. Ich bin Leutnant Nancy Revion, die Ordonnanzoffizierin des Königs.«
»Ich benötige einige Informationen. Ich bin das erste Mal hier und weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich komme geradewegs von der Festung Acceras. In einem langen und blutigen Kampf haben wir das Bollwerk des Bösen besiegt«, sagte sie, nicht ohne Stolz in ihrer Stimme.
»Ja, Ta´elga, das ist mir bekannt«, sprach die Offizierin anerkennend.
Sie blickte die Ordonnanz überrascht an. »Seltsam. Wer hat hier von meinen Taten erzählt?«
»Mir wurde aufgetragen, dir den Waffenring Minaes zu übergeben.«
»Mir? Bist du sicher? Wer betrachtet mich würdig genug, dass Zeichen der Union zu tragen?«
»Im Kampf um die Festung Acceras hast du mehr als deutlich bewiesen, dass du nun auf der Seite der Union kämpfst. Du hast diesen Ring verdient, der nur von den besten Kämpfern der Union getragen werden darf«, zerstreute Leutnant Revion ihre Bedenken. Obwohl sie sich nicht ganz wohl dabei fühlte, nahm sie den Waffenring an. Dieser war aus massivem Gold und zeigte das Wappen von Minae. Fortan trug sie das Symbol der westlichen Königreiche an ihrer rechten Hand.
»Gehe zuerst in das Besucherhaus der Stadt, dort erfährst du mehr über die Hauptstadt der westlichen Königreiche«, empfahl die Ordonnanz.
»Das werde ich. Vielen Dank, Leutnant.«
»Lebe wohl, Ta´elga. Ich wünsche dir viel Glück.«
Wie von Nancy Revion empfohlen betrat sie zuerst das Besucherhaus. Dort, an einer Wand, entdeckte sie eine Karte Minaes. Sie studierte diese gründlich und prägte sich die wichtigsten Details der Stadt ein. Minae war in mehrere Bezirke aufgeteilt: Es gab die Altstadt, die Burg Zephyrus, der Zwergenbezirk, der Zaubererbezirk, der Domplatz, der Hafen und der Händlerbezirk, wo sich das Besucherhaus befand. Die einzelnen Stadtteile waren durch dicke Mauern voneinander getrennt. Durch große, mit schweren Holztüren verschließbare Durchgänge, gelangte man von einem Bezirk zum anderen. Die Dächer der Mauern, Zinnen, Türme und Gebäude waren mit Kupferplatten bedeckt, die einen guten Schutz gegen Brandpfeile oder Feuerzauber boten. Der Schein dieser Kupferdächer, die das Sonnenlicht reflektierten, verlieh Minae den Beinamen: die Goldene Stadt.
Ta´elga verspürte große Lust, durch die Gassen des Händlerbezirks zu schlendern und durch die Läden zu stöbern, sich die Stoffe, Geschmeide, Lederwaren und was sonst noch von den Händlern dargeboten wurde anzusehen. Ein Duft, den sie schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte, kitzelte in ihrer Nase. Es war das verführerische Aroma von frischgebackenem Brot.
Ta´elga entdeckte auf der anderen Straßenseite eine Bäckerei. Voller Neugier betrat sie den Laden. Die Bäckermeisterin und ihr Bäckerlehrling waren freundliche Leute. Elsine Toras und Sam Toras, so ihre Namen, ließen sie von allen Sorten ihrer köstlichen Backwaren kosten. Hier gab es süße Kuchen und knuspriges Brot, das frisch aus dem Ofen kam und diesen unwiderstehlichen Duft auf der Straße verbreitet hatte.
In Acceras hatten die Sanguenritter Tag für Tag hauptsächlich einen farblosen Brei zu essen bekommen, der zwar nahrhaft, aber nicht schmackhaft war. Köstlichkeiten, wie hier in dieser Bäckerei, waren dort äußerst selten gewesen.
Sie glaubte, sie hatte noch nie so gut gegessen. Rundum satt verließ sie die Toras, nicht ohne ihnen das Versprechen geben zu müssen, bald wieder zu kommen. Wieder auf der Straße fiel ihr Blick auf Badteers Apotheke. Sie ging hinein, um zu sehen, ob es dort nicht etwas gegen ihr Völlegefühl gab. »Vielleicht habe ich doch etwas zu viel von den Backwaren gegessen?«
Auf dem langen Tisch in der Apotheke standen eine Menge Töpfe, Tiegel und Gläser mit geheimnisvollen Flüssigkeiten, die vor sich hin brodelten und qualmten. Eigenartige Gerüche stiegen ihr in die Nase. Kati und Kelvin Badteer, die Alchemisten, konnten ihr helfen. Ihrem Magen, der mit Kuchen und Brot gefüllt war, ging es schnell besser. Sie erwarb von ihnen noch je eine Portal- und Teleportationsglyphe, ohne zu wissen, ob und wofür sie zu gebrauchen waren. Sie gefielen ihr einfach. Kati verabschiedete sie mit dem Rat, vorsichtig zu sein. »Vorsicht werde ich mir wohl nicht leisten können.« Sie ahnte, dass ihre Suche nach ihrer Vergangenheit nicht ohne Gefahren war.
Ta´elga folgte der Straße, auf der viele Wesen in Richtung Greifenhorst der Stadt unterwegs waren, oder von dort kamen und erreichte einen Platz, auf dem sich alle möglichen Bewohner der Königreiche friedlich trafen. Sie kannte solche Ansammlungen nur von den Schlachtfeldern, auf denen sie gekämpft hatte. Dort kamen die Krieger zusammen, um zu töten und um zu sterben. Das hier war völlig neu für sie, aber sehr aufregend.
Vor einem Gebäude stand ein älterer Mann, ein Mensch, der auffordernd zu ihr herübersah. »Warum starrt er mich so an?«, dachte die Ritterin unangenehm berührt. Er stand regungslos da ohne seinen Blick von ihr zu wenden. Der alte Mann war mit einem ärmlich aussehenden, grünlichen Wams und einer verschlissenen, braunen Tuchhose bekleidet. Plötzlich machte er eine einladende Geste und Ta´elga ging zögernd zu ihm. Eine leise Hoffnung kam in ihr auf. Vielleicht konnte sie etwas von dem Alten erfahren, was ihr bei ihrer Suche nach ihrer Vergangenheit helfen würde. Als sie den Mann erreichte, schlug ihr eine unangenehme Duftwolke entgegen. Sie rümpfte ihre Nase. »Der Alte hat dringend ein Bad nötig.« Er kam sehr nahe und sprach sehr leise.
»Du musst dringend nach Ladimgar reisen.« Hastig sah er sich um. Sie wich einen Schritt zurück und fächelte sich mit einer Hand frische Luft zu.
»Und du musst etwas gegen deinen Mundgeruch unternehmen!« Der Gestank des Mannes war unerträglich. Er ignorierte ihren Protest.
»Ladimgar? Warum muss ich dort hin?« Fragend sah sie ihn an, die aufkommende Übelkeit unterdrückend.
»Nicht so laut, Reisende, nicht so laut. Nur auf der Insel der Elfen kannst du mehr über dich erfahren. Sie kennen deine Vergangenheit. Verweile nicht länger. Beeile dich. Gehe zum Hafen«, flüsterte er.
Sie versuchte mehr von dem alten Menschen zu erfahren, aber er schwieg. Immer wieder sah er hastig in alle Richtungen, als ob ihn jemand verfolgte. Sie reichte ihm ein paar Münzen und gab ihm den Rat, sich und seine Kleidung möglichst bald zu reinigen. Sie wandte sich wieder dem Platz zu, als ein eilig dahin hastender Mann gegen sie lief.
»Oh, entschuldige«, rief er.
»Warte, wie ist dein Name?«, rief sie ihm hinterher.
»Darkhorse. Aber ich muss weiter. Wir sehen uns später.«
Sie rätselte, wie der Mann das gemeint hatte, dass sie sich später sehen würden. Er war schon hinter der nächsten Gebäudeecke verschwunden. Der Mann hatte auch den Waffenring Minaes getragen. Er war ein Paladin, ein mächtiger Kämpfer der Union. Seinesgleichen kannte sie als furchtlose und starke Krieger, die ihr in ihren Schlachten gegen die Union sehr zu schaffen gemacht hatten. Sie drehte sich noch einmal nach dem alten Mann um. Der Platz, an dem er gestanden hatte, war leer. »Wohin ist der alte Mensch so schnell verschwunden?« Verwundert blickte sie sich um.
Ta´elga setzte ihren Rundgang fort und erreichte ein Gasthaus. »Die bronzene Orchidee« stand auf dem Schild. Sie beschloss, hier einzukehren. Kuchen und Brot machten durstig. Eine nette, rothaarige Menschenfrau kam auf sie zu.
»Willkommen in meinem Gasthaus. Ich bin Ellinor, die Gastwirtin. Nimm Platz und fühle dich wohl.«
Die Ritterin sah sich im Gastraum um. Ein großer, eckiger Holztisch, mit vielen Stühlen davor, nahm fast den ganzen Raum ein. Gegenüber der riesigen Tafel, vor zwei mit Büchern gefüllten Regalen, standen noch einmal vier Holzstühle. Vor diesen Stühlen lag das Fell eines riesigen Elches. »Ob Ellinor ihn erlegt hat?«
Sie wollte hier ein wenig verweilen und setzte sich auf einen Stuhl, der vor dem rechten Bücherregal stand. Ellinor brachte ihr einen Krug mit kühlem Wasser. Ihr Blick schweifte über die kostbar erscheinenden Bücher. Viele Bände trugen Zeichen auf ihrem Einband, die ihr völlig unbekannt waren.
Bald wandte sie sich dem Treiben im Gasthaus zu. Ta´elga konnte viele Wesen kommen und gehen sehen. Einige Ankömmlinge betraten die bronzene Orchidee durch den Eingang, durch den auch sie hereingekommen war. Doch andere erschienen aus dem Nichts im Gastraum. Sie waren plötzlich einfach da. Manche von ihnen nahmen Platz, wieder andere verließen das Gasthaus umgehend. Dahinter steckte mit Sicherheit ein Zauber. Doch welche Art von Zauber? Sie beschloss, bei einer günstigen Gelegenheit mit Ellinor darüber zu sprechen. Ta´elga hatte den Eindruck, dass der Zauber irgendetwas mit der Gastwirtin zu tun hatte.
Direkt neben ihr rekelte sich Eleni, der Begleiter von Sheij´an. Sheij´an war ein Waldelf, sein Begleiter Eleni war ein riesiger Leopard. Beide hatten kurz nach ihrer Ankunft das Gasthaus betreten.
Die Glocke von Minae schlug sieben Mal. Dieser Tag war schnell zu Ende gegangen. Ta´elga war müde und hungrig und fragte Ellinor nach einem Nachtlager. Gerne wollte sie in der bronzenen Orchidee bleiben. Gerade war Cavier hereingekommen, ein stattlicher Dragonah, der in seiner Rüstung ganz nett anzusehen war. Ein weiterer Waldelf betrat den Gastraum. Er stellte sich bei Ellinor als Appol´on vor. Bei Appol´ons Anblick wurde es Ta´elga ganz anders. Längst vergangen geglaubte Sehnsüchte erwachten in ihr.
In Acceras waren Gefühle nach Nähe und Zärtlichkeit verpönt. Ein Sanguenritter wurde auf Kampf gedrillt. Vergnügen ließen die Herrscher des Magistrats bei den Kämpfern Acceras nur ungern zu. »Das wird sicher ein netter Abend in so reizvoller Gesellschaft.« Leider verließ Appol´on die Orchidee kurze Zeit später wieder.
Mittlerweile hatte Ellinor im Gastraum ein gemütliches Feuer entzündet, welches eine angenehme Wärme verbreitete. Ta´elga fühlte sich wohl wie schon lange nicht mehr und näherte sich dem Platz Sheij´ans. »Mal sehen, was sich so entwickelt.« Sheij´an gefiel ihr recht gut. Seine muskulöse, hochgewachsene Gestalt weckte in ihr den Wunsch, ihm ganz nahe zu sein.
»Hallo, Sheij´an. Ich bin Ta´elga.«
»Hallo, Ta´elga, woher kennst du meinen Namen?«
Überrascht blickte er zu ihr auf.
»Ich habe ihn gehört, als Ellinor dich begrüßt hat. Darf ich mich ein wenig zu dir setzen?«
»Liebend gerne. Meinen Abend in einer so reizenden Gesellschaft zu verbringen, kann ich gar nicht ablehnen«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln.
Sheij´an war witzig, charmant und ein angenehmer Unterhalter. Er konnte viele amüsante Geschichten erzählen. Vor allen Dingen konnte er zuhören. Sie erlag seiner Anziehungskraft. Schon lange hatte sie nicht mehr die Nähe eines Mannes genießen können. Die Nacht war kurzweilig. Ta´elga hatte sich in Sheij´an nicht getäuscht. »Elfen sind wundervolle Liebhaber.«
Mit ein wenig Wehmut im Herzen verabschiedete sie sich am nächsten Morgen von ihm. Bevor sie die bronzene Orchidee verließ, wollte sie noch mit der Gastwirtin sprechen. Sie musste einfach wissen, was es mit dem Zauber auf sich hatte, den sie gestern Abend gesehen hatte. Sie traf Ellinor im Gastraum an. Mit einem fröhlichen Lächeln begrüßte die Wirtin sie.
»Wie ist deine Nacht gewesen? Alles zu deiner Zufriedenheit?«, fragte Ellinor augenzwinkernd.
»Danke, so eine wundervolle Nacht habe ich schon sehr lange nicht mehr erlebt«, seufzte sie mit einem verträumten Blick.
Die beiden Frauen plauderten ein wenig über dies und das. Die Gastwirtin bot ihr Obst und Brot für ihre Reise an. Gerne nahm sie an und verstaute den Proviant in ihrem Beutel.
»Nimm noch diesen Gaststein von mir.«
Die Gastwirtin zeigte ihr einen faustgroßen, schwarzen, mit roten Streifen durchzogenen Stein.
»Mit diesem Gaststein kannst du, durch den im Stein innewohnenden Zauber, von jedem Ort der Welt zu meiner bronzenen Orchidee zurückkehren. Wenn du den Wunsch hast hierher zu kommen, nimm den Stein in deine linke Hand und denke an dieses Gasthaus.«
Die Gäste, die gestern aus dem Nichts erschienen waren, kehrten mit der Hilfe des Steinzaubers in das Gasthaus zurück, erklärte Ellinor. Liebend gerne nahm Ta´elga dieses äußerst nützliche Geschenk von der Gastwirtin an und packte den Stein in ihre Tasche. »Hierher möchte ich gerne zurückkehren. Vielleicht treffe ich noch einmal Sheij´an«, dachte sie sehnsüchtig.
Es war ein warmer Sommermorgen, über der Stadt spannte sich ein blauer, wolkenloser Himmel. Ihr Blick fiel auf das Werthaus von Minae. Achtzehn Stufen führten zum Eingang dieses prächtigen Gebäudes. »Ich sollte ein paar Dinge hier deponieren.«
In der Halle, an den Wandseiten, sah sie sechs vergitterte Fenster. Hinter jedem Gitter stand ein Mensch. Diese waren alle mit einer roten Weste und einem weißen Hemd bekleidet. Vor jedem der vergitterten Fenster standen lange Reihen der verschiedensten Wesen. Gegenüber dem Eingang befand sich eine massive, runde Stahltür, die offenstand. Sie ging hindurch und stand in einem großen, runden Raum. An den Wänden befanden sich viele kleine, eckige Türen aus Stahl. In der Mitte des Raumes saß eine rot gekleidete Menschenfrau an einem Tisch aus Metall. Die Ritterin sprach die Frau an.
»Sei gegrüßt, mein Name ist Ta´elga. Darf ich bei dir einige meiner Besitztümer hinterlegen?«
»Natürlich, dafür bin ich da. Willkommen in der Bank von Minae, ich bin Kerstin Cener. Ich kann dir eins von diesen Wertfächern gegen einen kleinen Obolus überlassen.« Dabei zeigte sie auf die kleinen Türen.
Ta´elga hatte nichts in der grauen Festung zurückgelassen. Dorthin wollte sie möglichst nicht zurückkehren. Sie trug ihre ganze Habe bei sich, die doch sehr umfangreich war. Nur mittels eines Zaubers war es möglich diese Dinge ohne Mühe und Aufsehen bei sich zu haben. Sie wollte aber die wertvollsten Sachen hier in dem Werthaus lassen. »Wer weiß, was die Zukunft mir bringt?« Kerstin Cener zeigte auf ein offenstehendes Fach.
»Dort kannst du alles hineingeben. Wenn du fertig bist, schließe die Türe und bringe den Schlüssel zu mir.«
Als die Ritterin vor dem kleinen Fach stand, baute sich ein magischer Sichtschutz um sie herum auf. Sie legte den größten Teil ihrer Münzen, ihres Schmuckes und noch einige andere wertvolle Gegenstände in das Fach, verschloss die Türe und zog den Schlüssel ab. Der magische Sichtschutz verschwand. Sie kehrte zu Kerstin Cener zurück. Diese nahm den Schlüssel an sich und legte ihn auf einen schwarzen Stein, der wie eine große Hand aussah.
»Lege deine Hand auf den Stein«, forderte Kerstin Cener sie auf.
»Der Schlüssel wird jetzt mit deinen persönlichen Schwingungen abgestimmt. Nur du kannst damit dein Wertfach öffnen, niemand sonst. Innerhalb der westlichen Königreiche, in jedem Werthaus, kannst du deine hinterlegten Dinge abholen. Sobald du mit diesem Schlüssel ein Fach dort öffnest, erscheinen deine hier hinterlegten Besitztümer.«
Kerstin Cener gab ihr den Schlüssel, den sie in einer ihrer magischen Taschen verstaute. Ta´elga bedankte sich bei der Frau und verabschiedete sich von ihr.
Gegenüber der Bank entdeckte die Sanguenritterin ein weiteres prachtvolles Gebäude. Das Schild, das vor dem Eingang hing, trug das Zeichen für ein Auktionshaus. Neugierig betrat sie es. Das Gebäude schien nur aus einer riesigen Halle zu bestehen. Dem Eingang gegenüber war eine Bühne. Sie nahm die ganze Breite der Halle ein. Davor standen lange Reihen mit Sitzbänken aus Stein. Auf den Bänken saßen viele Menschen, Zwerge, Elfen und einige andere Lebewesen. Nur wenige Plätze waren noch frei. Die Halle war mit einem eigenartigen Singsang erfüllt.
Ta´elga setzte sich auf einen freien Platz in der Nähe des Eingangs und sah sich um. Auf der Bühne standen drei Menschen hinter einer Art Rednerpulte, die in grüne Roben mit großen Kapuzen gekleidet waren. Ihre Gesichter waren nicht zu sehen. Der seltsame Gesang, der in der ganzen Halle zu hören war, kam von diesen drei Menschen. Hinter ihnen stand ein riesiger kupferner Topf, der mit silbernen und goldenen Ornamenten geschmückt war. Hin und wieder stand einer der Zuschauer auf, um den gleichen, eigenartigen Gesang anzustimmen. Auch Ta´elgas linker Nachbar stand auf und sang in einer ihr fremden Sprache. Er war ein mittelalter Mensch, der die weiß - gelbe Robe der Forscher trug. Nach kurzer Zeit setzte er sich wieder. Sein Gesicht zeigte einen unzufriedenen Ausdruck.
Zwei weitere Menschen, auch mit den grünen Roben bekleidet, erschienen nun auf der Bühne und trugen den Topf hinaus. Zwei andere Menschenmänner brachten eine große Truhe aus dunklem Holz auf die Bühne. Sie war mit den gleichen silbernen und goldenen Verzierungen versehen, die zuvor auf dem kupfernen Topf zu sehen waren. Die drei Menschen hinter den Stehpulten stimmten wieder ihren Gesang an. Sie konnte sich keinen Reim auf das Geschehen in der Halle machen und beschloss, den Forscher zu ihrer linken zu fragen.
»Was passiert hier?«
Der Mann betrachtete sie etwas unwillig. »Du warst wohl noch nie auf einer Auktion?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste.«
»Heute werden hier Gegenstände zum Kauf angeboten, die ein Schiff vor Kurzem nach Minae brachte. Sie wurden in einem uralten Schiffswrack gefunden, welches unweit der Küste auf dem Grund des versteckten Meeres liegt. Diese Gegenstände gehörten einem uralten Volk, welches heute nicht mehr existiert«, führte der Wissenschaftler aus.
»Aber ich höre nur Gesang in einer mir unbekannten Sprache.«
Der Menschenmann lachte amüsiert. »Ja, der Gesang gehört zu dem Ritual der Auktionatoren. Das sind die Menschen dort auf der Bühne. Hier, in dieser Halle, werden alle Geschäfte ausschließlich in der traditionellen Sprache der Auktionatoren getätigt. Die Anpreisungen der Ware und die Gebote werden in dieser Sprache gesungen. Das soll sicherstellen, dass es keine Irrtümer gibt. Jetzt störe nicht weiter, ich möchte mich auf die Auktion konzentrieren.«
Er stand plötzlich auf und sang wieder. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm er wenig später wieder Platz. Er schaute Ta´elga triumphierend an. »Ich habe die Truhe gerade gekauft. Dieser Tag war mal wieder ein Erfolg.«
Er erhob sich und verließ die Halle. Die Ritterin schaute dem geschäftigen Treiben noch eine Weile zu. »Ich könnte noch eine Weile dem spannenden Geschehen zusehen, aber ich bin schon zu lange hier, ich muss weiter.«
In den schmalen, kopfsteinernen Gassen und auf den kleinen Plätzen des Stadtteils herrschte reges Treiben. Viele Wesen waren hier unterwegs. Sie schlenderten, genau wie Ta´elga, durch die engen Straßen, um die Auslagen der Händler zu betrachten. Hier und da standen Straßenhändler, die Schmuck, Stoffe, Süßwaren oder Getränke feilboten. Auf jedem Meter konnte sie andere Gerüche wahrnehmen. Die Luft roch nach gebratenem Fleisch, nach frischgebackenem Brot und noch nach vielem mehr.
Der Ritterin begegneten vielen fröhliche Menschen, sogar einige Kinder sah sie. Kinder. In der Festung Acceras hatte es keine gegeben. »Wenn ich auf meinen Feldzügen Kindern begegnete, liefen sie schreiend und voller Angst vor mir weg.«
Dunkle Erinnerungen befielen Ta´elga wieder. Sie lief ziellos durch den Stadtteil, vertieft in diese schmerzlichen Gedanken. Sie wollte sich nicht daran erinnern. Sie brauchte Ablenkung. Irgendwann stand sie vor einer rotweißen, sich drehenden Säule. »Ein Barbier. Sehr gut. Wie lange habe ich keine fachkundigen Hände mehr an mein Äußeres gelassen? Für die angenehmen Dinge des Lebens ist in Acceras kaum Platz gewesen.«
Jasper Scharfschere hieß der Barbier. Jasper war ein vorlauter Zwerg, der ohne Unterbrechung plapperte und plapperte. Die Ritterin hatte schon einige Zwerge gesehen. Zwerge waren ein sehr traditionsbewusstes Volk, das modische Experimente verabscheute. Jasper brach mit diesen Traditionen. Er hatte einen Beruf gewählt, der von Zwergen üblicherweise nicht ausgeübt wurde. Modische Kleidung oder moderne Frisuren waren den Zwergen so gut wie unbekannt. Für sie galt es schon als gewagt ihre Bärte, die immer lang getragen wurden, zu färben.
Jasper hatte gar nichts Traditionelles an sich. Seine Kleidung war bunt. Er trug eine gelbrot karierte Hose, einen giftgrünen Pullover und blaue Schuhe. Sein Kopfhaar war kurz geschnitten und orange gefärbt. In seinem Gesicht prangte ein riesiger, knallroter Schnauzbart. Ta´elga musste beim Anblick dieses Zwerges grinsen. Jasper tänzelte um sie herum.
»Was darf es sein, schöne Frau, ein neuer Haarschnitt vielleicht oder eine andere Haarfarbe?«
»Da bin ich aber mal gespannt wie ein Elfenbogen, was er so zu bieten hat.« Schwierige Entscheidungen standen ihr bevor. »Soll ich eine Kurzhaarfrisur tragen oder doch besser lang lassen? Soll Jasper mir das Haar flechten? Einen Zopf oder zwei? Welche Haarfarbe steht mir? Schwarz, grün oder lila?«
»Ach nein, ich bin mit meiner jetzigen Frisur ganz zufrieden.« Sie trug ihre schulterlangen Haare meistens nach hinten zusammengebunden.
»Wie wäre es mit ein paar wunderschönen Gesichtstätowierungen? Sie sind bei deinem Volk zurzeit sehr beliebt und würden gut zu deiner hellbraunen Hautfarbe passen.«, bot der Barbier an.
»Ich glaube nicht. Ich mag keine Tätowierungen. Ich habe schon einige Frauen damit gesehen. Ich möchte lieber darauf verzichten. Es reicht, wenn du mein Haar wäschst und schneidest.«
»Wie du wünschst.«
Er begann mit seinem Handwerk, dabei erzählte Jasper ohne Unterlass über Personen und Begebenheiten, die ihr völlig unbekannt waren. Ein wenig begann er, sie zu nerven. Jasper war ein wahrer Künstler in seinem Metier. Obwohl der Barbier ihre Frisur nicht großartig verändert hatte, sah Ta´elga irgendwie anders aus, weiblicher, fand sie. Sie entlohnte Jasper Scharfschere. Wortreich entließ er sie aus seinem Geschäft. Es war an der Zeit das Händlerviertel zu verlassen, ihre Mission ging schließlich weiter.
Ta´elga durchquerte eine Mauer, die den Händlerbezirk von der Altstadt trennte und stand vor einer Brücke. Minae wurde von vielen Kanälen durchzogen. Auf ihnen konnte man kreuz und quer durch die Stadt reisen. Auf der anderen Seite flatterten große, blaue Banner im Wind, auf denen ein goldenes Schwert abgebildet war - das Symbol für die Altstadt.
Sie schaute sich um und entdeckte auf ihrer Kanalseite ein Schild aus Holz, das vor einem Geschäft hing und leicht im Wind hin und her pendelte. »Duftende Blumen« war darauf zu lesen. Sie war neugierig und näherte sich dem Blumenladen. So etwas war für Ta´elga unvorstellbar - ein Blumenladen. Irgendwie fand sie es falsch, dass die Pflanzen, die sie hier sah, bald verwelkten. Gleichzeitig war sie fasziniert von diesem Anblick. Die Sanguenritterin betrachtete die Blumen, die dort zum Verkauf ausgestellt waren. Eine wahre Duft- und Farbenorgie stürmte auf sie ein. Die Bürger der Union hatten Sinn für das Schöne. »Wie hätte die Festung Acceras mit Blumen ausgesehen? Für das Schöne ist dort nie Platz gewesen. Falls ich nach Acceras zurückkehre, werde ich dort Blumen pflanzen.« Kinder liefen fröhlich lachend an ihr vorbei. Irgendwie schienen alle Bewohner voller Lebensfreude zu sein. Ein Schild wies den Weg zur Burg Zephyrus, dem Machtzentrum der Union. »Dort muss ich unbedingt hin.«
Innerhalb des Magistrats war die Burg Zephyrus bekannt und gefürchtet. Irgendwie fühlte sie sich zur Burg hingezogen, ohne erklären zu können, warum das so war. Ihre Neugier trieb sie an.
Die Burg war eigentlich ein Schloss. Strahlend weiß, mit goldenen Dächern, mit vielen Türmen und Erkern stand sie auf einer Anhöhe, alle anderen Gebäude der Stadt überragend.
Vor Ehrfurcht fast erstarrt, schaute Ta´elga auf den Eingang zur Burg. Sie ging langsam näher heran. Eine breite Treppe führte auf eine Terrasse, auf der sich eine hohe Steinfigur auf ein Zweihandschwert stützte. Hier stand der König der Union auf dem Brunnen und schaute auf seine Stadt.
Rechts und links, um die Statue herum, führten zwei Treppen aus weißem Marmor empor und endeten auf einer weiteren Terrasse. Der Ritterin kamen einige Menschen entgegen, die das Schloss verließen, allesamt gekleidet in prächtige Gewänder. Keiner von ihnen beachtete die sie. Die letzte Treppe zum Eingang des Schlosses, mit einem rot-goldenen Teppich belegt, lag vor ihr. Ta´elgas Herz schlug wie wild. »Ich werde es wagen, das Zentrum der Union zu betreten.«
Langsam, ganz vorsichtig, trat sie durch das Eingangstor von Burg Zephyrus. Geschafft. Die Sanguenritterin stand in den heiligen Hallen von Minae. Sie ging durch die arkadenartige Halle, die ganz aus blauem und weißem Marmor bestand. Von der hohen Decke hingen lange, blau–goldene Banner herab, die das Wappen Minaes trugen. Sie schloss sich einer Gruppe von Besuchern an, die in Richtung Thronsaal unterwegs war.
Sie wollte nicht auffallen. Es ging vorbei an den Königswachen, die hier rechts und links postiert waren. Aus ihren Augenwinkeln heraus konnte sie, zwischen den mächtigen, runden Säulen, große, bogenförmige Eingänge wahrnehmen, die in weitere Hallen Zephyrus führten. Ta´elga traute sich nicht, dort hineinzusehen. Sie starrte geradeaus, jeden Augenblick befürchtend, dass ein königlicher Ritter auf sie zustürmen würde, um sie, die ehemalige Feindin des Reiches, die blutrünstige Sanguenritterin, zu töten. Aber nichts dergleichen geschah. Ihr mulmiges Gefühl wich einer freudigen Erwartung.
Sie ging immer weiter, geradewegs auf den Thron zu. Als sie den Thronsaal erreichte, konnte sie ihr Glück gar nicht fassen. Das musste der König der Union sein, der dort vor seinem Thron stand.
Der Herrscher der Union war ein großer, breitschultriger, dunkelhaariger Mann. Er schien ein noch junger Menschenmann zu sein, der aber in seiner blau-goldenen Rüstung imposant und ehrfurchtsgebietend aussah. Ta´elga konnte das Alter des Königs schlecht einschätzen, hielt ihn aber nicht für älter als vierzig Menschenjahre.
Der Thronsaal war kreisrund und wurde von einem gläsernen Kuppeldach überspannt, welches das einfallende Sonnenlicht in alle Farben des Spektrums brach. Es schien, als stünde der Herrscher der Union inmitten eines Regenbogens. Es war ein fantastisches, fast unwirkliches Bild.
Viele Menschen, Zwerge, Elfen und andere Wesen füllten den Saal, die sich alle im Bereich des Eingangs aufhielten. Ein Menschenmann, in einer bunten Uniform, bemühte sich den Besucherstrom zu regulieren. Er dirigierte die Besucher auf eine niedrige Empore. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf den König.
Eine Menschenfrau kniete vor dem Thron und sprach leise mit dem Herrscher. Trotz der Nähe zum Thron konnte man kein Wort von dem verstehen, was dort gesprochen wurde. Einige Minuten später verließ die Frau, mit einer tiefen Verbeugung vor dem König, den Thronsaal.
Der König schaute in die Runde. Er erblickte Ta´elga und winkte die Ritterin zu sich. Ein Raunen ging durch den Saal. Alle Besucher wollten mit dem Herrscher der Union sprechen. Einige unter ihnen hatten lange auf einen Termin für eine Audienz warten müssen. Ta´elga verging vor Ehrfurcht. Sie war eine gefürchtete Kämpferin gewesen, die mutig in jede Schlacht gezogen war und jetzt zitterten ihre Knie. Sie konnte und wollte jetzt auch nicht mehr zurückweichen.
Sie verbeugte sich demütig vor dem König. In diesem Moment war sie bereit, ihre gerechte Strafe für ihre Untaten zu empfangen.
»Ich heiße dich, Ta´elga, herzlich willkommen in meinem Reich. Ich bin König Pharus Lyhser.«
»Der König kennt sogar meinen Namen? Woher?« Wie durch Watte hindurch hörte sie seine Worte.
»Ich bin sehr froh darüber, dass du nun auf meiner Seite kämpfst. Die Union und ich brauchen Helden wie dich.«
»Helden wie mich?« Das Blut stieg ihr in ihren Kopf. Sie bekam kaum ein paar Worte des Dankes heraus. »Ist das peinlich, ich werde rot.«
»Gehe nun, Ta´elga. Trage meinen Waffenring mit Stolz. Viele Gefahren erwarten dich, bevor die westlichen Königreiche und die Union Frieden finden.«
»Nochmals verbeugen und schnell weg.« Wie von Sinnen eilte sie nach draußen. »Ahlunah sei Dank. Erst einmal tief durchatmen. Was für ein Erlebnis, der große König hat zu mir gesprochen und ich habe nur gestammelt. So nervös wie gerade war ich vor keinem Kampf. Jetzt erst mal entspannen.«
Sie fand ein sonniges Plätzchen vor dem Brunnen und setzte sich. Ta´elga sah nach dem Proviant, den ihr Ellinor mitgegeben hatte. »Ja, ein Apfel ist jetzt genau das Richtige.« Tief in Gedanken über das eben Erlebte, biss sie in den Apfel, den herrlichen Geschmack kaum wahrnehmend.
Ta´elga überlegte, ob sie nun endlich in Richtung Ladimgar aufbrechen sollte, wie ihr der alte Mann angeraten hatte oder sich in Minae noch etwas ansehen wollte. Vielleicht den Domplatz oder den Zaubererbezirk? Mit den Zauberern hatte sie es nicht so. Sie waren im Kampf unberechenbar gewesen und ihre Zauber wüteten schrecklich unter den Magistratskämpfern.
Die Sanguenritterin machte noch einen Rundgang durch die Altstadt und erreichte irgendwann den Domplatz. Dieser war umsäumt mit großen Stadthäusern, in denen sich einige Geschäfte befanden. Hier gab es auch ein Waisenhaus. Lautes Kinderlachen drang bis auf den Domplatz. Das wollte Ta´elga sich näher ansehen.
Als sie eintrat, wurde es plötzlich sehr still. In der Eingangshalle des Hauses hielten sich einige Kinder und eine junge Menschenfrau auf. Die Ritterin hatte das Gefühl, die Kinder konnten ihr ansehen, dass sie einst eine Kriegerin des Magistrats gewesen war. Sie wandte sich an die junge Frau, die mit den Kindern an einem Tisch saß.
»Hallo«, begrüßte die junge Menschenfrau Ta´elga. »Ich bin Hellene, die Leiterin dieses Waisenhauses. Was kann ich für dich tun?«
Die schlanke Frau besaß eine sanfte Stimme, ihre schwarzes Haar umrahmte ihr blasses Gesicht.
»Mein Name ist Ta´elga. Seit ich hier in Minae verweile, sind mir schon viele Kinder begegnet. Das Lachen deiner Kinder hat mich einfach neugierig gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, wann und wo ich so fröhliche Laute zuletzt gehört habe.«
Hellene wirkte auf Ta´elga sehr still und schüchtern. Sie fand Hellene sehr sympathisch. In dem Waisenhaus lebte sie mit zwanzig Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren. Sie war Lehrerin und Ersatzmutter zugleich. Die Menschenfrau lud sie auf eine Tasse Tee ein. Dieser Einladung folgte sie gerne. Irgendwie strahlte die Leiterin eine Aura des Vertrauens aus und Ta´elga erzählte ihr von ihrem Leben in Acceras.
»Ich komme von der Festung Acceras, ich war eine Sanguenritterin«, begann sie.
Furcht und Entsetzen zeichneten sich auf Hellenes Gesicht ab. Mit ihren dunkelbraunen Augen sah sie Ta´elga erschrocken an. Die Leiterin des Waisenhauses hatte von den Gräueltaten der Magistratskämpfer gehört. Die Ritterin erhob in einer beruhigenden Geste beide Hände.
»Durch einen Zauber bin ich von meinem Fluch befreit worden. Jetzt bin auf der Suche nach meiner Vergangenheit. Ich weiß nicht, woher ich komme und wer ich bin. Ich kann mich an das Leben, das ich vor meiner Zeit im Magistrat hatte, nicht erinnern. Alle Erinnerungen an meine Herkunft, an meine Heimat, an meine Eltern und an meine Freunde sind weg.«
Die Sanguenritterin erzählte Hellene von ihrem Leben im Magistrat, ohne aber die Details zu erläutern. Sie wollte die Kinder nicht verschrecken. Bei Hellene konnte Ta´elga Anzeichen von Mitleid für sich und ihrem Schicksal erkennen, die anfängliche Furcht war bei ihr verflogen. Die Abscheu, die Hellene für ihre Untaten hegte, konnte sie aber nicht ganz verbergen.
Die Kinder legten nach und nach ihre Zurückhaltung gegenüber der Sanguenritterin ab. Sie erzählten Ta´elga ihre Geschichten, die sie zu Tränen rührte. Einige von diesen kleinen Wesen hatten ihre Eltern im Kampf gegen den Magistrat verloren. Ein kleiner Junge erzählte ihr, dass er mit angesehen hatte, wie seine Eltern und seine drei Geschwister von Truppen des Magistrats hingemeuchelt worden waren.
»Wie war ich dazu fähig, diese Kinder so zu verletzen? Diese Geschöpfe hegen keinen Groll gegen irgendetwas oder gegen irgendwen auf dieser Welt. Der Magistrat hat ein Monster aus mir gemacht.«
Sie war begeistert von den kleinen Menschenkindern und spielte einige Zeit mit ihnen. Die Ritterin konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Freude gehabt zu haben wie an diesem Nachmittag. »An diesen Tag werde ich noch lange zurückdenken.«
Es ging langsam auf den Abend zu, als Ta´elga sich von Hellene und den Kindern schweren Herzens verabschiedete. Hellene begleitete sie noch vor die Türe des Hauses. Die Ritterin gab Hellene einen Großteil ihrer Münzen und umarmte sie. Die Leiterin des Waisenhauses wollte Ta´elgas Gold gar nicht annehmen, doch die sie duldete keinen Widerspruch.
»Nimm es bitte, Hellene. Deine Kinder und du können es gebrauchen. Ich hatte heute viel Freude bei euch. Das soll mein Dank dafür sein.«
»Ich danke dir, Ta´ elga. Lebe wohl. Ich hoffe, du findest, wonach du suchst. Ich wünsche dir viel Glück.«
»Ich danke dir, Hellene. Du bist wahrlich ein guter Mensch. Ich werde deine Kinder und dich wieder besuchen. Ganz sicher.«
Hellene blickte der Sanguenritterin noch einen Augenblick hinterher, dann drehte sie sich um und ging zurück zu ihren Kindern. Eine schöne, aber dennoch seltsame Begegnung, dachte Hellene.
Ta´elga ging noch in den Dom, der den Platz beherrschte. Wie alle Bauwerke dieser Art vermittelte er den Eindruck, dass der Besucher klein und nichtig war. Der Innenraum war völlig leer. Hohl und laut klang das Echo ihrer Schritte, als sie durch das Mittelschiff ging. Sogar an ihr ging die einschüchternde Wirkung dieser großen Kathedrale nicht vorbei. Sie fühlte sich unwohl, als sie den Dom verließ.
»Zwei Tage in der Hauptstadt der Union sind fürs Erste genug. Ich werde hierher zurückkehren. Minae ist eine wundervolle Stadt und ich habe noch nicht alles von ihr gesehen. Ich habe aber noch eine Mission zu erfüllen. Ich muss meine Vergangenheit suchen. Ich werde nun zum Hafen gehen und sehen, ob ich noch ein Schiff bekomme, das mich nach Ladimgar bringt.«
Ta´elga verließ den Domplatz und ging in Richtung Hafen, vorbei an dem alten Verlies der Stadt, das bei einem Angriff des Magistrats zerstört worden war. Sie konnte das Meer schon riechen, das Kreischen der Möwen klang nah.
Nach kurzer Zeit erreichte sie die Stadtgrenze von Minae. Der Hafen lag tiefer als die Stadt. Eine breite Treppe führte hinunter zu den Landungsstegen. Die Sanguenritterin betrachtete das geschäftige Treiben dort unten eine Weile. Gerade legte ein Segelschiff an. Sie hörte die Kommandos zum Festmachen des Schiffes so deutlich, als stände sie unmittelbar am Landungssteg. Von einer der Landungsbrücken legte gerade ein großer, stählerner Raddampfer ab. Seine Maschine stampfte und stöhnte.
Ta´elga konnte das Horn des Dampfers hören, bis das Schiff in der Ferne verschwand. An zwei Piers lagen Frachtsegler. Lange Reihen von Arbeitern waren damit beschäftigt, Ballen und Kisten von oder zu den Seglern zu tragen. Von hier oben sahen sie aus wie emsige Ameisen. Sie ging die Treppe hinunter. Ihr Ziel war der Hafenmeister. »Mal sehen, welches Schiff mich mitnehmen kann.«
Sie buchte eine Passage auf der Larisso. Die Larisso war ein kleiner Dreimastsegler, der sie auf direktem Kurs, über das versteckte Meer, nach Ladimgar bringen würde. Ladimgar war eine Insel, die südlich vor dem Kontinent Tirgarneiy lag. Die Larisso würde dort anlegen, in Nyat´thyra.
Bei der Abfahrt aus Minae stand Ta´elga noch lange an der Reling der Larisso. Die sagenhafte Stadt wurde immer kleiner, bis sie endgültig am Horizont entschwand. Die Sanguenritterin verließ die westlichen Königreiche und den Kontinent Tellus, die Heimat der Menschen und Zwerge. Sie dachte noch einmal an Sheij´an, an den König von Minae und an Hellene und ihre Waisenkinder.
»Ich habe nur zwei Freunde, mein Elementumschwert und Aaghyl, und genau in dieser Reihenfolge.«
(Sinan Eldar, Sanguenritter. Freund und Stellvertreter von Aaghyl.)
Während der Flucht durch die unterirdischen Gänge Acceras ließen die Magier des Magistrats hinter Aaghyls Kämpfern alles einstürzen, sodass der Feind nicht folgen konnte. Die Magier sorgten auch dafür, dass nichts von der Ausrüstung in die Hände der Union fiel, die zurückgelassen werden musste. Vor der Schlucht, die den Eingang zur Festung gebildet hatte, auf einer weiten, sandigen Ebene hatten sich die restlichen Krieger des Magistrats gesammelt. Von ehemals mehreren Tausend Kämpfern warteten jetzt nur noch ein paar Hundert auf ihren Oberbefehlshaber.
Aaghyl erreichte das Lager, das hier aufgeschlagen worden war. Er wurde von seinem Freund und Stellvertreter bereits erwartet.
»Lord Aaghyl, die Überlebenden sind mittlerweile alle hier eingetroffen. Leider müssen wir heute um viele Freunde und gute Krieger klagen. Wir haben auch viele der Untoten verloren«, erstattete er Bericht.
»Leider, Sinan, leider. Hast du eine Erklärung für unsere Niederlage, alter Freund?«
Aaghyl betrachtete seinen langjährigen Kampfgefährten. Sinan Eldar wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Die Spuren der Schlacht waren ihm deutlich anzusehen.
Sinan Eldar war ein Mensch und ein Sanguenritter. Nicht viele Menschen eigneten sich zum Sanguenritter. Bei ihnen war die Fähigkeit zur starken Magie nur selten vorhanden und ihre Lebensspanne eher gering, im Vergleich zu den Elfen oder zu den Cwoks. Sinans Magie war aber stark und durch einen Zauber, über den nur die Herrscher verfügten, wurde die Lebenspanne von Aaghyls Kampfgefährten fast verdoppelt. Sinan Eldar war jetzt gut sechzig Jahre alt, aber dank des Zaubers noch immer in der Blüte seines Lebens. Er war ein groß gewachsener und kräftiger Mensch. Seine Haut war sehr hell, was ihm immer wieder starke Sonnenbrände bescherte. Kein Haar zierte seinen Kopf. Peinlichst genau rasierte er sich täglich seinen Schädel. Das herausragendste Merkmal waren jedoch seine Augen. Groß und tiefschwarz blickten sie in die Welt.
Sein mit vielen Narben gezeichnetes Gesicht schien jetzt grau. Keine Regung war darin zu erkennen. Nur in seinen Augen konnte Aaghyl die Wut sehen, die in seinem Freund tobte. Sein Kampfgefährte war ein gnadenloser Krieger, der an seiner Seite schon viele Schlachten geschlagen hatte.
»Nein, Erhabener. Ich habe keine Erklärung für unsere schändliche Niederlage. Unser Sieg schien so nahe. Aber wir werden herausfinden, was geschehen ist und die Schuldigen für diese Schmach hart bestrafen«, antwortete er, seinen Zorn nur mühsam unterdrückend.
»Ja, das werden wir, sofern unsere Herrscher uns am Leben lassen. Du kennst die übliche Strafe für Versagen.«
»Ich bin bereit meine gerechte Strafe zu empfangen. Ich werde nicht um mein Leben oder meinen Tod winseln. Ich werde nur um die Zeit bitten, die ich benötige, um die Verräter zu finden und hinzurichten. Ich bin davon überzeugt, dass
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rolf Fischer
Cover: Rolf Fischer
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5683-7
Alle Rechte vorbehalten